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Das Leben als Frosch



Liebe und Hass ist etwas vollkommen Natürliches. Sie sind kräftige, präsente Gefühle, die den Menschen durch sein gesamtes Leben hinweg begleiten. Doch sie liegen ziemlich nah beieinander – manchmal sind die Linien, die sie trennen, nur hauchdünn. Kaum bemerkbar. Und viel zu leicht zu überschreiten.
Ich, Vincent Lindemann, war eine Person, die mehr hasste als liebte.
Ich hasste die überfüllten Busse und Züge am Nachmittag. Ich hasste öffentliche Schwimmbäder, denn mal ehrlich, wer wusste denn, was in dem Wasser so alles rumschwamm? Ich hasste Standardtänze, auf schwitzige Hände konnte ich wirklich verzichten. Ich hasste Hitze, Sportunterricht, kleine, abgedrehte Kinder, dramatische Liebesfilme, hirnloses Schikanieren, Intoleranz, wenn selbst Deutsche ihre eigene Sprache nicht mehr ordentlich beherrschen und …
… und vor allem hasste ich ihn

.
Er

war Elias König. Er ging in dieselbe Klasse wie ich. Er war beliebt, gut in der Schule, hatte eine Freundin, war Klassensprecher und ein absoluter Großkotz. Er war vermutlich die Person, die ich am wenigsten auf der Welt leiden konnte – neben demjenigen, der Sauna erfunden hatte. Pfui!
Pfui traf es ganz gut. Am liebsten würde ich die Zeit zurück drehen, zu dem Jahr, in dem Herr und Frau König gerade frohen Mutes dabei gewesen sind, den süßen, kleinen Elias zu zeugen. Dann hätte ich mit Spritzpistole vor dem bereits angeheizten Ehebett gestanden und es ihnen wie unseren ungezogenen Kätzchen damals beigebracht: „Aus, pfui, böse Mieze! Nein, nicht rammeln! Das ist bah! Da kommt nur das größte Arschloch unserer Generation als Produkt bei raus und das wollen wir doch nicht! Auuus…“ Hätte letztendlich bestimmt sowieso nicht viel gebracht. Dann hätten sie das am nächsten Tag sicherlich wiederholt und … der Gedanke allein, dass Herr und Frau König … lassen wir das Thema!
War ja eh zu spät. Ich hatte leider keine Zeitmaschine parat und Elias umbringen, beförderte mich nur unnötig in den Bau. Obwohl ich mir dort endlich das heiß ersehnte Knast-Tattoo stechen lassen könnte, sprach der nicht gerade für sich. Beim Bücken nach der Seife wollte ich nicht unbedingt meine Unschuld verlieren…
Also ertrug ich unsere gleichzeitige Existenz einfach, auch wenn das nicht immer unkompliziert war. Wenn man sich beinahe jeden verdammten Tag über den Weg lief, bekam man praktisch nie Ruhe von dem Stress. Denn der blöde Arsch hielt es nicht mal für nötig, wenigstens ein paar Tage krank zu machen und mir freie Zeit zu gönnen. Nein, der liebe Elias konnte keinen einzigen Fehltag vorweisen! Sein Zeugnis glänzte hochwahrscheinlich vor Vorbildlichkeit und hing eingerahmt im Elternhaus über dem Kamin, direkt neben meinem Gesicht als Zielscheibe, das dieser Idiot boshaft lachend wieder und wieder versuchte, mit spitzen, dicken Pfeilen zu treffen. Ja, so stellte ich mir das vor. Perfekt.

Heute war wieder einer dieser Tage, an denen ich mich immer fragte, warum ich überhaupt aufgestanden war. Um mir Lisas Kommentare anzuhören, ob ich beim Friseur gewesen bin oder damit mir Sarah sagen durfte, wie cool sie mein neues Intim Piercing fand? Wohl kaum. Mein hübscher Hintern befand sich ausnahmsweise nur auf meinem Sitzplatz direkt in der ersten Reihe, weil der liebe Herr Tretmann sonst einen seiner berühmt berüchtigten Besorgnisanfälle kriegen würde – und dafür wollte ich ja nicht verantwortlich sein. Zumindest noch nicht, sowas hob ich mir eigentlich für Klassenarbeiten und Klausuren auf.
Julia, eine fesche, vorlaute Blondine mit einem typischen, nordischen Dialekt, beschäftigte sich neben mir damit, gewisse Fernsehfiguren in ihr Hausaufgabenheft zu kritzeln. Seitdem ich in dieser Klasse war, um genau zu sein, seit über einem Jahr und ich bereute beinahe jeden einzelnen Tag , war sie fast die einzige hier, der ich nachtrauern würde. Ich mochte zwar keine aufgeschlossene, sympathische Person sein, aber Julia und ich, das passte einfach. Wenn ich nicht schwul wäre, würde ich sie glatt heiraten wollen.
Was, oh Schreck, jetzt ist es raus! Weh oh weh, ja, Vincent Lindemann ist schwul, ein grauenhaftes, Männer verschlingendes Monster, Obacht! Schützt eure Söhne, versteckt eure Brüder und selbst Opa darf nachts nicht mehr allein gelassen werden...denn schwul sein, in so einem kleinen Ort, das geht doch nicht! Was soll denn die Hildegard von nebenan denken, die leiht Mutti doch nie wieder ihr Keksrezept aus oder gar die Salatschüssel! Und wenn das Herr und Frau Beck erführen, dann bräche ja die Panik aus! Niemand würde mehr freitags mit Mama und Papa bowlen gehen, was für ein Jammer…
Schwachsinn. Ja, ich war schwul, nein, ich hatte nicht wöchentlich verschiedene Stecher im Bett und ja – ich war Jungfrau, aber wen ging denn das an? Meine Mutter wusste bereits seit ich zehn war, dass sie auf Nachkommen von mir verzichten konnte – dafür waren meine Geschwister nun zuständig. Mama machte das nichts aus, sie freute sich zuweilen sogar richtig darüber. Entgegen meiner Befürchtungen, dass ihr das irgendwie peinlich sein könnte, hatte sie mich bei meinem damaligen ‚Outing‘ nur schräg angesehen, als hätte ich versucht ihr wie ein dümmliches Kind zu erklären, woher die Milch kam. Dann hatte sie mir den Kopf getätschelt, ihrer Freundin Gudrun, die derweil mit spitzen Ohren am Esstisch gesessen hatte, Wein eingeschenkt und auf meine ‚Individualität‘ angestoßen. Manchmal schnappte ich noch so Gesprächsfetzen bei ihren Telefonaten auf, wie: „Na, mein Sohn, der Vince, der ist ja schwul, der kommt mit sowas bestens zurecht…“ oder „Haben Sie sich schon mal überlegt, ob ihr Sohn vielleicht gar keine Freundin will? Ja, ich mein‘, Homosexualität ist heutzutage ja keine Schande mehr…“. Ab und zu kam es rüber, als wollte sie die ganze Welt schwul machen, das Problem wäre dann nur, dass sie nichts mehr hätte, mit dem sie angeben könnte.
Väter waren da ganz anders drauf, zumal mein Exemplar ‚Erzeuger‘ so ein fanatischer, tiefgründiger Gefühlfischer war, der versuchte immer alles und jeden zu verstehen und gerade das war seine Schwäche: Verstehen. Ich glaubte einfach, dass er das von der Intelligenz her nicht so gut konnte, er tippte eher neunmal falsch, ehe die zehnte Antwort die richtige war.
Der war damals zwar nicht ausgerastet, hatte aber seine Psychotherapeutmiene aufgesetzt und sich mit mir und heißem Tee zusammengesetzt, um das ganz emotional ungebunden auszudiskutieren. Ob es denn derartigen Einfluss gegeben hätte? Ja, scherzte ich da, Mutti hatte mich immer gezwungen Dirty Dancing und Sex In The City mit ihr zu gucken, seither hatte ich auch diese Vorliebe für Pumps. Ob ich es denn ernst meinte und sicher sei, es wäre keine Phase, um mich als Teenager auszuprobieren? Das wüsste ich erst, wenn ich es ausprobiert hätte. Ob ich mich denn auch in meinem Körper wohlfühlen würde? Als ich darauf geantwortet hatte, dass ich schon immer davon träumte, ein Goldhamster zu sein, gab er das vernünftige Gespräch auf und schaute mit mir Fußball. Dann war ich zufrieden.
Enge Freunde, wie mein bester Freund Andi oder mein Cousin Oliver, hatten es natürlich auch recht schnell bemerkt. Oliver hatte ich es erzählt, aber Andreas zog seine Schlüsse allmählich selbst – wie ich immer unbedingt den Handballern hatte zugucken wollen oder wie ich seinem älteren Bruder hinterher geschmachtet hatte…Nachdem er mir irgendwann zu Weihnachten einen Kalender mit halbnackten Kerlen und Nougatschokolade (ich liebte Schokolade mehr als alles andere!) schenkte, hatten es schließlich alle wichtigen Personen in meinem Leben, Geschwister inbegriffen, erfahren.
Dann blieb ich hängen und wiederholte die zehnte Klasse auf einem anderen Gymnasium, das außerdem viel näher an meinem jetzigen Wohnort lag als das vorherige. Gleich am ersten Tag war mir Julia aufgefallen – sie stand abseits einer Gruppe, neben zwei Typen, der eine schlaksig und groß und der andere eher klein und kräftig. Sie alberten herum, ohne sich um die pikierten und genervten Blicke der etlichen Schüler hinter sich zu kümmern – Elias und seine Truppe Speichellecker…
Julia hatte nicht lange gebraucht um sich mit mir anzufreunden. In jeder Stunde saßen wir zusammen und redeten über alles, was uns gerade einfiel. Es passte zwischen uns eben, was sich auch nicht änderte, als ich anvertraute, dass ich vom anderen Ufer war. Sie hatte sich ja schon immer einen schwulen besten Freund gewünscht! Enttäuscht war sie dennoch, als ich ihr einbläute, dass ich trotzdem nicht jeden Nachmittag mit ihr shoppen gehen und Mädelsabende machen würde.
Und dann war da eben noch Elias. Ab dem ersten Tag bereits löste er in mir pure Abscheu aus. Wenn er sich durch dieses gegelte, braune Haar fuhr und so übertrieben überheblich lächelte, keimte in mir die reine Galle auf. Ich hatte noch nicht einmal den Klassenraum am ersten Tag betreten, da hatte er mich auch schon abgefangen. Anfangs hatte ich geglaubt, er käme nur den Pflichten eines Klassensprechers nach, aber die Art, wie arrogant er die Augenbraue lupfte oder wie schief er grinste, als wäre ich eine dämliche Straßentöle und er der Rassepudel…Pfui!
Eingeleuchtet hatte das aber erst, nachdem er mich vorstellte, ohne mir eine Chance zu lassen etwas zu sagen. Sie sollten alle rücksichtsvoll mit mir umgehen! Ich wäre eventuell nicht so leistungsstark wie viele andere! Und ach, Nachhilfe könnte er auch noch anbieten, weil er doch der Klassenbeste wäre! Alle nickten sie betroffen, als wäre er Jesus und predigte ihnen vom Paradies, während ich ab diesem Zeitpunkt wusste, wer die nächsten Jahre mein Erzfeind sein würde … neben Tauben natürlich.
Elias König.
Dass ich dem werten Herren um Anerkennung geifernd definitiv nicht mit einem fröhlichen ‚Gironimo‘ in den Allerwertesten kriechen würde, bekam er auch recht schnell mit. Während am Anfang den einzelnen Außenseitern eine geschlossene Front, angeführt vom Klassensprecher, entgegen stand, veränderte sich das Klassenklima mit meiner Anwesenheit allmählich. Ich lockerte wohl die Stimmung, denn auf einmal hatten auch die Nerds viele Freunde und Sarah begeisterte sich nun mehr für ‚Transformer‘ als für Hannah Montana, Matthias, der übergewichtige Halbafrikaner unterhielt sich öfters mit den Mädchen und ich sorgte für etliche Lacher, wenn ich mich mal wieder, gewollt oder ungewollt, zum Horst machte.
Elias hatte mich ein einziges Mal bei Seite gezogen. Er hatte wütend ausgesehen, vielleicht auch nur genervt, aber so viele Emotionen hatte ich ihm nie zugetraut. Das grenzte beinahe schon an einen Gefühlsausbruch. Nie hatte man eine Kamera dabei, wenn man sie brauchte!
„Du musst dich nicht so aufspielen“, hatte er geschimpft. „Ich weiß genau wie du bist!“ Ein aufgebrachter Wirrwarr von Emotionen hatte in seinen dunklen, braunen Augen gelodert. Es wollte mich anstecken, wie ein Parasit.
Weil ich eine aggressive, provozierbare Person war, bin ich auch drauf eingestiegen. „Ach ja? Ich weiß nämlich auch genau wie du bist!“
Wir hatten beide gelogen, aber seither führten wir eine nette, unkomplizierte (schön wär‘s!) Hassbeziehung, die wir nur allzu gerne pflegten.
Was war mein Leben doch schön!

Jedenfalls fing der wirklich interessante Teil meines Lebens an einem Freitagnachmittag an. Oliver, Andi, Julia, Benji – ein schlaksiger, windschnittiger Junge aus unserer Parallelklasse – und ich fläzten bei Benjamin zu Hause auf der Couch und schauten uns Disneyfilme an. Erst hatten wir vorgehabt, wie vollkommen normale Menschen einen DVD-Abend zu machen, aber das hatte einfach nicht geklappt. Oliver hatte bereits alle Filme, die zur Auswahl waren, mehrmals gesehen; Andi waren die Actionfilme nicht actionreich genug und auf einen tiefgründigen Film konnte er sich nicht konzentrieren; Julia lachte nur über Liebesfilme und bei Horrorfilmen schlief sie letztendlich eh ein; Benji war es egal, was wir guckten, solange etwas Blut floss und ich … na ja, ich sinnierte gerne über meine Kindheit und da kam Bambi und 101 Dalmatiner relativ passend, oder? Anfangs hatte sich Cindy, Benjamins kleine Schwester, lautstark über den Diebstahl ihrer Lieblingsdvds beschwert, bis wir sie mit Bonbons und Gummibärchen vollgestopft und mit dem Hund in den Garten geschickt hatten. Ab und zu sahen wir ihre blonden Zöpfe an der Terrassentür vorbei fliegen, begleitet von einem multiplen ‚Wuff‘ von Rudi, dem Schäferhund der Familie.
„Sagt mal, Leute … ist das Stinktier eigentlich ein Junge oder ein Mädchen?“ Olli schob sich nebenher Tortillachips in den Mund, weshalb sein halber Pullover mittlerweile mit Krümeln bedeckt war. Allgemein machte er gerade äußerlich nicht viel her. Das braune, dünne Haar hatte sich elektrisch aufgeladen und stand zu allen Seiten hin ab und auf der Jeans hatte er einen fetten Soßenfleck.
„Och, Olli!“, schimpfte ich halbherzig und gab ihm einen Stoß in die Seite. Natürlich kassierte ich dafür einen elektrischen Schlag von seinem dämlichen Pullover. Mein Cousin grinste mich triumphierend an. „Wie oft haben wir den Film schon gesehen, hm?“
„Zu oft“, seufzte Julia und klaute dem Braunhaarigen die Chips. „Ich will ja nichts verraten, Mädels, aber die Mama, die…“, sie atmete theatralisch ein und aus und warf uns allen einen mitleidigen Blick zu, „…stirbt!“
Ich tat entsetzt und schmiss mich mit einem bitterlichen Schluchzen zwischen die Sofakissen. „Nein, nein, du lügst! Das kann nicht sein! Das ist … vollkommen … unmöglich! Nein, du zerstörst mir meine Kindheit…“ Erst als Andi anfing, mich mit dem Kopf in den Sofabezug zu drücken, japste ich hilflos auf und schenkte meiner besten Freundin ein vielsagendes Grinsen. Julia zwinkerte mir nur zu und knabberte weiter Chips.
Das penetrante Klingeln eines Handys lenkte uns von dem nahen Erstickungstot unseres einzigen Mädchens ab, die sich anscheinend verschluckt hatte – Benji klopfte ihr wie verrückt auf den Rücken, während ihr Gesicht dem eines Fisches auf dem Trockenen ähnelte. Ich lachte, bis Oliver mir den Mund zu hielt und das Gedröhne von ‚Drop It Like It’s Hot‘ (sein Klingelton, alle Achtung) beendete.
„Ja?“ Stop. Er grinste breit und seine strahlendweißen Zähne blitzten förmlich auf. „Hey, klar, wieso nicht … ach, heute noch?“ Stop. Olli musterte mich strafend, als ich mich an seine Seite presste um zu lauschen und stieß mich bei Seite. Ich schmollte. „Sollen wir was mitbringen?“ Stop. Er lachte laut auf. „Echt? Ist das nicht mies, wenn wir da unverkleidet auftauchen?“ Dann nickte er wie ein Idiot, da sein Gesprächspartner das sowieso nicht sehen konnte. „Okay, ich versuch die Meute aufzuraffen … bis später!“
Den Film hatten wir längst angehalten und nun begegnete unser Chaot vier neugierigen, bohrenden Blicken. Wie immer machte er sich nichts daraus, öffnete die Terrassentür, an der Rudi schon wie verrückt gekratzt hatte und grinste uns an wie ein Honigkuchenpferd. „So, macht euch fertig, in einer Stunde will ich bei Stefanie sein, da steigt `ne Party und hey!“ Er stemmte ziemlich mütterlich die Hände in die Hüfte und schlug so unseren aufkeimenden Widerstand nieder. „Keine Ausreden, heute wird gefeiert!“

Ich mochte Partys. Wirklich! Ab und zu hatte ich nichts dagegen, mal einen über den Durst zu kippen und ordentlich zu feiern.
Aber – und ja, bei mir existiert immer ein aber – ich hasste miese Kostümpartys mit grottenschlechter Musik und Entertainern, die sich in Karaoke übten. Stefanies Familie hatte Geld, daher auch dieses riesige Haus und ließen die einzige Tochter auch gerne mal das Wochenende über allein. Seit der neunten Klasse hatte sie den Ruf als Partyschmeißerin weg. Wenn man Samstag überhaupt nichts mit sich anzufangen weiß – frag Steffi, bei der läuft immer was.
Da sie nur ein Jahr über uns war, hatte sie so gut wie die gesamte Oberstufe eingeladen, sowie diverse Studenten, die man an dem lässigen, eventuell auch verarmt wirkenden, Kleidungsstil und der Bierbong erkannte. Außerdem hatten sich die meisten von ihnen als diverse Superhelden verkleidet.
Ich hatte mich mit Julia und Andreas in eine Sofaecke zurückgezogen, mitsamt einem Sixpack Bier, das bei dem Vorrat, den sie hier geschaffen hatten, keiner vermissen würde. Nur ein knutschendes Pärchen, eine Biene Maja und ein Wolf, leistete uns noch Gesellschaft. Ob sie wussten, dass wir auch da waren, bezweifelte ich aber. Sah richtig professionell aus, wie sie das Kaugummi immer und immer wieder austauschten…
„Keinen Anstand mehr, die Jugend heutzutage“, brummte Julia und nippte an ihrem Bier. „Hey, ich mach gleich ein Foto von euch und schick es an eure Eltern! Wie alt seid ihr? Fünfzehn?“ Die Zungenakrobaten lösten sich voneinander und schenkten uns total genervte Blicke, ehe sie unbeeindruckt davon zogen.
Die Blondine neben mir atmete erleichtert auf und lehnte sich an mich. „Eine Frechheit. Hätte mich echt nicht mehr gewundert, wenn sie es gleich auf dem Sofa getrieben hätten…“
„Darauf hab ich doch die ganze Zeit gewartet“, grinste Andi und tat enttäuscht. „Du hast mir alles versaut!“
„Na, deine versauten Schmuddelfilmchen kannst du auch zu Hause sehen“, erwiderte ich lachend und stieß ihm in die Seite. Er hatte sich kaum ‚aufgemotzt‘ für die Party – musste er auch nicht, eigentlich sah er immer gut aus. Das markante Kinn, die strahlenden, hellblauen Augen und dieser Bad Boy-Look, wegen seiner schwarzen, kurz rasierten Haare und dieser mysteriösen Narbe auf der Wange ... Seine Freundin konnte sich glücklich schätzen. Ich konnte sie nicht leiden.
„Wer sieht sich Schmuddelfilmchen an?“
Ich schrak zusammen, als hätte Ollis Pullover mir wieder einen dezenten Stromschlag verpasst – aber diesmal direkt in den Hintern. Julia neben mir seufzte resigniert und machte sich auf das bereit, was sie bereits erwartete. Eine Diskussion auf vollkommen verbaler Ebene, ohne jeden Sinn und Zweck.
„Das war ja klar“, fing ich auch gleich an, „Bei sowas mischst du dich ein. Hätten wir über den Klimawandel oder den Absolutismus debattiert, wärst du weiter gegangen.“
Elias setzte sich mir gegenüber neben Andi und grinste schief. Ich gönnte ihm sein gutes Aussehen nicht. Heute trug er ein dunkles, graues Hemd, dessen erste Knöpfe er oben geöffnet hatte. Ein Stück seiner natürlich gebräunten, unbefleckten Haut lugte beinahe vorwitzig hervor und seine sportliche Statur wurde durch die – meiner Meinung nach – viel zu engen Jeans noch zusätzlich betont. Ich hasste ihn dafür, dass mir auch noch gefiel, was ich sah.
„Stimmt nicht“, antwortete er prompt und rollte die Bierflasche zwischen seinen Händen. „Ich habe heute noch kein einziges Wort mit dir gewechselt und das wollte ich nachholen.“
Ein kleiner Teil in mir, den ich am liebsten Steinigen oder von tollwütigen Hunden zerreißen lassen würde, freute sich über das, was er sagte. Hieß das nicht, dass er mit mir reden wollte, dass er meine Gesellschaft sogar suchte? Andererseits … er war eben nur Elias. Vielleicht brauchte er auch nur jemanden, bei dem er sich abreagieren konnte.
„Armer Elias“, spottete ich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du bist vor Sehnsucht sicher zerflossen.“ –
Sein Grinsen wurde breiter, während er mit den Fingern das Etikett von seiner Flasche pulte. „Und wie“, tat er gepeinigt und beugte sich langsam zu mir vor. „Du hast ja gar keine Vorstellung“, raunte er, viel zu nah an meinem Gesicht. Super. Wirklich wunderbar. Meine Gesichtsfarbe nahm einen unnatürlichen Ton an, während Julia und Andreas, unfreiwillige Zeugen dieses Schauspiels, sicherlich innerlich zerflossen vor Lachkrämpfen. Ach, war das hier witzig! Ob sie mir glaubten, dass es zur Show gehörte, wenn ich diese penetrante Nervensäge im Pool ertränkte?
„Oh, Vince“, lachte Elias und lehnte sich zurück, als wäre nie etwas gewesen. „Ich seh’s an deinem Gesicht, du willst mich umbringen.“
„Von wollen kann gar nicht die Rede sein“, knurrte ich wütend. „Ich muss. Der allgemeinen Menschheit zuliebe.“ Außerdem war es ja nichts Neues. Als wir im Philosophiekurs über den Tod und das Sterben an sich geredet hatten, ging jeder, selbst der Lehrer, damals davon aus, dass wir uns irgendwann gegenseitig umbringen würden. Ich meine, Unfälle passieren…
Elias verschwand relativ schnell von der Bildfläche, als seine nervige Freundin auftauchte und ihn verrückt wie ein Wiesel versuchte zu finden. Uns ignorierte sie vollkommen – Julia meinte, sie könnte mich nicht leiden, weil ich ihr ‚Eigentum‘ beleidigte. Gut, vielleicht auch, weil ich sie eine arrogante, falsche Barbiepuppe mit Vaterkomplexen und nymphomanischen Zügen genannt habe … aber das war nur ein Mal!
Jedenfalls war meine Laune verständlicherweise nicht die beste, während die anderen Gäste langsam anfingen richtig aufzudrehen. Der Bass ließ mittlerweile das gesamte Haus vibrieren und das Gegröle und Gelächter verdeutlichte in etwa den Alkoholpegel der meisten Heranwachsenden. Andreas und Julia hatten mich kurz allein gelassen, weil sie sich angeblich auf die Suche nach Oliver und Benjamin gemacht hatten, aber ich schätzte, sie wollten einfach nicht mit einem schlecht gelaunten Miesepeter wie mir abhängen.
Ich saß da also, im Stich gelassen, mit nur noch drei Flaschen Bier und einem Katzenspielzeug, das ich unter dem Sofa gefunden hatte. Es ähnelte irgendwie einer Plastikmaus. Der Blick aus den Kulleraugen wirkte ziemlich gequält. Was diese Maus schon mit angesehen und erlebt haben musste…
Mein Mitleid mit dem armseligen Geschöpf wurde durch einen harten Gegenstand unterbrochen, der direkt neben mir auf dem Sofa landete, zurückgefedert wurde und auf meinen Schoß hüpfte. Bemerkenswert, wie mir die Sachen heute alle zufliegen!
Dann hörte ich auch schon eine nervöse, unwesentlich abgehetzte Stimme neben mir. „Sorry, tut mir echt leid, das ist mein Handy und … äh … mein Kumpel hat’s ein bisschen übertrieben, er ist ein echter Idiot, also…“ Ich musste bei dem Rumgedruckse anfangen zu grinsen und wandte mich dem armen Schlucker zu.
Was ich da aber sah, verschlug mir die Sprache. Das war definitiv der heißeste Polizist, den ich in meinem Leben je gesehen hatte. Er grinste zwar nervös, doch das machte ihn nur liebenswerter. Er war groß, bestimmt ein Meter neunzig, hatte einen gut sichtbaren, muskulösen Oberkörper und so schöne, breite Schultern. Wenn ich in diesem Moment angefangen hätte wie ein kleines Baby zu sabbern, dann hätte mich das auch nicht gewundert. Männer in Uniformen! Wer konnte denen schon widerstehen?
Er nahm die tiefschwarze Sonnenbrille ab und zum Vorschein kamen treue, braune Augen, die mich schüchtern musterten. Wenn er ein verdammter Hundewelpe gewesen wäre, hätte ich ihn auf der Stelle adoptiert. „Ähm“, machte er, grinste verlegen und atmete tief ein und wieder aus, „am besten nochmal von vorn … Entschuldige, das ist mein Handy und ich bin übrigens Torben und in Wirklichkeit bin ich kein Polizist und…“ Er stockte, merkte, dass er schon wieder zu viel redete und nestelte an seinem Gürtel herum. Auf mich wirkte er wie ein unbeholfener, niedlicher Bär. Ich hatte das Bedürfnis, ihm bei dieser peinlicher Situation zu helfen.
„Schon okay“, sprang ich also ein und reichte ihm lächelnd das Smartphone wieder. „Hey, Torben, der in Wirklichkeit kein Polizist ist … ich bin Vince und habe mich als genervter, pubertärer Teenager verkleidet. Tolles Kostüm, oder?“
Dann lachte er und es war ein so zufriedenstellender Laut, dass ich es öfters hören wollte. Er setzte sich zu mir und wir unterhielten uns, lernten uns kennen. Torben wurde immer lockerer mit der Zeit, erzählte von sich, seinem Bruder und seinen Freunden, die ihn gezwungen hatten, mit auf diese Party zu kommen. Ich wäre am liebsten aufgesprungen und hätte ihnen dafür gedankt! Allgemein war dieser Abend gar nicht so ein mieser Flop, wie ich erst vermutet hatte …

Zwei Könige und ein Frosch



Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich mir eingestanden, dass ich gewisse Gefühle für Elias hegte, die eigentlich nicht existieren durften.
Anfangs bestand bei mir sogar eine gewisse Hoffnung, dass er eventuell ähnlich fühlte wie ich. Klar, ich erwartete nicht, dass er sich überall als schwul outete, mit mir nach Las Vegas durchbrannte und einen kleinen, portugiesischen Jungen adoptierte – das ja nun gar nicht. Doch irgendwie begann ich in jegliche Gesten, Worte und Blicke etwas hineinzuinterpretieren. Großer Fehler! Denn ich wäre nicht Vincent, wenn mir die Vernunft nicht dafür letztendlich einen fetten Tritt in den Allerwertesten gegeben hätte und dieser fiel natürlich ausgerechnet in Form von Melissa Fleischer aus. Facebook hatte mich sogleich aufgeklärt, von wegen Beziehungsstatus und so, während ihm alle beglückwünschten, als hätte er da einen besonders tollen Esel ergattert, der bestimmt auch noch Euromünzen furzte und Goldbarren kotzte. Am nächsten Tag in der Schule grinste und lachte er wie ein Drogenabhängiger nach der Methadon-Verteilung im Stadtpark. Seine allerallerallerbeste Freundin Lisa – eine eher korpulentere Blondine, die mir bereits durch bloßes Ein- und Ausatmen tierisch auf die Nerven ging – erklärte allen, dass das ihren talentierten Verkupplungsmethoden zu verdanken wäre und klopfte ihm auf die Schulter wie der Züchter einem Deckhengst nach vollbrachter Arbeit. Mir war ziemlich schlecht an diesem Schultag, sodass ich in Sport nur auf der Bank saß. Julia hatte mich nur mitleidig angelächelt. Nach dieser unglückseligen Begebenheit kam ich wieder im Hier und Jetzt an, dort, wo ich mir Elias und jede Art von positiven Emotionen für ihn ausredete und noch schlimmer mit ihm aneinander geriet als jemals zuvor. Was war ich doch stolz auf mich! Gab es Leute, die auf meinen Zynismus und mich standen?
Eindeutig ja. An diesem einem Abend vergaß ich alles – Ort, Zeit, Zustand, alles. Denn mein Innerstes drückte sich die Daumen wund, dass ich gerade meinen absoluten Traummann vor mir hatte. Torben ließ mich nicht aus den Augen, sah mich an, wie mich noch niemand vorher angesehen hatte und brachte mich teilweise so zum Lachen, dass ich weinend vom Sofa purzelte. Wir teilten viele Vorlieben und Interessen, regten uns über ähnliche Dinge auf … es funkte einfach.
„Und deswegen hat er kurzerhand dein Handy geworfen?“, lachte ich und fuhr mir durch mein sowieso schon zerzaustes, hellblondes Haar. Die Luft hier war so stickig geworden, dass ich meine Jeansjacke ausgezogen hatte und nur noch im dunkelblauen Muskelshirt dasaß. Torben hatte längst seinen Uniformhut abgelegt und hantierte mit ihm ungeschickt herum, ab und an fiel er auch herunter.
„Na ja, er meinte, wenn ich mich nicht von mir aus traue dich anzusprechen, dann sorgt er dafür“, er zuckte verlegen mit den Schultern, „und das hat er dann ja auch gemacht.“ Er mimte eine Geste nach, als würde er etwas in hohem Bogen werfen und grinste breit. Ich mochte seine Grübchen. Manchmal, wenn das Licht anders fiel, dann durchzuckte mich der Vergleich zu Elias wie ein Blitz – aber ich versuchte ihn möglichst schnell wieder zu verdrängen. Wer war schon Elias!
Torben holte mir, sobald mein Bier auch nur annähernd leer war, Mal um Mal etwas Neues zu trinken. Erst blieb ich strikt bei Bier, immerhin wollte ich nicht doch noch bei der Karaokemaschine landen, bis ich widerspruchslos die bereitgestellte Bowle trank, die nach geschätzten zwanzig verschiedenen Spirituosen schmeckte. Ich lachte jetzt lauter, öfter und unterhielt mich auch viel ausgelassener.
„Was studierst du denn?“, hatte ich gefragt, nachdem ich ihm gebeichtet hatte, dass ich eine Null in Mathe, Chemie und Physik war. Da helfe auch kein Nachhilfeunterricht von Christian Bale … obwohl ich den wahrscheinlich eh nur anstarren würde.
„Geschichte“, erklärte er ungerührt und seine breiten, kräftigen Hände fahren den Rand seiner Mütze nach. „In Hamburg, ist so eine Bundeswehr Uni.“
Bei der Bundeswehr also. Trainiert war er ja, mehr als das. Ich schätzte ihn auf geringfügig über zwanzig – damals hatte es ja noch die Wehrpflicht gegeben, sicher hatte man ihn noch vollkommen regulär eingezogen. Soweit ich wusste, konnte man dort auch relativ schnell viel erreichen, wenn man wollte … aber keine Ahnung, was man damit bezwecken möchte. Der Bund war überhaupt nichts für mich. Da konnte ich mich auch gleich mit Honig einschmieren und durch den Hühnerstall rennen. Geteert und gefedert werden, nein, das war nicht mein Ding.
Hamburg war auch gleich hier. Wir wohnten in so einem winzigen Vorort, wo man nur das Nötigste besaß: Eine Kirche, Gemeindehaus, Gartenverein, winzige Polizei- und Feuerwehrstation, einen Arzt und insgesamt drei Schulen, Grundschule inbegriffen. Der Kindergarten war die Hölle, daran konnte ich mich noch erinnern. Diese dämlichen Dorfkinder, die sich alle gegenseitig seit der Windel kannten und sich gegen mich, den ‚Neuen‘ aus der Stadt, denn meine Mutter war erst nach der Scheidung mit mir hier hergezogen, verbündeten. Robert, mittlerweile auf der Hauptschule, hatte mich immer gezwungen Käfer zu essen, weil er neidisch auf meine tollen Bilder gewesen ist.
Das Schönste hier war das Café von Julias Eltern, das wir im Sommer beinahe pausenlos besuchten. Die Familie Brandt musste sich an den Schülern hier dumm und dämlich verdient haben. Nicht weit von hier befand sich auch einmal ein großes Hallenbad, das aber sicher schon seit Jahrzehnten leer stand. Manche Jugendliche trafen sich dort heimlich zum Trinken und Kiffen, bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich es auch nur ein einziges Mal von innen gesehen. Schmutzig war es dort und Pflanzen wucherten fast überall.
„ Willst du noch was?“, holte mich Torben aus meinen tiefen Gedankengängen. Er hielt meinen leeren Becher hoch und ich verneinte. Ich merkte bereits, dass ich an meine Grenzen gestoßen war. Dieses Gemisch, das die hier als ‚Bowle‘ verkauften, bestand hundertprozentig zu 90% aus purem Alkohol. Das brannte vielleicht in der Kehle!
„Vince!“ Überrascht schaute ich auf, genauso wie Torben, der mit seinen braunen Augen den Raum absuchte. Die Quelle, genannt Andi, schleppte sich mit Benji und Olli zu unserer Sofaecke hin. Julia kam hinterher gestolpert, mit genervtem Gesichtsausdruck und Benjamins Jacke in den Händen.
„Ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir Olli und Benji kurz nach Hause bringen.“ Er lächelte gezwungen und nickte Torben höflich zu. „Die beiden haben‘s etwas übertrieben. Ich glaube, Steffis ganze Küche schwimmt in Wodka.“
Ich verzog skeptisch das Gesicht. „War ja klar“, brummte ich und wandte mich an die Blondine. „Gehst du mit?“
Sie zuckte mit den Schultern und ließ es mit großer Beherrschung zu, dass Oliver sich mit äußerst debilem Gesichtsausdruck an sie lehnte. Die beiden wackelten erheblich. Das waren meine wunderbaren Freunde, ich konnte mich so glücklich schätzen! „Besser ist es. Ich penn‘ gleich bei Benjamin, dann kann ich wenigstens sicher gehen, dass er an seinem Erbrochenem nicht erstickt.“
Sie verabschiedeten sich, natürlich nicht ohne Torben neugierige Blicke zuzuwerfen, waren dann aber schnell draußen. Ich sah noch kurz die Scheinwerfer von Andis weißem Ford über die Straße huschen, ehe sie auch schon weg waren.
„Nette Freunde“, grinste er vielsagend und stieß mir sanft in die Seite. „Machen einen guten Eindruck.“
Ich stöhnte gespielt gepeinigt und lehnte mich an seine Schulter. Er war so warm, dass mein gesamter Arm anfing zu prickeln. „Sie sind eine wahre Qual.“
„Wenigstens werfen sie nicht mit Handy’s“, gluckste er und legte seinen Arm auf die Sofalehne. Es fehlten nur ein paar Millimeter und wir säßen hier tatsächlich kuschelnd

. Ich, in seinen Armen…
„Torben!“ Wir stöhnten beinahe gemeinsam genervt auf, brachten mehr Abstand zwischen uns und grinsten uns an, als hätte Mutti uns beim Knutschen erwischt. Schön wär’s! Meine Mutter hätte höchstens ein Foto gemacht – und das wäre sicher in das Album gekommen, in dem bereits eine Aufnahme von mir als Rapunzel klebte. Ich hatte zur Märchenwoche in der Schule wunderschön ausgesehen!
„Torben!“ Ich zuckte zusammen, die Stimme war nun deutlicher zu hören, aber dennoch gedämpft, durch die wummernde Pop-Musik, die aus den Boxen beim Fernseher dröhnte. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Unterarmen aus, als drohte eine anbahnende Katastrophe.
„Mein Bruder“, erklärte Gerufener mir und griff mir wie selbstverständlich ins Haar, um ein paar verirrte Strähnen zu richten. Ich spürte förmlich, wie ich rot wurde. Kneift mich doch mal einer! Ich saß hier neben dem Bild von einem Mann, der auch noch mit mir flirtete und keinerlei Anzeichen machte, mich nervig oder unsympathisch zu finden. Das allein war schon selten genug! Besser ging wirklich nicht mehr…
Dafür aber schlimmer. Wer hoch oben ist, fällt tief, oder wie war das?
Es dauerte nur Sekunden, bis mir einer meiner größten Schocks meines derzeitigen Lebens verpasst wurde. Ein sportlicher, junger Mann kämpfte sich durch die betrunkenen Partygäste und steuerte direkt auf uns zu, während Torben ihn angrinste und kurz die Hand hob. Er grinste zurück, mit den gleichen Grübchen. Dann der Schlag mitten in die Fresse. Die gegelten, braunen Haare, der süffisante Blick und der elegante, geübte Gang. Elias blieb vor dem Sofa stehen, lächelte, als gäbe es kein Morgen mehr – und dafür wäre ich dankbar – und grüßte seinen Bruder. Seinen

Bruder Torben. Meinen Traummann.
Irgendwas stimmte mit mir doch nicht! Es reichte wohl nicht, dass ich gewisse Probleme mit einem von dieser Sippschaft hatte, nein, jetzt setzte mir Gott, sicherlich unter harten Drogen, den älteren Bruder vor die Nase und verkaufte ihn mir als Seelenverwandten! Der lachte sich doch den geweihten Arsch da oben ab, während ich hier hockte und Elias anglotzte, als könnte er jeden Moment in Flammen aufgehen. Ihr wisst schon, Selbstentzündung. Das würde ich ihm gönnen!
Etwas Positives hatte die Situation ja. Nachdem Elias dann auch mich in seiner Umgebung bemerkt hatte, dabei spürte er mich sonst auf wie ein trainierter, blutrünstiger Kampfdackel, starrte er mich nonstop an, fast schon apathisch.
„Äh“, machte er ungewohnt geistreich und riss mich somit auch aus meiner Schockstarre. Es war so selten, dass er sprachlos war, da wollte ich die Chance getrost nutzen. „Elias“, säuselte ich gespielt und tat überrascht. „Wie lange ist es denn her, dass wir uns gesehen haben?“
Er schnaubte abwertend, verdrehte die Augen und griff sich in die Frisur, die er damit gründlich zerstörte. „Vince“, brummte er total euphorisch, „wie nett.“
„Ihr kennt euch?“ Torben lächelte ungetrübt, bemerkte überhaupt nicht, wie Elias und ich uns musterten. Ich ließ mich nicht beirren und blinzelte ihn unschuldig an. Wenn er vor seinen Freunden auf großen Macker machen konnte, dann war ich vor seinem Bruder eben der niedliche, kleine Vince!
„Klar“, setzte ich an, wurde aber vom König persönlich unterbrochen. „Wir gehen in die gleiche Klasse“, tat er es leichtfertig ab und ignorierte mein beleidigtes Gesicht. „Ich muss mit dir reden“, sagte er dann ruhig zu mir, packte mich frei heraus am Handgelenk und zerrte mich wie ein Sack Reis von der Couch. Klar, warum auch nicht, war ja bloß der dämliche, kleine Vince! Schade, dass er mich nicht noch anleinte, mit mir spazieren ging und mich kraulte. Also, gegen das Kraulen hatte ich aber wirklich nichts.

„Was soll das?“, zischte er, sobald wir außer Hörweite waren, ohne dabei eine Miene zu verziehen, immerhin konnte Torben uns noch ganz gut sehen. Bloß die Etikette wahren, nein, was sollten denn die Leute denken!
„Was soll was

?“, erwiderte ich leichtfertig und spielte seelenruhig mit dem Lederarmband, das mir einmal Mutti geschenkt hatte. Das tragen jetzt viele, hatte sie gesagt. Ich hatte erst gedacht, es wäre ein Halsband für die Katze.
„Das“, sprach er ungeduldig und machte einen undeutlichen Wink in Torbens Richtung. Dieser bemerkte es, musterte uns mit zusammen gezogenen Augenbrauen und beugte sich weit über die Sofalehne. Ich lächelte und zwinkerte ihm beruhigend zu. Zufrieden stellte ich fest, wie er wieder verlegen grinste, diese Grübchen!
„Ich verstehe nicht, was du meinst.“ Lustlos seufzte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Torben und ich unterhalten uns ganz nett.“ Und ich stellte ihn mir ab und zu oberkörperfrei vor, aber das musste der Gute ja nicht wissen.
„Du merkst wieder überhaupt nichts!“ Kurz flackerte etwas in seinen Augen auf, ließ das Braun auf einmal wie sanfte Schokolade wirken. Er machte sich Sorgen um seinen Bruder! Um seinen Bruder, der ein paar Meter weiter saß und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Wegen mir. Fand ich immer noch toll.
„Oh, ich merke genügend“, setzte ich entschlossen hinzu und wollte ihn dort stehen lassen, in seiner vollen Dekadenz, doch er hielt mich grob am Handgelenk fest und hinderte mich daran. Nicht mal einen gelungenen Abgang gönnte dieser Idiot mir, alles musste er mir abspenstig machen!
„Torben ist schwul“, flüsterte er mir eindringlich zu, beugte sich zu mir vor und sein herbes Männerparfum stieg mir in die Nase. „Du Idiot sollst ihm keine nutzlosen Hoffnungen machen, nur weil du von nichts eine Ahnung hast und dich sehnlichst nach Aufmerksamkeit sehnst, die…“
„Super“, flötete ich ungezwungen und befreite mich von ihm, nicht ohne ihm einen langen, abweisenden Blick zu schenken. „Dann ist doch alles geklärt.“
Nun schaute er mich an wie ein Reh im direkten Scheinwerferlicht eines herannahenden Autos. Er war in diesem Moment Bambi höchstpersönlich. „Was, äh … wie meinst du…?“
Mit meinen nächsten Worten erwischte ich ihn frontal mit der Leitplanke, die Karre hatte sicher danach einen Totalschaden, aber den Kadaver auf der Autobahn war es mir wert. „Ich bin schwul, Elias. Und habe nichts gegen deinen äußerst charmanten Bruder auszusagen, also würdest du mir die Ehre erweisen und ein einziges Mal nicht einen auf ignoranten Schleimbeutel machen und mich einfach in Ruhe lassen?“ Und damit ließ ich das platt gewalzte Reh dort liegen, wo es war und schlenderte gemütlich und nun völlig zufrieden zurück zu Torben. Das hatte vielleicht gut getan! Diesem verwöhnten Arsch direkt zu sagen, was Sache war … 1:0 für Vince, der den gefallenen König nun seinem Schicksal als Verlierer überließ. Jubelschreie! Das Publikum bebt! Der Sieger geht vom Feld…
Ich glaubte nicht, dass Elias mein klitzekleines Outing sogleich bei Facebook posten würde. Dafür hing er viel zu weit drin, mit seinem vorbildlich homosexuellen, außerordentlich anziehenden, Bruder. Was sollte er denn antworten, wenn jemand fragte, woher er das wusste? ‚Ich hab’s gemerkt, als er hemmungslos anfing mit Torben zu knutschen, der übrigens mein älterer Bruder ist, aber hey! Was für ein Skandal!‘ Nein, das wohl eher nicht.
Torben fragte nicht großartig nach, nachdem ich ihm knapp erklärte, dass wir lediglich über ein Projekt in der Schule diskutiert hatten. Natürlich kaufte er mir das nicht ab, das merkte ich an seinem skeptischen Blick, aber er beließ es dabei und beschäftigte sich lieber damit, meine gute Laune auszunutzen und mit mir um die Wette zu trinken.
Nach einer Stunde erhielt ich eine SMS von Andi – er habe alle gut nach Hause gebracht, aber keine Lust mehr nochmal hier her zu fahren, ob ich auch alleine nach Hause käme. Ich war letztendlich so beschwipst, dass ich mich von Torben überzeugen ließ, seine Kumpels könnten mich mitnehmen, wenn die Party zu Ende war. Immerhin vertraute ich ihm bereits und wenn er so ein lieber Kerl war, dann konnten seine Freunde bestimmt keine dümmlichen Proleten sein. Ich schrieb also Andreas, dass er sich keine Sorgen machen sollte und begnügte mich im nächsten Moment auch schon damit, mit Torben ein Trinkspiel zu spielen. Es ergab überhaupt keinen Sinn, jegliche Logik fehlte, aber wir lachten und kippten einen Kurzen nach dem anderen … keine grandiose Idee, okay, gab ich gerne zu, doch passenderweise sang Fun just in dieser Sekunde äußerst dramatisch ‚We Are Young‘. Wenn das kein Zeichen war!
„Du trinkst viel zu viel“, stellte er irgendwann vollkommen konzentriert und ernst fest, ehe er auch schon glucksend nach einer Flasche Tequila griff. Im Kühlschrank in der Küche – deren Fliesen unnatürlich stark klebten – fanden wir schließlich auch Zitronen und im Schrank daneben Salz. Wir waren die einzigen in der Küche, Torben stellte die Flasche mit einem leisen Knall auf die Theke und fing an die Zitrone zu schneiden.
„Du füllst mich ab“, beschuldigte ich ihn schließlich und zog einen Schmollmund. „Oder du trinkst mich dir schön.“
Er lachte laut auf und nahm ein Stück Zitrone. Der charakteristisch säuerliche Geruch biss in meiner Nase. „Quatsch“, lächelte er ruhig und kam einen Schritt auf mich zu. Mein Herz schlug in einem starken, erwartungsvollen Rhythmus. „Ich trinke mir nur Mut an.“
„Mut?“ Fragend beobachtete ich, wie er die Hand mit der Zitronenscheibe hob. „Wofür trinkst du dir denn…“
Ich musste geplatzt sein. Genau, das war’s. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Ja, wann wurde man denn von einem Adonis mit Zitronensaft und Salz eingeschmiert und darauf abgeleckt? Mein Kopf war sicherlich einfach explodiert, wie ein Luftballon, den man zu stark aufgeblasen hatte. Peng.
Das hatte ich bis jetzt nur in miesen, amerikanischen Filmen gesehen. Den Prozess des Tequila Trinkens kannte ich in und auswendig. Dass man dabei aber meinen Hals ableckte, als wäre ich ein Erdbeereis an einem sonnigen Sommertag, das war neu. Nicht, dass es mir nicht gefiel, um Gottes Willen! Mein kompletter Körper befand sich im Notfallmodus, alle Sparmodule wurden hochgefahren, das Hirn hatte sich längst abgeschalten, war irgendwo im Nirvana, während Torbens weiche Lippen meinen Hals sanft liebkosten…
„Deswegen“, hauchte er schließlich als Antwort, kaum zu hören, um den Moment nicht zu zerstören. Meine Brust hob und senkte sich kräftiger, um den Sauerstoff, den ich beim (positiven) Schock verpasst hatte, nachzuholen. Vollkommen verklärt sog ich jeden Eindruck in mich auf. Diese markanten Wangen, das braune, weiche Haar mit diesen liebenden Augen; und diese Lippen, diese vollen, anregenden Lippen…
Er küsste mich. Ich hatte vorher nur wenige Male jemanden geküsst, Familie ausgenommen, denn mit meinem Bruder hatte ich sogar schon zusammen gebadet. Da war dieses eine Mal auf der Geburtstagsparty von Olli mit einem Jungen, der vielleicht mit Ach und Krach das fünfzehnte Lebensjahr erreicht hatte. Dann natürlich meine erste und letzte Freundin Kathrin, die immer so schüchtern gewesen ist und für mich damals wahrscheinlich auch mit einem Salto von einer Brücke gesprungen wäre. Und zwei weitere Male, beim Feiern in Hamburg, die Gesichter hatte ich am nächsten Morgen vergessen.
Torben war anders. Wir waren betrunken, ja, aber es hatte bereits in der ersten Minute gefunkt, als er drucksend vor mir gestanden hatte, hilflos wie ein frischgeborenes Baby. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, das erwartete ich nicht, da existierte nur dieses Gefühl, diese passende Chemie. Unsere Lippen fungierten wie eine gut geölte Maschine, angepasst und fleißig. Dennoch blieb das Feuerwerk in meinem Inneren aus.
Er küsste mein Kinn mit den winzigen Bartstoppeln, meinen Nacken, meine Halsbeuge und den Teil der Brust, den mein Muskelshirt freigab. Er löste in mir das Verlangen aus, mir die Klamotten vom Leib zu reißen und mit ihm nackt in den Pool zu springen. Wir könnten dort weiter machen, im Wasser, nass und voller Aufregung. Es war mir egal, dass wir uns kaum kannten. Für mich zählte diese seichte Berührung des Kusses.
Vorbei. Das war es schnell, nachdem die Geräusche aus dem Flur meine Gedanken aufklärten. Wir zuckten auseinander, elektrisiert, als hätten wir zusammen in den Toaster gegriffen und musterten uns. Auch er war nervös, seine Wangen hatten sich dezent rötlich verfärbt und er nestelte wieder an dem Zipfel seines Hemdes herum, wie ein kleiner Schuljunge, obwohl er mir, wenn er wollte, auf den Kopf spucken konnte. Elias war auch größer als ich, wenn auch kaum erwähnenswert. Sein Name erinnerte mich daran, dass Torben ebenfalls ein König war, oder wie ich manchmal mit Julia scherzte, zum hohen Adel gehörte. Er wusste, dass ich schwul war und er wusste auch, dass Torben an mir Gefallen gefunden hatte – erneut diese tiefe Befriedigung in mir, die ich nicht verstand. Aber egal, je ne regrette rien, wie der Spatz von Paris so schön sang. Das war ein doch eindeutiges 2:0 für Vince, oder?
Nein, falsch, ich durfte Torben für meine miesen Machtspiele mit Elias nicht missbrauchen. Unmoralisch und unerzogen, würde Mutti das nennen. Mein Vater hätte sicher behauptet, ich versuchte damit gewisse Probleme mit meinem Körper und mir zu kompensieren. Und meine Schwester, na ja, die hätte sicher sowas schlaues gesagt wie „Wer’s anleckt, darf’s behalten‘.
Also Torben, du darfst.

Freunde und Süßspeisen



Ich träumte diese Nacht von Karamellenten, die über den See schwammen. Eine von ihnen war aber aus Nougat und wurde von allen anderen gehänselt, bis sie zu einem wunderschönen Nussnougatschwan herangewachsen ist. Dass ich Märchen in meine Träume einbaute, beunruhigte mich fast so sehr wie die Tatsache, dass ich das hässliche Entlein am liebsten gegessen hätte. Selbst als ich aufwachte, hatte ich noch diesen charakteristischen Geruch von Schokolade in der Nase.
Torben roch nicht nach Schokolade. Er lag neben mir, oberkörperfrei, mit vollkommen zerzausten Haaren und leicht geöffnetem Mund. Seine Decke lag weit abseits des Bettes, irgendwo in der Wüste seines Zimmers, während er wahrscheinlich davon träumte, ein Kaninchen über die Wiese zu jagen – so sah das nämlich aus, wenn er im Schlaf wieder und wieder mit den Beinen zuckte.
Doch um Gottes Willen oder vielleicht eher den der gesamten schwulen Weltbevölkerung, Torben könnte im Schlaf sabbern wie ein Kleinkind, er ähnelte noch immer einem Adonis. Okay, vielleicht war das etwas übertrieben, niemand war perfekt, aber dieser braunhaarige Kerl neben mir, der war verdammt nah dran. Da gab es diese winzigen, süßen Leberflecken, die er auf dem durchtrainierten Rücken hatte, sowie das Sixpack und sein Geruch! Das ganze Bett roch nach ihm, mein Kissen, meine Decke, das Bettlaken, selbst ich! Es war ein herber, männlicher Geruch, ohne jegliche parfümiere Verfälschung. Einfach Torben eben. Ich hätte mich damit auch ansprühen können.
Ich hatte mich nicht in ihn verliebt. Nein, meiner Meinung nach mussten sich solche Dinge erst mit der Zeit entwickeln. Es gab keine Liebe auf den ersten Blick oder Seelenverwandtschaft, auch bei mir und Torben nicht. Ich war einfach jung und wollte Erfahrungen machen, mich austesten, lernen und Spaß haben. An solche ernsten Sachlagen verschwendete ich keinen einzigen Gedanken!
Dass es zwischen uns gefunkt hatte, das ist lediglich Zufall gewesen. Dass er des weiteren Elias älterer Bruder ist, dafür konnte ich ja immerhin auch nichts. Sollte ich denn jetzt jeden Mann vorher fragen, ob er Geschwister hatte? Oder direkt um eine Blutprobe bitten? Nur weil Elias und ich eben so was wie ‚Hass auf den ersten Blick’ hatten, ne, das tat ich mir doch nicht an. Dann hatten Herr und Frau König halt so einen miesen Fehler mit dem zweiten Kind begangen, so was passierte. Dafür war Torben umso besser.
Ich hatte schließlich bei ihm übernachtet, aber nicht weil wir ‚zusammen Kaffee trinken wollten’, sondern weil ich zu betrunken gewesen bin und meine Mutter mich in diesem Zustand sogleich wieder vor die Haustür befördert hätte. Homosexualität tolerierte sie, hirnloses Gesaufe war da was ganz anderes!
Torben hatte damit kein Problem gehabt, seine Eltern seien eh momentan auf einer Geschäftsreise. An Elias hatte ich dabei keine Sekunde gedacht, erst als ich seine Turnschuhe im Hausflur sah, typische Markenteile, die er auch beinahe jeden Tag in der Schule trug, fiel mir ein, dass er auch hier wohnte. Ich hätte ja niemals vermutet, dass ich einmal bei Familie König zu Hause sein würde! Übrigens gab es dort keinen Kamin mit meinem Gesicht als Zielscheibe darüber. Dafür aber einen Labrador, der mich in meinem schwankenden Zustand mitten in der Nacht fast umgerannt hätte. Er hieß Barbossa und passte eigentlich auf das Haus auf, wenn er nicht gerade Katzen durch den Garten hetzte und Eichhörnchen anbellte. Man fühlte sich sofort heimisch, wenn die Vorstellung der perfekten Adelsfamilie König widerlegt wurde und alles auf einmal richtig normal schien.

Torben wachte auf, als ich die mollige Wärme des Bettes verließ und zu meiner Jeanshose tapste. Ich fühlte mich wie ein typisches One-Night-Stand, das sich nun auf den würdelosen Weg nach Hause machen musste. Dabei hatten wir uns bis jetzt tatsächlich ‚nur’ geküsst – immerhin sollte er mich mit keinem Verlobungsring wecken. Das reichte auch dafür, dass wir uns erst seit gestern Abend kannten.
„Wo willst du hin?“, murrte er träge und drehte sich auf den Rücken, die Arme weit von sich gestreckt. „Komm wieder her, du warst so schön warm.“
Ich lächelte, während ich in die Jeans schlüpfte und fahndete auf dem Teppich nach meinen Socken. „Es ist schon fast um eins“, erwiderte ich als Gegenargument und ignorierte seinen bedauernden Gesichtsausdruck. „Dann lass uns wenigstens noch zusammen frühstücken!“, ereiferte er sich nun und setzte sich langsam auf, einen Kissenabdruck auf der Wange.
„Gut“, stimmte ich milde zu, „Dann steh aber auch auf und zieh dir was an.“ Als Antwort sprang er aus dem Bett, salutierte grinsend und marschierte im Gleichschritt zum Schrank. Ich nannte ihn einen Offiziersspinner und er bewarf mich dafür mit seiner Decke, die er an der Bettkante gefunden hatte.
„Mann“, brummte ich dann am Rande meiner Nerven, „Hast du mein Hemd und mein Shirt irgendwo gesehen?“
Es war mir schon in gewisser Weise peinlich, dass ich vor einem relativ fremden Mann halbnackt stand und am Vorabend so betrunken gewesen bin, dass ich mich nicht einmal daran erinnern kann, wo ich meine Klamotten hingeschmissen hatte.
„Das Hemd hattest du schon nicht mehr an, als wir zu mir nach Hause sind. Ich glaube, du hast es irgendwo weggeworfen. Dein Shirt hingegen hast du mir gegeben, weil du dein halbes Bier darauf entleert hast und meintest noch so was wie ‚saug das gute Bier raus‘.“
Nein, tatsächlich schämte ich mich nicht noch mehr als grundsätzlich, weil mein Niveau, oder meine Würde, je nach dem, seit einiger Zeit nicht mehr ganz so hoch angemessen ist, wie sie vielleicht sein sollte. Eigentlich machte ich mir hauptsächlich Sorgen um mein wunderschönes Hemd!
Torben grinste von einem Ohr zum Anderem, während er flink in Klamotten schlüpfte, nichts weltbewegendes, eine verwaschene Jeans und ein schlichtes, weißes T-Shirt, aber ich kam nicht umhin, ihn mir direkt ohne Klamotten vorzustellen. Krankes Hirn. Das Nougatentchen war harmloser!
Weil ich wohl einen äußerst mitleiderregenden Eindruck machte, tätschelte er mir fast väterlich den Kopf und holte für mich eines seiner Hemden heraus. Ich freute mich innerlich wie ein Schnitzel – das Teil roch zwar zu 90% nach Waschmittel, aber da war dieses Fünkchen Kerl! – ließ mir aber nichts anmerken, nahm wie ein großer Junge die ‚Leihgabe‘ an und streifte es mir über. Jetzt war ich das perfekte One-Night-Stand. Applaus!

Das Haus kam einem ziemlich verlassen vor. Barbossa lag im Garten in seiner Hundehütte und döste, von Elias keine Spur. Ich wusste nicht, ob ich mir deswegen Gedanken machen sollte oder mich einfach glücklich schätzte ... eher zweiteres.
Torben dirigierte mich in die moderne, sterile Küche, die vollkommen unbenutzt aussah. Ich kannte Herr und Frau König nicht, aber irgendwie machten sie bis jetzt einen äußerst geschäftigen Eindruck. Sie schienen kaum zu Hause zu sein und wenn ich ins Schlafzimmer marschieren würde, fände ich bestimmt ein mit Staub überdecktes Ehebett vor. Also nichts mit neuen Verhütungsmitteln. Elias ist bestimmt ein Versehen gewesen. ‚Schatz, hast du das Dokument von ... Ups, wie kommt das denn da hin!‘ und das war’s. Meine Mutter störte es bereits enorm, wenn sie mich einen Tag lang allein zu Hause ließ und machte sich unendliche Sorgen – vielleicht auch, weil ich, beim ersten Mal ‚Vince allein zu Haus‘, das Fell der Katze pink gefärbt hatte. Man darf sich ja wohl noch ausprobieren!
„Huhu, Vince? Ich hoffe, du träumst wenigstens von mir.“ Erschrocken zuckte ich zusammen, versuchte mich auf das Geschehen zu konzentrieren und stellte fest, dass Torben die ganze Zeit mit mir gesprochen hatte – oder es zumindest versucht hatte.
„Sorry“, stammelte ich eilig daher und lächelte verlegen. Er lachte, winkte ab und manövrierte Besteck und Marmelade bemüht grazil zum Esstisch, hinterließ dabei aber beinahe eine Spur aus herunter gefallenen Frühstücksmaterialien, weshalb ich ihm hastig einige Sachen abnahm.
„Steckst du Toast rein? Ich will nur kurz Elias fragen, ob er auch frühstücken will.“ Dass ich bei seinen Worten die Butter beinahe fallen ließ, machte ihn nicht gerade weniger skeptisch. Er hatte wegen unserer ‚freundlichen‘ Unterhaltung gestern nicht noch einmal nachgefragt, aber Torben war nicht auf den Kopf gefallen und wusste, dass da etwas nicht stimmte. Was sollte ich schon sagen? ‚Hey, ich stand mal auf deinen Bruder, aber mittlerweile führen wir eine ganz angenehme Hassliebe, die wir täglich erweitern und gewisse homoerotische Züge hat‘? Ganz bestimmt nicht! Allein, weil die beiden Brüder waren, erschwerte das die Situation noch.
Ich machte das Toast und lauschte angespannt in den stillen Hausflur hinein, das einzige laute Geräusch waren die schweren Schritte von Torben, der die Treppen hochging und dann in den Flur zu Elias Zimmer einbog. Bestimmt wollte der gar nicht frühstücken, erst recht nicht mit uns, oder eher mit mir. Einmal hatte er mir in der Pause mein halbes Essen abgenommen und gemeint, das wäre besser für mich, weil ich schon langsam rund werden würde. Dann hatte ich gesagt, dass man beim Sex genügend Kalorien verbrennt und ich deswegen gar nicht fett werden kann, weshalb er einen ziemlich dämlichen Gesichtsausdruck zutage gebracht hatte. Seither wagte er sich gar nicht mehr an mein Essen. Besser so.
Jedenfalls betete ich zu allen möglicherweise existierenden Göttern, dass Elias momentan eine Diät machte oder sich nur noch von Luft und Liebe ernährte. Leider gönnte man mir meine Glückseligkeit natürlich nicht und kaum, als das Toast mit einem kratzigen Geräusch aus dem Toaster gefloppt war, stand ein angespannter Elias im Türrahmen, gefolgt von Torben, der mir zulächelte und sich an den bereits fertig gedeckten Esstisch setzte. Ich schnappte mir das Toast, tat vollkommen ausgeglichen und nahm dem ‚Gastgeber‘ gegenüber Platz. Mein persönlicher Feind ließ sich auf dem Stuhl direkt neben seinem Bruder nieder, mich mit einem forschenden Blick musternd. Seine Augen blieben an meinem Oberkörper hängen und ich fragte mich augenblicklich, ob mir nicht plötzlich Brüste gewachsen waren. Hätte Andi bestimmt äußerst amüsant gefunden!
Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Für ihn machte ich nicht nur den Eindruck eines One-Night-Standes, für ihn war ich eines! Das Hemd seines Bruders, unsere ausgelassene Stimmung, oh Gott, ich war ein Flittchen!
„Ist was?“ Torben beobachtete mich aus dem Augenwinkel, bemerkte anscheinend meine plötzlich aufkeimende Panik, die ich versuchte mit einem miesen Lächeln zu überspielen. Dass Elias von mir dachte, ich wäre bereits nach dem ersten Abend mit seinem Bruder in die Kiste gesprungen … Moment, was ging ihn das denn an? Mal abgesehen davon, dass ich nicht gleich beim ersten Treffen mit dem Nächstbesten regen Matratzensport betrieb, hatte es Elias doch überhaupt nicht zu kümmern, was sein Bruder oder ich taten!
„Nein, nein!“, erwiderte ich, deutlich eine Spur zu schnell und griff zur Ablenkung nach dem Aufschnitt. Ich spürte den bohrenden Blick vom König persönlich auf mir, war jedoch keine Person, die eine perfekte oder ausgesprochen gute Menschenkenntnis besaß – im Gegenteil. Eher selten verstand ich Gesten und Mimik richtig zu deuten und noch seltener verstand ich, was die Menschen von mir wollten. Meistens interessierte mich das ja auch nicht, aber bei Elias – na ja, sagen wir’s so, gegen einen Einblick direkt in seine Gedanken, hätte ich wirklich nichts.
Nach dem Frühstück, das in einem unangenehmen Schweigen stattgefunden hatte, half ich noch, höflich wie ich war, beim Abwasch, ehe ich mich verabschiedete. Torben speicherte seine Handynummer bei mir ein und versprach, sich so bald wie möglich bei mir zu melden. Ich meinte darauf nur, dass das auch besser so wäre, immerhin wusste ich nun, wo er wohnt. Danach hatte er ein bisschen ängstlich ausgesehen.
„Bist du dir sicher, dass du Wäsche waschen kannst?“ Ich hatte ein schlechtes Gefühl dabei, meine schönen Klamotten bei ihm zu lassen, aber andererseits durfte ich so netterweise solange sein Hemd behalten. Wenn das mal kein Kompromiss ist!
„Vertraust du mir so wenig?“, schmollte er gespielt und ließ sich nicht mal von meinem liebsten Hundeblick besänftigen. „Siehst eben nicht aus wie eine typische Hausfrau“, witzelte ich noch, schon bei der Haustür stehend, vor der Barbossa hin und her tigerte, weil er unbedingt ins Haus wollte.
„Sorry, Schürze trage ich nur an Werktagen“, grinste er und nahm eine meiner dünnen, hellen Strähnen meiner zerstörten Frisur zwischen die Finger. Im Sommer wurde mein Haar immer irgendwie noch blonder, an sich schon ein Ding.
„War wirklich schön“, schluckte ich verlegen, ein wenig neben mir stehend, so zwischen Haustür und Torben – und da hinten schlich sich auch noch irgendwo Elias herum, wie ein neugieriger Hobbit.
„Ja“, bestätigte Torben, die Hand wegnehmend. Er beugte sich vor, nach Zahnpasta riechend, lächelte und spielte mit dem Zipfel seines Hemdes, das ich trug. Ich legte meine Hände auf seine, lehnte mich vor und musste mich dabei sogar – beschämend für mich – auf die Zehenspitzen stellen, bis ich letztendlich seine Lippen erreichte.
Der zweite Kuss und es wirkte, als wollte er mich gar nicht gehen lassen. Diesmal war es weniger zaghaft, er strich nebenbei mit dem Daumen über meinen Handrücken, mehr, als zeigte er mir noch einmal, was ich so an ihm gewonnen hatte. Er küsste gut, mit wahrem Enthusiasmus. Mal wieder schrien meine Klamotten ‚zieh mich aus, zieh mich aus!‘ aber meine Mutter machte sich sicherlich schon Sorgen und so wie ich Julia und Andi kannte, standen die bereits voller Neugier bei mir zu Hause auf der Matte.
Wir lösten uns erst, als wir keine Luft mehr bekamen und lächelten uns wahrscheinlich richtig dümmlich an, ehe sich Elias im Hintergrund räusperte und auf verklemmte Haushälterin machte. Ich warf ihm einen feindseligen Blick zu und er bleckte als Antwort nur aggressiv wie ein junger Dackel die Zähne. Hauptsache schön hinter dem Rücken seines Bruders, ja ja, die Etikette!
„Ich ruf dich an“, sagte Torben schließlich, zog mich noch in eine warme Umarmung, drückte mir einen flüchtigen Kuss auf den Mundwinkel und öffnete die Haustür, durch die, kaum geöffnet, Barbossa hinein schlüpfte und hechelnd zum anderen König Sprössling huschte.
„Das hoff ich doch, wenn du dein Hemd lebendig wiedersehen willst“, grinste ich, was ihn zum Glucksen brachte.
„Oh Gott, er hat eine Geisel!“ Er schüttelte den Kopf über mich und lehnte sich gut gelaunt gegen den Türrahmen. „Komm gut nach Hause. Und übrigens“, er zwinkerte mir schelmisch zu, während er nach der Klinke griff, „Mein Hemd steht dir.“
„Ich weiß“, stichelte ich und verbeugte mich gestochen tief, um meine rote Gesichtsfarbe zu verbergen. Dann machte ich eine Kehrtwende und verließ mit beschwingtem Gang die Auffahrt. Torben sah mir nach, bis ich um die Straßenecke war.

„Ich versteh dich“, leitete meine Mutter unser Gespräch nüchtern ein und werkelte weiter in der Küche herum. Sie suchte eine ihrer millionen, nein, milliarden Tonschüsseln, die sie von Großtante Erna geerbt hatte, aber aussahen, als hätten sie den Krieg nur zur Hälfte überstanden.
„Als ich jung war, hab ich auch immer spontan gehandelt, die größten Dummheiten gemacht“, erklärte sie unverfroren, vor einem Küchenschrank kniend. „Du weißt ja, deine Großeltern sind so schrecklich konservativ und waren damals auch ziemlich streng.“
Ich nickte mechanisch, so wie ich es immer tat. Am besten ließ man sich von einem ihrer äußerst lehrreichen Vorträge einfach berieseln, wie von einem Nieselregen. Nur bestand dieser hier aus irrelevanten Informationen und dem darauffolgenden Vorwurf. Wartet’s nur ab.
„Aber“, wie ich vorhergesagt hatte, „abends nicht nach Hause kommen, sich nicht melden und irgendwann um halb zwei mittags auftauchen und das auch noch in einem Hemd, das ich in meinem Leben noch nie gesehen habe, das ist einfach nur dreist!“
Ich seufzte ruhig, setzte mich an den kleinen, dekorierten Küchentisch und stützte das Kinn auf einer Hand ab. Meine Mutter war die Beste, das würde ich nie bestreiten. Leider beinhaltete dies aber auch ihre spezielle Art, wie sie Dinge handelte und wie sie ihre Kinder manchmal behandelte. Jedes ihrer drei Kinder hatte sie anders gehandhabt, was wohl auch unsere teilweise verkorksten Erscheinungen erklärte. Aber wie gesagt, nichts gegen Mama.
„Ich mache mir hier Sorgen, weißt du, nicht mal Andreas meldet sich bei mir und du, du machst dir einen Flotten, oder was?! Essen kochen, Wäsche waschen, das kann ich, aber zum Bescheid sagen ist der Herr sich wieder zu fein!“
„Tut mir leid.“
„Ein ‚tut mir leid‘ macht es auch nicht ungeschehen! Und jetzt sag, woher hast du das Hemd?“ Diesmal stach eindeutig die Neugier bei meiner Mutter hervor, mit einer der etlichen Schüsseln in der Hand musterte sie mich streng. Leider war ich ein miserabler Lügner und Ausreden waren gar nicht mein Ding. Als man mich gefragt hatte, warum ich zur ersten Schulstunde zu spät gekommen war, hatte ich tatsächlich ‚Ich wollte erst gar nicht kommen‘ geantwortet. Ich bin einfach viel zu ehrlich.
„Geklaut?“ Sie zog süffisant eine Augenbraue hoch. „Hab ich gefunden!“ Jetzt stemmte sie die Hände in die Hüfte. „Ich bin morgens einfach damit aufgewacht.“ Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich ließ ihr keine Chance. „Ich wurde vergewaltigt und als Entschädigung hat er mir sein Hemd gegeben.“
„Vincent Nicholas Lindemann!“ Ich verdrehte genervt die Augen. Als ob ich nicht wüsste, wie ich hieß. „Du kannst deinem debilen Vater vielleicht so einen Mist auftischen, aber du bist und bleibst ein miserabler Lügner.“ Tja, sie kannte mich eben.
„Schon gut“, gab ich schließlich nach, „Andreas hat Benjamin und Olli nach Hause gefahren, weil die besoffen waren und Julia ist gleich mit. Ich bin da geblieben, weil, äh, na ja…“
Plötzlich blitzte etwas in ihren Augen auf, was mir einen Schauer über den Rücken jagte. Beunruhigend. „Wie heißt er?“
„Lass das, das ist gruselig“, brummte ich nachgiebig und krempelte die zu langen Ärmel des Hemdes hoch. „Er heißt Torben und ist der ältere Bruder von einem Klassenkameraden.“ Auch wenn ich einen relativen guten Bezug zu meiner Mutter hatte, würde ich ihr nie von der Elias/Torben Problematik erzählen – leider wusste sie nämlich bestens, dass Elias und ich wie Tom und Jerry waren und Tom nicht nur Mäuschen spielen wollte.
Sie gab einen seltsamen Laut von sich, eine Mischung zwischen entzücktem Quieken und einem langgezogenen ‚Uuuuh‘. „Älter? Studiert er schon? Oh, ein Student!“ In ihrem wunderbaren Träumen fiel ihr wohl plötzlich wieder ein, wie wir zu diesem Thema gekommen waren. „Aber ihr habt doch nichts … getan, oder?“ Dabei stierte sie skeptisch und auch teilweise feindselig auf das Hemd.
„Mama, schätzt du mich wirklich so ein?“ Sie legte den Kopf schief und schaute ungläubig. „Wir haben nichts getan. Wie gesagt waren die anderen dann weg und wir haben uns ganz nett unterhalten. Und damit Andreas nicht noch mal her kommen musste, hat Torben angeboten, dass ich bei ihm schlafen könnte. Weil ich mich aber ziemlich doof angestellt hatte, habe ich natürlich meine Klamotten versaut und ja … hier bin ich.“ Damit hatte ich meine Mutter beruhigt, unnötige Details ausgelassen und war mit einem blauen Auge davon gekommen. Nicht vorzustellen, wie sie ausgetickt wäre, wenn wir tatsächlich … aber so leicht war ich eben nicht zu haben!
„Und?“ Conny (eigentlich hieß sie ja Constanze, aber wehe einer nannte sie so!) grinste und strahlte mehr als Fukushima und Tschernobyl zusammen. „Seht ihr euch wieder?“
„Wir haben Nummern getauscht“, gab ich bemüht gleichgültig zurück, auch wenn meine Lippen zuckten und sich unbedingt zu einem debilen Grinsen formen wollten. „Außerdem hat er ja noch meine Klamotten.“
„Ich bin ja so stolz auf dich!“ Wahrscheinlich plante sie schon die Hochzeit und welche Kinder wir adoptieren werden. So wie ich sie kannte waren es welche aus Afrika und mindestens zehn Stück. „Wenn es soweit ist, kannst du ihn mir ja mal vorstellen.“ Mutti zwinkerte mir zu, fing an fröhlich zu summen und fahndete weiter nach kitschigem Geschirr. So gehörte sich doch ein Samstagmorgen!

Wie ich erwartet hatte, kam Julia später noch vorbei und begründete ihr einzelnes Auftreten damit, dass Oliver und Benjamin noch verkatert waren und Andreas endlich mal ausschlafen wollte, nachdem die beiden ihn anscheinend ziemlich lange wach gehalten hatten.
Als Ersatz tauchte aber noch wie aus dem Nichts Christoph auf, ebenfalls aus unserer Stufe, der seit jeher auf Julia stand, die natürlich keinen Schimmer davon hatte und unbewusst so auf seinen Gefühlen herum trampelte, dass der sowieso gerade mal 1,72m große Typ förmlich in sich versank.
An sich war Chris eigentlich ein aufgeschlossener, freundlicher Junge, grundsätzlich hilfsbereit und munter. Was auch der Grund dafür war, dass Julia ihn nur als Kumpel wahrnahm, denn meistens lachte die sich die größten Idioten an, die sie von hinten bis vorne verarschten und die sie nur wegen ihrer ‚Bad-Boy‘ Aura mochte. Sie hatte nicht mal ein Funken Ahnung davon, dass Chris für sie vor einen Zug springen würde und als Show für sie dabei noch einen Flick-Flack schlüge. Irgendwo nutzte sie ihn sogar diesbezüglich aus, nur leider stand sie so auf dem Schlauch, dass sie das nicht einmal mitbekam. Der Kerl konnte einem schon leidtun, der hing so in der ‚Friendzone‘ fest, dass es schon fast lächerlich war.
Der Dunkelhaarige brachte ein Mitbringsel in Form von Kuchen mit. Das war nicht selten, weil seine Eltern eine kleine Bäckerei im Ort hatten und Kuchen die Spezialität seiner Mutter war. Diesmal war es Schokoladenkuchen.
Ich weiß noch genau, dass dies der Grund dafür gewesen ist, dass Chris und ich uns angefreundet hatten. Er hatte im Sommer nach frischem Teig gerochen und im Winter nach Zucker und Zimt. Anfangs hatte er mich nicht ausstehen können, weil er dachte, ich stünde auf Julia. Er hatte mich hauptsächlich ignoriert und bissige Kommentare abgegeben, wenn ich dann doch in der Nähe gewesen bin. Bis dann auch bei ihm die Bombe geplatzt ist, als ich ihm ein Kompliment über seinen muskulösen Oberkörper machte und anfing anzüglich zu pfeifen, als er sein T-Shirt bei Stefanies Poolparty auszog. Dann zählte er eins und eins zusammen und brachte mir als Entschädigung für sein unhöfliches Benehmen eine Erdbeersahnetorte. Man muss schon sagen, tolerant waren sie hier im Ort eigentlich schon … aber ich glaube, bei Christoph war da auch die Erleichterung aus ihm heraus geschwappt. Aber mit der Torte hatte er mich.

„Ich hab gehört, ihr ward gestern bei Stefanie?“ Chris legte die Kalorienbombe in der Küche ab, wo wir uns mittlerweile versammelt hatten. Meine Mutter hatte sich ins Wohnzimmer verzogen. Nicht etwa, um uns Privatsphäre zu lassen, Quatsch! Sie konnte jedes einzelne Wort am angrenzenden Wohnzimmer hören, weil ich von einem Platz aus gut das ‚lautlos‘ Zeichen des Fernsehers sehen konnte und sie schon seit mindestens zehn Minuten dieselbe Seite ihres Magazins anstierte. James Bond konnte sich richtig eine Scheibe von ihr abschneiden!
„Ja“, brummte Julia wenig begeistert und verteilte Teller und Besteck an uns. Sie kannte sich nach all der Zeit bestens in meiner Wohnung aus. Ich hingegen vergaß sogar noch ihren Geburtstag und schenkte ihr anschließend irgendwelche Dinge, die ich in unserem Keller so fand. Über die alte Spieluhr zu ihrem Sechzehnten hatte sie sich tatsächlich gefreut! „Und Benji und Olli waren wieder einmal so zu, dass ich kaum was von der Party mitgekriegt habe.“ Sie schnitt den Kuchen an und legte das größte Stück direkt auf meinen Teller. Die wollte doch damit nur bezwecken, dass ich fett wurde und alleine mit fünfzig Katzen in meiner Wohnung sterbe und man mich erst findet, wenn der Verwesungsgeruch ins Treppenhaus zieht. Ja, überall lauerte die Gefahr! Sie bemerkte meinen anklagenden Blick und zwinkerte mir grinsend zu. „Ich mag dich auch kuschelig.“
Nun zufrieden mampfte ich meinen Kuchen. „Wieso warst du eigentlich nicht da?“, wandte ich mich nun an Chris, der geduldig auf sein Stück wartete. Er zuckte mit den Schultern, nahm seinen Teller entgegen und stach mit der Gabel zielstrebig in das Gebäck hinein. „Ich war gestern noch mit einigen vom Verein was trinken.“
„Aha“, machten Julia und ich gleichzeitig. Dafür, dass Chris so ein lieber Kerl war, boxte er in seiner Freizeit im Verein, dreimal die Woche. Krank, oder? Vielleicht kompensierte er auch so seine versteckte Frustration.
„Ist dieser, wie hieß er noch? Dieser … Karl auch dabei gewesen?“, hakte die Blondine interessiert nach. Sie stand auf groß, muskulös und leider auch dämlich, denn Karl war wirklich nicht die hellste Leuchte im Wald. Ich trat ihr taktvoll unter dem Tisch gegens Schienbein, als ich sah, wie Chris die Lippen aufeinander presste, bis sie weiß wurden. Verständnislos zischte Julia mich an.
„Nein“, nuschelte er und stopfte sich sogleich sein halbes Stück Kuchen in den Mund, um dann mit vollem Mund weiter zu sprechen. „Der war nicht dabei. Darf sowieso nichts trinken, hat demnächst einen Kampf…“ Zum Ende hin wurde er immer ruhiger, weshalb ich ihm einen mitleidigen Blick schenkte.
„Ach so“, tat Julia es nun ab und ignorierte die seltsame Stimmung. „Ist ja auch egal! Wie wär’s, wenn wir jetzt über Vinces gestrigen Aufriss sprechen?“ Sie wackelte zweideutig mit den Augenbrauen und aus dem Wohnzimmer ertönte ein Glucksen. Wie toll!
„Genau!“, ereiferte ich mich gespielt und zückte das Katzenspielzeug hervor, das ich bei Stefanie gefunden und heute Morgen in meiner Hosentasche entdeckt hatte. „Ist das nicht toll? Ich könnte den ganzen Tag damit spielen, guck mal Julia!“ Ich wedelte mit der zerwetzten Maus vor dem genervten Gesicht meiner besten Freundin herum. „Na los, hol sie dir! Schnapp sie dir, Tiger!“
Stöhnend entriss Julia mir das Teil und warf es im hohen Bogen aus der Küche, direkt vor das Sofa. Sofort kamen aus irgendeiner Ecke Max und Moritz gesprungen, unsere Stubenkater, die sich, im Gegensatz zu der Blondine, vergnügt auf das Spielzeug stürzten.
Enttäuscht schaute ich sie an. „Jetzt spielen die mit deiner Maus, guck mal … dabei war die extra für dich.“
Ignorant, wie sie nun mal war, beachtete sie mich gar nicht weiter und fing an, Chris vom gestrigen Abend zu erzählen. Vor allem von dem ‚oberscharfen Kerl‘, mit dem ich mich gestern ja so angeregt unterhalten hatte. Sie stellte es dar, als hätte mich mein Traumprinz mit weißem Gaul aus dem Schloss gerettet, nebenbei den Drachen erschlagen und mich direkt im Schlafgemach des Königspaars flachgelegt.
„Dann wünsch ich viel Glück“, lächelte Chris, freundlich wie immer. Er meinte es ehrlich, das sah man ihm an. Ich erwiderte das Lächeln, wank aber mit der Hand ab. „Ich glaube, Glück reicht da nicht…“
Misstrauisch runzelte Julia die Stirn. „Was meinst du damit?“
Ich war mir nicht sicher, ob ich es ihnen erzählen sollte. Es reichte ja schon, dass ich mit dieser Tatsache leben musste und die beiden dann auch noch damit belästigen?
Mit einem Tritt schloss ich die Küchentür hinter mir. „Torben ist Elias älterer Bruder.“ Julias Mund bildete nun ein vorbildliches ‚O‘ und Christoph blinzelte mich verwirrt an.
„Torben ist der Typ von gestern?“, fragte er vorsichtshalber nach.
„Ja“, bekräftigte ich nachdrücklich.
„Und du meinst ganz sicher den Elias, den wir alle kennen?“
„Jaha.“
„Den Elias, den du schon einmal fast ertränkt hättest?“
Widerwillig brummte ich. „Ja doch!“
„Krass“, entfuhr es dem Dunkelhaarigen nun, strich sich über die kurzen Stoppeln auf seinem Kopf. Er ließ sich die Haare immer bis auf einige Millimeter abrasieren, seitdem er wusste, dass Julia auf ‚solche‘ Typen stand.
Eben diese bestätigte das Gesagte mit einem irritierten Nicken, tief in Gedanken. Der Kuchen war fast vergessen. Nur ‚fast‘, weil ich mir bereits das zweite Stück auf den Teller knallte. Diesmal mit Sahne, für die Nerven, ihr wisst schon.
„Und was sagt Elias dazu?“ Kritisch stützte Julchen ihr Kinn auf einer Hand ab, die wissbegierigen, blauen Äugelein auf mich gerichtet. Ich machte ausladende Gesten und lehnte mich gespielt entspannt zurück.
„Der freut sich total“, ereiferte ich mich. „Konnte sich gar nicht einkriegen vor Freude. Hat mir sofort das Familienhäuschen gezeigt, den Eltern als zukünftigen Schwager vorgestellt und mir mit Tränen in den Augen alte Aufnahmen aus der glücklichen Kindheit gezeigt: wie er seinen ersten Keks gegessen hat, wie er zusammen mit Torben in der Badewanne sitzt und mit Quietscheentchen planscht, wie sie im Zoo die Esel streicheln…“
„Schon gut“, unterbrach mich Julia hektisch. „Wir haben’s verstanden. Ich geh mal davon aus, ihr habt euch wieder äußerst lieb gehabt.“
„Na ja, so schlimm war’s nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern, tat gleichgültig. „Anfangs hat er gemeint, ich solle Torben keine Hoffnungen machen, weil ich ja nicht schwul sei und dann habe ich ihm eben direkt gesagt, dass er da ziemlich falsch liegt.“
Ihr Mund blieb offen stehen, wieder einmal, dann grinste sie, schüttelte den Kopf und grinste breiter. „Du hast ihm das einfach ins Gesicht gesagt? Hast dich vor dem größten Snob der Stufe geoutet?“
Ich nickte. Sie lachte.
„Weißt du was, Vince? Ich bin richtig froh darüber, dass wir so gute Freunde sind.“
Chris gluckte amüsiert und meine Mutter warf mit einer ungeschickten Handbewegung die Tür beinahe gegen die Wand, als sie eintrat. Mit einem perlweißen Grinsen im Gesicht schneite sie herein.
„So, ich hoffe, ihr habt mir etwas vom Kuchen übrig gelassen!“

Bitterschokolade



„Vincent!“ Erschrocken zuckte ich zusammen. Herr Tretmann stand wie ein wütendes Streifenhörnchen direkt vor meinem Tisch und musterte mich tadelnd. „Wo bist du wieder mit deinen Gedanken?“
Ich glaube nicht, dass er darauf eine ehrliche Antwort erwartete, denn dann hätte ich nur angefangen von Torben zu reden. Von seinem Körper, seinem schön geschnittenen Gesicht, seinem Lachen, seinen Lippen…
Julia rettete mich ganz gut aus der Situation, indem sie mir sanft wie ein Vorschlaghammer unter dem Tisch gegen das Schienbein trat. Mit einem verkrampften Lächeln auf den Lippen – denn das Weib hatte eine Wucht drauf – schaute ich zu unserem Klassenlehrer auf und entschuldigte mich. Er ließ es mir noch einmal durchgehen, sein Wortlaut, wie immer eigentlich. Es kam nur selten vor, dass der Tretmann tatsächlich mal durchsetzungsfähig wurde. Ich atmete erleichtert auf, als er sich zur Tafel umwandte und den Unterrichtsstoff weiterführte. Als ob ich mich heute auf Mathe konzentrieren konnte!
In der Pause setzten Julia und ich uns draußen auf die Bank. Da wir im Kurssystem waren, sahen wir Benjamin und Chris nur selten, meistens in den Pausen. Julia und ich hatten uns als einzige aus der ehemaligen 10a dafür entschieden, Kunst als Leistungskurs zu belegen. Jetzt hatten wir solche ‚kreativen Genies‘ wie Yvonne Schraps an der Backe, die davon redete, wie sie die Farben auf ihren Bildern verinnerlichte. Einmal hatte sie während der Stunde Papier gegessen. Wem’s schmeckt…
„Du bist aber heute ganz schön durch den Wind“, merkte meine beste Freundin mit klugem Blick an und lehnte sich an meine Schulter. Es wehte dieser typisch kalte Nordwind, der einem so unangenehm unter die Kleidung kroch.
„Kann sein“, gab ich lahm zu. „Ich philosophiere schon so lange über den Sinn von Polohemden, aber irgendwie verzweifle ich nur daran.“ Ich konnte ihr Gesicht zwar nicht sehen, aber ich wusste, dass sie grinste.
„Ich bezweifle, dass du wegen Polohemden so debil grinst.“ Erwischt. Die kannte mich eben viel zu gut.
„Ich treffe mich heute mit Torben“, erklärte ich dann völlig selbstlos und ließ den Blick über den Schulhof schweifen. Bei einer Baumgruppe fand ich dann auch den werten Herrn König, der gelangweilt an der Hauswand lehnte, während Lisa ihn höchstwahrscheinlich wieder mal zu quatschte ohne Ende. Er sah tierisch gelangweilt aus, während sich die Lippen der Nervensäge unaufhörlich bewegten. Das gönnte ich ihm. Der steckte so tief in ihrem Arsch drin, dass es mich manchmal wunderte, dass er nicht oben wieder raus kam.
„Und, was macht ihr?“ Sie wackelte zweideutig mit den Augenbrauen und ich zwickte sie in den Oberschenkel. „Auf jeden Fall nicht das was du denkst! Er meint, er kocht für mich und dann mal sehen.“
„Bei sich zu Hause?“ Ihre blauen Augen bohrten sich in meine. Sie funkelten so spitzbübisch.
„Ja, wo sonst?“
„Bei Familie König im Haus?“ Also langsam bekam ich das Gefühl, dass sie mir irgendwas Wichtiges sagen wollte.
„Ja doch!“
„Da, wo Elias auch wohnt?“
Ja, okay, jetzt hatte es Klick gemacht. Ich gebe zu, manchmal (oder eher meistens) stand ich eben auf dem Schlauch. Aber ich wusste, was sie mir damit sagen wollte. Elias war bestimmt begeistert, wenn sein Bruder und ich rumturtelnd in der Küche standen und uns mit Schokoladen überzogenen Erdbeeren fütterten … gut, letzteres war nur eine Wunschvorstellung.
„Ich denke mal nicht, dass er großes Drama machen wird. Nicht vor seinem Bruder.“

Wie man sich irren kann!
Es fing schon in der Schule an. Elias provozierte mich die Stunden über beinahe ununterbrochen. Er ignorierte mich, wenn ich ihn etwas fragte, warf mir arrogante Blicke zu und ließ abfällige Kommentare fallen, sobald ich mich äußerte. Glücklicherweise war ich so ein umgänglicher Mensch und ging überhaupt nicht darauf ein.
„Elias, geh mir aus dem Weg oder ich schwöre bei Gott, ich kann für nichts garantieren!“ Das hatte nicht ich gesagt. Das war dieser böse Vincent in mir, der langsam aber sicher raus wollte. Wenn mich dieser Schnösel noch weiter aufregte, dann würde das sicherlich auch noch passieren!
Der Brünette schnaubte nur überlegen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was willst du dann tun, mich bei meinem Bruder verpetzen?“
Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht laut zu werden, was jedoch unnötig war – wir waren die einzigen, die in diesem Schulflur standen. Bis eben hatte ich noch hier ganz friedlich gestanden und auf Julia gewartet, die noch einmal auf Toilette gegangen war. Schulschluss. So lange hatte ich es durchgehalten, ohne Elias die Pest an den Hals zu wünschen und nun stellte der sich mir rotzfrech in den Weg!
„Das hab ich nicht nötig“, blaffte ich zurück und suchte den Augenkontakt. Wie konnte dieses warme, herbstliche Braun so aufgewühlt wirken? Und wieso immer nur bei mir? „Was ist eigentlich los mit dir? Hast du deine Tage?“
„Ich sage es dir nur vorher“, erklärte er nun außergewöhnlich ruhig, „Wenn du meinem Bruder irgendwie verarschen solltest, nur weil wir beide gewisse Probleme haben, dann...“
„Sei einfach ruhig“, unterbrach ich ihn unwirsch, was ihn zu überraschen schien. Nimm das, du Untier aus der Hölle! „Nur weil du so ein intolerantes, selbstverliebtes Arschloch bist, heißt das nicht, dass alle anderen genauso sind.“
Wütend starrten wir uns einfach an, bis Julia zu uns stieß und uns verdutzt musterte. Dann pfiff sie anerkennend und hakte sich bei mir unter. „Also Jungs, das mit dem Anstarren habt ihr echt drauf, aber ich denke mal, du hast nichts dagegen, wenn ich dir Vince klaue, oder? Ihr werdet sicher noch genügend Zeit haben, euch zu liebäugeln.“ Damit zerrte sie mich mit Nachdruck bis zum Schultor, an dem ich mich wieder von ihr befreite, entrüstet schnaubte und in die Richtung der Bushaltestelle trottete.
Dass dieser Kerl mich wieder und wieder auf 180 brachte! Ich hatte gerade das Bedürfnis, eine bestimmte Person irgendwo einzusperren. Am besten eingefettet mit Barbecuesoße in einem Löwenkäfig. Zur Paarungszeit. In einem weiblichen Löwenkostüm. Bitte?
„Wieso lässt du dich eigentlich immer so von ihm provozieren?“ Julia zündete sich eine Zigarette an und musterte mich anklagend. „Das ist doch genau das, was er will.“
Ich seufzte resigniert und lehnte mich an das Haltestellenschild. Es wackelte bedrohlich, als wäre ich ein fettes Walross. Dabei konnte ich so viel Schokolade futtern wie ich wollte – irgendwie nahm ich nie wirklich zu. Julia hasste mich dafür. „Ich weiß doch“, brummte ich und schob die Hände in die Hosentaschen. „Aber … ich … ach, keine Ahnung! Wenn er vor mir steht, kann ich irgendwie nicht anders! Er regt mich einfach auf.“
Die Blondine erwiderte meinen Blick wissend. „Das sollte er aber nicht mehr.“

Zu Hause angekommen, warf ich meine Schultasche in die nächste Ecke und tappte überrascht direkt in meinen Bruder, der mit beladenen Armen wie ein schlechter Dieb aus der Küche geschlichen kam.
„Was machst du denn hier?“, stieß ich überrascht aus, während er noch in letzter Sekunde den Teller mit etlichen Sandwiches auf seinem Arm ausbalancierte. Da er mit seinem Mund einen Apfel transportierte, klang seine Antwort mehr nach einer Rachenentzündung als nach etwas Verständlichem.
„Die Vorlesungen morgen sind nicht wichtig, da dachte ich mir, ich komm‘ früher“, erklärte er trocken, ohne eine Miene zu verziehen, und schmiss sich desinteressiert aufs Sofa, wobei er einen Joghurt verlor, der mit einem unschönem Laut vor dem Sofatisch landete.
Skeptisch lupfte ich eine Augenbraue, meinen werten Bruder dabei beobachtend, wie er versuchte das Gröbste noch vom Teppich retten. Das Teil war schön aufgeplatzt, wie ein Hamster in der Mikrowelle. „Na, wie du meinst. Ich geh jedenfalls gleich und wollte eigentlich Mama noch Bescheid sagen, aber die glänzt ja mal wieder mit Abwesenheit.“
„Die ist bei Gudrun.“ Clemens, der übrigens unserem Vater ausgesprochen ähnlich sah, schmierte sich zeitgleich unwissend ein kleines bisschen Erdbeer-Joghurt in die Haare. Zum Glück waren die so kurz rasiert, da hatte das keine schlimmen Konsequenzen. Mal abgesehen davon, dass er nun gleich viel mehr nach Trottel aussah, als sowieso schon.
„Kannst ihr dann ja sagen, dass ich weg bin. Sie wird wissen wohin. Ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme … und du hast da was.“ Er folgte meiner Gestikulation und verteilte noch mehr Joghurt auf seiner Stirn. Fabelhaft. Darf ich vorstellen, Familie Lindemann! Gut, dass Sie meine Schwester noch nicht kennen…
Ich überließ Clemens seinem Schicksal als Idiot und machte mich daran, dass äußerlich Beste aus mir zu machen. Prinzipiell hatte ich nichts an mir auszusetzen, die blonden, mittlerweile länger gewachsenen Haare saßen perfekt, das weiße T-Shirt stand mir gut und war auch nicht zu verklemmt mit dem V-Ausschnitt und die Hose hatte diese gewisse Enge…trotzdem ging mir irgendwie nicht die Frage aus dem Kopf: War ich überhaupt Torbens Typ? Bevorzugte er etwas? Fand er mich … anziehend

?
Nach einigen Minuten Anstarren meines Spiegelbildes, gab ich mir selber einen Tritt in den Arsch und verließ das Badezimmer wieder. Mein Bruder lag unverändert auf dem Sofa, mit dem kleinen Unterschied, dass Moritz ihn anstarrte als wäre er eine Zuckerstange. Der Kater stand auf Joghurt. Schade, dass ich nicht beobachten konnte, wie das ausging.
„Wo gehst du überhaupt hin? Du riechst, als würdest du gerade aus’m Puff kommen.“ Deswegen liebte ich Clemens. Weil er solche Dinge sagte und dabei keinerlei Veränderung in seiner Mimik zu beobachten war. Bewundernswert.
„Ich treff mich mit jemandem“, gab ich zu, während ich in meine Turnschuhe schlüpfte. Er pfiff langgezogen und grinste mich über die Sofalehne hinweg an. „Denk immer schön an Safer Sex!“
Ich schloss die Haustür hinter mir ohne mich zu verabschieden. Er würde mich bei der Haltestelle abholen, weil ich mich leider nicht mehr recht daran erinnern konnte, in welchem Haus genau er wohnte. Und bevor ich wie ein Stalker ins falsche Haus einstieg…es reichte ja, wenn einem sowas ein Mal im Leben passierte.
Um ehrlich zu sein, war das mein erstes Date. Große Erfahrungen in der ‚Liebesszene‘ konnte ich nun wirklich nicht aufbringen, dafür bin ich auch nie der Typ gewesen. Dazu kam ja auch noch, dass ich nicht am einfachen Ufer fischte, wie die anderen auch – nein! – sondern zum Anderen rüber gepaddelt war und da jetzt mein Glück versuchte. Ich verkomplizierte mir die Sachen ausgesprochen gern. Mädchen fehlte eben dieses gewisse Etwas! Diese gewissen Zentimeter in der Lendengegend…

Torben sah natürlich klasse aus. Er stand da, mit einem Schirm in der Hand, in lockeren Jeans, weißem Hemd und mit einem Grinsen im Gesicht, das so ansteckend war wie Malaria. Es nieselte bloß geringfügig, dennoch hielt er den Regenschirm direkt über mich, sobald ich auch nur den kleinen Zeh aus dem Bus gesetzt hatte. Zwar einschüchternd, aber so lieb gemeint, dass ich schwören könnte, er rülpst Schmetterlinge.
„Und, wo ist die Geisel?“ Seine Grübchen gaben wieder die Ehre und sein Ellbogen streifte meine Schulter, während wir den Bürgersteig entlang liefen, an den ganzen hübschen Häusern vorbei, von denen ich nur träumen konnte. Ich bezweifelte, dass ich später mal viel Geld verdienen würde. Vielleicht wurde ich ja als Künstler irgendwann entdeckt und malte die nächste Mona Lisa? Wäre wohl eher eine männliche Variante davon und wesentlich schlüpfriger.
Fragend schaute ich zu Torben auf. „Äh, Geisel?“ Es gab Momente, da verstand ich Anspielungen sofort und eben solche, in denen ich wie immer ziemlich im Dunkeln tappte. Heute war diesbezüglich eindeutig nicht mein Tag.
Meine Begleitung lachte darüber. Es lockerte mich auf, die ganze Nervosität fiel von mir ab. „Mein Hemd, Kleiner.“
Kleiner. Es lief mir grundsätzlich kalt den Rücken runter, wenn mich jemand so nannte. Es war fast so schlimm wie ‚Blondie‘ oder ‚Hase‘. Da kehrten sich meine Genitalien förmlich nach innen, mit einer Sprechblase darüber, in der dick und fett ‚Niemals‘ stand. Sollte ich mir vielleicht gleich tätowieren, obwohl das seltsame Widersprüche mit sich hätte, wenn es der Richtige zu sehen bekäme.
Bei Torben sah ich darüber hinweg. Das war ein jedenfalls ein gutes Zeichen für ihn. „Oh“, entfiel es mir, „Das hab ich vergessen, tut mir leid.“ Tat’s nicht. Das gehörte unwiderruflich mir, ob es ihm seine einarmige Oma persönlich geschneidert hatte oder nicht.
„Kein Problem“, grinste er, „Du kannst es behalten.“ Dann beugte er sich zu mir rüber und sein, im Gegensatz zur feuchten Kälte des Regens, heißer Atem streifte meine Wange. „Sah an dir sowieso viel besser aus.“
Im Hause König war es ruhig. Zu ruhig. Wie die Ruhe vor dem Sturm und ich vermutete, der Sturm trug den Namen Elias und benahm sich wie ein kleines, bockiges Kind, dem man den Lutscher geklaut hatte.
Ich streifte mir die Turnschuhe von den Füßen, während Torben den nassen Regenschirm in den Flur zum Trocknen legte. „Ist dein Bruder eigentlich zu Hause?“
„Der Bruder heißt Elias und ja, ich bin da.“ Die Hexe des Ostens stand im Flur, nur seltsamerweise in einer gut aussehenden Männergestalt, aber mit dem typischen, fiesen Gesichtsausdruck. Unwillkürlich fragte ich mich, ob ich mich durch das Zusammenstoßen meiner Schuhe nach Hause teleportieren konnte. Bestimmt nicht. Die waren nicht rot.
„Schön, Elias“, lobte ich trocken. „Gehst du in dein Zimmer spielen oder willst du uns Gesellschaft leisten?“ Ich erkannte durchaus, dass es eventuell nicht so ratsam war, so mit dem kleinen Bruder seines Traummannes zu sprechen, aber der schien es ganz okay zu finden, denn er gluckste neben mir tief und unterdrückte stark einen Lacher. Außerdem war ich ja sogar noch ganz nett.
„Keine Angst“, beruhigte mich Torben sogleich, legte mir eine Hand auf die Schulter und warf zeitgleich Elias einen eindeutigen Blick zu. „Er lässt uns in Frieden, bis er zum Training muss.“
Zufrieden lächelte ich, bemerkte dabei zwar deutlich, wie mich der kleine König gereizt anstarrte, überging das jedoch geflissentlich. Elias schnaubte, würgte die Flüche, die ihm auf der Zunge lagen, herunter und spazierte direkt wieder in sein Zimmer zurück. Diese Seite gefiel mir an ihm. Fehlte nur noch das elektrische Halsband und ich mit dem Schaltknopf in der Hand, um ihm die Elektroschocks zu verpassen, dann wäre das Bild perfekt. Das würde mich für einige Erniedrigungen im Leben entschädigen.

Torben kochte tatsächlich und das sogar ausgesprochen gut. Forelle, Reis und Salat, Mama wäre schon stolz, wenn ich mal nicht die Nudeln anbrennen ließ. Ich saß die meiste Zeit über auf der Theke und wurde als Vorkoster missbraucht, während der Brünette mit Kochlöffel und Messer bewaffnet hin und her huschte.
„Kann ich nicht auch was tun?“ Ich stellte mich an seine Seite und beobachtete ungeduldig, wie der Reis vor sich hin köchelte. „Ich mach auch nichts kaputt, versprochen.“
Er lächelte mir zu und deutete auf eine Schrankreihe rechts von mir. „Da sind Teller. Zwei reichen, Elias hat schon gegessen. Das Besteck ist in der Schublade hier.“
Es kam mir vor, als wären wir bereits zusammen und bereiteten wie selbstverständlich das gemeinsame Mittagessen vor. Das war so kitschig und altbacken, dass ich das merkwürdige Bedürfnis hatte, Torben eine Schürze mit der Aufschrift ‚kiss the cook‘ zu schenken. Das hätte jedenfalls seine Vorteile.
Dann war auch schon alles fertig und ich bemühte mich beim Essen nicht auszusehen wie der letzte Vollidiot oder gar wie mein Bruder. „Ein Lob an den Koch“, grinste ich ihn an und piekte ganz genüsslich ein Stück Tomate aus dem Salat, um es sogleich zu verspeisen. „Es schmeckt vorzüglich.“
Er zwinkerte mir zu und schluckte. „Ich werde es weitergeben. Bekomme ich eigentlich Trinkgeld?“ Das folgende Wackeln der Augenbrauen ließ mich nicht an der gewollten Zweideutigkeit zweifeln, brachte mich aber trotzdem zum Kichern. Ich fühlte mich wie ein pubertäres Schulmädchen. Leider waren meine blonden Haare zu kurz, um sie zwischen den Fingern zu zwirbeln.
„Hmm“, tat ich ungewiss, „So gut war der Service auch wieder nicht.“ Beleidigt blähte Torben die Backen auf, was ihn wie ein mutiertes Meerschweinchen aussehen ließ. Zum Trost beugte ich mich todesmutig zu ihm rüber und küsste ihn. Jetzt, wo ich den Dreh langsam raus hatte, fiel mir das auch gar nicht mehr so schwer.
Überrascht schaute er mich an, anscheinend konnte er sich nicht entscheiden, ob er irritiert oder erfreut sein sollte. Irgendwie war er schließlich beides.

Nach dem Essen brachte er den Vorschlag, ins Kino zu gehen. Wir würden mit dem Auto hinfahren – wegen dem Regen – und ich wusste, dass zurzeit einige gute Filme kamen, die ich unbedingt sehen wollte, aber ich bis dato viel zu geizig dafür gewesen bin.
Leider war mein Leben jedoch eine riesengroße Katastrophe, was mal wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt werden musste. Deswegen lag ich jetzt nicht in den starken, warmen Armen Torbens, während irgendein Actionstreifen über die Leinwand flimmerte, nicht mal annähernd! Stattdessen kämpfte ich mich an diesem wunderschönen Freitagabend durch eine Horde Halbstarker Sportler, deren Masse im Großen und Ganzem lediglich nach Schweiß, Tabak und Testosteron roch.
Wie es dazu kam? Das erkläre ich natürlich gerne. Während ich wie eine brave Hausfrau –mit Handschuhen und pikiertem Gesichtsausdruck – den Abwasch tätigte, entstanden unerklärlicherweise diverse Differenzen zwischen Torben und Elias. Viel vernünftige Phrasen konnte ich dem Gespräch nicht entnehmen, nur so Fetzen wie ‚Respekt‘, ‚oberflächlich‘ und ‚Seifenblase‘. Also stand ich planlos im Flur, guckte wie eine Kuh wenn’s donnert und beobachtete, wie ein aufgeplusterter Elias Reißaus nahm und neben mir einen aufgebrachten Torben hinterließ. Glanzvolle Darstellung. Hier einen Dank an die Dramaqueen Elias, der ich diese verfluchte Situation zu verdanken hatte. Applaus!
Nach diesem Abgang waren Torben und ich uns einstimmig klar, dass wir das für heute einfach vergessen würden und uns trotzdem einen gemütlichen Abend machen wollten.
Nichts da. Denn wenn ein König einem das Leben versauen wollte, dann richtig! Es war später geworden als gedacht, also hatten wir uns schnell in Jacke und Schuhe geworfen und waren mit der Hand praktisch an der Türklinke, als das Telefon klingelte.
Alles hätte ich erwartet. Herr und Frau König, die sich erkundigten, ob ihre Kinder noch atmeten. Meine Mutter, die mich gestalkt hatte und mir das Freizeichen zum Sex gab – gar nicht so unwahrscheinlich wie ihr vielleicht gerade denkt. Der Teufel, der mich fragen wollte, wie ich seine Arbeit bis jetzt so fand.
Jedenfalls alles, nur nicht diesen Anruf. Torbens Gesichtsausdruck sprach Bände. Das lässige Schmunzeln wich einer besorgten, fast schon schuldbewussten Mimik. Ich seufzte. Tief in meinem Inneren war mir bereits klar, dass unser schönes Date damit endgültig vorbei war. Adieu, zweisamer Freitagabend!
Torben sagte mir, dass der Anrufer ein Teamkollege von Elias gewesen war. Die beiden spielten im gleichen Basketballteam und er meinte, Elias wäre nicht zum Training gekommen. An sich nicht schlimm, dafür aber hatte der Herr befunden, dass er, anstatt zu trainieren, auf die Party einiger Sportler aus dem hiesigen Sportinternat geht. Und das war er auch. Laut Ruben, seinem Kumpel, der solidarisch früher das Training verlassen hatte, als Elias ihm eine SMS geschrieben hatte, war dieser irgendwas zwischen ‚sturzbetrunken‘ und ‚sternhagelvoll‘. Man konnte sich kaum den Stolz in Torbens Augen vorstellen. Ha ha.
Das war eigentlich schon die komplette Geschichte hinter ‚Wieso Vincent Lindemann sich das gerade antat‘. Wir hatten uns aufgeteilt, glücklicherweise handelte es sich um ein relativ kleines Haus, sodass sich Torben gerade im Vorgarten durchfragte und ich mich eben hier durch die Männermasse kämpfte. Ehrlich. Bis jetzt hatte ich nur ein oder zwei Mädchen gesehen und das nicht gerade hübsche.
Natürlich durfte ich das Glück haben, ihn zu finden. Na gut, er versteckte sich auch nicht wirklich, eher im Gegenteil. Der Gute stand nämlich auf einem Stuhl, in beiden Händen ein Bier, das man jeweils feinsäuberlich mit Panzertape an ihm befestigt hatte, mitten in der Küche. Dass er da ziemlich hin und her wackelte, war fast so beunruhigend wie die Tatsache, dass er unglaublicherweise tatsächlich mal nicht

gut aussah. Nicht einmal irgendwo hübsch, sondern nur … betrunken.
„Elias!“, brüllte ich, obwohl die Musik kaum noch zu hören war, doch ich wollte auf Nummer sicher gehen. Nicht, dass er mich noch überhörte. Die beiden Mitstreiter, ebenfalls mit Bier ausgestattet, bemerkten mich jedenfalls. Ich schenkte ihnen meinen besten ‚Was-Würden-Eure-Mütter-Dazu-Sagen‘-Blick und dann waren wir auch schon alleine.
„Vince?“ Fast schon erschrocken schaute er auf mich hinab. „Was machst du denn … hier?“ Ich bekam beinahe Mitleid, als er anfing mehrere Sekunden zum Nachdenken für die einzelnen Wörter zu brauchen.
Ich seufzte und zog ihn am Ellbogen vom Stuhl, wobei er nur schwankend auf den Küchenfliesen zum Stand kam. Dann befreite ich ihn wortlos von dem Klebeband und stellte die halbleeren Flaschen auf den Esstisch. Selbst wenn ich ihm mein Leid nun lang und breit vorklagte, kapierte der in seinem jetzigen Zustand sowieso nichts – also hob ich mir meinen gesamten Hass für später auf.
„Das ist lieb von dir“, brachte Elias schließlich geistreich heraus und schloss konzentriert die Augen. „Es ist echt kacke, dass wir uns hassen. Sonst würde ich dich mögen.“
Verwirrt kräuselte ich die Stirn, wusste auch nichts Gescheites darauf zu erwidern und schnappte mir einfach sein Handgelenk, um ihn sicher durch das Haus zu manövrieren, ohne ihn inmitten dieser Athleten zu verlieren. Dabei fühlte es sich an, als würde ich einen störrischen Esel oder einen Sack Reis hinter mir herziehen.
„Glaub mir!“, bestärkte Elias seine letzte Aussage tatkräftig und zog an meinem Arm. „Um ehrlich zu sein … ähm … war ich irgendwie … neidisch, weißt du…wegen deiner Ausstrahlung und so. Eigentlich bin ich ja nicht der Typ, der sowas sagt, aber … ich mag dich. Genau dich. Ungelogen.“
Meine Hände wurden schwitzig und ich verlor den Halt um sein Handgelenk. Mitten im Wohnzimmer hatte ich gestoppt und drehte mich mit Schwung zu ihm herum. Auf seinem T-Shirt waren Bierflecken. Seine Frisur vollkommen zerstört. Und der Blick verklärt, aber tief.
Waren Betrunkene und Kinder nicht immer am ehrlichsten?
1:1. Unentschieden. Touché.

Der König fällt

 „Weshalb habt ihr euch eigentlich gestritten?“ Fragend sah ich meinen Gegenüber an, der gerade seinen völlig hoffnungslosen, kleinen Bruder ins Bett legte und zudeckte. Elias war völlig hinüber und brabbelte im Schlaf etwas von ‚Lauf, Forrest!‘ und griechischem Wein.

„Das, äh…“, brummte Torben und setzte sich auf Elias Schreibtischstuhl. „Das ist eher ein Familienproblem.“ Nachdenklich fiel sein Blick auf den Schlafenden. In dem fahlen Licht der Straßenlaterne, die von draußen ins Zimmer schien, war die Ähnlichkeit der beiden Könige kaum zu übersehen.

„Ach so.“ Irgendwie verwunderte es mich, dass er mir dieses Problem nicht anvertraute. Aber was hatte ich schon für Referenzen, nach dieser kurzen Zeit? Torben bemerkte wohl, dass ich mich wegen seines Schweigens seltsam fühlte und lächelte mir versöhnlich zu. „Es ist eigentlich nichts Schlimmes, ich wollte dich nur nicht verunsichern.“

Wie in Gedanken spielte er mit einem Bilderrahmen auf Elias Schreibtisch. Von hier aus konnte ich das Foto nicht erkennen. „Es liegt an unseren Eltern. Sie sind die typischen Geschäftsleute, wollen möglichst alles perfekt machen und können Überraschungen und Veränderungen überhaupt nicht ausstehen…“ „Oh“, machte ich ganz geistreich, zum Zeichen, dass ich verstand. „Dann haben sie ja auch sicher ein Problem mit dir, oder?“

„Kommt drauf an.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wenn sie wüssten, dass ich schwul bin, bestimmt.“ Ein Seufzen. „Ich hab’s ihnen noch nicht erzählt.“

„Noch nicht?“ Ich fixierte ihn missmutig. „Wie lange bist du dir nun sicher, dass du schwul bist?“

„Seit dem Abitur.“

„Und da redest du von noch?“ Es verunsicherte mich, dass der tapfere, große Bär vor mir Probleme damit hatte, sich zu outen. Ich hatte ihn für so selbstsicher gehalten. So wie Elias.

„Ja, ich weiß, aber … bis jetzt hat sich der Moment nie ergeben.“ Nervös fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. Es sah irgendwie unschuldig und hilflos aus.

Schmunzelnd beobachtete ich Torben. „Wie wär’s, wenn du einen Zettel an der Haustür hinterlässt? ‚Der Hund muss gefüttert werden – und übrigens, ich bin schwul und ich kenne da einen total hinreißenden jungen Mann‘.“

Er lachte laut auf. Überrascht von seinem Übermut, konnte ich mich nicht einmal wehren, als er mich enthusiastisch auf seinen Schoß zog. Seit wann war ich hier denn der Spielball? „Wird der Herr jetzt selbstgefällig?“

Schmollend schaute ich Torben an, der den Bilderrahmen weglegte. Ich erkannte das Bild, ein klassisches Familienfoto. We are family. Fehlte nur noch der Butler im Hintergrund. Mit beleidigter Miene überging ich die Anspielung. „Zurück zum Thema. Heißt das jetzt, dass du dich wegen deinen Eltern mit Elias gestritten hast?“ „Sozusagen“, seine Hände suchten wieder nach Beschäftigung und fanden ein ausgefranstes Loch in meiner Jeans. Das gehörte so! „Sie haben ziemlich auf ihn abgefärbt. An sich hat er nichts gegen meine Sexualität, das ist es nicht, er ist ja der einzige aus der Familie der davon überhaupt weiß, auch wenn er nicht begeistert war. Ich vertraue ihm eigentlich. Es ist eher wegen dir…“

Deswegen wollte er es mir nicht sagen. Wegen diesem miesen Bauchgefühl, das er mir damit verpasste. „Was ist denn so falsch mit mir?“

Sofort alarmiert legte Torben mir eine Hand auf den Oberschenkel. „Mit dir ist nichts falsch! Elias ist nur der Meinung, dass du zu jung wärst und dass unsere Eltern es bestimmt nicht gut finden, wenn ich mich oute und mit einem Klassenkamerad von ihm treffe. Außerdem meint er sowieso, dass du nicht die richtige Wahl wärst.“

Beinahe bereute ich, dass ich Elias gefunden und mitgenommen hatte. In diesem Moment wäre es mir lieber gewesen, wenn ich ihn mit Hilfe von Torben einfach irgendwo im Wald ausgesetzt hätte. Ohne Brotkrümel oder sowas. Dann fraß ihn eine Hexe und alles wäre gut!

Aber leider durchzuckten mich zeitgleich diese Worte, die er – durchaus betrunken – auf der Party zu mir gesagt hatte. Er mag mich. Wieso verhielt er sich nur nie so? Und wieso zum Teufel versuchte er dann alles, um mich möglichst weit aus seinem Privatleben und somit weg von seinem Bruder zu halten?! Er könnte Torben und mich doch auch einfach in Ruhe lassen, doch stattdessen riet er ihm sogar von mir ab. So viel zu mögen, der Typ war doch der pure Hass!

„Hey“, sprach Torben mich ruhig an und zwinkerte mir zu. „Ich halte nicht viel von der Meinung anderer und kleine Brüder können manchmal ganz schön nervig sein … also vergiss das einfach. Für mich zählt das nicht.“

Ob das Elias vergessen konnte und ob es für ihn nichts zählte, bezweifelte ich aber.

 

Elias war eine schreckliche penible Person. Für ihn musste alles den perfekten Schein haben, wie schon bei seinen Eltern. Familie König im Winterurlaub, alle strahlten. Die Hochzeit von Herr und Frau König, so schrecklich gestellte Mienen. Elias elfter Geburtstag. Das erste ehrliche Lächeln. Fragwürdig, wie aus einem so süßen Hosenscheißer so ein selbstverliebter Idiot werden konnte.

Die Brüder mochten sich, das merkte man sofort. Auf jedem Foto, auf dem die beiden zusammen zu sehen waren, grinsten und lachten sie, spielten. Elias hatte seinen Bruder beim ersten Treffen vor mir schützen wollen, als wäre er der Ältere. Er akzeptierte auch seine Homosexualität. Wieso respektierte er dann nicht seine Wahl, wieso war er nur so gegen mich? Der perfekte Schein. War ich ihm nicht gut genug, nicht perfekt genug? Unverschämtheit. Sicherlich stellte Elias sich seine Zukunft so vor: Er würde mit Champagner und in einem guten Anzug in einem Sterne-Restaurant sitzen, in Begleitung einer ausgesprochen hübschen, eleganten Dame und vorzüglichen Kaviar verspeisen. Dann die ganze Familie zur Hochzeit einladen, Mama und Papa schön in der Firma unterstützen, ob er wollte oder nicht und wenn sein Bruder dann unbedingt einen Lebensgefährten haben wollte, dann bloß einen, der mindestens genauso alt ist und BWL studiert hat oder Medizin oder…

„Vince, worüber regst du dich auf?“ Torbens Arme umschlossen meinen Oberkörper und nahmen mir den Bilderrahmen aus der Hand, den ich so verkrampft angestarrt hatte. „Über nichts“, wehrte ich jedoch ab, atmete tief durch und lächelte ihn mit meinem besten Perlweiß-Lächeln an.

„Ist es immer noch wegen Elias?“ Nein, ich liebte diese Abneigung. Fühlte sich prächtig an, wenn man wusste, dass die ganze Familie gegen einen war, der Typ, auf den man mal gestanden hat, mit inbegriffen. Juhu!

„Nein, ich denke nur über diese schrecklichen Tierquäler nach, die die süßen, unschuldigen Waschbären lebendig häuten, um an ihren Pelz zu kommen. Bei sowas kann ich einfach nicht ruhig bleiben!“ An sich plausibel. Meine Schwester Elaine hatte mal deswegen protestiert, mitsamt Schildern und allem drum und dran. Zu der Zeit wurde sie oft von der Polizei nach Hause gefahren.

Torben zog eine Augenbraue hoch, schien mir nicht wirklich zu glauben. Wäre auch seltsam, auf die Familienfotos zu starren und dabei an Tierquälerei denken zu müssen. Na ja, obwohl…

„Zieh nicht so ein Gesicht.“ Er fuhr mit dem Zeigefinger die Falte zwischen meinen Augenbrauen nach, die ich bekam, wenn mich etwas aufwühlte. Augenblicklich entspannte ich mich. Dann war Torben bei seinen Eltern eben noch offiziell hetero. Damit konnte ich umgehen. Und dass Elias ein Arschloch ist, das hatte ich schon vorher gewusst. Wieso es mich immer wieder so erschütterte, war mir ein Rätsel.

Elias war eine so penible Person. „Braucht der immer so lange im Bad?“, fragte ich genervt. Er war momentan immerhin noch der einzige Grund, warum ich noch bei den Königs zu Hause war.

Denn beim Frühstück hatte Torben völlig selbstlos erklärt, dass er mich natürlich persönlich nach Hause fahren würde, bevor Elias wie der Tod auf Latschen in die Küche geplatzt war.

„Guten Morgen, Sonnenschein“, spottete ich und kassierte sogleich einen mörderischen Blick. „Na, Kopfschmerzen? Das tut mir leid.“ Kein Stück. Er sollte daran verrotten.

Elias murrte. „Sei still, Blondie. Ich brauch Kaffee.“

Torben gefiel der Spitzname für mich wohl nicht, denn er machte ein verärgertes Gesicht. Ich hatte mich längst an ihn gewöhnt und irgendwie munterte es mich auf, dass wir alte Gewohnheiten beibehielten. Nach dem gestrigen Abend hatte ich Angst gehabt. Keine Ahnung wovor. Elias mochte mich und das verunsicherte mich tierisch. Als ich mir noch sicher war, dass er mich hasste, ist es einfacher für mich gewesen mich mit ihm zu unterhalten. Da hatte ich rein gar nichts erwartet. Aber jetzt? Ich fragte mich nun, was immer in seinem Kopf vorgegangen ist, während er mich genervt und provoziert hatte. Wahrscheinlich existierte da ein Affe mit Hut, der debil grinsend trommelte.

„Ich hoffe, dir ist klar, wie dämlich du dich verhalten hast“, sagte Torben ernst. Ich hatte ihn bis jetzt noch nie so gesehen. Ohne jegliche Freude in den Augen. Plötzlich saß da ein großer Bruder mit grimmigem Ausdruck.

Elias antwortete nicht. Er schnappte sich aus einem Schrank Aspirin und setzte sich mit einem Glas Wasser, in dem er die Schmerztablette auflöste, zu uns an den Tisch. Sofort durchzuckte mich purer Neid. Wenn ich eine durchzechte Nacht hinter mir hatte, dann schmückten dunkle Schatten meine Augen, meine Haut glich der eines Vampirs und meine Frisur war ein Vogelnest. Das einzige, was nicht perfekt an Elias momentan war, stellten seine Haare dar, die chaotisch in verschiedene Richtungen abstanden. Doch selbst das hatte seinen gewissen Reiz. Diesen Mistkerl hatte tatsächlich das Leben geküsst.

„Kannst du dich wenigstens an alles erinnern?“, spottete Torben, nicht ohne meine Neugier zu wecken. Tatsächlich, daran hatte ich noch nicht gedacht.

„Kaum“, gab Elias nüchtern zu. Er beachtete mich mit keinem einzigen Blick. Wäre auch zu viel erwartet gewesen. Wer war ich schon, dass ich die Aufmerksamkeit von ihm verdient hätte? Dass er sein blödes Geständnis jedoch vergessen haben könnte, beruhigte mich. Jetzt konnte ich meinen Kaffee genießen.

„Ich hingegen erinnere mich noch an alles.“ Torben faltete seine Zeitung zusammen und schüttelte missbilligend den Kopf. „Du hast da gestern eine tolle Show hingelegt. Filmreif.“

„Danke.“ Trocken schnaubte Elias, während er dem Aspirin beim Auflösen zusah. „Fand ich für eine Improvisation auch nicht schlecht.“

Bevor Torben seinen kleinen Bruder nun aufgebracht zusammenstauchen konnte, legte ich ihm ruhig eine Hand auf den Unterarm. Er verstand mich sofort, schluckte alle Bemerkungen herunter und langte wortlos nach einem Brötchen, die ich noch früh am Morgen geholt hatte.

Damit war das Frühstück auch fast gelaufen. Die beiden Könige schwiegen beharrlich, während ich sinnloses Zeug daher blubberte, um die Stille irgendwie zu brechen, was mir natürlich nicht gelang. Torben lächelte mir gutmütig zu und Elias starrte mich an wie ein lästiges Insekt. Wann hatten wir die Rollen getauscht?

 

„Sag deinem Bruder, dass er sich wann anders in der Dusche ersäufen kann. Ich kann so nicht nach Hause.“

Torben verdrehte spielerisch die Augen, während ich hinter mir das Klicken des Schlosses hörte. Elias trat aus dem Badezimmer, perfekt gestylt und schaute mich ziemlich genervt an.

„Als ob du sonst besser aussiehst“, kommentierte er knapp und wollte cool an mir vorbei stolzieren, unterschätzte dabei aber die Geschwindigkeit meines Fußes, um sich ihm in den Weg zu stellen und landete daher beinahe auf seiner königlichen Nase. Während er sich noch mit mörderischem Blick zu mir umsah, raste ich – vor Angst quietschend wie ein Spanferkel – in das Badezimmer, das ich sorgfältig hinter mir abschloss.

Aus dem Flur hörte ich noch wüste Flüche und Torbens Gelächter, bevor ich die Dusche anstellte.

 

„Und ich soll wirklich nicht mit rein kommen?“ Torben hatte die Handbremse angezogen und schaute mich lächelnd von der Seite her an. Er sah so verboten gut aus, dass es mir schon richtig schwer fiel, das Auto zu verlassen.

„Nein, schon okay. Meine Mutter stell ich dir lieber wann anders vor.“ Ungefähr dann, wenn ich mir sicher bin, dass du mich genug magst, um nicht schreiend vor ihr wegzurennen. „Auch wenn nicht alles so geklappt hat, wie wir wollten … ich fand’s trotzdem schön mit dir.“

Er küsste mich wieder und das warme Gefühl breitete sich wie selbstverständlich in mir aus. Gemocht zu werden fühlte sich einfach so gut an!

„Ich kann mich nur für meinen Bruder entschuldigen.“ Sein Ausdruck war bedauernd. Tja, wären wir gleich ins Kino gefahren, wäre einiges bestimmt anders gelaufen.

„Schon gut.“ Ich kannte den Bastard ja schon länger, ich hätte es genauso ahnen müssen. „Ruf mich einfach an.“ Seine Hand streifte meine Wange, bevor ich aus dem Wagen stieg und nach einem „Tschüss“ die Tür hinter mir schloss. Er fuhr erst, als ich die Haustür aufgeschlossen hatte.

Im Treppenhaus kamen mir unsere Nachbarn entgegen, ein altes Ehepaar, die sich ständig über alles und jeden beschwerten und grundsätzlich klingelten, wenn wir ihnen zu laut waren. Sie grüßten höflich und ich lächelte gezwungen, obwohl ich den Alten am liebsten den Gehstock sonst wohin gesteckt hätte.

Meine Mutter war ausnahmsweise einige Besorgungen machen und mein Bruder schlief noch tief und fest, sodass ich halbwegs allein zu Hause war. Ich setzte mich an die Hausaufgaben, schrieb mit Julia und telefonierte schließlich sogar noch mit Andreas, bis ich mich gelangweilt vor den Fernseher warf und nur noch hoffte, dass der morgige Tag ein besserer sein würde.

 

Schon vor der ersten Stunde wurde ich jedoch aus der Normalität gerissen. Man sollte auch von Montagen nicht zu viel erwarten. War sowas wie mein Motto.

Ich hatte mit Julia den Schulkorridor betreten und sie in einer muhenden Herde von 7Klässlern verloren. Ich war gerade dabei die Winzlinge auszusortieren und nach einer großen Blondine Ausschau zu halten, als ich unsanft in die Jungentoilette gezerrt wurde.

„Finger weg, ich kann Chop Suey und ich bin gewillt, es einzusetzen!“ Wie eine Furie hatte ich wild um mich geschlagen und stand letztendlich in Abwehrhaltung und ausgestreckten Krallen einem genervten Elias gegenüber.

„Chop Suey? Wen willst du damit einschüchtern? Kong Fu Panda?“ Er verdrehte arrogant die Augen und machte damit sein Abbild perfekt. Das graue, gemusterte Hemd, das in seiner teuren Leinenhose steckte und die Markenturnschuhe – alles sah zusammen einfach gut aus, vor allem an Elias. Mieser Snob.

„Was willst du denn? Wenn du wieder von Torben anfängst, schwöre ich, stecke ich deinen Kopf ins Klo.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Unterlippe vor. Musste komisch aussehen, denn Elias verkniff sich gerade eindeutig ein Grinsen.

„Ich will über was anderes reden.“ Er wurde ernst. „Ich will, dass du vergisst, was ich dir gesagt habe.“

Überrascht blinzelte ich ihn an. „Was … was meinst du?“

„Tu nicht so blöd“, fuhr der Brünette mich aufgebracht an. „Du weißt genau was ich meine.“

Ich zuckte ertappt zusammen und straffte die Schultern. Was hatte er sich auch gedacht, dass ich es an den Vertretungsplan heftete und ihm ab sofort Freundschaftsarmbänder bastelte? Wohl kaum! „Ich hatte nicht vor es dir unter die Nase zu reiben. Hatte mir schon Sorgen gemacht, du hättest das ernst gemeint. Du und jemanden mögen, der nicht du selbst bist! Absurd.“

Plötzlich trat so ein seltsamer Ausdruck in seine Augen. Dieses Nussbraun wirkte für einen Moment so weich wie Schokolade und – verletzlich. Ich stand wieder Bambi gegenüber und diesmal wollte ich das Rehkitz gar nicht überfahren.

„Schon klar.“ Er schnaubte und drängelte sich eiligst an mir vorbei um hier weg zu kommen. Bambi flüchtete vor den Jägern. „Idiot.“ Und damit war das Kitz im Wald verschwunden. Als ich zurück auf den Flur trat, war er weg.

Julia hingegen tauchte auf, schnaufte gestresst und musterte meinen verwirrten Gesichtsausdruck überrascht. „Ist was passiert? Ich hab dich irgendwie verloren, als die Brut den Flur gestürmt hat.“

„Äh, ich weiß nicht genau.“

Ich glaube, ich hatte gerade die königliche Laune überhaupt miterlebt.

Wir kamen fast zu spät zur ersten Stunde – Französisch! – überholten unsere Lehrerin jedoch noch auf dem Flur und stürmten in den Klassenraum. Unsere Lehrerin Frau Goldhof war so eine eingebildete, ältere Dame, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, alle Jugendlichen auf der Schule, ihrer Meinung nach, ‚gutes‘ Benehmen beizubringen. Wenn man bei der im falschen Moment hustete, starrte sie einen so wütend an. Richtig gruselig.

Während die Alte vorne an der Tafel etwas von einem kommenden Schüleraustausch faselte, obwohl wir nur der Grundkurs waren, vibrierte in meiner Hosentasche mein Handy. Unpassend laut, denn selbst Lisa vor uns hatte es mitbekommen. Sie drehte sich um und starrte blöd mit ihrem Septum in der Nase – einige machten immer „Muh“ wenn sie durch den Gang lief – bis ich sie wie ein bösartiger Tier sehr erwachsen anschnaufte. Mit pikiertem Gesichtsausdruck wandte die Blondine sich nach vorne und ich kassierte einen skeptischen Seitenblick von Julia.

„Was denn?“, blaffte ich ungeduldig, weil mich meine Freundin lediglich irritierend anstarrte.

„Du bist doch sonst nicht so unfreundlich zu ihr.“

„Weil ich es mir sonst verkneife“, brummte ich und stützte mein Kinn auf einer Hand ab. „Ich hab heute keine Lust dazu. Die kann mich mal kreuzweise, genauso wie ihr ach so toller, aller bester Freund Elias. Meinetwegen können sich die beiden nachmittags mal treffen, das Gleitgel weglassen und mit viel Anlauf…“

„Langweile ich dich Vincent? Oder bist du dann fertig mit reden?“ Frau Goldhof hatte die Hände energisch in die Hüfte gestemmt und die Lippen gespitzt, als wollte sie mich mit denen erdolchen. Lisa vor mir kicherte dümmlich und ich hätte am liebsten in ihren Rucksack gekotzt.

Stattdessen lächelte ich lieb und blinzelte übertrieben. „Natürlich, Madame. Ich hänge an ihren Lippen.“ Solange sie nicht an mir hängen, fügte ich innerlich hinzu und schauderte angewidert.

Die alte Hexe machte ein missbilligendes „Hm“ und schrieb weiter völlig unwichtige Daten an die Tafel. Julia stieß mir grob ihren Ellbogen in die Seite und flüsterte mir zu, ich sollte „jetzt endlich mal die SMS lesen“.

Also war sie von ihr. Meine Hoffnung, dass Torben mir geschrieben haben könnte – aus Sehnsucht, pah – hatte sich somit verabschiedet.

Frustriert fummelte ich nach dem, mittlerweile mit Kratzern und Flecken gezierten, Kommunikationsgerät.

‚Was ist passiert?‘

Als hätte dieses Mädel im Urin, wenn mich etwas beschäftigte.

Mit aufgeblasenen Wangen antwortete ich ihr harsch. ‚Geht dich nichts an!‘

Die Antwort kam prompt. ‚Elias?‘

‚Elias.‘

Sie seufzte neben mir frustriert auf. Als müsste sie sich diesen Stress andauernd antun! ‚Wir reden in der Pause.‘

 

Und das hatte sie ernst gemeint. Ich versuchte mehrmals sie abzulenken, jonglierte mit Milz und Niere eines Modellkörpers im Biologieraum und wurde motzend von der Lehrerin hinaus geschmissen, als ich die Niere fallen ließ, doch sie blieb hartnäckig wie eine Zecke. Als wäre Elias plötzlich wieder das Thema Nummer eins und es selbstverständlich, dass ihr bester Freund mit Organen jonglierte.

„Was war denn jetzt wieder bei euch?“, griff sie das Gespräch einfach auf und bohrte ihre langen Fingernägel tief in die Brust.

Ich verzog das Gesicht. „Das willst du eigentlich gar nicht wissen, glaub mir.“ Sie bohrte tiefer und ich schnappte beleidigt nach Luft. „Schön, du hast es nicht anders gewollt!“ Dann erzählte ich ihr von Elias‘ kindischem Benehmen, wie das Date mit Torben schief gegangen ist und wie ich den betrunkenen König von dieser grässlichen Party schleifen durfte – und ich erwähnte das Geständnis. Die Begegnung auf dem Klo schmückte ich noch aus, doch Julia ließ sich nicht beeindrucken.

Am Ende lächelte sie und tätschelte mir die Wange, als wäre ich ein behindertes Baby. „Manchmal merkst du aber auch gar nichts.“

Darauf brachte ich nur ein geistreiches „Hä?“ heraus und sie lachte mitfühlend. „Du bist noch nicht auf die Idee gekommen, dass Elias lügt?“

„Lügt? Inwiefern?“

„Na, zähl doch mal eins und eins zusammen, du Depp! Er ist vehement gegen eine Beziehung zwischen Torben und dir, er zickt seitdem mehr rum als früher, er gesteht dir schließlich, dass er dich mag und dann ist er verletzt, wenn du dich über seine Gefühle lustig machst.“

„Er ist schwanger?“

„Du Idiot!“ Schon zum zweiten Mal, dass ich das zu hören bekam. Dazu boxte sie mir auch noch gegen den Oberarm. „Er steht auf dich!“

Klar, dachte ich, und wenn es so weit käme, dass ich mit Torben nach Las Vegas durchbrenne, dann boykottiert er die Hochzeit, schreit im richtigen Moment „Tu’s nicht!“ und trägt mich selbst über die Schwelle. Ha ha. Der Gedanke war so trocken, dass ich einen ganz fahlen Geschmack auf der Zunge bekam.

Julia las mir meine Ungläubigkeit vom Gesicht ab. Sie nahm meine Hand, drückte sie und dirigierte mich zurück zum Unterrichtsraum. „Zumindest scheint ihn der Gedanke, dass du dich mehr mit seinem Bruder beschäftigst, sehr aufzuwühlen. Vielleicht glaubt er ja selbst an diese Differenzen wegen seiner Erziehung … und das macht ihn so fertig?“ Weil er mich mag und selbst glaubt, dass das falsch ist? Wäre doch arg seltsam.

Aber diesem verdammten König zuzutrauen!

Dem Frosch ist jeder Pfuhl ein Ozean

Ich muss zugeben, dass ich erst gehofft hatte, dass diese Vermutung, dass Elias mich mögen könnte, irgendwas ändern würde. Doch das tat es nicht. Im Gegenteil. Jetzt beleidigte oder nervte er mich nicht einmal mehr und ignorierte mich stattdessen. Ich konnte ihn direkt ansprechen und es war, als wäre ich Luft. Äußerst attraktive Luft, aber das interessierte ihn kein Stück.Julia meinte, ich sollte mir keine Gedanken darüber machen. Immerhin wäre seine Verhaltensstörung nicht meine Schuld und wenn er mir nicht klipp und klar sagen kann, was sein Problem ist, dann soll er zur Hölle fahren – ihre Worte. Ich versuchte ihn dennoch aus seiner kindischen Ignoranz zu holen, gab es aber nach einer Woche auf. Denn es gab ja schließlich noch seinen Bruder, der wahrhaftig an mir interessiert war und keinen Hehl daraus machte.Ich traf mich viele Nachmittage mit Torben und übernachtete sogar ein Wochenende bei ihm. Passiert war da trotzdem nichts, worüber ich irgendwie ganz froh war. Torben schien mich nicht drängen zu wollen. Meine Mutter hat sogar eine Flasche Sekt geöffnet, als er auf Facebook seinen Beziehungsstatus von ‚Single‘ zu ‚In einer Beziehung‘ geändert hatte. Sie feierte das, als wäre es ein Weltwunder, dass ich mal eine Beziehung führte. Als wäre ich sozial inkompatibel oder sowas. Dabei war es ja nun wirklich kein Kinderspiel, in diesem Kaff einen Kerl aufzureißen. Und der hatte sozusagen eher mich aufgerissen.Es waren mittlerweile zwei ruhige Wochen ins Land gezogen. Ohne die Drama-Queen Elias, ohne jegliche Fettnäpfchen-Anfälle meinerseits und ohne einen Nervenzusammenbruch meiner Mutter, weil mein Bruder wieder mal irgendwas angestellt hatte. Zurzeit lief also alles wie am Schnürchen. Kein Wunder also, dass Gott sich dachte, dass es eine gute Idee wäre, mal wieder ein bisschen Pepp in mein Leben zu bringen. Sonst wird ihm noch langweilig und das wollen wir ja nicht!Denn etwas bereitete mir wirklich Sorgen.

Torbens Outing. Seine Eltern waren vor zwei Tagen zurückgekommen und nun spielte er weiter den Mustersohn. Er meinte zwar, dass er bald versuchen würde, ihnen zu erklären, dass er schwul ist, aber er hatte dabei so verzweifelt und unsicher ausgesehen, dass ich es stark anzweifelte.Ich würde ihn ganz bestimmt nicht zwingen, sich vor seinen Eltern zu outen. Zwar hatte ich es da ziemlich einfach gehabt, aber ich konnte mir vorstellen, dass sowas nicht leicht ist, vor allem bei diesen Eltern mit ihrer scheinheiligen, perfekten Familie. Der eine Sohn heimlich schwul und der andere ein arrogantes Arschloch. Sie mussten unheimlich stolz sein.Ich hatte jedoch innerlich beschlossen, nicht über ihn und seine Familie zu urteilen und ihn, als sein Freund, soweit zu unterstützen, wie es mir möglich war. Klingt richtig vorbildlich, oder? Nur das umzusetzen, wurde für mich schwieriger als ich vermutet hatte. Leider versteckte sich in mir keine kleine Mutter Theresa.

Es war Freitagnachmittag. Ich hatte eine fette Klausur in Mathe hinter mir und so schlechte Laune, dass Julia alle mit ernstem Gesichtsausdruck gefragt hatte, ob sie mich aus Versehen nass gemacht oder nach Mitternacht gefüttert hatten, als wäre ich ein Gremlin.Mathematik hasste ich seit der vierten Klasse und seit dem Kurssystem und unserer wunderbaren Lehrerin in diesem Fach, bekam ich nie mehr als die Hälfte der Punktzahl. Und das war schon schwierig für mich zu erreichen. Ich hatte mich deswegen umso mehr darauf gefreut, einen entspannten Abend mit meinem Freund zu verbringen, um jegliche Formeln aus meinem Kopf zu jagen. Und was bekam ich stattdessen? Drama!Torben hatte mich nach Hause eingeladen, weil er überzeugt gewesen ist, dass seine Eltern zu einer Veranstaltung verduften würden und erst ziemlich spät wiederkämen. Wir hatten uns also auf das Sofa gefläzt und schauten aneinander geschmiegt einen Film, während Elias in seinem Zimmer wahrscheinlich gerade sein Spiegelbild bewunderte. Ehrlich, keine Ahnung, was der so trieb, er ging uns – oder auch mir – jedenfalls zielstrebig aus dem Weg.Barbossa lag links neben mir, den Kopf auf meinem Schoss und dämmerte so dahin, ähnlich wie ich. Torben strahlte eine Hitze aus, dass allein sein Arm um meine Schultern mich zum Schwitzen brachte. 

„Guck mal“, meinte ich nüchtern und deutete auf seinen Hund, der mir sehnsüchtig über den Arm leckte, weil ich aufgehört hatte, ihn zu streicheln. „Der liebt mich mehr als du.“

Torben schnaubte amüsiert auf. „Nur weil ich dich nicht ablecke?“

„Nein“, schmollte ich und kraulte den Hund. „Ich seh’s in seinem Blick.“Mein Freund nickte darauf verstehend und nahm seinen Arm weg. „Na, wenn das so ist“, meinte er gespielt enttäuscht und tat so, als wollte er aufstehen. Ich reagierte zu langsam und erwischte seinen Arm erst, als er schon halb stand, sodass er sein Gleichgewicht verlor und unsanft auf der Couch landete. Barbossa sprang vor Schreck runter und starrte uns an, als hätten wir jetzt komplett den Verstand verloren. Ich musste lachen.

„Du bist so grazil wie eine Elfe“, spottete ich und rutschte auf seinen Schoss, während er sich noch etwas überfordert in eine bequeme Sitzposition brachte.

 „Danke“, brummte er und kniff mir in die Seite. „Ich dachte schon, dass es das ist, was du so an mir magst.“ 

„Das und dein Aussehen. Ich bin sehr oberflächlich. Moment, sehe ich da ein Speckröllchen? Ich-Hey, n-nicht … ich bin …“ Dann brach ich jedoch schon in Gelächter aus, während Torben federleichte Küsse auf meinem Nacken verteilte. Leider war ich dort irre kitzelig, was der Kerl gerade schamlos ausnutzte.Erst simulierte Kotzgeräusche brachten uns wieder auseinander. Ich rückte irritiert von Torbens Schoss und schaute über die Lehne in Richtung Küche. Dort stand Elias am Kühlschrank, nahm sich eine Flasche Saft und betrachtete uns, als wären wir triefende Eiterpickel. Torben verdrehte lediglich die Augen. Er wusste, ohne sich umdrehen zu müssen, wem er die Störung zu verdanken hatte und küsste mich knapp, bevor ich mich über seinen kleinen Bruder beschweren konnte.

„Ganz ruhig, Gremlin.“ Ich hätte ihm das mit Julia heute nicht erzählen dürfen. „Der ist nur neidisch.“Davon war ich zwar nicht sehr überzeugt, aber die Vorstellung, dass Elias eifersüchtig sein könnte, bereitete mir eine ungewohnte Genugtuung. Also drückte ich Torben demonstrativ einen langen Kuss auf, während Elias noch in der Küche stand, und grinste dann zufrieden. Nimm das, du arroganter Fatzke.Barbossa riss mich schließlich aus meinen rachsüchtigen Gedanken. Er benahm sich plötzlich ziemlich aufgeregt und rannte schwanzwedelnd zur Haustür. Dann ein Knacken im Türschloss und Torben sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Barbossa bellte. Mein Freund schaute mich an, als würde er sich gerade fragen, ob er mich noch irgendwie unter dem Teppich verstecken könnte. Dann hörte man zwei Personen, die, sich geschäftig unterhaltend, den Flur betraten, während Torben mich hochscheuchte und mir meine Tasche in die Hand drückte. Er deutete schließlich auf das Fenster neben dem Fernseher und ich zeigte ihm den Vogel. Ich war zu alt für so einen Schwachsinn und er genauso! Ich würde mich jetzt bestimmt nicht aus dem Haus schleichen, als wäre ich ein Einbrecher.Herr und Frau König betraten das Wohnzimmer und begrüßten lächelnd ihren ältesten Sohn, ehe sie mich registrierten. Ich stand etwas hilflos zwischen Küche und Flur, Elias direkt hinter mir. Bestimmt grinste er schadenfroh und händereibend über uns.

„Guten Tag“, brachte ich dann doch noch hervor, mit dem höflichsten Lächeln, dass ich vor Schreck aufbringen konnte.Sie erwiderten den Gruß neutral. Frau König musterte mich, versuchte wohl mich einzuordnen, aber sie scheiterte.

„Wer sind Sie noch gleich?“Uh, ich wurde gesiezt. „Ich bin Vincent Lindemann. Ich…“

„Er ist ein Freund von Elias“, unterbrach mich Torben hastig. Er kam aus dem  Wohnzimmer und warf seinem Bruder einen eindringlichen Blick zu, der keine Widerrede zuließ. „Sie gehen auf die gleiche Schule. Ich glaube, sie wollten irgendwas wegen einem Projekt besprechen…“Sprachlos schaute ich meinen Freund an. Ich fühlte mich wie der letzte Esel und könnte schwören, dass in meinem Kopf gerade einige Stimmen Tod und Verderben schrien. Ein Freund von Elias?! Projekt?! Gut, dass ich auch davon wusste! Jetzt erschien mir das Fenster doch als bessere Lösung. Ich würde mich am liebsten anzünden und in den Vorgarten hopsen. Wäre doch toll, so ein Burning Man im Garten.

„Komm“, murmelte Elias plötzlich hinter mir und packte mich am Handgelenk. Ich sah noch, wie er seinen Eltern zunickte, ehe er mich auch schon in sein Zimmer gezogen hatte.Das erste Mal, dass er mich freiwillig in sein ‚Reich‘ ließ. Einmal hatte ich mich hinein geschlichen, um ihm eine Tafel Schokolade zu klauen. Danach hatte er seine Tür immer abgeschlossen.Elias setzte sich auf einen Schreibtischstuhl und musterte mich. Keine Spur von einem schadenfrohen Grinsen. Komisch. Hätte schwören können, dass er sich an meinem Leid ergötzt.Ich fühlte mich nämlich ziemlich verarscht. Natürlich hätte ich seinen Eltern nicht direkt ins Gesicht gesagt, ich wäre Torbens Stecher oder so einen Quatsch! Aber mich so panisch zu verleugnen, war mir doch eine Nummer zu viel. Als wäre ich eine ansteckende Krankheit, so hatte er mich in dem Moment angesehen. Wenigstens ein bisschen mehr Rückgrat hatte ich mir erhofft.

„Er meint das nicht so.“ Überrascht sah ich zu Elias, der sich leicht hin und her drehte auf seinem Stuhl. „Wenn du wüsstest, wie unsere Eltern manchmal drauf sind, würdest du es verstehen.“Anscheinend hatte mir der König meine Wut angesehen.

Ich war aber nicht in der Stimmung, mir irgendwas sagen zu lassen. „Oh, ich verstehe schon. Die perfekte Familie, hm? Da muss man natürlich mitspielen. Schon klar, dass ich da nicht reinpasse.“

Er schnaubte verächtlich. „Und da du unsere Familie so gut kennst, kannst du das auch super beurteilen, oder?“Das traf mich, denn er hatte recht. Egal wie lange Torben und ich uns unterhalten hatten, verriet er mir nie viel über seine Kindheit oder über die Beziehung zu seinen Eltern. Nur über seinen kleinen Bruder konnte er ohne Ende quatschen. 

Doch egal wie richtig er lag, ich kam mir vor, wie in einer schlechten Daily Soap. Und das wollte ich mir nicht gefallen lassen. „Ich lass mir sowas sicher nicht von dir erzählen. Du bist doch das Produkt der tollen Erziehung deiner Eltern! Der verwöhnte, selbstverliebte Elias König, der Schulstar und Egomane. Du kannst niemanden mehr leiden als dich selbst. Du ignorierst mich seit Wochen, nur weil du behauptet hast, du würdest mich mögen. Muss echt erschütternd sein, wenn du merkst, dass die ganze verdammte Welt sich nicht nur um dich und deine Frisur dreht! Schön, dass du dich so toll findest, aber es gibt Leute, die das einfach nur anwidert, wenn du dir selber in den Hintern kriechst.“Jetzt stand er auf, den Blick auf mich fixiert und den Mund zu einem schmalen Grinsen verzogen. Es wirkte berechnend. Und dann lachte er. Herzhaft. Ich wusste nicht, warum er lachte, es überraschte mich nur so sehr, dass ich still wurde und ihn verdutzt anstarrte.

„Du siehst aus wie ein wütender Frosch“, brachte er zwischen den Lachern hervor und deutete auf mein Gesicht. Ich blinzelte verwirrt und schaute in den Wandspiegel neben seinem Bett. Vor Wut und wegen meiner Hasstirade war ich ziemlich rot geworden. Meine hellen Augen stachen hervor. Meine Mutter meinte immer, die großen Augen hätte ich von ihr. Hatte tatsächlich etwas von einem Frosch. Schon wieder hatte dieser Kerl mich so aufgeregt, dass ich mich selbst ganz vergaß.Ich konnte mir nur nicht vorstellen, dass das so witzig war. Außerdem mochte ich es nicht, wenn man mich auslachte. Schmollend verschränkte ich die Arme vor der Brust und wartete, bis er fertig war.

„Du bist echt süß, Lindemann. Wirklich putzig.“ Er schmunzelte breit und zog süffisant die Augenbrauen hoch. Ich hasste diesen Blick. Er fühlte sich überlegen.

„Du nimmst mich nicht ernst“, stellte ich trocken fest. „Du musst doch selbst merken, dass du mich nicht einfach ignorieren kannst, nur weil du jemanden mal wirklich wegen seines Charakters magst. Oder bist du stinkig, weil ich mit Torben ausgehe?“

Elias verdrehte die Augen und sortierte einige Stifte auf seinem Schreibtisch. „Du machst immer so einen Wirbel. Kannst du nicht einfach akzeptieren, dass wir nie beste Freunde sein werden?“

„Wir müssen ja nicht gleich Freundschaftsarmbänder basteln, aber du könntest zumindest aufhören mich zu ignorieren. Ich verstehe das einfach nicht. Wenn du mich magst, was hindert dich daran, mit mir befreundet zu sein? Hat Lisa was gegen mich? Oder deine Freundin? Habe ich Mundgeruch?!“

Er grinste mich an, sah dabei jedoch seltsamerweise verzweifelt aus. Irgendwas überforderte ihn. „Es geht einfach nicht. Du hast doch Torben, wieso brauchst du da mich, um dein Händchen zu halten? Du hast doch genug Freunde.“ Er seufzte genervt.Ich fuhr mir nervös durchs Haar. Elias warf mal wieder alle meine Gedanken über den Haufen. Dinge, von denen ich glaubte, mir über ihn sicher zu sein, schwankten bedrohlich. Und auch die Mauer, die ich ihm gegenüber aufgebaut hatte.

„Ich dachte nur, dass es vielleicht besser wäre, wenn wir uns nicht andauernd angiften würden…“ Ich dachte noch viel mehr, aber nichts davon erschien mir in diesem Moment richtig. Ich wollte, dass wir Freunde sind. Dass wir uns näher kommen. Dass er nicht nur der Arsch für mich war, sondern ein Vertrauter. Und irgendwas in mir verlangte sogar noch mehr. Doch ich hatte gelernt, es zu ignorieren.

„Glaub mir, Vince. Es wäre nicht gut für uns, wenn wir netter zueinander sind als nötig“, murmelte er angestrengt, die Augen schmal, mit Stiften in den Händen, die er ratlos in der Luft hin und her schwenkte.

„Warum?“Elias sah auf und unsere Blicke trafen sich. Es lagen etliche, verschiedene Dinge dort in diesen Augen, versteckt hinter dem Egoisten, den er für mich spielte. Hoffnung. Abneigung. Wärme. Verzweiflung. Nichts davon war für mich greifbar. Nichts wollte er mir geben.Die Stifte fielen aus seinen Händen, direkt auf den Schreibtisch. Er hatte sie achtlos losgelassen, sie kullerten über die Tischkante und landeten auf dem Teppich. Seine Finger hatten nun keine Beschäftigung mehr, wanderten zu einer Strähne seines Haares, die ihm in die Stirn fiel, und zwirbelten sie. Es waren schmale Finger, lang und feingliedrig. Er spielte Gitarre, ich hatte beobachtet, wie er mit ihnen verschiedene Griffe ausprobierte und die Saiten anschlug. Er spielte in der Schule für den Chor. Da hatte ich ihn damals das erste Mal gesehen, bevor er als Klassensprecher zu mir gekommen war. Und da hatte ich damals gestanden, zugesehen, wie er spielte und hatte den Blick nicht von ihm lösen können.Wie jetzt. Er öffnete den Mund, um zu antworten und ich war gefangen in diesem Moment.

„Weil…“Er stoppte, denn die Zimmertür hatte sich geöffnet und Torben spähte hinein. Mein Freund. Mein Freund! Die elektrisierende Stimmung verschwand schlagartig und hinterließ nur dieses dumpfe Gefühl in meinem Bauch, das sich wie ein Loch in mich hineinfraß. Ich befreite mich von Elias, von meinen Gedanken und schaute zu Torben. Er lächelte mich entschuldigend an, fast reumütig, spürte nichts von dieser Atmosphäre, die ich eben noch so genossen hatte. Er wollte mit mir reden und zog mich in den Flur. Ich wusste, dass Elias mir hinterher sah, wollte mich umdrehen und konnte es doch nicht. Ich hatte Angst vor diesem Blick. Und doch gab es eine wichtige Frage in meinem Kopf.Was hatte Elias antworten wollen?

Auch wenn ich sauer auf Torben gewesen bin, gab es keine Wut mehr, die ich hätte raus lassen können. Das Gespräch mit Elias hing wie eine Wolke über mir. Es hatte so viel verändert und ließ uns zugleich auf der Stelle stehen bleiben. Ich verstand ihn nicht und noch weniger mich selbst. Alles in mir versuchte nun gegen diesen Funken, der sich dort in diesem Zimmer in mir entzündet hatte, anzukämpfen, also hoffte ich, dass Torben sowas wie ein Rettung wäre, etwas, dass mich davor beschützen würde. Doch er stieß mich mit seinem Gerede nur tiefer ins Chaos.

„Es war eine Notlüge“, fing er sanft an. „Ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte. Ich konnte es ihnen nicht einfach so vor den Latz knallen, deswegen musste ich sie anlügen.“Ich nickte artig, hauptsächlich, weil ich keine Entschuldigung hören wollte. „Wo sind sie jetzt?“

„Sie sind wieder los“, erklärte er entspannt. Als hätten sich damit alle Probleme in Luft aufgelöst. „Bitte, Vince, du musst mich verstehen. Ich werde es ihnen noch erzählen, aber vernünftig. Ich wollte dich nicht verleugnen!“Automatisch zweifelte ich an ihm. Es klang alles zu wage, zu rasch, als hätte er nicht einmal darüber nachgedacht, sich wirklich zu outen. Er wollte sich mir nur gut reden.

Ich seufzte müde. „Aber genau das hast du.“ 

„Du musst das doch auch aus meiner Perspektive sehen! Du kennst meine Eltern nicht, sie sind bei sowas wirklich schwierig…“ Er wollte nach meiner Hand greifen, doch ich zuckte reflexartig zurück. Gerade konnte ich keine Nähe vertragen.

„Wenn es nach dir geht, werde ich sie wohl auch nie kennenlernen.“ Das klang gemein. Ich wollte nicht gemein werden, es lag eher an meinem Ton. Bissig. Ich hatte einerseits Schuldgefühle, weil ich nur an seinen Bruder denken konnte und suchte andererseits auch den Fehler bei ihm. Mein Gott, ich verabscheute mich ja selbst.

„Das ist nicht fair. Du musst mir Zeit lassen. Hör mal, du bist der erste Mann, mit dem ich wirklich eine Beziehung führe. Ich weiß doch nicht mal, wohin das führt. Ich war mir nie sicher, ob ich schwul bin und das wird nicht einfacher, wenn du mir Druck machst!“Autsch. Er schaute mich energisch an, fühlte sich von mir angegriffen. Ich verstand es, ich benahm mich unmöglich als Freund, aber das … das hatte ich auch nicht verdient. Ich schaute auf seine geballten Fäuste und begriff, was er mir gerade an den Kopf geworfen hatte. Dass er vielleicht gar nicht schwul war. Dass er sich nicht outen würde, wenn ich ‚Druck‘ machte, weil er möglicherweise doch eine Hete ist!Jetzt spürte ich doch Wut in mir. Es reichte nicht, wenn Elias mein Hirn komplett über den Haufen warf, nein! Torben musste noch etwas oben drauf setzen. Ich würde hier keine Rettung finden, das begriff ich gerade. Elias befand sich hinter der Tür direkt neben mir, sein Bruder, mit dem ich sowas wie eine Beziehung führte, vor mir. Ich konnte mich nicht mehr streiten. Ich wollte mich nicht wegen meiner Gedanken schuldig fühlen. Und schon gar nicht wegen meiner wirren Gefühlswelt.

„Gut“, sagte ich lahm. „Dann freut es dich bestimmt, wenn ich dir jetzt genügend Zeit gebe, dir dieser Sachen klar zu werden. Keine Angst, du wirst mich nicht so schnell wiedersehen, ich will dir ja keinen Druck machen!“

Ich musste hier raus. Sofort stürmte ich zur Haustür, griff mir nebenbei meine Jacke und warf lautstark die Tür hinter mir zu. Mir war elend zumute. Weil ich Elias nicht begriff, weil ich mich mit meinem Freund gestritten hatte und ich mir über nichts mehr sicher war.Ich schaffte es bis zur Bushaltestelle, als ich plötzlich energische Schritte hinter mir vernahm. Es war später Nachmittag und da mittlerweile alle Schulkinder nach Hause gefunden hatten, war die Haltestelle, bis auf ein älteres Ehepaar, wie ausgestorben. In dieser Gegend lebten ohnehin nur Leute, die eher mit ihrem Benz als mit dem Bus fuhren.Zuerst dachte ich, dass es ein Jogger war, aber die Schritte wurden schneller. Dann befürchtete ich, dass Torben mir gefolgt war. Ich hatte keine Lust mich mit ihm zu unterhalten. Meinetwegen konnte er schmoren. Für einen Tag hatte ich genügend Stress hinter mir, wahrscheinlich war die Klausur heute sogar das Harmloseste.Doch dann rief derjenige nach mir, bevor ich in den Bus einsteigen konnte.

Erschrocken blieb ich wie vom Blitz getroffen an Ort und Stelle stehen. Das ältere Ehepaar stieg ein und weil ich auf den Busfahrer nicht reagierte, fuhr er ohne mich los.„Vince!“, rief er nochmals. Ich drehte mich um und beobachtete, wie Elias sein Tempo drosselte und direkt vor mir stehen blieb. Er war nicht mal außer Atem. Das Training musste sich ja auszahlen.Erst standen wir uns nur gegenüber und sahen uns an. Ich verstand nicht, warum er mir gefolgt war und fragte mich gleichzeitig, warum Torben es nicht getan hatte. Stattdessen stand hier sein kleiner Bruder. Dieser kleine Bastard, der mich jedes Mal aufs Neue überraschte.

„Du hast deinen Bus verpasst“, stellte er schließlich fest. Dabei wirkte er irgendwie erleichtert. Ich runzelte die Stirn und bekräftigte diese Feststellung mit einem Nicken. „Dank dir.“Dann war es erneut still. Dieses Schweigen und Anstarren bereitete mir Kopfschmerzen. Eigentlich wollte ich nur noch nach Hause und Schokolade in meinem Bett essen, bis ich platzte.

„Elias“, fing ich nun ungeduldig an, aber er hob die Hand und unterbrach mich energisch. So entschlossen erlebte ich ihn sonst eher selten. „Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir zu antworten.“Ich schaute erst verwirrt, bis ich verstand, was er meinte. Er wollte meine Frage beantworten. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er mir nochmal Torbens Handeln erklären und sich für ihn entschuldigen würde, doch das überraschte mich.

Er wertete mein Schweigen als Zustimmung, also redete er einfach weiter. Seine Finger spielten diesmal mit den Knöpfen an seinem Hemd. „Du hattest gefragt, warum es nicht gut wäre, wenn wir befreundet wären.“

„Ja.“Er nickte zusätzlich, erschien aufgewühlt und nachdenklich. „Weil ich meinem Bruder nicht weh tun möchte.“

Jetzt blickte ich gar nicht mehr durch. Es ratterte in meinem Kopf, doch ich begriff nicht, wie er mit einer Freundschaft zu mir seinen Bruder verletzen könnte.Elias lächelte über meine Ahnungslosigkeit. „Wir wären keine guten Freunde, Vince. Das würde schnell kompliziert werden.“

Langsam verstand ich, worauf er hinaus wollte. Mein Herz pochte mir mittlerweile bis zum Hals. „Wir haben es ja noch nicht mal probiert“, erwiderte ich bemüht ruhig, während der Funken in mir zu einem lodernden Feuer wurde.

„Wir würden nicht nur uns gegenseitig, sondern auch andere Leute verletzen“, erklärte er trocken und machte nebensächlich den Abstand zwischen uns wett. Wie selbstverständlich fahndeten  seine Hände nach meinem Kragen und richteten ihn. Angestrengt, um nicht auszuflippen, beobachtete ich die Bewegungen seiner Arme.

„Das weißt du überhaupt nicht“, flüsterte ich und griff nach seinen Fingern, um sie von meinem Hemd zu lösen. Bei der Berührung wandte er den Blick zu meinem Gesicht. Seine braunen Augen erschienen mir wie geschmolzene Schokolade.

„Doch. Du hast es mir gesagt. Ich bin ein arrogantes Arschloch und du…“ Er stockte.„Und ich?“, half ich ihm mit hochgezogenen Augenbrauen auf die Sprünge.

„Und du bist der größte Chaot, den ich kenne“, beschwerte er sich, sprach jedoch so sanft, dass seine Stimme förmlich vibrierte und einen Schauer über meinen Rücken jagte. „Du musst grundsätzlich übertreiben, alles wissen und würdest dich wahrscheinlich aus Versehen selbst umbringen, wenn niemand auf dich aufpassen würde.“Elias sah mich an, wie vor kurzer Zeit noch in seinem Zimmer. Der Junge mit der Gitarre.

Diesmal erkannte ich nur Wärme in seinen Augen. Und er wollte sie mir geben, für einen kurzen Moment für mich greifbar machen. Ich hielt mich an diesem Ausdruck fest, wie ein Ertrinkender an einem Rettungsring.„Dann verstehe ich nicht“, murmelte ich, mich konzentrierend, „wieso du mir hinterher gerannt bist.“

Er zuckte zusammen, als hätte ich die Schwachstelle in seinem Plan gefunden. Seine Finger zuckten, als würde er mit sich hadern. Ich konnte ihm den inneren Konflikt ansehen.„Ich habe euch streiten gehört und hatte gehofft …also … ich war meinem Bruder gegenüber nie egoistisch, aber…“, erklärte Elias langsam, stockend und völlig wirr.

Und ausnahmsweise verstand ich alles. Ich stellte mir vor, wie es gerade in ihm aussehen musste. Ich wollte ihm diese Entscheidung abnehmen. „Ich weiß, dass du deinem Bruder nichts Böses willst.“ Ich atmete tief durch und reckte provokant grinsend das Kinn. „Aber auch wenn ich den Egoisten in dir nicht mag, solltest du ihm eine Chance geben.“

Er blinzelte mich an, verstand, worauf ich hinaus wollte und öffnete den Mund, um zu antworten. Doch er sagte nichts mehr. Stattdessen stöhnte er gefrustet, packte mich am Nacken und küsste mich.

Es war, als hätte man mir nach Jahren des Durstes endlich etwas zu trinken gegeben. Wir prallten aufeinander, als wäre es überlebenswichtig. Meine Hand griff in sein Haar, zerstörte ungeachtet die Frisur, während unsere Lippen sich gegeneinander bewegten, als wäre es schon immer so gewesen. Ich hatte das Gefühl, jeder Zeit fallen zu können und klammerte mich nun mit der anderen Hand fast hilflos in sein Hemd. Es war kein zärtlicher Kuss, er schmeckte förmlich nach Sehnsucht. Mein Bauch kribbelte, genau wie meine Fingerspitzen und ich wusste, dass das richtig war. Umso mehr Angst hatte ich. Ich wollte nicht, dass dieser Moment verstrich. Ich wollte nicht, dass es je anders sein würde. Und doch war mir klar, dass es gleich vorbei sein würde und seine Lippen das taube, drückende Loch in mir hinterlassen würden, das ich so gut kannte.Seine Hand lag solange fest in meinem Nacken, bis wir beide keine Luft mehr bekamen. Wir atmeten heftig, schauten uns an, wortlos. Wir verloren den Körperkontakt und standen uns lediglich gegenüber. Wie zwei dumme, verknallte Teenager.

„Du hattest recht“, murmelte ich schließlich dumpf. „Wir wären wirklich miserable Freunde.“

Elias lächelte bedauernd. „Tja, Frosch und König … klingt nicht nach einem Märchen.“

Der kleine Froschkönig

 

Ich könnte jetzt damit anfangen, wie die ersten Sonnenstrahlen vorwitzig und neckisch in mein Zimmer schienen und mein Gesicht trafen, um mich frohlockend aus dem Schlaf zu holen, aber das wäre alles Bullshit.

Als ich die Augen aufschlug, war es zappenduster. Ich hatte die Rollos vor meinen Fenstern runtergefahren und mir zusätzlich noch die Decke über den Kopf gezogen. Der Samstagmorgen war wirklich klasse.

Also, ich ging davon aus, dass es noch Morgen war. Ich lag schon ein ganzes Stück bewegungslos, frustriert und selbstbeweihräuchernd in meinem Bett. Könnte vielleicht Vormittag sein. Ach, so genau interessierte mich das überhaupt nicht. Fühlte sich prächtig an, wenn man mal in seinem eigenen Leid baden konnte wie in einem mit Teer gefüllten Swimmingpool.

„Vince.“ Es klopfte an der Tür. Bereits das dritte Mal heute. Oder das vierte? Keinen Schimmer. Meine Mutter war hartnäckig. „Vincent. Ich habe extra Frühstück für dich gemacht. Rührei und Toast, wie du’s magst.“

Bei dem Gedanken an Essen hob ich meinem Magen zuliebe den Kopf. Ich war es nicht gewohnt, so lange nichts zu essen, ohne Frühstück überlebte ich normalerweise nicht lange. Ich war, um ehrlich zu sein, ein ziemlicher Fresssack.

Nur nicht heute. Ich ließ meinen Kopf wieder auf das Kissen fallen und murrte in den Stoff hinein. Meine Mutter schien es gehört zu haben, denn ich hörte sie seufzen und sich von meinem Zimmer entfernen. Ich wollte mit niemandem reden, nicht aufstehen, mich nicht bewegen. Vielleicht bekam ich Mutti dazu, mir wieder Windeln anzulegen und auf intervenöse Ernährung umzustellen. Mit 17 Jahren ein Pflegefall. Gar nicht so unwahrscheinlich, dass RTL so auf mich aufmerksam wird – ich wollte ja schon immer mal ins Fernsehen!

„Hey, Nicki.“ Ich stöhnte genervt. Niemand nannte mich so. Die meisten wussten nicht einmal, dass ich mit Zweitnamen Nicholas hieß. Familie ausgenommen. „Entweder stehst du auf oder ich esse dein Frühstück. Riecht echt lecker.“ Darauf antwortete ich prinzipiell nicht. Sollte mein Bruder doch dran ersticken. Clemens war die letzte Person, die mich aus dem Bett locken würde.

Glücklicherweise hatte ich danach auch meine Ruhe. Zumindest eine kurze Zeit. Ich starrte wie versessen an die Decke, bis ich anfing, in der Raufasertapete Figuren zu erkennen. Die eine Kombination von Hügelchen erinnerte sogar an einen wahnsinnigen Clown. Gruselig.

Leider wurde diese spannende Beschäftigung brutal durch eine Stimme an meiner Tür unterbrochen. Ich weiß, dabei war es gerade so aufregend…

„Deine Ma hat mir gesagt, dass du wieder auf Grufti machst. Ich bin nur hier um sicher zu gehen, dass du nicht an deinem Selbstmitleid erstickst.“

Andreas. Der brachte die Dinge grundsätzlich so kaltherzig auf den Punkt. Und er spürte es förmlich, wenn bei mir etwas nicht stimmte. „Schließ jetzt die Tür auf oder ich trete sie ein und du weißt, dass ich das kann.“ Ich grunzte bei der Erinnerung belustigt in mein Kissen. Er hatte es gehört und erzählte einfach weiter. „Dein fünfzehnter Geburtstag, oder? Ich dachte, du würdest im Badezimmer an deiner Kotze ersticken oder sowas. Ich hatte keine andere Wahl.“

Andreas und ich kannten uns seit … ja, seit wann eigentlich? Für mich fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Wir sind auf der Grundschule und meinem alten Gymnasium Klassenkameraden gewesen, bis ich die Schule gewechselt hatte und er nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung anfing. Wir hatten in jedem Fach nebeneinander gesessen. Ich hatte in Kunst für ihn die Bilder gemalt, dafür durfte ich in Mathe und Physik bei ihm abschreiben. Auch nach unserer ‚Trennung‘ hatten wir uns nie auch nur in irgendeiner Weise voneinander entfernt. Er wohnte zwar einen Ort weiter, aber dadurch, dass er sein eigenes Auto besaß (und bereits 18 war) sahen wir uns eigentlich so oft, wie es uns möglich war.

So wie jetzt. Obwohl ich überhaupt keine Lust auf Gesellschaft hatte, rappelte ich mich schwermütig auf und trottete wenig begeistert zu meiner Zimmertür, um sie aufzuschließen. Ich war ungeduscht, präsentierte mich in abgetragenen Boxershorts und zerstörter Frisur, vollkommen unwiderstehlich, eben typisch Vincent Lindemann.

Andi öffnete sofort die Tür und trat ungefragt ein. Er musterte mich so kritisch, dass ich mich allein durch diesen Blick angegriffen fühlte. Ich hatte ja nicht darum gebeten, von ihm beurteilt zu werden! „Du stinkst.“ Er rümpfte demonstrativ die Nase und grinste über mich und mein empörtes Gesicht.

„Danke, ich weiß. Schön, dass wir drüber gesprochen haben. Würdest du…?“ Ich wedelte in Richtung Tür, doch er ignorierte mich einfach. „Xenia und ich haben uns getrennt“, erzählte er frei heraus und legte sich in mein zerwühltes Bett. Dabei klang er nicht irgendwie traurig oder frustriert, sondern ganz zufrieden. Andi war nie lange in einer Beziehung, aber auch nie lange Single. Er wechselte seine Freundinnen wie Unterwäsche. Dabei lag das nicht daran, dass er nur seinen Spaß wollte – obwohl das bestimmt auch ein großer Faktor war – sondern eher daran, dass er nach ‚der Richtigen‘ suchte und die meisten Mädels ihn bereits nach einigen Wochen anfingen zu nerven. Konnte ich verstehen. Also, nicht nur, weil ich eh auf Kerle stand. Wenn man sich heutzutage mal umsah, dann hatten ziemlich viele Mädchen vergessen, was Würde und Klasse bedeutete.

Deswegen war es kein Wunder, wenn Andreas eine Beziehung nach kurzer Zeit wieder beendete. Dabei musste man ihm hochanrechnen, dass er es trotzdem Mal um Mal neu versuchte, ohne aufzugeben oder zu verzweifeln.

„Wieso diesmal?“, fragte ich, froh über den Themawechsel, und warf mich neben ihn. Er roch nach diesem Männerparfum, dass er mindestens seit vier Jahren benutzte. Ich würde diesen Geruch immer mit ihm identifizieren.

„Ich konnte mich irgendwie nicht richtig mit ihr unterhalten. Wir kamen nie in ein ordentliches Gespräch, weißt du?“ Er drehte den Kopf zu mir und ich sah ihn an, als ob er mich verarschen wollte.

„Andi, sie ist erst seit zwei Jahren in Deutschland. War das nicht irgendwie absehbar?“

Er grinste verschlagen und zuckte mit den Schultern. „Aber sie lachte so süß, wenn sie etwas nicht verstand.“ Ich verdrehte die Augen. Ja, sie hatte fast ununterbrochen so blöd gekichert und grundsätzlich genickt, wenn man sie etwas gefragt hatte. Wahrscheinlich hatte sie nie mehr als ‚Sex‘ und ‚Bratwurst‘ verstanden.

„Da wir uns über meine Liebesprobleme unterhalten haben, reden wir jetzt über deine.“ Andi zog mich an seine Seite, legte einen Arm um mich und tätschelte mir mitfühlend die Schulter, als wäre ich sterbenskrank oder sowas. Ich mochte es, mit ihm einfach so dazuliegen. Er hatte irgendwie das Talent, mich durch seine bloße Anwesenheit aufzumuntern. Trotzdem haderte ich mit mir. „Woher willst du denn wissen, dass ich Liebesprobleme habe?“

Er schnaubte neben mir selbstsicher. „Ich kenne dich lange genug, um zu wissen, dass du dich nur so verkriechst, wenn irgendwas mit Elias war. Und das ist eben immer Liebeskummer.“ „Ich bin nicht in ihn verliebt.“ Schmollend starrte ich auf Andreas‘ Armbeuge. Ich konnte den Verlauf seiner Venen erkennen, die durchs Training hervorstachen. Er war schon muskulös, aber nicht so durchtrainiert wie Chris. Andi als protziger Schrank … das konnte ich mir auch gar nicht vorstellen.

„Sicher?“ Ja, verdammt. Ich war nicht in Elias König verliebt! Klar, ich war mal in ihn verknallt, aber das war ewig her! Was bildete sich dieser Kerl auch ein, jetzt, wo ich mit seinem Bruder zusammen war, einfach aufzutauchen und alles durcheinander zu bringen?! Wo ich ausnahmsweise hätte glücklich sein können … hätte ihm das nicht früher einfallen können? So in der Schule, bevor ich seinen Bruder traf? ‚Hey, Vince … mir ist grad eingefallen, dass ich schwul sein könnte und du echt scharf aussiehst in der Jeans. Wie wär’s, wir beide?‘ Nein, stattdessen kam er jetzt und grub sich tief in mein Innerstes, um das, was ich so wunderbar vor mir selbst versteckt hatte, wieder hervorzuholen. Blöder Elias. Blöder, blöder Elias.

„Ich hasse ihn“, murmelte ich und spürte gleichzeitig, wie Andreas mich sanft an sich drückte. Ich sah zu ihm und bemerkte, wie er mich mitfühlend anlächelte. Na toll. Jetzt war ich der bescheuerte, hoffnungslos romantische Trottel in seinen Augen.

„Schon klar“, erwiderte er ruhig. „Ist etwas passiert, das ich wissen müsste?“

Ich seufzte und fuhr mir übers Gesicht. Er war nun mal mein bester Freund und auch wenn ich alles am liebsten in mich hineinfressen und vergessen würde, wusste ich, dass er mir nur helfen wollte.

Also erzählte ich ihm alles. Den ganzen Tag, bis zu dem, was an der Bushaltestelle passierte. Er hörte geduldig zu, auch wenn er von Zeit zu Zeit das Gesicht verzog.

„Und dann?“, fragte er schließlich und ich blickte verwirrt zu ihm rüber. „Was ‚und dann‘?“

„Du kannst ja nicht einfach ‚Ciao‘ gesagt haben und dann in den nächsten Bus gestiegen sein.“ Andi hatte die Stirn gerunzelt und setzte sich nun auf, sodass zu ihm aufsehen musste. Von hier unten, aus diesem Blickwinkel, wirkte seine Narbe hässlich und rabiat.

„Na ja, doch, so ungefähr. Wir standen da, schweigend, bis mein Bus kam. Irgendwie brauchten wir auch gar nichts mehr sagen…“ Uns beiden war in diesem Moment klar, dass das nie hätte passieren dürfen und wir so tun werden, als wäre auch nie etwas gewesen. Ich weiß nicht, aber es hatte sich auch ein bisschen wie eine Verabschiedung angefühlt. Vor einiger Zeit hätte ich mich noch gefragt, ob ich träumen würde, wenn jemand mir erzählt hätte, Elias und ich würden uns derartig nahe gekommen, aber nun … war es eher wie ein Albtraum.

„Was … was hast du jetzt vor zu tun?“ Andreas stand auf und ging durch mein Zimmer, um ein Fenster zu öffnen. Sofort strömte ein frischer Luftzug durch den muffigen Raum.

„Ich muss mit Torben reden“, seufzte ich. Der Gedanke, dass ich ihn mit seinem kleinen Bruder betrogen hatte, durchfuhr mich wie ein Stich. Dabei hatte Untreue für mich bislang immer die größte Sünde dargestellt. Jetzt war ich selbst so ein Idiot.

„Gut. Du solltest ehrlich zu ihm sein, das hat er…“

„Ich werde ihm den Patzer mit seinen Eltern verzeihen. Vielleicht habe ich mich auch zu sehr reingesteigert“, überlegte ich laut.

Andi starrte mich völlig platt an, am Fenster lehnend. „Du meinst das gerade ernst, oder?“ Als ich nickte, schüttelte er fassungslos mit dem Kopf. „Du willst ihm also nicht sagen, dass du in seinen Bruder verliebt bist und er sozusagen dein Trostpflaster ist?“

Angefressen rappelte ich mich auf und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Ich hatte keine Lust auf eine Standpauke – was auch der Grund dafür war, dass ich mich in meinem Zimmer verkrochen hatte. „Torben ist nicht mein Trostpflaster. Ich mag ihn wirklich. Und das mit Elias und mir … das läuft nicht.“

„Also spielst du Torben lieber was vor, bis das mit Elias und dir wieder ausartet?“ „Das artet nicht wieder aus!“ Ich war laut geworden und fuhr mir genervt übers Gesicht. „Das wird nicht nochmal passieren. Das kann ich Torben nicht antun.“ Andi musterte mich mitleidig und wuschelte mir durch die Frisur. „Du meinst wohl, das kannst du dir selbst nicht antun.“

Er kannte mich viel zu gut.

 

 Andi verabschiedete sich nach kurzer Zeit wieder. Er legte mir nahe, mich noch einmal gründlich mit Elias zu unterhalten – und er betonte das Wort ‚unterhalten‘ – und kreidete auch meiner Meinung nach zu sehr an dem König an. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, Elias verteidigen zu müssen. Ich gab allein mir die Schuld für die Misere. Wenn ich Torben gegenüber toleranter gewesen wäre und Elias nicht provoziert hätte, dann wäre es nie so weit gekommen. Er konnte also nichts dafür … er war eben meiner unüberwindbaren Anziehung verfallen! Haha.

Ich ließ gefrustet meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. Montagmorgen. Die ersten beiden Stunden Mathematik. Die pure Hölle für meine geschundene Seele. Julia war leider Gottes krank, sodass ich mein quälendes Dasein in diesem Fach alleine fristen durfte, wenn man von Chris absah, der durch den freien Platz aufgerückt war und nun neben mir saß. Der war bloß keine große Hilfe, denn der passte tatsächlich auf und schrieb fleißig mit. So ein Streber.

„Herr Lindemann“, tadelte mich Herr Tretmann mit wedelndem Finger. Mal ehrlich, wie sollte man den ernst nehmen? „Sie sind in den letzten Wochen völlig unkonzentriert! Dabei müssten gerade Sie sich in Mathe anstrengen, wenn Sie ein gutes Abitur wollen.“ Jetzt kam er mir mit der Nummer. Ich seufzte reuevoll und setzte mich aufrecht hin, die Hände auf dem Tisch ineinander verschränkt und das schönste Lächeln. „Es tut mir leid, Herr Tretmann. Sie haben natürlich vollkommen recht.“

Chris neben mir verdrehte die Augen, doch der alte Herr kaufte mir das Schauspiel zufrieden ab und wandte sich lächelnd zur Tafel um. Kaum, dass er mir den Rücken zugekehrt hatte, ließ ich meine Schultern hängen und verlor das Lächeln.

„Was ist denn los mit dir?“, flüsterte Chris prüfend von der Seite. „Du bist noch unmotivierter als sonst. Du schreibst nicht mal ab.“

Ich schüttelte daraufhin mit dem Kopf, zum Zeichen dafür, dass ich fertig war. Ich wollte ihm nicht auch noch meine Probleme aufbürden. Nachher kam er mir auch noch mit so schlauen Sprüchen wie Andreas.

Er fragte nicht weiter nach, worüber ich ihm wirklich dankbar war. Kurz vor dem Stundenklingeln verlangte Herr Tretmann noch einmal unsere Aufmerksamkeit. „Meine Damen und Herren! Vergesst nicht, dass wir am Freitag unseren Wandertag haben. Wie bereits besprochen werden wir mit dem anderen Stammkurs den Kletterwald besuchen. Das Geld bitte bis Mittwoch bezahlen. Bis dahin, auf bald.“

Irks. Ich zog ein fast schon angeekeltes Gesicht. Mal abgesehen davon, dass wir ausgerechnet mit dem anderen Kurs hinfahren würden, wobei ich Elias eigentlich aus dem Weg gehen wollte, war es auch noch der Kletterwald. Wo zur Hölle war ich denn bei der Besprechung gewesen?! Bestimmt hatte ich da geschlafen … Ich, mit meiner Höhenangst, im Kletterwald! Das war, als würde man eine Katze im sexy Bikini zu einer Poolparty schicken.

 

Ich war eigentlich die gesamte Woche über schlecht gelaunt. Julia kam erst am Mittwoch zurück, mit roter Nase und etlichen Packungen von Taschentüchern. Natürlich fragte sie sofort, ob sie was verpasst hatte und weil sie nun mal meine beste Freundin war, erzählte ich ihr von meinen Beziehungsproblemen. Das mit Elias sparte ich bewusst aus, ich konnte mir auch so gut vorstellen, was sie mir für eine Rede halten würde – von wegen Moral, Treue und was für ein Arsch ich doch war.

Das wusste ich auch so.

Sie riet mir also, Torben ein wenig Zeit zu lassen und darüber nachzudenken, wie er sich fühlen musste. Dabei war mir klar, dass die Situation vor allem für ihn schwierig sein musste – ungeoutet, mit strengen Eltern und das alles in dem Alter.

Dass das für mich auch alles neu war, schien keinen zu kümmern. Meine erste, ernsthafte Beziehung, die ich augenscheinlich nach nicht allzu kurzer Zeit gepflegt in den Sand zu setzen versuchte, bloß weil da diese arrogante Diva existierte, die Aufmerksamkeit brauchte. Aber nicht mit mir!

Torben rief Mittwoch einige Male an, aber ich ging bewusst nicht ran. Auch wenn ich wusste, was ich an ihm hatte, sollte er ruhig ein wenig schmoren. Sonderlich gut fühlte sich das aber nicht an, in dem Wissen, dass ich ihn gewissermaßen betrogen hatte. Das Verdrängen gelang mir allgemein ganz gut. Elias schien sich gekonnt aus meinem Umfeld zu entziehen und selbst wenn ich ihn irgendwo einmal erkannte, war es, als würden wir uns gegenseitig nicht wahrnehmen.

Wir sahen uns an und schlugen andere Wege ein, suchten das Weite, ohne zurückzusehen.

Ich hatte auch irgendwie Angst davor, ihm nochmal in diese Augen zu sehen. Sie würden wieder unnötig Staub aufwirbeln, der gerade erst dabei war, sich zu legen.

 

Donnerstag war der Tag, von dem ich mir eine Wendung erhoffte. Ich hatte Torben eine SMS geschrieben und gefragt, ob er heute Zeit für ein Treffen hätte. Er antwortete nicht, aber darüber machte ich mir kaum Sorgen. Sicherlich war er irgendwie beschäftigt. Oder er hatte die Schnauze voll, weil ich nicht ans Telefon ging …

Ach, als ob.

Benji, Chris, Julia und ich hatten Sport hinter uns gebracht. Ich war verschwitzt und meine Frisur war völlig zerstört, aber ich grinste erheitert, weil Benji sich seit zwanzig Minuten nonstop darüber beschwerte, dass ich ihm – angeblich – mit voller Absicht den Volleyball ins Gesicht gebaggert hatte. Natürlich stimmte das nicht, aber seine eine Gesichtshälfte war noch ein wenig rot und er meckerte wie eine alte Ziege.

„Chris, verteidige mich doch mal“, verlangte ich schmollend. „Du hast doch gesehen, dass es keine Absicht war. Außerdem kann bei dem Gesicht ja nicht mehr viel kaputt gehen…“ „Vincent“, knurrte Benjamin drohend. „Das gibt Rache, ich versprech’s dir.“ Dann drückte er auch schon meinen Kopf herunter und wuschelte grob mit der Faust durch meine Haare. Na, wie herzlich. Mein Aussehen war ja ohnehin schon ruiniert.

„Chris! Chris!“ Ich jaulte und versuchte mich ein wenig träge zu befreien. „Tu doch was, er fasst mich an!“

Angesprochener seufzte resigniert, weil ihm unsere Kindereien wohl auf den Geist gingen, fügte sich aber und löste Benjamin von mir. Der grinste mich triumphierend an, als hätte ihm das tatsächlich Genugtuung verschafft. „Du bist blöd“, jammerte ich und sortierte einige Haarsträhnen zurück n ihren rechtmäßigen Platz. „Vergreifst dich an armen kleinen Jungs … und zeigst mir nicht mal einen richtigen Hasen!“

Wir lachten und verließen mit unseren Sportsachen die Turnhalle. Draußen war es ausgesprochen kalt, sodass es mir direkt kalt den Rücken runter lief. Dicke Pullover reichten langsam nicht mehr aus.

„Was macht ihr heute noch so?“, fragte Chris wie beiläufig, hatte den Blick jedoch neugierig auf Julia gerichtet.

„Ich hab heute Training“, erklärte Benji knapp. „Und ich bin immer noch krank. Ich werd mich zu Hause direkt wieder ins Bett legen.“ Wie zur Bestätigung schnaubte Julia in eines ihrer Taschentücher. Sie war eine einzige Bakterienschleuder…

„Ich…“, fing ich gelangweilt an, stoppte aber irritiert, als ich einen schwarzen BMW auf dem Schulparkplatz erkannte, auf dem fett das Logo der Firma König prangte. Daneben stand ein großgewachsener Mann mit chaotischem, braunem Haar. Zweifellos, eine größere, maskulinere Version von Elias – Torben.

„Na hallo“, tönte Julia nasal. „Scheint so, als wolle sich da jemand entschuldigen.“ Sie stieß mir grob mit dem Ellbogen in die Seite, sodass ich, da ich überrascht stehen geblieben war, wieder in die Gänge kam.

Ich verabschiedete mich von meinen Freunden mit einem knappen Wink, bevor ich auch schon vor dem lächelnden Torben stehen blieb. Seltsam, ich war irgendwie nervös. Prüfend ließ ich meinen Blick schweifen, stellte aber beruhigt fest, dass Elias weit und breit nicht zu sehen war.

Keine Ahnung, warum mich das beruhigte.

„Hey“, sagte Torben schließlich. „Ich dachte, du würdest dich freuen, wenn ich dich abhole.“ Er klang unsicher. Seine Hände nestelten nervös an seinem Hemd, wie an dem Abend, als ich ihn kennengelernt hatte. Eine unheimlich süße Macke.

„Keine Angst, dass uns irgendjemand sieht?“, fragte ich vorsichtig. Ich erwartete immer noch jederzeit, dass ich auf Kommando zur Deckung ins Gebüsch springen musste. Mir selbst war egal, was meine Mitschüler von mir dachten. Bislang hatte ich mich in der Schule nur nicht geoutet, weil ich es nicht für nötig gehalten hatte – ohne irgendeine Beziehung oder ein Liebesleben, gab es da auch nichts zu outen. Ich hatte mittlerweile genügend Freunde und Selbstbewusstsein, dass ein Outing mir nicht viel ausmachen würde.

Er zuckte vielsagend mit den Schultern. „Die können denken, was sie wollen.“ Ich wurde hellhörig. „Hast du dich denn geoutet?“ Das klang ja utopisch, wie er hier sprach – so selbstsicher und von sich überzeugt.

Torben zögerte und ich seufzte. „Also nicht“, stellte ich hörbar enttäuscht fest. Ich hatte schon Hoffnung gehabt, dass wir das Drama damit abhaken könnten. Dabei hätte ich es eigentlich erwarten müssen. Immerhin war es für ihn in seinem Leben nicht so leicht, zu seiner Sexualität zu stehen.

„Ich arbeite daran“, beschwichtigte er mich sofort. „Ich brauche nur etwas Zeit und … ich will nicht, dass uns das irgendwie belastet. Es tut mir leid, was ich gesagt habe und ich hoffe, du bist nicht mehr sauer auf mich.“

Torben lächelte sanft und mir wurde warm ums Herz. Wie konnte man auf diesen wunderbaren Mann irgendwie sauer sein? Er war so gut wie perfekt. Umsichtig, freundlich, humorvoll, das volle Programm. Die traurige Wahrheit war: Ich hatte ihn gar nicht verdient!

„Vergeben und vergessen.“ Ich erwiderte das Lächeln und kam ihm die letzten Zentimeter entgegen, um ihm kurz aber sanft meine Lippen aufzulegen. Es war schön. Kein Aufeinanderprallen von Emotionen wie bei Elias … einfach schön.

War das nicht besser?

„So einfach?“, hakte Torben vorsichtig nach, nachdem ich wieder Abstand zwischen uns gebracht hatte.

Ich musste grinsen, während ich meinen Rucksack und die Sporttasche in seinen Kofferraum warf. „Soll ich’s dir schwieriger machen? Oh, wie wär’s mit einer Szene! Ich könnte mit Sachen nach dir werfen und fragen, ob ich in der Hose dick aussehe.“

Er lachte herzhaft. Den Ton hatte ich wirklich vermisst. „Nein, schon gut. Ich bin zufrieden.“ Kurz durchzuckte es mich. Das Bild von einem König und einem Frosch.

Ich verdrängte es.

Und lächelte.

„Ich auch.“

Frösche klettern nicht auf Bäume

„Ich will wieder ins Bett.“ Ich zog eine Schnute und verschränkte bockig die Arme vor der Brust. Julia neben mir verdrehte demonstrativ die Augen, auf ihrem Schoß ihr Rucksack. Wir hatten die gesamte letzte Reihe des Busses für uns eingenommen, zwei Plätze neben Julia waren noch frei. Benji und Chris kamen mal wieder zu spät, wie so oft. Es war noch nicht mal um acht und ich spielte bereits mit dem Gedanken, mich mit meinen Kopfhörern zu erdrosseln.

„Du wirst das schon überleben“, erwiderte die Blondine optimistisch. „Niemand wird dich zwingen, irgendwo hoch zu klettern.“

„Wäre ja auch `ne Frechheit. Jeder, der’s versucht, wird nur noch in Stücken nach Hause kommen“, brummte ich und stützte meinen Kopf auf einer Hand ab. Ich hätte meine Ma doch dazu überreden sollen, mir eine Entschuldigung zu schreiben, aber ich hatte ja Angst gehabt, sie würde wieder sowas wie ‚Hämorriden‘ raufschreiben. Tja, das hatte ich jetzt davon. Hätte ich mal die Hämorriden genommen!

„Wow, da hat ja jemand wieder super Laune.“ Benjamin grinste und ließ sich auf einen freien Sitz plumpsen, dicht gefolgt von Chris. Jetzt stiegen auch Herr Tretmann und Frau Pohl ein, sichtbar genervt, weil die beiden die Abfahrt um zehn Minuten verzögert hatten. Das kümmerte die jedoch nicht.

„Lass ihn“, mischte sich Chris ruhig ein, während er seine Jacke auszog. „Du weißt doch, dass er Höhenangst hat.“

„Pssht!“, machte ich und sah mich um. Direkt vor uns saßen Lisa, ihre blondierte Freundin Nicole und rechts davon gleich Elias und Ruben. Musste ja nicht jeder wissen, dass ich mir bei großen Höhen einpieselte. Vor allem nicht einer von denen.

Chris entschuldigte sich hastig, wobei mir da erst auffiel, was er an hatte. Er trug sonst eher Pullover oder schlabbrige T-Shirts mit komischem Aufdruck. Das enge Shirt stand ihm – und seinen Brustmuskeln – ausgesprochen gut.

„Hey, wen willst du denn heute noch aufreißen?“, spaßte ich grinsend und zog an dem Stoff. „Bevor du dir Hoffnungen machst, ich bin vergeben, Süßer.“

Chris schnaubte belustigt auf und schlug spielerisch meine Hand weg. „Ich weiß doch, dass ich keine Chancen bei dir habe, Vince“, grinste er, zuckte dann aber mit den Schultern. „Meine Cousine war gestern mit mir shoppen, weil sie der Meinung war, dass ich nicht mit der Mode gehen würde.“

„Du solltest deiner Cousine danken“, Benji klopfte ihm auf die Schulter, „Endlich siehst du nicht mehr aus wie’n Streber. Oder was sagst du dazu, Julia?“

Besagte wurde mit den Worten aus ihrer Starre gerissen, die eingesetzt hatte, als ihr Blick auf Chris gefallen war. Verständlich, dass man von Muskeln hypnotisiert werden konnte, in unserem Alter spielen die Hormone eben noch verrückt. Außerdem wusste sie ja nicht, wie Chris unter den Klamotten aussah, im Gegensatz zu uns Jungs, die sich seit jeher eine Umkleidekabine teilten. Jedenfalls löste sie ihre Augen von ihm, blinzelte verwirrt und brachte ein planloses „Was?“ heraus, worauf wir alle erst mal gepflegt anfingen zu lachen, auch wenn Chris dabei stetig zu der Blondine schaute. Irgendwie süß die beiden. Ich würd’s ihnen gönnen, wenn sie endlich zueinander fänden – und da Julia nun interessiert zu sein schien…

„Haha“, machte sie schließlich beleidigt, als wir uns langsam wieder einkriegten, „sehr lustig!“

 

Wir fuhren eine Dreiviertelstunde bis zum Kletterwald, da in näherer Umgebung keiner zu finden war. Ich schrieb ab und an mit Torben, wenn er gerade Zeit hatte. Nicht über wichtige Sachen, aber es brachte mich immer wieder zum Grinsen, wenn ich sah, dass er mir geschrieben hatte.

Herr Tretmann scheuchte uns dann schließlich aus dem Bus. Der Himmel war wolkenverhangen und finster. Das passte perfekt zu dem heutigen Tag, meiner Meinung nach. Mir fehlte bloß noch der Regenschauer, mit richtig schönen, fetten Tropfen.

„Zieh nicht so ein Gesicht.“ Julia tätschelte mir mütterlich den Arm. „Stell dir doch einfach vor, dass Lisa beim Klettern vom Baum rutscht oder sowas. Das bringt mich immer zum Lächeln.“ Ich lachte auf. „Und ich bin böse, ja?“ Daraufhin zuckte sie lediglich mit den Schultern.

Benji und Chris gesellten sich zu uns, während wir in den kleinen Park marschierten, zu einer großen Hütte, in der wohl die Klettersachen ausgeliehen wurden. Die Jungs diskutierten die ganze Zeit darüber, wer der bessere Kletterer war und all diesen Quatsch. Wir hörten ihnen gar nicht richtig zu.

„Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe! Hört auf zu murmeln! Wir werden jetzt alle unsere Klettersachen ausleihen und dann den Parcours durchgehen. Es gibt verschiedene Schwierigkeitsgrade, jeder kann sich selbst aussuchen, wozu er sich fähig fühlt. Also los.“ Herr Tretmann konnte es anscheinend kaum erwarten. Soweit ich wusste, war es seine Idee gewesen, zum Kletterwald zu fahren. Ich hatte demnach ihm diesen beschissenen Tag zu verdanken.

Wir holten uns alle brav unsere Ausrüstung – irgendein unbequemer Gurt mit diversen Kletterhaken und sogar ein grottenhässlicher Helm – und fanden uns auf einem kleinen freien Platz ein. Neben unseren zwei Stammkursen leisteten uns bloß eine Familie und ein paar Vogel Gesellschaft. Der Betreuer belehrte uns, von wegen Gefahren und all das, bis er von Herr Tretmann in ein fesselndes Gespräch über Kletterausflüge verwickelt wurde und wir auf uns allein gestellt waren.

Diesen grässlichen Helm würde ich ganz sicher nicht aufsetzen.

„Willst du da echt hoch?“ Ich beobachtete skeptisch, wie Julia den Gurt festmachte und tatsächlich einen Helm aufsetzte. Dabei beschwerte sie sich sonst bei jeder Möglichkeit, dass ihre Frisur eventuell zerstört werden könnte.

Sie zuckte mit den Schultern. „Wieso nicht? Ich habe keine Lust, hier sinnlos rumzustehen, schon gar nicht mit dir. In deiner Nähe wird man nur depressiv.“

Ich beobachtete angesäuert, wie die Blondine sich Chris und Benji anschloss, die zielstrebig einen der Kletterpfade ansteuerten. Mein Blick schweifte über die verschiedenen Holzplanken, Seile, wackligen Brücken, Ringe und all diesen Quatsch, den man da überwinden sollte. So ein Affentheater um am Ende noch vom Baum zu fallen…

„Na, Vince?“ Wie aus dem Nichts stand Lisa vor mir, grinsend wie immer. Die hielt sich doch für so sportlich, bloß, weil sie irgendwann vor ein paar Jahren mal getanzt hat. Jetzt konnte sie zwar einen Spagat, dafür quellten ihre dicken Speckrollen zwischen den zu kurzen Tops und den zu engen Hosen heraus. Nichts gegen ein paar Pfunde zu viel – aber dann sollte man sich nicht kleiden wie Heidi Klum. „Keine Lust aufs Klettern?“ Sie wollte freundlich klingen, doch er blödes Grinsen machte die nette Tonlage wieder wett. Wir hatten uns noch nie ausstehen können. Meistens hatten wir uns toleriert und ignoriert, aber seitdem Elias und ich diese Hassfreundschaft pflegten, war sie richtig hinterfotzig geworden, sobald irgendwas mich betraf. Vielleicht war sie ja – lächerlicherweise – eifersüchtig? Tja, das brauchte sie nicht mehr sein. Elias und ich existierten in zwei verschiedenen Welten. Selbst wenn wir, wie gerade, kaum zehn Meter voneinander entfernt standen, hatte ich das Gefühl, dass uns nicht mehr hätte trennen können.

„Nö“, ließ ich mich zu einer gewohnt ruhigen Antwort herab. „Will mir die Klamotten nicht einsauen.“

Dominik, ein sportlicher Typ aus meinem Kurs, schnaubte belustigt. „Du hast doch bloß Schiss.“ Daraufhin lachte Lisa kurz auf und schmachtete ihn an, als hätte er etwas äußerst kluges gesagt. Na sicher.

Genervt verdrehte ich die Augen. „Ist mir doch scheißegal, was du denkst.“ Also ehrlich, sollten sie doch glauben, was sie wollten. Gut, ich gab ungern zu, dass ich etwas nicht konnte oder Bammel hatte, das war einfach nicht mein Ding. Mein Stolz verbot das. Ich hatte immer alles mit erhobenem Haupt ertragen. Alle Diskriminierungen, alle blöden Kommentare, alles. Mag zwar sein, dass in diesem Kaff kaum einer wusste, wie es um meine Sexualität stand, aber wenn mich jemand ernsthaft fragte, dann stritt ich es nicht ab. Wozu verbiegen? An meiner alten Schule hatten es die meisten dann in der Zehnten schnell gewusst. Glücklicherweise hielten sie sich hauptsächlich zurück, weil sie wohl nichts mit einer Schwuchtel zu tun haben wollten. Dumme Sprüche hatten sie natürlich trotzdem nicht ausgelassen, aber das hatte mich einen Furz interessiert. Ich hatte sogar richtig Spaß daran gefunden, Bleistifte fallen zu lassen und mich extra langsam nach ihnen zu bücken. Und die Panties im Sommer erst! Das hatte mir einige Blicke eingebracht – aber hey, ich habe nun mal einen geilen Arsch, dazu stehe ich.

Jedenfalls war es auf meiner alten Schule grundsätzlich so: große Klappe, nichts dahinter. Lag entweder daran, dass ich eine bekannte, aggressive Diva war, die notfalls gewaltsam ihre Ehre verteidigte, oder daran, dass sie Angst vor Andreas gehabt hatten. Möglicherweise auch eine Mischung aus beidem. Nur ein einziges Mal hatte ich mich mit körperlicher Gewalt gewehrt, weil irgendein Trottel aus der Zwölften mich in einen Müllcontainer hatte stecken wollen. Eine Minute später hatte er sich jammernd die Eier gehalten und ich war davon stolziert. Keine Ahnung, ob der noch Kinder zeugen konnte.

Ich drehte mich schwungvoll in eine andere Richtung und wollte einen filmreifen Abgang hinlegen, als ich die beiden Nervensägen hinter mir tuscheln hörte.

„Dann ist das Gerücht bestimmt wahr.“ Bitte? Welches Gerücht? Von meinem verdammt knackigen Hintern? Das ist tatsächlich wahr. Ja, der Hüftschwung war für euch. Seht genau hin und werdet neidisch, ihr Pantoffeltierchen!

Ich war sowohl verwirrt als auch neugierig stehen geblieben. „Das denke ich ja schon länger“, prahlte Dominik. „Guck doch mal wie der sich anzieht. Und `ne Freundin hatte der doch auch noch nie, oder?“

Mit gerunzelter Stirn wandte ich mich um und beobachtete, wie Lisa und Dominik lästern davonzogen. Ich verzichtete darauf, sie zu berichtigen, dass ich tatsächlich mal eine Freundin gehabt hatte. Ging die ja einen Scheißdreck an. Nur warum zum Teufel unterhielten die sich so verschwörerisch über mich? Und was für ein Gerücht soll das denn sein?

Mein Leben musste ja verdammt interessant sein, so, wie sie das darstellten.

 

Ich verzog mich schließlich, ohne dieser Verschwörung nachzugehen. Pubertät hin oder her, das hier war kein Teeniefilm und ich würde mich auch nicht weinend in meinem Zimmer einsperren, weil die bösen Cheerleader in der Schule über mich herzogen und Gerüchte verbreiteten. Im Film wäre ich wohl die Zicke, die Freundin des Footballspielers. Auch wenn ich mich ungern als Mädchen bezeichnete, Julia nannte mich nicht umsonst Diva.

Beinahe hätte ich trostlos aufgelacht, als hinter der Hütte, wo ich Ruhe und Abstand gesucht hatte, mein Quarterback auf mich wartete. Wie lustig, Destiny. Zum Totlachen.

Elias schaute überrascht auf, als er mich entdeckte. Unsere Blicke trafen sich kurz, ehe ich hektisch den Augenkontakt abbrach und auf dem Absatz kehrt machend wieder verschwinden wollte. Eisiges Anschweigen und unangenehme Stimmung war nicht das, worauf ich gerade unbedingt Lust hatte.

„Vince“, fing er plötzlich an, als ich bereits einen Schritt gemacht hatte. „Du musst nicht gleich wegrennen.“

Ich atmete tief durch, wie ich es als Kind beim Judo gelernt hatte und stellte mich dem Brünetten gegenüber. Lief doch super. So schwer war das doch nicht … hier rumzustehen und daran zu denken, wie man sich geküsst hatte…

Ach, verdammtes Hirn, hör auf damit!

„Ich renne nicht weg“, antwortete ich dann höchst intelligent. „Ich dachte nur, wir würden uns noch immer gegenseitig wie Luft behandeln.“ Keine Ahnung, warum das irgendwie schnippisch geklungen hatte. Ich dramatisierte schon wieder. Es war bloß … er stand direkt vor mir und bedachte mich mit einem Blick, der neutraler nicht hätte sein können. Dabei war das passiert, was ich mir vor einiger Zeit noch erträumt hätte – und jetzt mieden wir uns deswegen. Das kratzte an mir. Torben war mir wichtiger, ja, aber…

Es gab kein ‚aber‘.

Elias würdigte das keiner Antwort, was mich nicht wunderte. Er lehnte an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt und schaute zur Straße, direkt an mir vorbei. Eben hatte es noch geklungen, als ob er nicht wollte, dass ich ging und nun würdigte er mich nicht eines Blickes.

Er schien zu merken, dass ich mit dem Gedanken spielte, wieder abzuhauen, denn er fing doch tatsächlich eine Unterhaltung an. „In der Schule geht das Gerücht rum, dass jemand gesehen hat, wie du auf dem Schulhof einen Typen geküsst hast.“

Da machte es ‚Klick‘. Das war dieses bescheuerte Gerücht! Irgendjemand hatte gesehen, wie Torben mich am Donnerstag abgeholt hatte. Deswegen machte Lisa so eine Verschwörung daraus? Wie lächerlich.

„Oh Gott!“, keuchte ich gespielt erschrocken und legte mir die Hand aufs Herz, „wer weiß davon?! Oh nein, wenn meine streng religiösen Eltern davon erfahren, schicken die mich aufs katholische Internat! Hey, Moment…das wäre gar nicht so übel…nur unschuldige, süße Jungs…“

Elias verdrehte genervt die Augen, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen. „Das ist nicht witzig. Wenn irgendjemand erfährt, dass du was mit Torben hast…“ „Er hat gesagt, dass es ihm egal ist“, erwiderte ich stur, weil mir sein belehrender Ton nicht gefiel. Immerhin hat er mich auch geküsst – obwohl angeblich die größte Hete, die herumlief, mit Freundin und all dem Kram.

Elias lachte auf. Er lachte über mich. „Bist du wirklich so naiv? Weißt du, was passiert, wenn unsere Eltern erfahren, dass Torben was mit dir hat? Die werden durchdrehen und ihm jegliche Unterstützung streichen. Und so nett er auch ist, bleibt er egoistisch, glaub mir. Die Entscheidung zwischen ‚heiler Welt‘ und ‚dir als sein Freund‘ würdest du verlieren.“

Ich sah geschockt in seine stumpfen, braunen Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. Hob er seinen Bruder nicht immer in den Himmel? Hatte er ihn nicht vor mir verteidigt? Wie konnte er dann jetzt so schlecht über ihn reden?

Das machte mich wütend. „Torben ist kein schlechter Mensch, wahrscheinlich kannst du verkappter Egoist es bloß nicht ertragen, dass dein Bruder glücklicher ist als du! Du bist echt der letzte Arsch, Elias. Halt dich doch einfach aus meiner Beziehung raus, wenn du glaubst, dass sie sowieso bald vorbei ist. Dann brauchst du ja nur abwarten und am Ende sagen: ‚Ich hab‘s dir doch gesagt!‘“

Ich warf wütend die Arme in die Luft, knurrte frustriert und stapfte davon. Verdammter Elias. Klar, er kannte seinen Bruder, aber für wen hielt er sich, so von meiner Beziehung zu reden?! Er machte alles kaputt! Alles was ich gut fand, spürte er auf und zerstörte es! Ich traf seinen Bruder – er gestand mir, dass er mich mag. Torben und ich waren ein einigermaßen glückliches Paar – und er küsste mich!

Nein, ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich Mitschuld trug. Nein, ich wollte nicht einsehen, dass er recht haben könnte. Der konnte sich seine Weisheiten sonst wohin schieben, dieser, dieser…

 

„Vince!“ Er klang genervt, während er nach mir rief, aber das war mir Schnuppe. Ich war hier derjenige, der die Berechtigung dazu hatte, mit den Nerven am Ende zu sein. Er wollte eine Szene, die konnte er haben! „Jetzt warte doch mal.“ Elias packte mich am Handgelenk und zog mich zurück hinter die Hauswand. „Sei nicht so eine Zicke.“

Mir klappte fassungslos das Kinn runter. „Wie hast du mich genannt?“

Der Brünette blieb von meinem vor Zorn rotem Gesicht ganz unbeeindruckt. „Du sollst aufhören, so rumzuzicken. Ich war nur ehrlich.“

„Ach, du bist also ehrlich? Und wahrscheinlich willst du auch nur das Beste für mich? Na sicher!“ Ich schnaubte abfällig und beobachtete zufrieden, wie er langsam die Geduld verlor. Gut so! Sollte er mal wissen, wie das ist.

„War klar, dass du lieber in deiner Zuckerwattewelt lebst“, brummte er. „Du solltest mal langsam in der Realität ankommen, Blondie. Torben ist nicht so ein Held, wie du glaubst, auch wenn die Wahrheit nicht verträgst.“

Schon wieder das. Was hatte er auf einmal gegen seinen Bruder? Ich atmete tief durch und fixierte seine Augen. Irgendwas blitzte in ihnen auf. Wut? Abneigung? Oder etwa – was ich als völlig unwahrscheinlich einschätzte – Eifersucht?

„Ich vertrage die Wahrheit nicht, ja? Von dir lass mich gar nichts sicher nichts sagen! Du kommst doch einfach nicht damit klar, dass du mich geküsst hast und es dir verdammt nochmal gefallen hat!“

Jetzt war er richtig wütend. Das konnte man ihm ansehen. Die Augen geweitet, das Kinn angespannt und seine rechte Hand in seiner Hosentasche war zur Faust geballt. Das hatte ich schon öfters gesehen, aber seltsamerweise nur, wenn ich mich mit ihm unterhielt. „Hör auf das hier herum zu schreien, du verdammter Idiot. Das war eine einmalige Sache!“

„Einmalig, ja?“ Ich ging einen Schritt auf ihn zu und nahm zufrieden wahr, wie er kurz zurückzuckte. „Wollen wir wetten?“ „Wag es dir, Blondie! Ich warne di…“

Der Rest ging unter, als ich ihm meine Lippen aufzwang und gegen die Wand drückte. Er war zwar etwas größer als ich, aber nicht besonders stark, sodass ihm das Drücken gegen meine Brust nichts brachte. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass er sich kaum anstrengte. Er wollte das, so, wie ich es vorhergesagt hatte.

Ich spürte den Zeitpunkt, als schließlich all sein Widerstand brach. Seine Hände wanderten von meiner Brust runter an meine Taille, seine Lippen fingen meine ein. Er übernahm völlig die Initiative, drehte uns und presste mich ziemlich unsanft gegen die Holzwand der Hütte, sodass ich erschrocken aufatmete. Keine Ahnung, ob er jemals vor mir einen Kerl geküsst hatte, aber abgesehen von dem widerlichen Geschlabber mit seiner grässlichen Freundin, was wir manchmal beobachten durften, war das hier ganz und gar nicht übel.

Wirklich kein bisschen!

Nach unserem letzten Kuss war das hier zwar nicht so verzweifelt, aber dafür ziemlich aufgebracht und … irgendwie sehnsüchtig. Zumindest meinerseits, was ich zugeben musste. Elias machte sich nichts aus Zärtlichkeiten. Er nutzte mein Aufatmen und entfachte einen Zungenkuss, der mir sowohl jegliche Luft nahm, als auch meine Hormone in die völlig falschen Bahnen lenkte. Das war nicht gut, definitiv nicht gut.

Nein, das war verdammt gut!

Ich war erst wieder fähig zu denken, als er mir neckisch in die Unterlippe bis, ehe wir uns voneinander lösten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals so geküsst worden zu sein. Nicht mal von Torben…

„Wette gewonnen“, murmelte ich und strich mir einige verirrte Strähnen aus der Stirn. Sein Griff um meine Hüfte wurde schwach, bis wir uns nur noch gegenüberstanden. Sehr nah.

Elias wirkte ein wenig neben der Spur, seine Atmung war, ebenso wie meine, schwerer geworden. Ich hatte doch gesagt, dass es ihm gefiel! Wer hatte mal wieder recht? Vince!

„Das hätten wir nicht tun sollen“, erwiderte er schlicht und fuhr sich nervös durch seine Haare.

„Hätten wir nicht“, bestätigte ich. „Aber du musst zugeben, dass es dir gefallen hat.“

„Hat es nicht“, widersprach er, verkniff sich jedoch sichtbar ein Grinsen.

„Elias, provozier mich nicht.“ Ich hob herausfordernd die Augenbrauen und starrte ihn an. „Fange nichts an, was du nicht auch beenden kannst.“

Er lachte auf und grinste provokant. Im Gegensatz zu Torben hatte er nur ein Grübchen, auf der linken Seite. „Du unterschätzt mich.“

„Vince!“

Einerseits sollte ich froh sein, dass Julia das hier unterbrach, denn ich betrog – Überraschung – wieder einmal meinen Freund. Andererseits hatte ich das sofortige Bedürfnis, sie mit meinem blöden Klettergürtel zu erwürgen. Skrupellos.

Ich fluchte, auch Elias wirkte nicht sehr begeistert, aber die Blondine ließ uns keine Chance. Sie brüllte durch den ganzen Park und so wie ich sie kannte, zog sie das solange durch, bis sie mich fand.

Na toll.

„Ich geh mal besser zu ihr“, brummte ich unmotiviert. Ich lächelte Elias vorsichtig zu, der hilflos mit den Schultern zuckte. „Mach das.“

Bevor ich ging, wollte ich unbedingt eine Frage beantwortet haben, weil ich sonst womöglich wieder das Wochenende über frustriert in meinem Bett landen würde und Andreas tatsächlich noch in mein Zimmer einbrechen müsste. Und das wollte ich verhindern.

„Bereust du es?“ Ich sah erwartungsvoll zu ihm. Meine Hände spielten unruhig mit dem Reißverschluss meines Hoodies.

Elias zögerte und beinahe hätte ich aus Angst seine Antwort einfach abgewürgt. Doch dann schüttelte er mit dem Kopf. Erleichterung durchströmte mich. „Es tut mir leid, aber ich bereue es nicht.“

Ich wollte fragen, was oder wer ihm leid tat, aber da dröhnte schon wieder Julias Stimme durch den Park und ich stöhnte genervt. Mit einem knappen Nicken verabschiedete ich mich von meinem ‚Quarterback‘ und folgte der melodischen Stimme meiner besten Freundin.

„Vinceeeeeent!“ Ich entdeckte Julia vor der Hütte, in die sie hineinspähte. Sie bemerkte mich erst, als ich hinter ihr stand und erschrak sich zu Tode. „Was plärrst du denn so?“ Ich grinste über ihren entsetzten Gesichtsausdruck und nahm ihren groben Schlag gegen die Brust einfach hin.

„Erschreck mich doch nicht so! Außerdem habe ich dich die ganze Zeit gesucht. Lisa meint, du hättest dich verkrümelt. Und weißt du, was sie mir noch erzählt hat?“

Die Blondine nahm mich bei der Hand und schenkte mir einen mitleidigen Blick. „Jemand hat beobachtet, wie du einen Kerl geküsst hast. Warum hast du mir denn nie gesagt, dass du schwul bist? Ich kann dich doch bekehren!“

 Ich lachte über ihr ernstes Gesicht, dass sie dabei machte und schob sie vor mich her, bis wir auf Benji und Chris trafen, die, oh Wunder, erneut in einer Diskussion vertieft waren.

„Hey.“ Chris hatte beschlossen, Benji zu ignorieren und wandte sich an mich. „Was hast du eigentlich die ganze Zeit getrieben?“

Ich kam nicht umhin, bescheuert zu grinsen. Bis vor wenigen Minuten hatte ich wie ein Mädchen aus einem miesen Teenager-Roman hinter einer Hauswand rumgemacht. Aber das erzählte ich ihnen lieber nicht…

„Stand eigentlich die ganze Zeit nur blöd rum. Und ihr? Einer vom Baum gefallen?“ Ich erntete ein Lachen von Benji, der Julia, die verlegen auf ihre Schuhe starrte, kumpelhaft einen Arm um die Schulter legte. „Du hast was verpasst! Unser Sportass hier wollte mit uns die schwerste Route nehmen, kam aber irgendwann nicht mehr weiter, bis Chris sie den halben Weg zurück schleppen musste.“

Ich hob belustigt eine Augenbraue und schaute zu der Blondine, die demonstrativ eine Schnute zog. „Das war eben echt schwierig…“

Ich glaubte eher, dass sie das absichtlich gemacht hatte, um unserem guten Bäckerssohn ein wenig näherzukommen. Das traute ich ihr durchaus zu.

„Ich fand’s nicht schlimm“, lenkte Chris gewohnt nett ein und schenkte ihr einen so verknallten Blick, dass es selbst mir warm ums Herz wurde. „Ich helfe gerne.“

„Danke“, lächelte Julia, die mir, bevor ich auch nur einen blöden Kommentar ablassen konnte, auf die Zehen trat. Sie kannte mich viel zu gut.

„So, wie kriegen wir Vince jetzt den Baum rauf?“ „Wag es dir!“, knurrte ich Benjamin an. Er lachte bloß. 

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2012

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Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Muse, die mich immer wach hält.

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