Katie saß gelangweilt auf der hässlichen, geblümten Couch ihrer in die Jahre gekommenen Tante Elenor und sah aus dem Fenster. Hier war einfach nichts los.
Ihre Mutter hatte sie für die Dauer der Osterferien wie einen Koffer bei ihrer Tante abgestellt, die sie das letzte Mal gesehen hatte, als sie zwei Jahre alt gewesen war.
Ihre Tante beachtete sie jedoch kaum und so konnte Katie machen was sie wollte.
Da das Haus mitten im Nirgendwo zwischen ein paar alten Eichen stand, an die auf der einen Seite ein Wald und auf der anderen ein alter Friedhof grenzte, war hier jedoch nicht viel Aufregendes zu tun.
Im Garten rund ums Haus wuchsen Kräuter und Beeren, um die sich ihre Tante tagein tagaus liebevoll kümmerte. Katie jedoch interessierte das Alles überhaupt nicht. Manchmal konnte sie hören, wie Elenor im Garten mit den Pflanzen sprach und zwischendurch herzhaft lachte. Dann verzog sich Katie schnell in ihr Zimmer und setzte sich ihre Kopfhörer auf, durch die ihre Lieblingsband tiefe Bässe in ihr Gehirn blies. Das war viel besser, als ihrer verrückten Tante zu lauschen, die offensichtlich ein leichtes psychisches Problem hatte. Kein Wunder, wenn man so einsam lebte, wie sie.
Gerade als Katie die Augen vom vielen Nach-draußen-Starren zufallen wollten, huschte ein Schatten am Fenster vorbei, der gleich darauf durch das geöffnete Fenster auf den Fenstersims sprang. Erschrocken riss Katie die Augen auf und schnappte nach Luft.
Auf der Fensterbank saß ein kleines grünes Wesen, das eine braune Hose und eine gleichfarbige Weste trug, riesige Füße hatte auf denen Haare wucherten und eine Nase besaß, die jeder Zucchini Konkurrenz gemacht hätte. Auf dem Kopf trug dieses Geschöpf einen braunen, fleckigen, an der Krempe aufgerissenen Hut, unter dem wirr abstehende graue Haare hervorlugten.
Noch bevor Katie sich fragen konnte, was zum Teufel dieses Wesen war, fing es auch schon an zu sprechen und entblößte dabei kleine, spitze Zähne.
"Oho, ein Gast im Hause Elenor. Welch seltener Anblick. Darf ich mich vorstellen? Granadius Koboldinius der Dritte!"
Tief verbeugte sich das Wesen und sah Katie dann aus seinen kleinen kugelrunden Augen an. Ihr war die Kinnlade heruntergeklappt, während alles in ihr danach schrie, möglichst sofort und mit Lichtgeschwindigkeit davonzulaufen.
Granadius hatte erkannte, dass Katie sich in einer Art Schockstarre befand und hüpfte von der Fensterbank ins Zimmer.
"Keine Angst. Ich werde dir nichts tun!" Mit beschwichtigenden Gesten, wie man sie bei einem Tier macht, das man beruhigen möchte, ging er langsam auf sie zu. "Ich bin ein Freund von Elenor, die derzeit für mich auf den Goldtopf meiner Familie aufpasst. Du hast sicher schon erraten was ich bin. Ein Kobold nämlich."
Katie hatte sich mittlerweile vom ersten Schrock erholt und atmete tief durch.
Das kann doch alles nur ein Traum sein, dachte sie und räusperte sich. Warum also nicht antworten? In Träumen konnte einem schließlich nichts passieren, oder?
"Goldtopf deiner Familie? Meine Tante? Nimmst du mich auf den Arm?" Katie zog die Stirn kraus. Als ob sie einen solchen Unfug glauben würde.
"Aha, Elenor ist also deine Tante!", stellte der Kobold schmunzelnd fest und rückte sich seinen Hut zurecht, ohne weiter auf Katies Fragen einzugehen.
"Das erklärt natürlich einiges!" Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, lief der Kobold auf dem alten fransigen Teppich hin und her. Die meiste Zeit sah Katie so nur seinen Hut, weil der Tisch vor der Couch im Weg stand. Nur wenn er über die beiden Enden des Tisches hinauswanderte, sah sie seine ganze Gestalt.
"Was erklärt das denn?" wollte sie wissen, nachdem der Kobold nicht wieder angesetzt hatte zu sprechen. Fahrig wischte sie sich ihre Haare aus der Stirn, bevor sie sich aufrecht hinsetzte, um Granadius besser sehen zu können. Dieser hielt auf ihre Frage hin abrupt an, machte einen Schritt zurück und beäugte sie mit einem säuerlichen Blick.
"Na, ich habe mich schon gewundert, warum sich weder das verflixte Regenbogentor, dem ich wohlgemerkt mehrere Farbperlen gegeben habe, noch das Tropfentor öffnen ließ, das meinen kompletten Morgentau verschluckt hat!" Resigniert hob der Kobold die Hände.
Katie war verwirrt. Regenbogentor? Farbperlen? Ein Tor, das Morgentau schluckte? Das wurde ihr zu bunt.
"Es gibt um das ganze Haus herum kein einziges Gartentor. Und erst recht keines, dem man etwas geben kann, um es zu öffnen!", entgegnete sie deshalb gereizt.
"Ach, wer spricht denn hier von einem Gartentor?", lachte Granadius. "Soetwas benutzen doch nur Menschen!" Mit beiden Händen schlug er sich auf die Knie. "Du hast ja echt keine Ahnung. Wir Kobolde benutzten Regenbogen- oder Tropfentore um von einem Ort zum nächsten zu gelangen. Wie glaubst du wohl schaffen wir es sonst, den gierigen Händen der Menschen immer wieder zu entwischen, wenn sie uns am Ende eines Regenbogens entdecken und wie die Wilden hinter uns her sind?"
Verblüfft sah Katie Granadius an. Das war eigentlich eine plausible Erklärung, wenn man denn an Kobolde glaubte - etwas, das sie definitiv nicht tat.
"Ja, na klar und als nächstes erzählst du mir wahrscheinlich, dass es Feen gibt und sie sich durch Blüten- oder Tautropfentore von einer Wiese zur nächsten beamen!"
Katie bedachte den Kobold mit einem spöttischen Blick. Dieser grinste sie schon wieder an. Lässig ging er auf den Sessel neben dem Sofa zu, zog sich an ihm hoch, drehte sich herum und machte es sich bequem. Dann verschränkte er die Hände vor dem gewölbten Bauch.
"Eigentlich hätte ich dir das nicht erzählt, aber wo du es gerade ansprichst... So ähnlich funktioniert es tatsächlich!"
Jetzt sprang Katie auf. "Was wird hier eigentlich gespielt? Ist das ein dummer Scherz von meiner Tante? Bist du ein kleinwüchsiger Nachbar, der mich mal so richtig reinlegen soll?"
Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf und ballte dabei die Hände zu Fäusten. Ihr Kopf wurde knallrot und sogar ihre Ohren nahmen die Farbe reifer Kirschen an.
Granadius jedoch blieb seelenruhig sitzen. Diese Art von Reaktion kannte er bereits. Da er wusste, dass Reden in diesem Moment nichts nutzte, wirbelte er ein paar Mal theatralisch mit den Händen durch die Luft.
Plötzlich entstand mitten im Wohnzimmer ein neongrüner Luftwirbel, der sich drehte und drehte, bevor er mit einem "Poff" einen nebelverhangenen Durchgang bildete, hinter dem ganz klar ein großer Goldtopf erkennbar war.
Während all das geschah, wurde Katie mit einem Ruck wieder auf die Couch befördert. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Tor wenden, das da vor ihr einfach in der Luft hing.
Granadius beobachtete Katie mit zufriedenem Gesicht, klatschte ein paar Mal in die Hände und so schnell wie sich der Durchgang gebildet hatte, war er auch schon wieder verschwunden. Nur eine kleine Wolke grünen Rauchs, die sich langsam durch das Fenster verabschiedete, erinnerte noch einen kurzen Moment daran.
"Kommen wir also zurück zu den Feen!", sagte der Kobold sachlich.
Katie äußerte sich nicht dazu. Das Schauspiel hatte sie verunsichert. Alles schien so realistisch, dass sie ihre Traumtheorie begraben musste.
"Zuerst einmal: Durch Tore beamt man sich nicht von A nach B. Ich bin nicht kleinwüchsig, sondern sogar ganz stattlich im Vergleich zu anderen meiner Art und ich bin kein Nachbar deiner Tante!"
Zerknirscht sah Katie den Kobold an. Jetzt taten ihr ihre Worte leid.
"Tore werden wie Türe benutzt, die verschiedene Räume miteinander verbinden. Weit voneinander entfernte Räume natürlich, denn wir leben nicht in so kleinen, privaten Kleinraumtorwelten wie ihr!"
Katie zog die Augenbrauchen hoch. Kleine, private Kleinraumtorwelten. Eine witzige Beschreibung für ein Haus.
In diesem Moment trat Elenor durch eines dieser privaten Tore ins Wohnzimmer. Von draußen hatte sie Stimmen gehört und sich gefragt, ob ihre Nichte vor lauter Langeweile angefangen hatte Selbstgespräche zu führen. Als sie den Raum betreten und die Situation überblickt hatte, schmunzelte sie.
"Ihr habt euch also kennengelernt. Granadius, wann treffen die anderen ein?"
Der Kobold hob grüßend die Hand.
"Eine nette Nichte, die mir nicht einmal ihren Namen gesagt hat, hast du. Du hättest uns ruhig vorwarnen können, Dann hätte ich nicht so viele Farbperlen und Morgentautropfen verschwendet, denn ich wäre gar nicht erst hierher gekommen! Die anderen warten bereits am Eichentor auf dich. Ich hoffe, die Glockenklangfeen gewinnen dieses Mal das Klangspektakel."
Flugs erhob er sich von seinem Sessel, lüpfte noch einmal seinen Hut als er an Katie vorbeiging, machte noch einmal ein paar merkwürdige Handbewegungen und verschwand im Nichts.
Katie war einen Moment verblüfft, dann grinste sie ihre Tante an. Diese Ferien würden wohl doch nicht so langweilig werden, wie sie befürchtet hatte.
Bildmaterialien: www.oldskoolman.de
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2012
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Widmung:
Entstanden im Rahmen des monatlichen Kurzgeschichtenwettbewerbes im März zum Thema "Tor"