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Der Winterwundermantel

"Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit?" (aus dem Winterlied von Hedwig Haberkern)

 

...heute schon ist es so weit (Iris Deitermann)

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Meerwasserblau und glitzerfunkelglänzend stand Flocke vor dem Wasserspiegel und sah dabei zu, wie die Sonnenstrahlen sich den Weg durch ihren Tropfenkörper bahnten. Das kitzelprickelte immer ein wenig und sorgte für ein stetiges Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie wirbeldrehte sich einmal um die eigene Achse, griff dann zu einem besonders schönschimmrigen Tropfenkleid und zog es sich über den Kopf. Heute würde wieder viel regnerische Arbeit auf sie warten. Der Herbst drängte die Regentropfen im Moment jeden Tag dazu, durch die Regenwolkenrutsche zu rutschen und auf die Erde hinabzusausen. Flocke hatte dabei eine sehr wichtige Aufgabe. Als Regentropfen klopfte sie an die Fenster der Menschen, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass draußen nasses Wetter ist und sie ihren Schirm nicht vergessen sollten. So wenig die Menschen den Regen auch mögen, für die Welt ist er extrem wichtig. Das jedenfalls hatte ihre liebe ozeanblaue Meeresmutter ihr beigebracht, bevor Flocke in die weite Welt hinausgezogen war, um auf ihrer eigenen Jahreszeitenwolke, in ihrem eigenen Regenhäuschen zu wohnen. Sie sorgte mit ihren wasserblauen Regentropfenfreunden dafür, dass die Felder getränkt wurden, dass die Tiere durch saftig grüne Wiesen genug zu fressen hatten und dass der Welt Leben eingehaucht wurde. Dazu schossen sie alle zusammen jubeljauchzend aus den Wolken auf die kugelrunde Erde hinab, gruben sich tief ins dunkle Erdreich ein und reisten anschließend auf den warmen Armen der Sonne wieder zurück auf ihre Wolken. Ein herrlicher Job war das.

Während Flocke so darüber nachdachte, klopfte es plötzlich an die Tür. Neugierig sah sie zum Fenster hinaus, konnte aber nicht erkennen, wer da Einlass begehrte. Schnell öffnete sie ihrem unerwarteten Besucher und staunte nicht schlecht, als sie erkannte, wer da vor ihr stand. War es denn wirklich schon wieder so weit? Konnte das wahr sein? Wo war bloß die Zeit geblieben? Ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigte, dass ihr Besucher auf keinen Fall zu früh dran war. In all der Eile der letzten Wochen, hatte Flocke völlig versäumt, die Jahreszeitenuhr im Blick zu behalten. Geschwind bat sie ihren Gast hinein. Lächelnd betrat der Besucher die kleine Regentropfenbehausung.

„Meine liebe Flocke!“, sagte Fräulein Winter, als sie sich auf den winzigen Stuhl setzte, der neben dem ebenso winzigen Tisch stand. „Es ist wieder so weit. Weihnachten steht vor der Tür und überall auf der Welt leuchten schon die ersten bunten Lichter.“

Freudig sah Flocke das Fräulein Winter an. „Erzähl mir mehr!“, quietschte sie glücklich und hüpfte auf und ab. Nichts liebte Flocke mehr, als die Weihnachtszeit. „Die Welt muss sich von den Strapazen des langen Jahres erholen und braucht dringend eure Hilfe. Die Kälte ist bereits auf der Erde und malt Eisblumen an die Fenster der Menschenhäuser. Sie wartet schon sehnsüchtig auf eure Gesellschaft!“

Flocke sprang jubelnd in die Luft. Es war wirklich, wirklich, wirklich endlich wieder so weit.

„Sind die Wichtel schon da?“, rief sie vergnügt und rannte ans Fenster. „Aber selbstverständlich! Gerade jetzt, in diesem Moment, verteilen sie die funkelglitzerweißen Wintermäntel an die Regentropfen. Ich musste noch ein ernstes Wörtchen mit dem Herbst reden, da er einfach nicht weiterziehen wollte! Deshalb komme ich dich erst jetzt holen.“

Der Herbst interessierte Flocke in diesem Moment jedoch überhaupt nicht mehr. Gerade hatte sie noch tun müssen, was er von ihr verlangte, jetzt sah das Ganze schon anders aus. Aller Höflichkeit zum Trotz, sauste sie aus ihrer Wohnung, hinaus auf die Regenwolke, auf der sie lebte. Schon von weitem sah sie den weißen Schlitten mit den Wichteln, die emsig die Mäntel verteilten. So schnell sie ihre Regentropfenfüßchen trugen, rannte sie darauf zu und hielt auch schon kurze Zeit später ihren funkelnden Winterwundermantel in den Händen. Sie wartete nicht lange ab, zog ihn sich schleunigstschnellgeschwind über, knöpfte die kleinen, glitzerglänzenden Eiskristallknöpfe zu, und drehte sich ein paar Mal im Kreis, um zu sehen, ob der Mantel so herrlich funkelte, wie in den letzten Jahren. Sofort fliegen winzige schillerschimmernde Eisfunken durch die Luft, die in der Sonne glitzerten. Wohin man auch schaute, überall lag plötzlich der Winterzauber in der Luft. Zufrieden sauste Flocke zur Winterrutsche hinüber. Hier war schon alles eisig, kalt, frostklirrend und herrlich winterlich. Schon bald würde Fräulein Winter dafür sorgen, dass aus der Regenwolke eine Schneewolke werden würde. Darüber machte sich Flocke im Moment jedoch gar keine Gedanken. Sie musste einfach unbedingt auf der Stelle zu den Menschen hinunter und sehen, ob an ihrem Anklopf-am-Fenster-sitz-Fenster auch schon bunte Lichter zu finden waren. Vielleicht sah es dort unten schon aus, als hätte man eine glitzernde Puderzuckerschicht über die Welt gezogen. Schnell zog sie sich noch die kleinen in der Sonne funkelnden Winterstiefelchen an und zog die herrlich schillernden Handschuhe über, stülpte sich die riesige, wolligwarme, leise klirrende Frostkapuze mit den zwei Eiszapfen darauf über den Kopf und hüpfte auf die Rutsche. Wie ein kleiner sechszackiger Schneestern aus schimmernden und funkelnden Eiskristallen sah sie dabei aus.

„Huuuuuuiiiiiiiii!“, jauchzte sie, als es abwärts ging. Mit dem Winterwundermantel raste sie so schnell durch den Wolkentunnel, dass ihr einen Moment die Luft wegblieb. Dann rauschte sie auch schon am Wolkenrutschenhüter vorbei und wurde vom Wind in Empfang genommen. Augenblicklich genoss sie den winterlichen Flug zur Erde hinab. Der Winterwundermantel bauschte sich dabei um sie herum in der kalten Luft auf, während Flocke es im Inneren wohligwarm hatte. Als Schneeflocke fiel man viel sanfter vom Himmel, als als Regentropfen. Das verschaffte einem jede Menge Zeit, um jede Menge Spaß zu haben. Man konnte Saltos schlagen, sich in der Luft um die eigene Achse drehen, auf dem Wind reiten, der mit den Schneeflocken spielte und sich so die Zeit mit den herrlichsten Kunststücken vertreiben. Um sie herum wirbelten viele, viele, viele weitere Schneeflocken, jauchzten und lachten, hielten sich an den Händen und setzten ihren Flug gemeinsam fort. Die Reise zur Erde dauerte als Schneeflocke zwar viel länger, sorgte aber auch für ein fantastisch winterliches Vergnügen. Dann endlich konnte Flocke das Haus sehen, vor dessen Fenster sie sich setzen sollte. Schon von weitem strahlten winzige bunte Lichter zu ihr empor, die durch das Dunkel des Abends tanzten. Es wurde wirklich langsam Weihnachten auf der Erde. Als sie unten ankam, wo sich schon viele andere Schneeflocken zu Schneedecken zusammengelegt hatten, um nicht zu frieren, erblickte sie durch das Fenster das schönste Licht des Jahres. Die erste Kerze der Adventszeit war gerade erst angezündet worden. Sie war also noch rechtzeitig gekommen, um für vorweihnachtliche Stimmung in der Menschenwelt zu sorgen. Wie knisternder Schnee klangen all die aufgeregten Stimmchen ihrer Schneeflockenfreunde an ihr Ohr. Zufrieden und glücklich, schlief sie schon bald ein. Wohlbehütet von Fräulein Winter und der Kälte, die lächelnd weiter Eisblumen auf die Fensterscheiben malte.

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Tag der Veröffentlichung: 30.11.2014

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