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Seit ein paar Tagen schreiben wir das Jahr 2011. Ein Jahr, das für uns alle einen Neuanfang bedeuten soll. Ich stehe auf dem Dachboden im Haus meiner Mutter und atme den dicken Staub ein, der sich hier seit etlichen Jahren gesammelt hat. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie lange es her war, seit mein Vater oder meine Mutter zuletzt diesen Dachboden betraten. Woran ich mich aber erinnern kann ist, dass ich als Kind niemals hier hinauf durfte. Auch meine Geschwister konnten mir nie sagen, was sich hier oben befand.
Natürlich haben wir oft versucht, auf den Dachboden zu gelangen, aber wann auch immer wir es probierten – er war stets verschlossen.
Heute stehe ich zum ersten Mal hier oben, im fahlen Licht der Deckenlampe und sehe mich um. Allmählich gewöhnen sich meine Augen an das ungewöhnliche Licht, das mir ein riesiges Chaos offenbart.
Tische, Schränke, Teppiche, Truhen und Kisten wohin ich auch sehe. Als Kind wäre das hier das Paradies für mich gewesen. Heute bedeutet es einfach nur einen Haufen Arbeit für mich.
Meine Frau und ich wollen das Haus auf Vordermann bringen – jetzt, nachdem meine Mutter ins Altersheim gezogen ist. Sie wollte es so. Sie selbst hat gesagt, dass dieses Haus zu groß für einen einzigen alten Menschen ist, der die Vorzüge dieses großen Hauses nicht mehr nutzen kann. Als sie erfuhr, dass wir Nachwuchs erwarteten und eine neue Bleibe suchten, erbot sie sich, sofort auszuziehen, was für uns natürlich keine Möglichkeit darstellte. Ich wollte meine Mutter nicht in einem Altersheim wissen.
Zu Weihnachten kam dann die große Überraschung. Sie hatte einfach alles selbst organisiert. Sie stellte uns vor vollendete Tatsachen und eröffnete uns, dass sie ins betreute Wohnen ziehen würde – zu ihren Freunden. Es war schwer für mich, das zu akzeptieren und ich versuchte sie mehrmals zu überreden doch zu bleiben oder wenigstens bei uns zu wohnen. Ich fühlte mich, als wäre ich Schuld daran, dass sie ihr zu Hause verließ.
Als ich meine Geschwister anrief, wussten sie bereits alle davon und versuchten mir einzureden, dass ich mich freuen sollte und dass es dort, in diesem Altersheim, auch besser für unsere Mutter wäre. Ein paar Tage später sah ich mir das Altersheim an und tatsächlich glich es mehr einem Mehrfamilienhaus mit freundlicher Atmosphäre, in denen zusätzlich ein paar Ärzte und Pfleger rumliefen, als den Albtraumbildern aus meinem Kopf. Beim Umzug durfte meine Mutter alles mitnehmen, was ihr wichtig war. Ihren alten Ohrensessel zum Beispiel und viele ihrer alten Fotos.
Ihr Hochzeitsfoto lag ihr besonders am Herzen. Sie sagt immer, dass das Leben mit meinem Vater Tage voller Glück für sie bedeutete. Er war wirklich einfach zu früh von uns gegangen.
Jetzt waren alle ihre Lieblingsgegenstände aus dem Haus verschwunden und wir waren hier. Ich war hier – hier oben auf dem Dachboden, zwischen all den Erinnerungsstücken meiner Mutter, die es zu entrümpeln galt.
Langsam bewege ich mich durch die ganzen mir vor allem unbekannten Stücke, bis ich auf einen kleinen roten Schrank mit Blumenmuster stoße, der mehr als verstaubt ist. Ich weiß, woher er stammt. Solange ich mich erinnern kann, stand dieses Schränkchen im Eingangsbereich meiner Großmutter. Einen Großvater hatte ich leider nie – er war im Krieg gefallen.
An meine Großmutter jedoch habe ich viele Erinnerungen. Sie alle sind sehr schön. Gerade jetzt ist es, als würde ich ihren Duft riechen – eine Mischung aus Kaffee und Pfefferminz. Ein Lächeln huscht über meine Lippen – dieser Moment ist wie der Fund eines lange verborgenen Schatzes für mich und ich will ihn festhalten. Ich drehe mich nach links und rechts und hoffe noch mehr vertraute Gegenstände zu entdecken.
Ich hebe Truhendeckel an und stelle Kisten beiseite und je mehr Zeit verstreicht, desto mehr Dinge fallen mir in die Hände, die irgendwann mal eine Rolle in meinem Leben gespielt haben. Der Schaukelstuhl aus dem Schlafzimmer meiner Eltern, um den wir uns als Kinder immer gestritten haben, das alte Kaffeeservice meiner Mutter, das wir irgendwann ersetzten, nachdem meine Schwester mehrere Einzelteile davon hinter ihrem Exfreund hergeworfen hatte und schließlich sogar eine Kiste mit alten Kleidern meiner Mutter, die sie jeden Sommer trug, als sie noch jung und ich noch ganz klein war. Was hatte ich doch für eine glückliche Kindheit. Sie war voll von Liebe, Zuneigung und Geborgenheit.
Eifrig suche ich weiter nach Gegenständen, die mich an diese wunderbare Zeit erinnern.
Dann sehe ich ihn – einen alten, ausgefransten Koffer, einsam und alleine in einer Ecke stehen. Es ist, als würde er mich magisch anziehen. Als ich vor ihm stehe, betrachte ich ihn von allen Seiten. Er hat noch keines dieser modernen Schnappschlösser, sondern wird von zwei altmodischen Gurten mit rostigen Schnallen zusammengehalten. Er scheint einmal ein sehr schöner Lederkoffer gewesen zu sein, der jedoch der Zeit zum Opfer gefallen ist. Ich weiß nicht, ob ich ihn kenne, woher er kommt oder was er beinhaltet, aber ich spüre, dass er mir etwas bedeutet. Er macht mich geradezu nervös und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich öffnen soll. Vielleicht ist er ja leer. Probeweise hebe ich ihn ein Stückchen hoch und lege ihn dann behutsam zurück. Er ist zu schwer, um leer zu sein. Im Schneidersitz setze ich mich vor den Koffer und fange langsam an, die Schnallen zu lösen. Meine Hände zittern, ich bin total nervös und mein Magen fühlt sich an, als würden die Pfannkuchen vom Mittagessen eine Party darin veranstalten. Nachdem ich die Schnallen gelöst habe, hebe ich behutsam und ganz langsam den Deckel des Koffers. Ich bin so aufgeregt, dass mir sogar das Atmen schwerfällt. Zunächst kann ich nicht viel erkennen, weil mein Körper einen Schatten über den Inhalte wirft. Ich rutsche ein Stück beiseite und kann kaum glauben, was sich mir offenbart.
Dort liegt sie – meine alte Eisenbahn. Meine Eisenbahn, die ich zu meinem sechsten Geburtstag von meinem Vater bekommen habe. Meine Eisenbahn mit der wunderschönen alten Lokomotive, die unermüdlich all die kleinen Waggons durch mein Zimmer zog – so, wie sie es auch schon bei meinem Vater und meinem Großvater getan hatte.
Plötzlich kann ich nicht mehr an mich halten. Ich stehe auf, stolpere über Kisten, Teppiche und was sonst noch herumliegt und räume fieberhaft den Platz direkt unter dem Lichtkegel frei. Als ich fertig bin, nehme ich behutsam die Einzeteile aus dem Koffer und füge sie zusammen. Alles ist noch da. Jetzt fehlt nur noch die Lokomotive, dann ist alles perfekt. Ich nehme sie in die Hand und ziehe sie auf – eine Technik, die heute längst nicht mehr verwendet wird. Dann setze ich sie auf die Schienen, verbinde sie mit den Waggons und lasse sie ihre Kreise ziehen. Ich hebe den Kopf und sehe meinen Vater lachend neben den Schienen sitzen, wie er mir Geschichten über die Menschen in den Waggons erzählt. Bunte Geschichten aus einer Welt voller Abenteuer. Lustige und traurige. Spannende und lehrreiche. Jeden Tag kamen ein paar neue hinzu. Hier und heute kann ich sie alle nochmal hören. Hier und heute kann ich das Strahlen in den Augen meines Vaters und die Fältchen in seinen Mundwinkeln plötzlich noch einmal sehen. Was für ein wunderbarer Moment.
Als ich zehn war, erloschen die Augen meines Vaters und mit ihm die bunten Geschichten, um die Fahrgäste meiner Eisenbahn. Das Lachen meines Vaters, dass ich so sehr geliebt habe, erklingt noch einmal und ist weg, als die Lokomotive zum Stehen kommt.
Zurück bleibt ein warmes Gefühl und ein Kopf voller Erinnerungen. Damals, als mein Vater einschlief, ich die Eisenbahn aus meinem Zimmer verbannte und er mich mit gebrochenem Herzen zurückließ, hätte ich nie gedacht, dass mich durch Gedanken an meinen Vater noch einmal soetwas wie Glück durchströmen würde. Heute jedoch ist genau das passiert. Meine Mutter hat mir damit unbewusst ein noch viel größeres Geschenk gemacht. Weil sie so gut auf meine Erinnerungsstücke aufgepasst hat, hat sie meinem gebrochenen Herzen die Chance gegeben, wieder zu heilen. Die Macht der Erinnerung hat mich wieder zusammengefügt.
Entschlossen packe ich die Eisenbahn wieder in den Koffer und verlasse mit ihr den Dachboden. Hier oben würde alles so bleiben, wie es war und unten würden die alten Geschichten meines Vaters in naher Zukunft die Luft des Kinderzimmers meines Sohnes füllen.
Danke Mama – Danke für die Erinnerungen an meinen Vater. Ein Leben mit ihm bedeutete Tage voller Glück.

Impressum

Texte: Cover lizensfrei von www.oldskoolman.de
Tag der Veröffentlichung: 07.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Wortspielgruppe zum Thema: "Eine alte Lokomotive, ein geheimnisvoller Koffer und ein gebrochenes Herz"

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