"...die Frucht muss treiben" - Friedrich Schiller
Prolog
»Noch eine Runde!« Damien grinste und schlang seinen Arm um meine Schulter. Seine gute Laune war ansteckend und ging um den Tisch wie ein Lauffeuer. Selbst der alte Mann am Tresen ließ ein Lächeln auf seinen Lippen sehen. »Guck nicht so pikiert«, gluckste mein Freund, die blauen Augen auf Monika gerichtet. »Die geht auch auf mich.«
Er bestellte für uns alle teuren Champagner – noch war das in Ordnung, ging doch das meiste auf die Kosten seiner Mutter. Doch sobald er erst einmal ausgezogen war und wir zusammen wohnten, musste ich ihm wohl oder übel seinen verschwenderischen Lebensstil austreiben. So schade ich das ja auch fand.
Wir stießen an, auf alles, was uns einfiel. Jakob und Monikas Beziehung. Lukas sein Outing. Auf Damiens Entschluss, Polizist zu werden. Auf das letzte Schuljahr. Auf die Zukunft. So beschissen sie auch vielleicht wird.
»Ich bin froh, so wie es ist«, posaunte schließlich Lukas leicht angeheitert heraus und schlug mit der flachen Hand auf den Holztisch, sodass uns die Kellnerin einen mahnenden Blick schenkte. Wir ignorierten sie. »Ich hoffe, dass es immer so bleiben wird!«
Minney prustete in ihr Champagnerglas und zog süffisant eine Augenbraue hoch. »Nett gemeint, aber auf ewig die zwölfte Klasse? Nein, danke!«
Wir lachten, auch Jakob, obwohl der längst aus der Schule raus war und sich wöchentlich um kleine Hosenscheißer kümmerte, die ihn mit Dingen wie Schuhe anziehen und ‚Auas‘ nervten. Lukas meinte, dass er später nicht unbedingt studieren wollte, aber sein Stiefvater es wohl verlangen würde. Momentan ließ er sein Schwimmtraining auch ziemlich schleifen. Und dann noch sein Outing. Seine ersten Liebes Erfahrungen – leider nur Schlechte.
Minney spielte mehr Klavier denn je. Sie legte es auch nicht mehr so auf Streit an wie früher. Ihr Freund tat ihr gut.
»Ich finde, dass Lukas da gar keinen falschen Gedanken hat«, sprudelte es nun aus mir heraus, Damiens warme Hand auf meinem Oberschenkel. »Wir sind doch alle relativ glücklich, oder? Eigentlich können wir zufrieden mit dem sein, was wir haben…«
»Wow, John.« Jakob nannte mich immer so. Weil es einen Johnny in seiner Kindergartengruppe gab, der immer die Knete aß und ständig andere Kinder biss. »So sozial kennen wir dich ja gar nicht.«
Beleidigt verschränkte ich die Arme vor der Brust, konnte jedoch nicht lange so tun, als hätte mich das getroffen – immerhin hatte er Recht. Mit Menschen umgehen war nicht unbedingt meine Stärke.
»Wisst ihr was das heißt, meine Lieben?« Unser Brasilianer sprang mit Strahlen im Gesicht auf, exte sein Glas, als wäre es Wasser und kein teurer Champagner. Er blickte erwartend in die Runde, mit so einer Zuversicht, dass es fast rührend war. Doch keiner von uns antwortete ihm. Der Gute war eben unberechenbar; einen Tag meinte er dies, den anderen das.
»Darauf feiern wir heute!« Er drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange und hinterließ den süßen Geruch von Alkohol. Damien sagte nichts dagegen. »Dass wir, egal, was auch immer Gott sich für uns ausdenkt, noch so ausgelassen in einer Bar sitzen können und dem Schicksal den Mittelfinger zeigen!«
»Amen!« Monika hob ihr Glas in die Luft, lachte erfreut und störte sich auch nicht daran, als Jakob sie auf seinen Schoß zog.
Die Nacht war lang. Fünf Halbstarke und die Lust am Leben.
Diese wechselhafte Lust.
Dieses miese Schicksal.
1. Kapitel – Die Blume verblüht, die Frucht muss treiben
»Johnny.« Ich hatte mir die Giraffe geschnappt und auf das Stück Wiese gesteckt, direkt neben die Löwenfamilie. »Ich bitte dich!« Die Palme baute ich auf dem Hügel auf. Irgendwie störte mich die Farbe des Teppichs. Dieses Punktemuster hypnotisierte einen fast und ich fragte mich, ob das die Kinder vielleicht ruhig stellen sollte. Mich jedenfalls irritierte es.
»Du weißt schon, dass du gerade aussiehst wie der letzte Idiot?« Ich seufzte frustriert auf, schleppte mich wieder zu den gepolsterten Stühlen und setzte mich neben Minney, die mit verkrampften Fingern in einem Magazin blätterte. Sie hatte mich richtig tadelnd angesehen.
»Sorry«, brummte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Musste mich irgendwie ablenken. Ich kann das immer noch nicht ganz fassen.«
Die Blondine spielte nervös mit einer Ecke der Seite, auf der dick und fett ein Bild von Angelina Jolie und Brad Pitt abgebildet war. Das falsche Lächeln von Stars faszinierte mich Mal um Mal. »Und ich erst.«
Wir warteten noch einige Minuten, bis die Sekretärin Monika aufrief. Ich drückte ihre Hand, lächelte ihr aufmunternd zu und sah ihr hinterher, während sie den Warteraum verließ. Egal, wie feige und verantwortungslos das vielleicht sein mag, aber ich fürchtete mich so sehr, da mit reinzugehen, dass ich lieber wie auf heißen Kohlen auf diesem Stuhl saß und wartete.
Vor Langeweile spielte ich die ganze Zeit sinnlose Spiele auf meinem Handy, ohne das wirklich wahrzunehmen. Ich schickte auch Damien SMS‘, auf die er sowieso nicht antwortete. Das tat er schon seit einer Weile nicht mehr. Natürlich störte mich das nicht, immerhin wohnten wir in der gleichen Wohnung und waren eigentlich auch schon seit der Zehnten ein Paar, ich wusste also, dass er sie zumindest las. Also schrieb ich ihm einfach.
Meine beste Freundin kam schließlich irgendwann wieder, mit wackeligen Knien und ihrer Tasche unter den Arm geklemmt, stolzierte sie auf mich zu, nur um mir im nächsten Moment wie verloren um den Hals zu fallen.
»Ssht«, entfuhr es mir, weil mir nichts Besseres einfiel. Ich fühlte mich etwas hilflos, wie ich ihr so über den Rücken streichelte und sie meine Schulter vollweinte. In all den Jahren, in denen wir uns kannten, hatte es nie eine solche Situation gegeben. Nicht mal im Kindergarten, als sie von dem Kirschbaum im Garten gefallen war. Sie hatte keine einzige Träne verdrückt. Und jetzt waren wir hier.
Seltsamerweise schätzte ich mich glücklich, sie bei mir zu haben. Ich liebte sie, ja, als meine beste Freundin. Deswegen glaubte ich immer noch, dass wir das durchstehen konnten.
»Und?«, fragte ich nach, als sie sich von mir gelöst hatte und neben mir auf den Stuhl gesunken war. »Wie sieht’s aus?« Sie schniefte, nestelte an ihrer Tasche herum und atmete ein paar Mal tief durch. »Der Arzt meint, es ist alles okay soweit. Und, na ja…« Monika schluckte stark, holte aus einer Seitentasche ein kleines Bild und hielt es mir direkt unter die Nase, ohne ein weiteres Wort. Ich war baff. Konnte nichts sagen, wahrscheinlich ziemlich lange, denn ihre Hand, die mir das Foto entgegenstreckte, fing an zu wackeln. Vielleicht lag es aber auch an mir. Ich war so überwältigt, dass mein Kopf wie leergefegt war.
»Das…« Sie nickte. Mir klappte der Mund auf. »Wow.« Wieder bestätigte sie es mit einem Nicken.
»Weißt du schon, na ja«, ich nahm das Ultraschallbild und musterte es angestrengt, »ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«
»Ne. Das kann man erst ungefähr ab der 13ten Woche feststellen, hat er zumindest gemeint. Da wäre dann auch mein nächster Termin.« Minney steckte das Bild wieder weg und straffte sich. Mit Schwung stand sie auf, warf sich ihren Mantel über und hetzte nun auch mich, damit wir so schnell wie möglich hier weg konnten. Irgendwie verstand ich sie.
Als wir den Empfangsbereich gemeinsam verließen, lächelte uns die Sekretärin noch freundlich zu. »Ihr seid wirklich ein hübsches Paar. Einen schönen Tag noch!« Darauf schnaubte ich nur argwöhnisch und brummte unbestimmt. »Schön wär’s.« Monika verabschiedete sich ordentlich. War ja nicht mein Frauenarzt.
In der Stadt holten wir uns noch Kaffee und Muffins, die wir uns ursprünglich teilen wollten, aber ziemlich schnell alle in Monikas Bauch verschwunden waren. Zumindest war der Kaffee in Ordnung.
»Hat Jakob sich mal bei dir gemeldet?« Das war momentan ihr Hass-Thema überhaupt. Bis jetzt hatte sie ständig sofort abgeblockt oder abgelenkt. Aber jetzt, wo wir bereits ‚das Schlimmste‘ hinter uns hatten, konnten wir auch das noch ausweiden.
»Nein«, murrte Minney mit zusammengebissenen Zähnen. »Kein Wort. Sein Handy ist ständig aus und auf die SMS‘ hat er natürlich auch nicht reagiert. Seine Brüder meinen alle, dass sie nicht wissen wo er ist und sein Vater will gar nicht erst mit mir reden.« Ihre Stimme zitterte, doch sie hob energisch den Kopf und blinzelte die Tränenflüssigkeit aus ihren Augen. »Es ist, als hätte er nie existiert. Als hätten wir uns nie kennengelernt. Als … als … hätte er mich einfach vergessen.«
Die brünette Verkäuferin schenkte mir einige nette Blicke, gefolgt von einem niedlichen Lächeln. Unbewusst musste ich sofort wieder an die Zeit denken, zu der ich noch der Nerd und Langweiler gewesen war, damals in der Schule. Bevor ich Damien getroffen hatte. Was auch den Grund für mein mangelndes Interesse an Frauen darstellte. Ich ignorierte die Dame.
»Er braucht nur seine Zeit.« Ich hatte keine Ahnung. »Das ist ja auch harter Tobak. Sowas verträgt man nicht so leicht.«
Die Blondine nippte an ihrem Kaffee, reagierte gar nicht weiter auf meine Aussage. Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders. Wie so oft in letzter Zeit. Um genau zu sein, seit diesem Tag vor knapp zwei Monaten, der uns das Leben seither so schwer machte. Und der sich gerade als Embryo in Monikas Bauch manifestierte.
Danach fuhr ich Monika zu Patrick, bei dem sie zurzeit wohnte. Ihre Eltern wussten von ihrem Glück noch überhaupt nichts, weil die momentan noch im Urlaub irgendwo in der Türkei waren. Patrick nahm stattihrer die Rolle der Unterstützung ein und kümmerte sich um seine kleine Schwester wie die letzte Glucke. Ich musste ihm eine Nachricht schreiben, wenn ich Monika abholte, mit genauer Uhrzeit, wann ich gedachte, sie wieder zurückzubringen! Manchmal kam ich mir vor wie ein kleines Kind, dass an der Haustür der Familie Grünling klopfte und fragte, ob Minney raus kommen darf zum Spielen. Trotzdessen konnte ich ihm wegen solcher Lappalien nicht böse sein – war er doch der einzige, der uns die Schuld an der Misere nicht ständig auf die Stirn stempelte.
Ich war alleine zu Hause. Damien befand sich bei einem seiner Seminare, die ihn auf den Einstellungstest vorbereiten sollten. Es brachte mich immer noch zum Schmunzeln, wenn ich ihn mir in Polizeiuniform vorstellte. Ich konnte mich noch daran erinnern, wie er mir damals versucht hatte zu erklären, dass er Polizist werden wollte. Weshalb, hatte ich natürlich überrascht gefragt. Und weshalb? Weil ihm sein Vater als Kind erzählt hatte, dass Polizisten in Filmen immer ein Happy End bekamen. Wie konnte man seinen Sohn nur so dreist anlügen? Aber diese Vorstellung … die hatte etwas von einem kleinen, naiven Jungen.
Ich hätte mir eine Katze geholt, wenn Damien nicht so strikt dagegen wäre. ‚Noch ein kuschelbedürftiges Monster, das ich füttern muss, brauch ich echt nicht‘ oder sowas in der Art hatte er zu dem Thema gesagt. Jetzt war ja alles anders. Bestimmt fiele es ihm nicht einmal auf, wenn hier eine Perserkatze übers Parkett schlittern würde. Nur, damit ich mich nicht mehr so überflüssig und mies fühlte.
Weil ich in zwei Wochen eine Prüfung in der Uni schrieb – und ja, ich bin der elendige Streber geblieben – schmiss ich mich mit Chips und den Lehrbüchern aufs Sofa und paukte. Viel mehr blieb mir auch nicht übrig, außer vielleicht rüber zu Corinna und Jochen zu gehen, die direkt in der Wohnung gegenüber lebten, Mitte dreißig waren und mich grundsätzlich bequatschten, mit ihnen doch mal auf Ü30 Partys zu gehen oder mit Damien und ihnen zu kochen. Bis jetzt hatten wir uns immer ganz gut rausgeredet.
Ich studierte Astronomie und Physik auf Lehramt, kaum zu glauben. Nicht etwa weil mir die Schulzeit so sehr gefallen hatte, sondern eher, weil ich es mochte, anderen Leuten Wissen zu vermitteln – und wenn es auch nur diese selbstverliebten, pubertären Gymnasiasten waren. Immerhin konnte ich mich relativ gut in sie hinein versetzen.
Am späten Nachmittag, nachdem ich die gesamte Tüte geleert hatte, hörte ich, wie die Haustür aufging. Unsere gemütliche, kleine ‚Studentenbude‘ war so hellhörig, dass wir förmlich die Obstfliegen in der Küche pupsen hörten. Damien stolzierte ins Wohnzimmer, warf seine Jacke auf den Sessel und ließ sich direkt neben mir aufs Sofa fallen. Sagen tat er jedoch nichts. In letzter Zeit war es einfach Akzeptanz, die er mir gegenüber zeigte. Nicht mehr und nicht weniger.
»Wie war’s?«, fragte ich bemüht und räumte meinen Kram zusammen. Sonderlich zum Lernen käme ich heute sowieso nicht mehr.
»Gut«, sagte er, »wie immer.« Dabei fuhr er sich durch seine zentimeterlangen, schwarzen Haare. Ab und zu dachte ich noch an seinen Irokesen. Stattdessen erinnerten mich aber seine Tattoos an seine ‚rebellische‘ Zeit. Zu seinem 19ten Geburtstag hatte er sich noch eins stechen lassen. Einen Stern, keinen kitschigen, eine richtige, kleine Supernova auf das Schulterblatt, sah realistisch aus und stand für mich, hatte er dazu gemeint. Keine Ahnung, ob er das jetzt bereute.
Dann hörte man nur noch das penetrante Ticken der Küchenuhr, weil man, wie gesagt, wirklich alles in dieser Wohnung zu Ohren bekam. Er schaltete den Fernseher an, als wäre nichts, während ich aufstand und anfing wie nervös Sachen aufzuräumen. Das hatte sich seltsamerweise zu einem Tick von mir ausgebildet. Was sollte man auch tun, wenn die Person, die man auf der Welt am wenigstens verlieren wollte, sich emotional so weit weg von einem befand? Zum Aufgeben war ich nicht bereit. Und ich hoffte, das werde ich niemals sein.
»Lass das«, brummte er tonlos, mit diesem eiskalten Blick direkt auf mir. Ich hielt seine Jacke in den Händen. »Ich räum sie gleich weg. Leg sie wieder hin.« Sicherlich hatte niemand behauptet, dass es leicht war. Tief in mir drin schmerzte seine Art, wie er mit mir umging und sein Ton, wie er mit mir sprach, ein Glück nur, dass er sich da einen der größten Gefühlsanalphabeten gesucht hatte.
Mit leicht geknickter Fahne ließ ich dem Herrn seine Freiheit. So war das immer, egal wie man es machte, man machte es falsch. Ich spielte auf Glück, wenn ich versuchte, ihm Gefallen zu tun oder unseren Haushalt geringfügig zu teilen. Trotzdem beschloss ich, Mittag zu kochen. Viel daran rumzumeckern konnte er nicht haben, denn er war von uns eindeutig der miesere Koch und nur vom Lieferservice leben wollte er ja auch nicht. Das war dieser kleine Triumph, den ich täglich durchlebte. Für manche ein Schlag in die Fresse der Männlichkeit, für mich ein Stück Zusammenleben, das Damien uns ließ.
Ich dachte dabei keine Sekunde schlecht von ihm, was auch reichlich unfair wäre, denn die Schuld trug nun wirklich ich. Seine Reaktion war nachvollziehbar und völlig logisch, egal wie lange er vor hatte, das durchzuziehen. Dabei konnte er jedoch nicht erwarten, dass ich uns wegen meinem Fehler einfach aufgab. So viel Zeit schmiss man nicht mal eben weg. Lukas hatte mir – kurz nachdem ich auch ihm davon erzählt hatte – gesagt, dass ich gefälligst jede noch so kleine Hürde die in Zukunft käme, mit Salto zu nehmen hatte, sonst würde er mich und meinen Hintern persönlich darüber treten. Wortwörtlich!
»Ich hab gehört, ihr ward beim Arzt.« In seiner Stimme schwang Neugier und auch unterdrückte Wut mit. Manchmal wünschte ich mir einfach, er würde mich anblaffen und anpöbeln wie früher, aber er ließ nichts heraus.
»Ja.« Die Möhren hatten sehr unter meiner aggressiven Schnitttechnik zu leiden.
»Geht’s eurem kleinen Braten in der Röhre gut?«
Ich schluckte und warf einen prüfenden Blick über die Schulter. Damien lehnte lässig am Türrahmen und fixierte den winzigen Esstisch, den wir in die Ecke unter das Fenster geklemmt hatten. Ein altes Holzding mit diversen Brandflecken seit Silvester. »Sieht ganz so aus.«
»Schön für euch.« Dann vernahm ich noch die dumpfen Schritte auf dem Parkett, ehe ich die viel zu kleinen Möhrenstückchen in die Pfanne warf.
Ja, richtig schön.
Henri Matisse
Mir fiel das Einschlafen manchmal besonders schwer. Es ging nicht darum, dass meine Gedanken – wie fast ständig – selten zur Rast kamen und mich belasteten oder so einen Quatsch. Das hatte mich noch nie vom Schlafen abgehalten. Nicht mal eine Bombe konnte mich davon abbringen, ins Land der Träume zu segeln.
Es lag eher daran, dass Damien, nachdem er eingeschlafen war, meist in so einem Maße klammerte, dass er mir teilweise die Luftröhre zerquetschte. Dieses Mal lag er halb auf mir, ein Bein über meine Hüfte, ein Arm quer über meinen Oberkörper und sein Gesicht auf meiner Brust. Er klammerte schrecklich und verwandelte sich auch leider in keine Feder, um mir eine anständige Atmung zu gewähren.
Trotzdem käme ich niemals auf die Idee das zu ändern. Immerhin war das das Intimste, das wir zurzeit vollbrachten. Ich genoss es, solange er es mir gönnte, wenn auch nur im Schlaf. Wach käme er sicherlich nicht auf die Idee, mir wieder so nahe zu kommen. Anfangs, kurz nachdem ich ihn betrogen hatte, duldete er mich nicht einmal im selben Raum.
Dann trat aber ziemlich bald ein unübersehbares Problem bei ihm auf. Nein, nicht, dass niemand mehr hinter ihm her putzte, viel präsenter! Damien konnte ohne mich nicht einschlafen. Ohne den Mann, den er wie einen verschmähten Ehegatten auf das Sofa verbannt hatte, an seiner Seite, war es ihm unmöglich geworden, seinen normalen Schlafrhythmus wieder aufzugreifen. Also fasste Damien einen Entschluss, prügelte seinen Stolz hinunter und kam eines Nachts zu mir ins Wohnzimmer, wo ich am nächsten Morgen neben ihm aufwachte. Man konnte sich nichts Schöneres vorstellen! Mittlerweile glaubte ich aber, dass es ein Fehler gewesen ist. So hatte sich unser Streit nie so entfaltet, wie er vielleicht sollte.
Dennoch froh über diesen Moment, duldete ich den Klammergriff, als wäre er ein Geschenk und ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Da war eine Pinnwand über dem Schreibtisch, auf der Minney etliche, selbstfotografierte Bilder angepinnt hatte. Zum Beispiel der 13 Geburtstag von Harriet, an dem Lukas ihr zum ersten Mal Alkohol gegeben hatte, den sie eher schlecht vertrug. Seitdem besaßen meine Eltern keinen Sekt mehr im Haus. Dann unser Ausflug an die Ostsee in den Sommerferien, nach der Elften. Lukas hatte seinen damaligen Freund Dylan mitgebracht, deshalb zeigte das Bild auch, wie dieser mit einem Plastikeimer auf dem Kopf Lukas über die Dünen trug, der ihn mit einer Kinderschaufel schlug. Kurz danach hatten sie sich getrennt, weil Dylan nach Amerika gereist war, zurück zu seinen Eltern. Lukas hasste Fernbeziehungen und hatte leider keine Zukunft für sie gesehen. Dylan wurde von allen gemocht, die Trennung hatte jeder von uns bedauert. Auch ein schlecht geschossenes Partybild fand ich. Lukas, Dylan, Damien, ich und Patrick mit irgendeinem Typen, den er an dem Abend wohl abgeschleppt hatte. Ich konnte mich noch daran erinnern, dass Jakob uns in der Nacht abholen musste, weil wir unser ganzes Geld für Alkohol verprasst hatten und nichts mehr für ein Taxi übrig gewesen ist.
Ich musste lächeln und fragte mich unweigerlich, wie es wohl wäre, wenn ich nicht in dieser einen Nacht zu Hause gewesen wäre. Wenn Minney geklingelt hätte und ich einfach nicht auf gemacht hätte. Sowas ging mir ständig durch den Kopf. So gemein es auch klingen mochte, dieses Kind, das Minney erwartete, wollte ich nicht. Ich war kein Vater, ich war ein Trottel, unsozial und außerdem schwul. Niemand würde mich als potentiellen Vater freiwillig auswählen. Ich war ein kümmerlicher Student, der nicht nur seinen festen Freund betrogen, sondern auch seine beste Freundin geschwängert hatte. Hätte es für den größten Idioten des Jahres einen Preis gegeben, hätte ich ihn sicherlich bekommen. Vielleicht auch postum. Keine Ahnung, wie Monikas Vater auf die ‚frohe‘ Botschaft reagieren würde – ich machte mich auf das Schlimmste gefasst.
Monika war an dem Abend betrunken gewesen. Sie hatte sich zuvor mit Jakob gestritten, wegen irgendwelchen familiären Sachen und hatte Trost bei mir gesucht. Ich hatte geöffnet, mit ihr getrunken – und … ich vertrug keinen Alkohol. Wirklich nicht.
Natürlich keine Entschuldigung dafür. Sie hatte darum gebeten, bei uns schlafen zu dürfen und ich hatte eingewilligt, weil Damien sowieso momentan bei seiner Mutter zu Besuch war. Und dann … ich wusste selbst nicht mehr so genau, aber irgendwie war es passiert.
Dafür würde ich in die Hölle kommen. Erst, weil ich mich in einen Jungen verliebt hatte und jetzt auch noch, weil ich diesen betrogen hatte. Ich war ein klasse Sünder.
Ich traf mich mit Patrick und Lukas in der Stadt, in dem Café, wo Minney zurzeit arbeitete. Sie bediente uns und stellte kommentarlos eine heiße Schokolade für mich, einen starken Kaffee und ein Stück Torte auf den Tisch. Mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht langte Lukas nach dem Stück Sahnetorte. Man konnte den Sabber förmlich aus seinen Mundwinkeln laufen sehen.
„Ich treff mich am Samstag wieder mit der Band“, erzählte Pat frei heraus und nippte an seinem Kaffee. Er verbrannte sich die Zunge. Das passierte ihm immer, war wohl sowas wie ein Ritual. „Wir haben im ‚Closer‘ einen Auftritt, ich denk mal, ihr kommt.“
Lukas nickte begeistert. Seitdem er Single war, hoffte er darauf, überall durch puren Zufall seine große Liebe zu finden. Nach Dylan hatte er zwei weitere Männer kennengelernt, aber er hatte dafür kein Händchen. Der eine ist verheiratet gewesen und der andere hatte noch nicht einmal gänzlich akzeptiert, dass er schwul ist. Unser Sonnenschein war für kein Drama gemacht, das hielt er nicht aus. Schon nach seiner Trennung von seinen damals guten Freunden – die jedoch nur ein Haufen Vollpfosten gewesen sind – hatte er ab und zu Phasen gehabt, wo er nachdenklich oder betrübt in der Ecke rumgesessen hatte. Und nach Dylan hatte es ewig gedauert, damit er überhaupt morgens noch eine Hose anzog.
Ich glaube, dass Dylan der perfekte Partner für ihn gewesen ist. Aber Amerika war weit weg und Lukas, als Sensibelchen, hätte keine Fernbeziehung ertragen, zumindest nicht lange. Das war fast so traurig wie mein momentanes Dasein.
Ich seufzte und tat so, als hätte ich die Einladung überhört. Feiern zu gehen war das letzte, was ich wollte. Am liebsten würde ich aufgeben, mich in eine Ecke setzen und mit Chips vollstopfen. Dann würde mich Damien irgendwann, weil ich zu fett geworden bin, einfach vom Balkon rollen. Schluss mit der Tragödie. Abspann. Alle klatschen.
Oder eben nicht.
„Johnny, komm schon. Du musst ja keinen Alkohol trinken oder total abfeiern. Bring Damien mit und habt einfach mal wieder Spaß. Minney ist auch nicht da. Ihr könntet alles für einen Abend vergessen, oder?“ Patrick schenkte mir einen auffordernden Blick.
„Schön wär’s“, sagte ich trocken. „Und dann schenke ich ihm eine Schachtel Pralinen, einen Strauß Rosen und wir reiten in den Sonnenuntergang.“
Lukas musste schmunzeln, wenn es auch ein bisschen bitter aussah. „Ich bin doch auch da. Pat hat recht. Zieh den Kopf aus dem Dreck und raff dich auf. Vielleicht hilft das auch Damien.“
Er hätte mich längst verlassen sollen, dachte ich mir.
Damien kam mit, aber wahrscheinlich nur wegen Lukas. Trotzdem freute ich mich, wieder einen Abend wie früher mit ihm zu verbringen. Wir unterhielten uns, über Patrick und seine Band und er lachte sogar über einen blöden Witz von mir. Lukas hatte recht gehabt, die Stimmung war gelöster. Auch Damien schien mal vergessen zu wollen.
„Kommt Monika auch?“ Diesmal brannten seine Augen, das kalte, blaue Eis schmolz praktisch darunter. Ich zuckte, als hätte ich mich verbrannt. Es war nicht lange her, vielleicht zwei oder drei Wochen, dass ich ihm meinen Ausrutscher gebeichtet hatte. Einen Tag, nachdem Minney auffiel, dass sie überfällig war. Seitdem hatte er gar nicht oder nicht viel von ihr gesprochen. Dass er das Thema jetzt ausgerechnet auf sie umlenkte, traf mich deshalb.
„Nein“, antwortete Lukas statt meiner. „Sie trifft sich mit einer Freundin von der Arbeit. Heute ist sozusagen ein Männerabend.“ Er grinste. Seine hellen, weißen Zähne schimmerten im Kontrast zu seiner gebräunten Hautfarbe.
Damien lächelte, aber es erreichte seine Augen nicht. Dann sah er zu mir, fast vorsichtig, als wäre ich ein gefährliches Tier, das jederzeit ausbrechen könnte.
Ich nahm seine Hand und er ließ es zu. Fast wie Weihnachten, dachte ich mir und musste grinsen. Sah bestimmt betrunken oder völlig bescheuert aus.
Er testete mich. Das stellte ich ziemlich schnell fest. Er flirtete mit einer Barkeeperin und auch mit einem dunkelhaarigen Kerl, während Patrick auf einem relativ kleinen Podest mit seiner Band ein Lied nach dem anderen raus knallte. Dabei glitt sein Blick immer wieder prüfend zu mir. Ich reagierte aber nicht. Ich wüsste auch nicht wie. Was erwartete er denn? Dass ich aufsprang und alles kurz und klein schlug? Dass ich heulend raus gehen würde?
Irgendwo wünschte ich mir sogar, er würde mich betrügen, damit nicht nur ich als Idiot dastehen musste. Aber das war Schwachsinn. Man konnte Feuer nicht mit Feuer bekämpfen. Deswegen wollte ich das Löschwasser sein.
Also lächelte ich ihn an, während er den fremden Typ bequatschte. Und als der verschwand, griff ich ein zweites Mal nach Damiens Hand und zog ihn zur Tanzfläche. Ich konnte noch immer kein Stück tanzen. Ich war besser im Blamieren.
Er entwand sich meiner Hand, ging aber auch nicht fort, was ich als kleinen Sieg abstempelte. Er tanzte, allein und manchmal mit Lukas. Ich zappelte derweil ein bisschen rum, als tanzen konnte man das nicht bezeichnen.
So ging das eine Weile weiter. Wir gingen zur Bar, holten was zu trinken und dann wieder zurück auf die Tanzfläche, bis Patricks Auftritt zu Ende war. Danach wetteiferten Lukas und Patrick, wer von ihnen mehr trinken konnte und schlussendlich brabbelten die beiden an der Theke vor sich hin. Ab und zu kicherten sie wie Schulmädchen.
Wir riefen gegen vier ein Taxi, weil mit Pat und Lukas nichts mehr anzufangen war. Als wir so zu viert da saßen und der Fahrer sich mit Lukas über diverse Schwimmtechniken unterhielt, kam es mir vor, als hätte sich nie was verändert. Minney hätte davon ein Foto machen können und ich hätte es selbst an die Pinnwand im Schlafzimmer gehängt.
Und da war der Fehler. Minney.
Patrick und Lukas wurden zuerst raus geschmissen, wir waren die letzten und ich bezahlte den Taxifahrer, der uns noch freundlich eine gute Nacht wünschte. Oben angekommen, schmiss ich mich noch mit Straßenklamotten ins Bett. So ziemlich alles um mich herum drehte sich, was so viel hieß wie ‚ein Schnaps zu viel‘.
Damien lachte über mich, als er ins Schlafzimmer kam. Im Gegensatz zu mir zog er sich bis auf die Boxershorts aus und legte sich neben mich. Es tat gut. Seine Körperwärme war angenehm und ich seufzte zufrieden.
Fast erschrocken stellte ich fest, dass seine Hand auf meiner Schulter ruhte. Ich konnte mir ein glückliches Lächeln nicht verkneifen.
„Ich liebe dich.“
Das war ein Fehler.
Er zog seine Hand weg und rollte sich auf die andere Seite. Jetzt lagen wieder Welten zwischen uns.
„T-Tut … tut mir leid. Ich weiß nicht, die Nacht war echt schön und…“
„Schon gut“, unterbrach Damien mein Gestammel. „Ich bin nur müde.“
Bei der Ausrede konnte ich mir kein Schnauben verkneifen. Ich wollte mich nicht verstecken, nur weil ich meine Fehler einsah. Ich war ein Arschloch, aber kein vollkommenes Arschloch. „Nein, nein, das ist es nicht. Wieso kannst du nicht einfach akzeptieren, dass ich immer noch liebe?“ Er war angespannt. „Ich denke nur, dass das nicht der richtige Zeitpunkt ist…“
„Der richtige Zeitpunkt?“ Es war der Alkohol, der mich vorschnell werden ließ. Ich setzte mich aufgebracht auf und knetete mein Kopfkissen zwischen den Händen. „Wann ist denn deiner Meinung nach der richtige Zeitpunkt?!“
Damien ließ verkrampft Luft aus. Ein Zeichen dafür, dass er wütend war. „Du hast keine Ahnung. Dir wäre es doch am liebsten, wenn sofort alles wieder gut wäre!“ Er stand sprunghaft auf und öffnete hektisch das Fenster. Die hereinziehende Luft war kühl. „Aber das geht nicht, ganz einfach! Und es ist mir scheiß egal, ob du das verstehst oder nicht!“
„Wie zum Teufel soll ich das auch verstehen?“ Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals herunter. „Hast du nur ein Wort darüber verloren, was passiert ist? Natürlich wäre es toll, wenn du mir verzeihen könntest. Ist es falsch, darauf zu hoffen? Was erwartest du denn?! Dass ich gehe? Ist es das? Dass ich dich betrüge, weil ich der größte Arsch bin und dich dann sitzen lasse? Das wäre so schön einfach!“ Er ballte seine Hände zu Fäusten und presste sie an seine Schläfen. „Ja, ja! Wieso kann es nicht einfach sein? Ich kann dir nun mal nicht verzeihen, jetzt nicht. Ich habe es nicht so schwer gemacht und ich wollte auch nie, dass es so schwer für uns beide wird…“
Ich war auch aufgestanden, zu ihm rüber gelaufen und griff nach einer seiner Fäuste. Ich lockerte sie und sie öffnete sich. Seine Handflächen waren groß. „Es tut mir leid. Ich wünschte, es wäre nicht passiert und ich will, dass es so wird wie vorher. Du hast mich auch mal betrogen, ich habe verziehen. Ich liebe dich. Mehr kann ich dir nicht sagen. Außer, dass ich nicht aufgeben werde, bis du mir irgendwann doch noch verzeihen kannst.“ Dann lächelte ich trostlos. „Keine Ahnung, ob das reicht.“
Er kaute auf seiner Unterlippe herum, das machte er eigentlich selten. Damien war eher der Fingernägel Kauer. Eine Weile war es still, ich ließ seine Hand los, weil meine schwitzig wurden. Ich fühlte mich komplett nüchtern.
„Nein“, sagte er ruhig. „Mir reicht das nicht.“
Ich wünschte, er hätte dabei nicht so verzweifelt ausgesehen.
Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
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Tag der Veröffentlichung: 03.02.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Leser, die noch immer nicht die Finger von den Hosenkönigen lassen können.