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„So, Sie haben also Selbstmord begangen?" Er sah konzentriert auf sein Klemmbrett und strich daran herab, als würde er bestimmte Punkte einer Liste abhaken.
„Jetzt wo wir schon dabei sind, über mein Dahinscheiden aus der Welt zu sprechen, kannst du mich auch duzen." – „Wunderbar! Wieso der Suizid?" Ich konnte mich seinen kritischen Blicken nicht entziehen und mich auch nicht hinter irgendetwas verstecken. Hier war nichts. Absolut gar nichts. Ich wusste nicht einmal, auf was ich jetzt denn eigentlich saß. Oder saß ich überhaupt nicht?
„Eine lange Geschichte", antwortete ich genervt. Es würde zu viel Atem kosten, es zu erzählen. Atmete ich noch? Luft war nicht mehr lebensnotwendig.
„Wir haben Zeit, mein Sohn. Wenn es sein muss, ein ganzes Leben und länger."
Also begann ich zu erzählen.

Meine Nase kitzelte. Ich wusste, dass die wiegenden Grashalme mein Gesicht streichelten, ihre Schatten verdunkelten das Sonnenlicht vor meinen Augen. „Ben, die nächste Wolke, schau!" Marie drehte sich zu mir um und ihr goldenes Haar brach zwischen den Halmen hindurch. Ich konnte nur schwer meinen Blick auf die Gasgebilde in der Höhe richten, er wollte sich nicht von ihrer Schönheit lösen. „Ja, so eine hab ich noch nie gesehen."
„Du hast doch gar nicht hingesehen, Ben!" Maries Lachen vermischte sich mit der leichten Brise und dem Zwitschern der Vögel in den nahen Wäldern. „Es ist aber wahr."

Wie alles begann, ist jetzt wohl zu viel gefragt, jedoch kann ich es kurz zusammenfassen. In meinem lächerlich erbärmlichen Leben war dieser erste Augenblick die Krönung aller Erniedrigungen. Ein Sommertag vor einem Jahr kam Marie zum ersten Mal mit in den Zirkus. Ihr Vater war Magic Marcus, unser schnöseliger Zauberer. Ein grausamer Charakter. Man hörte, ihre Mutter sei verstorben und ihr Vater habe das Sorgerecht geerbt. Ich stand damals genau an dieser Stelle der Anhöhe und das erste, das ich von ihr erkannte, war das goldene Strahlen ihrer Haare. Wenigstens konnte sie von sich behaupten, nicht mehr allein auf der Welt zu sein. Sie konnte noch immer sagen, sie hätte einen Vater, ganz gleich wie schlecht sein Geist und wie verdorben seine Seele war.

„Ben, wo sind deine Gedanken! Los, weiterarbeiten! Der Mist räumt sich nicht von alleine auf!" Der Zirkusdirektor war an den Tigerkäfigen vorbeigekommen. Er hatte im Grunde ein gutes Herz, aber seine Überheblichkeit blockierte den Weg dorthin. „Jawohl", rief ich. Lange Tagträumereien waren hier nicht gern gesehen. Meine Jeans stank nach Pferden und von dem Geruch in den Käfigen wurde es nicht besser. Zurück zum Anfang. Meine Vergangenheit hatte keinen Scheinwerfer, der aufgeleuchtet ein Leben in besserem Licht erscheinen ließ. Marie kam aus einem Nobelviertel. Sie kennt nur das Beste. Somit war es mehr als unmöglich, auch nur in Betracht gezogen zu werden. Jemals. Niemals.

Der Windzug auf der Brücke hatte etwas Beruhigendes. Er erinnerte mich an den leichten Duft ihrer Haut. Ich traute mich einfach nicht mehr, die Augen zu öffnen. Die Realität würde mir meine zerstören.
Einfach waren die Schritte bis hierher gewesen. Das Ende hatte ich schon vor Jahren hinter mit gelassen. Den Tod in die Augen zu blicken war mir nicht neu. Er war ein alter Freund aus der Vergangenheit und seine Welt schon so lange mein zweites Zuhause. Sollte ich einmal aus dieser Welt gehen, wüsste ich, wo mein Herz hingehörte.
Meine Mutter starb im Kindsbett mit meiner damals neugeborenen kleinen Schwester. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens. Kurz darauf erkrankte meine andere kleine Schwester Margreth an einer Lungenentzündung. Sie war noch keine fünfzehn, als ihr Lebenslicht erlosch. Ich konnte nicht umhin, sie zu vermissen, als wäre ein Teil von mir selbst gegangen. Damals war mein Herz bereits zersplittert. Aus Furcht, auch noch die Trauer über seinen einzigen Sohn ertragen zu müssen, grenzte mein einsamer, gebrochener Vater sich ab und beendete sein Leben mit einem Schuss. Ab diesem Zeitpunkt war ich allein in einer düsteren Zeit gefangen. Kein Licht konnte meine Dunkelheit mehr erhellen und ich schien schon lange tot, bevor ich es wirklich war.

Ein Seufzer.
Ihre Lippen berührten meine. Hauchzart und unschuldig schmeckte der Kuss, den ich so lange schon begehrt hatte. Ein Augenblick lang sah ich nur ihr helles Strahlen durch meine geschlossenen Augen und roch den wunderschönen Duft des Sommers. Dies war der schönste Moment gewesen. Für ihn war ich noch am Leben geblieben, in gewissen Teilen. Dafür hatte ich den Schmerz ertragen. Liebe.

„Es klingt, als wäre die Welt schändlich abweisend zu dir gewesen. Aber wieso dann der Schlussstrich, wenn du jetzt doch so glücklich warst, mein Sohn?" Seine uralten Augen durchleuchteten mich mit einem derart forschenden Blick, dass ich mich nur abwenden konnte.
Angestrengt versuchte ich zu verbergen, wie schmerzlich es noch immer war, darüber zu reden. „Sie war es. Sie gab mir das wundervollste Geschenk und nahm es mir im selben Atemzug."
Der Mann gegenüber sah mich besorgt an. „Du meinst die Welt? Nicht immer sind weltliche Ansichten ausschlaggebend, mein Sohn. Oft steht etwas noch höher. Oft ist es Schicksal. Was ist dir genommen worden?"
Ungläubig fuhr ich auf. Ohnmächtig meiner eigenen inneren Stimme gegenüber, hörte ich mich selbst schreien. „Ist es nicht mehr als offensichtlich? Warum fragst du noch so, dass es mir fast das Herz zerreißt? Sie! Marie wurde mir genommen! Warum nahm man sie? Ich kann es nicht verstehen."
Geschockte Mimik und ein aggressiver Ton wäre nur allzu menschlich gewesen, aber ich erwartete Humanität von einer Person, die nicht annähernd das war, für das ich sie anfangs hielt. Seine Stimme war ruhig. Für mich und meine Gefühlslage viel zu still.
„Beruhige dich, Ben. Alles hat seinen Grund. Setz dich und erzähle mir, was geschah!"

Das Gewitter zog tosend herauf, duldete keinen Widerspruch und keinen Tadel. Es brauste über uns hinweg, als versuchte es, uns mit einem Mal zu verschlingen. Nichts war sicher in dem Moment, da Donner und Blitz sich auf der Erde entluden. In einem der unzähligen Strohhaufen, versteckt hinter den Kulissen im berühmten Zirkuszelt, wartete ich auf den nächsten Lichtstrahl, welcher Bäume spaltend am Erdboden zerschellte. Die einzigen heute Abend, welche diesen Wetterumbruch nicht genossen, waren die verängstigten Tiere. Ein schweres Gewissen plagte mich, frohen Mutes diese Show zu genießen, während Totenkopfäffchen Marli sich die Seele aus dem Leib schrie. Sein Ruf ging mir durch Mark und Bein. „Ich komm ja schon", antwortete ich und sprang auf. Dabei war es mir unmöglich gewesen, sie zu sehen oder auszuweichen und noch in ihrer Frage stürzten Marie und ich über einen Strohballen in die restlichen hinein. „Wo willst du denn hin?", schloss sie ihre Frage lachend und strampelnd, um von mir hinunterzukommen. „Nirgendwo. Was machst du hier?"
Als ein weiterer Blitz die Hügel und Wiesen vor dem Zelt in Taghelle tauchte, erkannte ich Maries hübsches Gesicht hinter ihren Locken, die heute (anders als sonst) zu einem Knoten hinauf gesteckt waren, „Und was du heute trägst!"
Zwar hatte die Nacht schnell wieder Einzug in diese Ebene gehalten, aber ihren Gesichtsausdruck konnte man sogar in der Dunkelheit erkennen und ihre strahlenden Wangen glühen sehen.
„Ich war in der Stadt. Vater fuhr mit mir zu einer befreundeten Familie. Sie sind wirklich nett und er meinte, ich würde mit ihnen bald mehr Zeit verbringen. Vielleicht kennst du sie ja. Was ich so von Vater gehört habe, besitzen sie auch ein Landgut im Süden und ein paar Fabriken in den Außenbezirken. Sie heißen Schwartz."
Wie konnte ich nur so naiv sein?
„Natürlich kenne ich sie. Ich glaube, es gibt von hier bis zur nächsten Stadt keine reicheren Leute!", antwortete ich niedergeschlagen. Diesmal erlosch das Leuchten und ich erkannte sie fast nicht mehr. „Aber Ben, was ist damit? Du weißt genauso gut wie ich, welchen Stellenwert Geld wirklich in unserem Leben hat!"

Es machte mir Angst, wie sehr ich mich dafür schämte, sie vielleicht zu verletzen. Um meine Erklärung noch etwas hinauszuzögern, rückte ich ein Stück von ihr ab und erleuchtete unseren kleinen Platz mit der Öllampe. Gelegenheit ihre Gesichtszüge zu beobachten. „Ja, das weiß ich. Aber das gilt nicht für das Leben deines Vaters." Ohrfeigen müsste ich mich für diese Antwort! Wie konnte ich glauben, sie damit nur zurückzugewinnen oder mich ihr damit interessanter zu machen? Dummkopf. Vergiss es einfach. Ein Schluchzen ließ mich umfahren. Ein Messerstich mitten ins Herz, so fühlte es sich an, sie so verletzt und fragil dasitzen zu sehen, als kleine Tränen auf das trockene Stroh kullerten. „Du meinst, er macht das nicht für mich? E-e-er will nur aufsteigen! Wie dumm ich bin! Aber da hat er sich geschnitten. Niemals heirate ich einen dieser Schnösel!" Maries Verzweiflung war kaum auszuhalten. Wie konnte ich das nur jemals wieder gutmachen?

„Marie, sei nicht so stur. Sind sie freundlich zu dir gewesen?", fragte ich schweren Herzens. Nicht wegen mir oder irgendjemand sonst sollte sie ihre guten Zukunftsaussichten aufgeben.
„Ja, alle. Aber…", entgegnete Marie, doch ich ließ sie kein Wort weiter aussprechen, sonst wäre ich vielleicht zu schwach noch etwas zu entgegnen. „Warum überlegst du dann noch? Marie, das ist deine Chance hier rauszukommen und ein glückliches Leben zu führen!", schmetterte ich ihr vor die Füße und stand auf. Jetzt galt es, keinen Augenblick länger als nötig zu bleiben, bevor ich meinen guten Rat selbst zunichtemachen würde.
„Ben, warte! Warum gehst du? Habe ich dich verletzt?"
Kopfschüttelnd ging ich weiter und murmelte unverständlich etwas von Marli und Angst vor dem Gewitter. Plötzlich vernahm ich einen Windhauch, wie ein Flüstern, und wandte mich um. „Sie sind alle nicht du", wiederholte Marie und sah mich an, wie es noch nie ein Mensch auf der Welt getan hatte.

„Das klingt doch wahrlich nach junger Liebe! Sehr schön!", unterbrach er und klatschte begeistert in die Hände. Gefangen sah ich auf.
„Du hast das Ende nicht abgewartet. Wäre es doch nur dabei geblieben!" Verzweifelt ließ ich den Kopf hängen, bis ich auf einmal spürte, dass er seine Hand darauf gelegt hatte.
„Gib niemals auf zu hoffen, mein Sohn!"

Ihr Lachen erfüllte die Luft, gleichermaßen wie das Strahlen ihrer wunderschönen goldenen Haare, im Licht der niedergehenden Blitze. „Na warte, gleich hab ich dich!", rief ich gut gelaunt, als Marie über die kleine Absperrung in die Manege hüpfte.
„Niemals!", schrie sie und war schon wieder außer Sicht.
„Marie Schatz?" Eine tiefe Stimme ließ mich auf der Stelle wenden. Marcus, ihr Vater, kam die Treppe aus seinem Wohnwagen hinunter und betrat das Zelt nur wenige Augenblicke, nachdem ich es durch eine andere Tür verließ, und prompt mit Marie zusammenstieß. Sie hatte den Zeigefinger vor die Lippen gehoben und gebot mir, still zu sein. Dann lief sie einfach los. Immer weiter, bis über den nächsten Hügel. Ich dachte doch nichts Schlimmes, als ich ihr hinterher rannte. Aber ein grelles Licht und ein ohrenbetäubender Laut fuhren direkt vor mir zu Boden und ich strauchelte. Sanft, ohne eine Spur von Schmerz oder Angst lag sie da, vor mir, auf der Erde. Friedlich, als würde sie schlafen. Doch Marie war fort.

„Das tut mir Leid, mein Sohn.", sprach er und plötzlich wirkte er müde und alt. Jetzt bemerkte ich erst, dass ich ihn zum ersten Mal ansah und durch den Schimmer des Vergessens hindurch blicken konnte. War dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
„Liebe geht oft verworrene Wege und mein Leben war schon lange keines mehr. Sie gab mir nur das Gefühl, wieder ganz zu sein." Es war anstrengend und ermüdend darüber zu sprechen, aber entgegen aller meiner Erwartungen, war mein Herz nicht mehr schmerzgetränkt. Es hatte aufgehört wehzutun.

„Warum gabst du dein Leben?", fragte er mich ernst. Unverständnis stieg in mir auf. Hatte ich ihm nicht gerade erst mein ganzes Herz ausgeschüttet und ihm all meine Gefühle und Ängste gebeichtet?
„Das habe ich dir doch erzählt!", antwortete ich verstört. Was wollte er von mir?
„Du erzähltest mir dein leidvolles und viel zu kurzes Leben, aber warum hast du dich von der Brücke gestürzt?" Seine Aura war friedvoll und unbekümmert, als würden wir einfach über das Wetter plaudern.
„Weil sie gegangen war. Marie war mein Licht in der Dunkelheit!" Etwas Melancholisches steckte in seinen Worten, das mich träge machte, „Wäre ich damals nur schneller gewesen. Oder hätten wir gar nicht gespielt. Es ist alles meine Schuld!" Verzweiflung hatte mich wieder in ihren Klauen, schüttelte und beutelte mich aus, bis der letzte Funken meiner Seele zerstört worden war.
„Mein Sohn, deine Zeit ist gekommen. Nun, schließe deine Augen!" Der alte Mann verlor seinen Glanz und blieb mir immer mehr Antworten schuldig. „Du kannst mich nicht wegschicken! Rede mit mir! Wo bin ich? Wer bist du? Und wohin schickst du mich?", schrie ich angsterfüllt in seine Rede hinein. Aber es war zu spät. Dunkelheit umgab mich. Wenige Augenblicke noch und ich würde in der Hölle sein. Keine einzige Tat in meinem Leben war so heldenhaft, dass sie mir das Tor zum Himmel öffnete.
Wie lange brauchte man wohl, um das Feuer zu spüren?

Plötzlich fuhr mir ein stechender Schmerz in den Fuß. Niemals hätte ich mir vorgestellt, es würde so schmerzhaft sein. „Oh Gott, du brennst ja! Schnell, hier! Eine Decke! Erstick es damit!" Verdutzt starrte ich das Mädchen neben mir an. Ihre Augen waren so voller Angst, als sie mir die Decke entgegenstreckte. Angst um mein Leben. Ich lachte. Wie irrsinnig!

Es war Marie. Ich lebte.

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Tag der Veröffentlichung: 15.07.2011

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