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Für das menschliche Auge unsichtbar, saß der Wunschsammler im Schneidersitz am Boden des Brunnens und ließ langsam ein paar Münzen durch seine Finger gleiten, als ihn unerwartet etwas am Kopf traf.
Erschrocken ließ er die Münzen in seiner Hand los, die mit einem leisen Klirren wieder auf den anderen landeten und sah nach oben. Weit über der Wasseroberfläche sah er das Gesicht eines kleinen Jungen, der mit sehnsüchtigem Blick dem Gegenstand, den er hinuntergeworfen hatte, hinterherblickte.
Der Wunschsammler hob die Hand und betastete vorsichtig die Stelle am Hinterkopf, an der der Gegenstand ihn getroffen hatte. Eine Münze war das definitiv nicht gewesen, denn die wäre einfach durch ihn hindurchgefallen.
Bis der Wunschsammler so unvermittelt getroffen worden war, war an diesem Tag noch nicht viel los gewesen. So hatte er die Zeit genutzt und bereits alle Wünsche des heutigen Tages sortiert und ordentlich verpackt. Da gab es einen riesigen Sack voller Wünsche für den Reichtum, einen für die Gesundheit, den größten für die Liebe, einen weiteren für die Zeit, einen nicht ganz so großen für den Wettermacher und auch einen für das Glück. Diese Personen erhielten zu dieser Zeit des Jahres die meisten Wünsche. Saisonale Wünsche gab es aber auch immer wieder – zum Beispiel die für den Weihnachtsmann.
Suchend glitt der Blick des Wunschsammlers, begleitet von seinen Händen, nun über genau diese Wunschsäcke und anschließend über den Boden. Überall nichts als Münzen. Was konnte ihn da bloß erwischt haben und wo war es hin?
Da berührte ihn seitlich etwas am kleinen Finger. Verwundert hob der Wunschsammler das kleine Objekt auf. Der Junge hatte eine Glaskugel nach ihm geworfen. Nachdenklich betrachtete er die Murmel, die er nun zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Es dauerte einen Moment, bis er den Grund für die Murmel auf dem Boden seines Brunnens fand. Ein kleines Leuchten, wie es nur von einem Kind kommen konnte, hüpfte aufgeregt in der Mitte der Glaskugel auf und ab. Hier hielt der Wunschsammler eindeutig einen weiteren Wunsch in den Händen. Er schloss kurzerhand die Augen und umschloss die Murmel sanft mit allen fünf Fingern, um ihrem Inhalt zu lauschen. Anschließend steckte er den Wunsch schmunzelnd in den Sack für die Zeit.

Ein paar Tage später saß der kleine Joschua auf seinem Bett und wiederholte inbrünstig seinen Wunsch, den er vor kurzem in den alten Wunschbrunnen auf dem Kirchplatz, direkt neben dem Kindergarten, geworfen hatte.
Er befürchtete, dass sein Wunsch vielleicht ungültig gewesen war, da er keine Münze, sondern nur eine Murmel, gehabt hatte.
Ganz fest wünschte er sich, dass er immer sechs Jahr alt bleiben würde, damit er weiter jeden Tag so tolle Spiele spielen konnte, wie er es auch heute wieder getan hatte.
Seit er wusste, dass er ab September ein Schulkind sein würde und man in der Schule still sitzen und lernen musste, aber nur ganz wenig spielen durfte, wollte er nichts anderes mehr, als ein Kindergartenkind zu bleiben.
Auch wenn Joschuas Wunsch in eine Murmel gesteckt worden war, wusste die Zeit natürlich bereits davon. Sie kannte viele Kinder, die es gar nicht erwarten konnten endlich in die Schule zu kommen und die sich wünschten, dass die Zeit schneller vergehen würde. Doch auch Kinder wie Joschua gab es, die mit aller Macht wollten, dass die die Zeit doch einfach still stand. Aber das konnte sie natürlich nicht. So beschloss die Zeit, dem kleinen Joschua einen Besuch abzustatten und mit ihm über seinen Wunsch zu sprechen.
„Hallo Joschua!“, begrüßte ihn die Zeit, als er an diesem Tag auf seine Bett saß und seinem verzweifelten Wunsch nachhing. Erschrocken blickte Joschua auf. Er hatte niemanden kommen hören.
„Wer bist denn du?“, wollte er sofort von dem kleinen Mann mit den vielen Uhren um den Hals wissen.
„Ich bin Zeit und ich habe vom Wunschsammler deinen Wunsch zugestellt bekommen!“
Der erschrockene Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen wandelte sich in Verblüffung um.
„Bist du gekommen, um ihn mir zu erfüllen?“ Die Antwort auf diese Frage war alles, was für Joschua in diesem Moment zählte. Seine Augen begannen zu strahlen. Für Joschua war es ganz logisch, dass der Wunschsammler die Zeit zu ihm geschickte hatte, um seinen Wunsch zu erfüllen. Der Weihnachtsmann kam ja auch und brachte Geschenke, die er vorher als Wunsch auf einen Zettel geschrieben hatte.
„Erst einmal möchte ich dich etwas fragen!“, erklärte die Zeit ihm und machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Möchtest du niemals erwachsen werden?“
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
„Doch, natürlich! Dann kann ich nämlich selber Auto fahren, darf so viele Süßigkeiten einkaufen wie ich will, vor dem Schlafengehen noch ein Buch lesen und außerdem bin ich dann ein Polizist!“
Mit den Händen ahmte er zwei Pistolen nach, die er auf den Teddybären richtete, der neben der Kommode saß.
„Hmmmm...!“, machte die Zeit und legte dabei die Stirn in Falten. So sah er sehr ernst aus. „Das alles solltest du schnell vergessen. Sechsjährige Jungs dürfen nämlich nicht Auto fahren, verdienen kein Geld um so viele Bonbons kaufen zu können wie sie wollen, können nicht lesen und schon gar nicht Polizist sein. Tut mir leid!“ Entschuldigend zuckte die Zeit mit den Schultern, während Joschua empört aufsprang.
„Aber, wenn ich groß bin...!“
Da fiel ihm auch schon die Zeit ins Wort.
„Das wirst du aber doch gar nicht werden, wenn ich die Zeit anhalte, wie du es dir gewünscht hast. Du wirst immer sechs Jahre alt bleiben, niemals selbst ein Buch lesen können, immerzu und immer dieselben Spiele spielen, bis sie dir langweilig werden, denn wenn die Zeit stillsteht, werden auch keine neuen Spiele erfunden. Außerdem wirst du jeden Morgen weiter Haferflocken zum Frühstück bekommen und niemals selbst bestimmen dürfen, was du heute tun willst. Du wirst...!“
„Nein, nein, nein!“, schrie Joschua ganz entsetzt. „Ich möchte nicht jeden Tag Haferflocken essen müssen! Ich hasse Haferflocken! Und ich möchte mein Ritterbuch selbst lesen können! Bitte halte die Zeit nicht an!“
Zeit lächelte vor sich hin.
„Merke dir Joschua: Wandlung ist notwendig, wie die Erneuerung der Blätter im Frühling. Lassen wir die Zeit also wie sie ist!“
Damit ging die Zeit zur Tür und verließ einen Joschua, der das Vorschulkindsein plötzlich gar nicht mehr so schlimm fand.

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Tag der Veröffentlichung: 01.06.2012

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