Haben Sie auch manchmal Probleme, Ihren Mund auf zu bekommen?
Wollen Sie vielleicht schreien, aber alles, was raus kommt, ist ein liebes 'Ja'?
Möchten Sie nicht am liebsten wild um sich schlagen, anstatt schön den Rasen zu mähen und die Schwester zu herzen?
Dann probieren Sie doch einen Damien! Der neue, top gestylte Damien wird nicht nur Ihr Vokabular aufstocken und Sie beinahe zum Platzen bringen, sondern Ihnen gratis dazu auch noch den Kopf verdrehen!
Ist das nicht ein tolles Angebot?!
Da wäre nur wie immer das Kleingedruckte: "Das Leben mit einem Damien kann zu Nervenzusammenbrüchen, Herzanfällen und Aggressionsproblemen führen. Sollten diese Nebenwirkungen bei Ihnen auftreten, konsultieren Sie sofort ihren Verstand oder den eines Freundes."
Aber wer liest schon das Kleingedruckte...
»Ich stelle dich jetzt vor die Wahl«, verkündete eine honigsüße Stimme und der Traum von fliegenden Pfannkuchen schwand langsam mit dem Nebel in meinem Kopf. »Entweder, du stehst jetzt auf oder du machst direkte Bekanntschaft mit Mr. Moody.«
Sofort war ich hellwach. Mit einem Eimer kaltem Wasser, dem Staubsauger und einem Lappen im Gesicht kam ich morgens ja zurecht, aber sobald dieses Mistvieh auch nur in meine Nähe käme, konnte ich für nichts mehr garantieren.
»Du bist grausam«, murrte ich schlaftrunken in mein Kissen und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Wow. Ich war keine zwei Minuten wach und wusste, dass dieser Montag eventuell richtig in die Hose gehen würde.
»Erzähl mir was neues«, entgegnete meine Mutter nüchtern und riss die Gardinen auf. Die Sonnenstrahlen trafen direkt auf mein Gesicht, was mir wieder einen genervten Laut entlockte. »Du bringst Harriet heute zur Schule und holst sie auch wieder ab. Ach, und vergiss dein Physik Projekt nicht.« Was ich dachte: Verpiss dich, ich scheiß heute auf Schule und meine Schwester! Was ich sagte?
»Ist 'n Ordnung, Mom.« Meine Augen schlossen sich wieder fast automatisch und wenn meine liebenswerte Mutter mir nicht gekonnt einen Tritt in den Rücken gegeben hätte, dann wäre ich wohlmöglich auch wieder eingeschlafen.
Da ich mich nicht gerne bis gar nicht mit meiner Mutter anlegte, raffte ich mich auf und begann den morgendlichen Trott. Duschen, Zähne putzen, Sachen packen, anziehen...wouh, warte. Definitiv falsche Reihenfolge.
Am Ende stand ich immer noch stinkend müde im Badezimmer und gähnte mein Spiegelbild an. Meine braunen, kurzen Haare lagen etwas zerstreut, aber wie gewohnt und da ich heute nicht die Ausdauer aufbringen konnte, Kontaktlinsen rein zu fummeln, thronte eine Brille auf meiner Nase. Tja, ich sah wahrscheinlich aus wie ein ganz gewöhnlicher Streber und/oder Lahmarsch - und genauso einer war ich. Zwar herrschte bei uns auf der Schule keine Rangordnung, sonst wären die Jungs mit der Akne wohl kaum mit den Bodenturnerinnen befreundet, aber dennoch fiel ich nicht sonderlich auf.
Darf ich also vorstellen? Johnny Bauer, ein Typ, der langweiliger und normaler nicht sein könnte.
»John! Jooohooon! Du sollst mich zur Schule bringen! Trägst du mich Huckepack?« Es klopfte kurz an der Tür, dann tanzte meine kleine Schwester strahlend hinein und zog an meinem Arm. Was ich dachte: Entweder, du lässt mich jetzt los oder ich schmeiße dich hochkant aus dem Fenster. Was ich sagte?
»Mal sehen, lass mich erst mal in die Gänge kommen.« Ich löste Harriets Hände von meinem Unterarm und drückte sie vorsichtig aber zielsicher aus dem Badezimmer. Es gab ein paar Dinge, die ich absolut nicht leiden konnte: Mr. Moody, Harriets geistesgestörter Kater. Früh aufstehen. Fußball. Liebesschnulzen. Vampir-Hipes. Und auf alle Fälle: Montage mit aufdringlichen Schwestern. Oh, und natürlich Tage, an denen all dieser Mist der Reihe nach auftauchte.
Eine halbe Stunde später stand ich mit Schultasche, Apfel in der Hand und aufgedrehter, neunjähriger Schwester an der anderen, vor der Haustür und wartete darauf, dass Harriet ihren Abschiedsbussi von Mom bekam. Stimmung? So ungefähr zwischen 'Mich anzünden und schreiend aus dem Fenster springen' und 'Russisch Roulette alleine mit vier Kugeln'.
Mom war übrigens eine Theoretikerin, also somit nahe dran an einer verrückten Wissenschaftlerin. Für mich zumindest. Und ich als Sohn einer Wissenschaftlerin durfte nichts anderes als gute Noten nach Hause bringen. Nicht, dass das mir sonderlich schwer fiel, ohne jetzt arrogant geklungen zu haben. Die Frage war nur, wieso Mom ausgerechnet meinen Vater geheiratet hatte, der hatte nämlich keinen Schulabschluss und verdiente sein Geld durch Landwirtschaft. Was nebenbei bemerkt auch unser großes Grundstück und die vielen Obstbäume erklärten. Ich war ganz zufrieden damit, solange ich nicht großartig mit anpacken musste. Aber wie fanden denn eine realistische Wissenschaftlerin und ein optimistischer Landwirtschaftler zusammen? Moment, warum interessierte mich das überhaupt?
»Und pass‘ bei der Hauptstraße gut auf sie auf, ja?« Ich nickte schon seit einer ganzen Weile mechanisch, während meine Mutter das gleiche Gesülz wie sonst auch runter ratterte. »Ach, und viel Glück in Physik.« Mom lächelte flüchtig, was bei ihr schon an einen Gefühlsausbruch grenzte, gab Harriet einen kleinen Kuss auf die Wange und zerwuschelte mir die Frisur. Gut. Ich hatte ja schon Angst gehabt, normal auszusehen!
»Viel Spaß in der Schule«, wünschte sie noch, nippte an ihrem Kaffee und schloss hinter uns die Haustür. Warum wünschten Eltern viel Spaß in der Schule? Das wäre doch genauso, als würde ich einem Todesverurteilten viel Spaß auf dem elektrischen Stuhl wünschen! "Ja, hey, du stirbst zwar gleich und so, und das wird auch sicherlich die Hölle für dich, aber trotzdem, viel Spaß und bring mir was mit!" Ja ne, ist klar.
»Du, Johnny?« Ich hatte mittlerweile die Hand meiner Schwester los gelassen, immerhin war sie schon alt genug, und lief mit den Händen in den Hosentaschen neben ihr auf dem Radweg. Als ob in so einem Kaff wie hier auch nur ein einziger auf die Idee käme, jetzt aufzustehen und Rad zu fahren.
»Hm«, machte ich als erkennbares Zeichen meiner Aufmerksamkeit und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Harriet mit angeekeltem Gesichtsausdruck über eine Pfütze hinüber stieg.
»Warum hast du eigentlich noch keine Freundin?« Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke und starrte den kleinen, braunhaarigen Teufel neben mir fassungslos an. Wie kam sie denn, um diese Uhrzeit, in diesem Moment, auf so etwas?!
»Sollte ich denn?«, stellte ich die Gegenfrage, nachdem ich mich mehr oder minder wieder unter Kontrolle hatte. So eine Frage sollte einen eigentlich nicht so sehr aus dem Konzept bringen, oder? Kein gutes Zeichen, befürchtete ich.
»Na ja, der Ben aus meiner Klasse, der sieht immer wie sein älterer Bruder Mädchen mit nach Hause bringt und die dann...« Sie verzog neben mir angewidert das Gesicht, als spräche sie von Darmkrebs oder Hämorriden. »...küsst und sowas. Ich hab dich noch nie mit einem Mädchen gesehen.«
»Also, das stimmt ja auch wieder nicht«, verteidigte ich mich und fragte mich im selben Moment wieso. Die war doch erst neun und hatte doch sowieso keine Ahnung, wovon sie sprach! »Minney ist immerhin auch ein Mädchen.«
»Ja, aber die hast du noch nie geküsst!« Puh, dachte ich. Also hatte sie das damals doch nicht mitgekriegt. »Und die ist ja auch deine beste Freundin, oder?«
»Klar«, erwiderte ich, während ich die Grundschule vom Ort bereits am Ende der Straße erkennen konnte. Glück auf! »Weißt du, es ist egal, wie viele Mädchen man küsst oder mit nach Hause bringt. Am Ende zählt eigentlich nur, mit wem du langfristig deine Zeit verbringst und dich auch in gewisser Weise...verstehst.« Gute Umschreibung, lobte ich mich und klopfte mir innerlich auf die Schulter. Richtig jugendfrei für einen Sechzehnjährigen!
»Das versteh ich nicht«, schmollte Harriet und nahm von mir ihren Schulranzen entgegen. Ich lächelte sie geduldig an und wuschelte nun ihr durchs Haar, wie Mom es bei mir gemacht hatte. Wie familiär das hier schon wieder wurde. Seltsam. »Irgendwann verstehst du's.« Und ich hoffe, dann werde ich nicht dabei sein!
»Viel Spaß und sei fleißig«, verabschiedete ich mich halbherzig, machte kehrt und lief die Straße wieder zurück. Warum sie den Weg nicht alleine gehen konnte war mir ein Rätsel. Und ich durfte dann zur Bushaltestelle hetzen! Prost Mahlzeit.
»Hey, du wirst nicht erraten, wer mich wieder angegraben hat!« Anstatt wie jeder andere normale Mensch mir erst einmal einen guten Morgen zu wünschen, zerrte Minney mich auf den leeren Sitzplatz neben sich und textete mich erbarmungslos zu. Normalerweise war sie morgens eher schlecht gelaunt und sagte nicht mehr als 'Verpiss dich', 'Fresse' oder 'Hast du Mathe?'. Deswegen überraschte es mich, dass sie diesmal so gesprächig war.
»Du weißt doch, dass der Kirutschke bei uns die Straße runter wohnt, oder? Na ja, jedenfalls bin ich gestern mal wieder abgedüst und hab 'ne Runde draußen geraucht. Da kam der vorbei und hat mich voll gelabert, von wegen, 'für eine Schülerin sähe ich alt aus' und 'es gäbe viele Lehrer, die mit Schülern eine Affäre haben'.«
Geschockt klappte mir die Kinnlade runter. Es war in der ganzen Schule bekannt, dass der Herr Kirutschke ein geiler Bock war und grundsätzlich den Mädchen hinterher glotzte, aber noch nie war er so in die Offensive übergegangen. Das machte mir schon etwas Sorgen. »Und was hast du gesagt?«
Jetzt grinste Minney mich an und strich sich ein paar ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht. »Hab ihn ausgelacht, einen schönen Tag gewünscht und bin nach Hause gejoggt.«
Ich seufzte auf. Und ich hatte mir Sorgen gemacht. Grundlos, wie so oft. Eigentlich hätte ich sowas in der Art erwarten müssen. Minney ging mit bestimmen Dingen anders um als andere Menschen. Manche Mädels würden zur Polizei rennen oder sonst was, Minney hingegen machte sich aus sowas einen Spaß.
»Ich komme heut nach der Schule zu dir«, kam es nach einer Weile von Minney, die im ruckelnden Bus versuchte, die Biologie Hausaufgaben von mir abzuschreiben. Ich zuckte als Bestätigung mit den Schultern und nickte brav. Ich konnte mich eigentlich glücklich schätzen, dass sie mich vorgewarnt hatte. Sonst tauchte sie einfach irgendwann am Tag auf dem Grundstück auf und verschaffte sich Zutritt zum Haus. Manchmal durch Schleimen bei meinem Vater oder durch offene Fenster.
»Hey, mir fällt grad ein, Pat hat am Samstag einen Auftritt im Seven. Du gehst doch mit mir hin, oder?« Diesmal konnte ich nicht einfach mit den Schultern zucken. Seven war ein Club und Clubs verband ich nie mit etwas gutem. Ich ging nicht gerne in Clubs oder auf irgendwelche Feiern. Das war nicht so mein Ding.
»Komm schon, John.« Minney schob die Unterlippe vor und schaute mich flehend an, während sie ihren Block wieder in ihren Rucksack stopfte. »Ich will da nich' alleine hin!«
»Du kennst mich...mir liegt sowas nicht.« Ich hob abwehrend die Hände und hoffte, dass Minney diesmal nicht so lange auf mir rum hacken würde, bis ich letztendlich doch zusagte. Doch dem war nicht so.
Nach 15 Minuten hin und her und einer Pro- und Contraliste für den Besuch im Seven, sagte ich zu, aber unter der Bedingung, dass sie nicht einen Versuch startete, mich mit irgendeinem Weib zu verkuppeln oder gar mit ihrem Bruder. Der war zwar schwul und sicherlich nicht unattraktiv für manche, aber meiner Meinung nach zu abgedreht. Auch wenn Herr und Frau Grünling - Monikas Eltern - Ökobauern waren, total spießig und langweilig, hatten sich ihre Kinder etwas...individuell entwickelt. Patrick, der drei Jahre älter war als Minney, spielte leidenschaftlich gern und auch dementsprechend gut Gitarre, bzw. E-Gitarre und war hemmungslos schwul, was Minney mir erst gesagt hatte, nachdem Patrick mich besoffen angemacht hatte. Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass selbst das gleiche Geschlecht mich, na ja, unattraktiv fand.
Tja, und Monika war...so geworden. Sie spielte zwar Klavier, prügelte sich aber immer, wenn es möglich war, machte sogar dafür Krafttraining, hatte sich den ganzen Rücken tätowieren lassen, besaß ein Mundwerk wie ein Seemann und verstand sich tatsächlich mit Mr. Moody und das war definitiv anormal. Dieser Kater war eine Ausgeburt der Hölle!
»Okay, dann geht das am Samstag also klar«, grinste Minney und strich sich durch ihre langen, blonden Haare. Auch wenn man es ihr jetzt glücklicherweise nicht mehr ansah, in ihren abgeschliffenen Jeans, der mit Nieten bestücken Lederjacke und den schwarzen Stiefeln, aber Minney war mal eine totale Tussi gewesen. Mit allem drum und dran. Sie hatte sogar rosa Kleider getragen und war mit hochhackigen Schuhen zur Schule gestöckelt!
Jedenfalls stand ihr das rockige meiner Meinung nach mehr. Sie war nicht so fett, dass sie darin aussah wie eine Lesbe, aber auch nicht so dünn, dass es lächerlich wirkte. Eigentlich bezweckte sie damit, und davon war ich überzeugt, dass man ihr aus dem Weg ging. Was wahrscheinlich auch besser für die unschuldigen Menschen da draußen war. Wie schon erwähnt: Sie prügelt sich gerne. Sehr gerne.
Wir stiegen bei der vorletzten Haltestelle aus und liefen den restlichen Weg zur Schule, damit Minney noch vorher eine rauchen konnte. Sie war alt genug, um selbst zu entscheiden, ob sie ihren Körper vergiften wollte und ich sagte auch nichts mehr, nachdem sie beim letzten Mal den Inhalt meines Energydrinks als Antwort über mir ausgeleert hatte. Warum ich mit ihr befreundet war? Aus demselben Grund, warum morgens die Sonne aufgeht und abends untergeht. Weil es sich so gehört.
»Hey, was geht denn da?« Minney nickte in Richtung Schulhof, der langsam vor uns auftauchte und schmiss ihre Kippe auf den Boden, wo sie sie auch gleich austrat. Auf dem Hof stand, selbst von hier aus unverkennbar, Natalie und ein paar Freundinnen von ihr. Natalie war die Erzfeindin von Minney und somit auch automatisch meine. Sie war unnötig arrogant, herablassend und lügte am laufenden Band. Was nämlich keiner wusste außer Monika und ich: Sie erzählte zwar immer, dass sie und ihre Familie richtig Schotter hatten, aber das entsprach nicht mal ansatzweise der Wahrheit. Ihr Vater war vor ein paar Jahren 'Zigaretten holen' gegangen und seither war ihre Mutter allein erziehend und Familie Hausmann bitterarm. Woher wir das wussten war nicht weiter relevant. Also, es war ja nicht so, dass wir irgendwie illegal Informationen ranschaffen würden...
Jedenfalls hatte Natalie anscheinend Interesse an etwas gefunden und es auch gleich für sich beschlagnahmt. Sie kicherte unnatürlich laut und legte jemandem eine Hand auf die Schulter, mit diesem klischeehaften Teenie-Weiber-Blick, ganz nach dem Motto: Ich bin ja so heiß und du musst jetzt sofort auf mich abfahren. Und da wunderte man sich, wenn ich noch keine Freundin hatte?!
»Das geht doch nicht«, entrüstete Minney sich sogleich und beschleunigte ihren Gang. »Ich seh‘ von hier aus seinen Irokesen. Der passt doch gar nicht zu ihrer sonstigen Beute!«
Da ich von sowas tatsächlich nun gar keine Ahnung hatte, tat ich das, was ich immer tat, wenn ich etwas nicht wusste. Ich zuckte mit den Schultern, stammelte zusammenhangslos und verhielt mich im Hintergrund. Zwar konnte ich, laut Minney, ein ekeliger, 'arschiger' Besserwisser sein, wenn ich wollte, aber bei sowas hielt ich doch lieber die Klappe.
»Wunderschönen guten Morgen, Quotenbarbie«, begrüßte Minney ihre persönliche Erzfeindin honigsüß und ich hatte das Gefühl, dass es gerade um einige Grad kühler geworden war. »Willst du uns nicht deinen neuen Speichellecker vorstellen?«
Während das Gezicke der beiden Terrorfrauen seinen täglichen Lauf nahm - und wenn ich täglich sage, dann meine ich verdammt noch mal täglich - rutschte mein Blick zu dem 'Speichellecker'. Tatsächlich war er ungefähr das, was Natalie sonst immer an Minney dumm gemacht hatte. Er hatte einen Irokesen, ein Piercing im Ohr, trug kaputte Jeans, ein T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln und Drei-Tage-Bart. Typischer Punk-Rock Typ.
Er bemerkte mein Mustern und seine eisblauen Augen wandten sich von der verbalen Auseinandersetzung zwischen Minney und Natalie ab, zu mir. Er grinste süffisant und ich drehte mich schnell weg. Starren ist unhöflich, hätte meine Mom mir gleich wieder eingetrichtert. Auch wenn mich gerade beobachtet fühlte.
Glücklicherweise unterbrach das Klingeln letztendlich den Zwist zwischen den beiden Furien und ich machte mich daran, die kratzende Harpie namens Monika ins Schulgebäude zu schleifen. Sie beruhigte sich schnell, straffte die Schultern und zog ihre Lederjacke zu Recht. »Ich fass es nicht«, fing sie an und versuchte vergeblich, ihre Frisur zu ordnen. »Diese...diese...Napffigur!« Ich lotste uns in den Fachraum für Biologie, während ich innerlich versuchte, mich nicht über Minney's seltsame Beleidigung zu wundern. Was zur Hölle ist denn eine Napffigur?!
Erst als die erste Stunde anfing, hatte sich Minney einigermaßen beruhigt. Jedenfalls beschäftigte sie sich jetzt mit ihrer zerstören Frisur und war dementsprechend still. Ich starrte gelangweilt aus dem Fenster und beobachtete, wie ein altes Ehepaar faltig grinsend spazieren ging. Wow. Das einzige, was noch lahmer war, als das da draußen, war der Unterricht hier drinnen. Herr Günther, unser stetig Lederhosen tragender Biologielehrer, sprach in einer dermaßen monotonen Stimmlage, dass die Hälfte der Klasse schon während den ersten fünf Minuten innerlich wegstarb. Deswegen suchte man sich automatisch eine andere Beschäftigung, wie Haare zählen, sich fragen, ob Schlümpfe lila werden wenn man sie würgt oder man starrte eben wie ich nachdenklich vor sich hin.
Das ging ganze vier Stunden so, da der liebe Herr Günther auch unser Chemielehrer war. Bei ihm konnte man selbst mit Schwefelsäure experimentieren und im Endeffekt schläft man über dem Gasbrenner ein. Schmerzhafte Vorstellung, muss ich sagen.
Während ich mir ein Leberwurstsandwich à la Mom rein drückte, begleitete ich Monika hinaus, die vor Sport - der einzige Unterricht, den wir nicht zusammen hatten - noch flink eine rauchen wollte.
»Wer war der Typ heute Morgen eigentlich?«, fragte ich meine beste Freundin, die sich gerade ihre Zigarette anzündete. Also, das war es, was ich sie eigentlich fragen wollte. Was raus kam, war ungefähr das: »Her harn her Hüp heut' horgn egnlich?« Ich mochte Moms Leberwurstsandwiches eben.
Gruselig war nur, dass Minney mich bestens verstand. »Wenn man Natalie glauben kann, was man ja meiner Meinung nach nicht sollte, dann ist er neu hier her gewechselt. Er geht in ihre Klasse.«
Sie seufzte und zog kräftig an ihrer Zigarette. »Eine Schande ist das. Der Junge ist echt heiß.« Da ich das lieber nicht beurteilen wollte, zuckte ich lediglich mit den Schultern und aß mein Sandwich auf. Er ging ab heute also in meine Parallelklasse. Wer wechselte denn bitte mitten im Jahr auf eine andere Schule? Aber vor allem, weshalb? Na gut, so wie der aussah, war er vielleicht aus dem Knast frei gekommen, oder sowas.
»Hey, Pisshose.« Minney wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht rum und riss mich aus meinen Vorstellungen, wie der Neue eine Bank überfiel. Hat was. »Ich geh mich umziehen. Wir sehen uns nach Sport.« Sie schmiss ihre Kippe auf den Boden, klopfte mir zum Abschied auf die Schulter, was mir fast mein Sandwich aus dem Magen gehauen hätte und verschwand wieder im Schulgebäude. Die Jungsumkleiden erreichte man nur von draußen, was im Winter eine Vergewaltigung meiner Gesundheit war. Hallo, kalt! Ich schulterte meine Schultasche und machte mich auf den Weg zu Sport. Hach, Schulsport. Schwitzende, schreiende Kerle, aggressive Sportlehrer und danach pubertäre Typen unter der Dusche. Will jemand tauschen? Ähm, bitte?
»Hey, Bauer!« Oh klar, warum beschmeißt ihr mich nicht gleich mit Scheiße?! Ausgerechnet der Vollhorst der Stufe, Michael, kam mit seinem Crack-Grinsen auf mich zu. »Gibt's die Klamotten eigentlich auch für Jungs?« Dummes Gelächter in der Umkleide. Ich verdrehte die Augen, setzte ein Lächeln auf und präsentierte ihm meinen wunderschönen Mittelfinger.
Das schien dem Intelligenzallergiker nicht sonderlich zu gefallen. Sein Grinsen verschwand, während er seine Sporttasche bei Seite schmiss und ein paar Schritte auf mich zu kam. »Machst du mich dumm an, Bauer, hää?«
»Nein, aber warte«, fing ich an und legte meine Schultasche auf einer Bank ab. »Fick dich, Förster. Oh Moment, ich glaube, jetzt habe ich dich dumm angemacht. Hast du's bemerkt, hää?«, äffte ich ihn dumm wie er war nach und wartete seine Reaktion ab.
Auf seiner Stirn begann eine Ader zu pochen, was ich äußerst interessant gefunden hätte, wenn er nicht ein paar Sekunden später wütend seine Faust zum Schlag erhoben hätte. Warum konnte man sich nie mit jemandem verbal duellieren, ohne dass der andere innerhalb von Minuten ausrastete?
»Heeeey, woouh. Macht mal ruhig, ihr beiden.« Der Neue mischte sich plötzlich ein und drängte sich zwischen mich und Michael, wobei ich bemerkte, dass er um einiges größer war als ich und als der pickelige Hormonschlumpf Michael sowieso. »Sowas löst man doch nicht mit Gewalt.«
Michael warf dem Punker einen genervten Blick zu, raffte sein T-Shirt und nickte mir mit vor geschobenem Kinn zu. »An deiner Stelle würde ich mein Maul nicht so weit aufreißen, Bauer!« Ich schüttelte die Hand von dem Neuen ab und griff nach meiner Schultasche. »Und an deiner Stelle würde ich in eine Kreissäge rennen, Förster!« Michael schnaubte, ging aber nicht weiter darauf ein und begann sich am anderen Ende der Umkleide umzuziehen.
Ich seufzte, fuhr mir durchs Haar und öffnete meine Schultasche. Irgendwie hatte ich gerade das Bedürfnis, das Rauchen anzufangen. Aber was ging schon über eine saftige Auseinandersetzung mit Michael? Oh, lasst mich überlegen: Zwei Stunden 'Die Geissens' gucken. Mindestens.
»Bist du immer so temperamentvoll?« Der Neue lehnte sich neben mir an die Wand und grinste mich an, wie heute Morgen. Irgendwie fand ich ihn seltsam. Außerdem erinnerte er mich etwas von seiner Ausstrahlung her an jemanden. Nur an wen...
Ich zuckte mit den Schultern und kramte in meiner Tasche nach meinem Sportshirt. Wehe, das hatte sich verdünnisiert!
»Ich bin Damien«, stellte sich der 'Neue' vor und strich sich kurz über den Irokesen. Wie kriegte der den morgens nur so hin? »Johnny«, erwiderte ich nüchtern. Wo ist verdammt nochmal dieses...oh, ich hatte es schon raus gelegt.
Gerade, als ich mich meines Shirts entledigt hatte, bemerkte ich, dass Damien schon wieder an der Wand lehnte und mich anstarrte. »Was?«, fragte ich ihn also ungeduldig und griff nach dem Sportshirt.
»Du bist heiß«, erwiderte er grinsend, zwinkerte mir zu und fing nun auch an, sich umzuziehen. Mir war lediglich das Kinn gen Boden geglitten.
Was ist nur los mit dieser Welt?!
»Wird man dich eigentlich auch irgendwie wieder los?«, seufzte ich, während Damien neben mir an seinem gelben Trikot herum zupfte. Dann legte er den Kopf schief und musterte mich grinsend. »Stör ich dich denn?«
Ich knurrte ihn etwas genervt an, als er noch ein Stückchen näher rückte. Strömte ich Stierpheromone aus oder was war hier los?! »Ein wenig«, zischte ich aber versucht beherrscht und beobachtete, wie eines der Teams gekonnt einen Korb warf. Ja, wir spielten Basketball. Das einzige, was ich tatsächlich schlechter konnte als Basketball spielen, war singen. Und bei keinem von beiden wollt ihr dabei sein. Glaubt mir.
»Du denkst also, du bist hetero?«, fragte er mich vollkommen unschuldig und fummelte dabei weiter an dem Trikot herum. Als ob das stinkende Ding sich dadurch in Luft auflösen würde. Bäh, ich wollte gar nicht wissen, welche fetten, kleinen Jungs das Ding schon an hatten.
Ich runzelte die Stirn und schaute ihn verwirrt an. Was hieß denn hier 'ich denke'?! Das werde ich ja wohl am besten wissen! »Äh, ja!« Konnte dieser Kerl nicht irgendjemand anderen anbaggern? Warum denn ausgerechnet mich?
»Hast du heute Nachmittag schon was vor?« Damien verschränkte die Arme hinterm Kopf und lehnte sich lässig nach hinten an die Wand.
»Ja«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Hier einen Dank für meine beste Freundin!
»Bist du mit diesem Rock-Girl zusammen?« Er schloss beide Augen und wirkte vollkommen entspannt, während vor uns schreiende Kerle in vierer Teams einem Ball hinterher hetzten. Erklärt mir bitte noch einer mal den Sinn in diesem Sport?
»Mit Minney?« Ich öffnete den Mund um zu verneinen, aber warum eigentlich nicht? Vielleicht ließ er mich endlich in Ruhe, wenn ich log. »Schon lange«, antwortete ich und grinste mir innerlich einen ab. Friss das, Irokese!
»Egal«, erwiderte er schlicht und öffnete ein Auge, schief grinsend. »Das kann sich schnell ändern.« Wieder zwinkerte er mir zu, ehe er voller Elan hoch sprang und mit seinem Team das Spielfeld betrat. Woher zum Teufel nahm der Typ seinen Ehrgeiz? Hatte ich ihm irgendwelche schwulen Signale vermittelt? 'Bitte, bagger mich an und lass mich nicht mehr in Ruhe'? Man könnte mir den Fehler ruhig sagen, dann wüsste ich, was ich nie wieder sagen oder tun durfte, um sowas zu vermeiden.
Herr Fuchs, unser dicker, ungelenker Sportlehrer, pfiff und das Spiel ging los. Ich verfolgte es nicht lange, da ich bei der Erklärung der Regeln gepennt hatte und ich nicht verstand, warum Herr Fuchs andauernd pfiff, auch wenn sie eigentlich nur hin und her rannten. Und was sollte diese seltsame Gestikulation?!
Nach einer Weile sah es ganz gut für Damiens Mannschaft aus. Sie warfen einen Korb nach dem anderen und Michael kam, als einer der kleinsten in der Stufe, mit Tobias und Jakob, die beiden prolligsten aber plumpsten der Klasse, kaum hinterher. Ihr wisst ja nicht, wie witzig es aussieht, wenn zwei Kokosnüsse und eine Kiwi über das Spielfeld kullern. Dagegen wirkte Damien wie ein Athlet. Na gut, vom Körperbau her kam das auch hin. Dieses Six Pack war wirklich beeindruckend und...Wouh. Johnny, fang lieber wieder damit an, Dielen zu zählen, bevor deine Gedankengänge richtig schwul werden.
Nach der Hälfte des Spieles (ich war bei 34 Dielen angekommen) ging ein allgemeines Raunen durch die Teams auf den Bänken. Als ich mich umsah verzogen einige das Gesicht, als hätten sie etwas Schmerzhaftes gesehen und einer murmelte neben mir irgendwas von Bodychecks.
Also drehte ich mein kluges Köpfchen in Richtung Spielfeld und suchte nach dem Grund des Aufruhrs. Herr Fuchs und die Spieler standen im Kreis um jemanden herum und Michael diskutierte hektisch mit unserem Sportlehrer, der ihn ziemlich strafend ansah. Aber wo war eigentlich Damien?
»Hey, Johnny!« Herr Fuchs kam auf mich zu gestapft und ich bereute, dass ich mich direkt ans Ende der Bank gesetzt hatte, wo sein Blick natürlich als erstes auf mich fiel. »Hilf Michael den Jungen ins Krankenzimmer zu bringen. Hat ihn ordentlich erwischt, was?« Herr Fuchs wischte sich nervös über das fettige Gesicht und kuschte mich zu der Traube, die um Damien herum standen. Ich zog eine Augenbraue hoch und schaute auf den armen Kerl hinab, den es wohl sauber ausgeknockt hatte. Aha. Da war die Gerechtigkeit also.
Michael und ich rafften den nassen Sack auf und hängten jeweils einen Arm von ihm um unsere Schultern. Für seine Größe wog der Kerl auch ordentlich viel, weshalb es pure Sklavenarbeit war, ihn nach draußen zu tragen. Herr Fuchs trottete wie ein blöder Hund hinter uns her und rang mit seinen Händen. »Wie hast'n das überhaupt hingekriegt, Förster?« Hey, immerhin konnte ich mir so notieren, wie man den aufdringlichen Kerl ziemlich schnell los wird. 'Hey, hast du heute Nachmittag Zei-' Zack! Ausgeknockt. Wär schon cool.
Statt dem Einzeller, der das Leid mit mir teilen musste, antwortete unser Lehrer: »Er hat den Jungen mit dem Ellbogen wohl ziemlich hart getroffen. Da ist er ohnmächtig geworden.« Und wo hatte er ihn mit dem Ellbogen getroffen? WO?!
»War auf jeden Fall ein Foul, Förster.«
»Halt's Maul und schlepp mal ordentlich!«
»Der wird wieder«, war die schlichte Erklärung des Schularztes, der nebenbei Tetris auf seinem Computer spielte. Er biss von einem Apfel ab und deutete uns, dass wir ihn auf die Liege im Nebenzimmer schmeißen sollten. Gut, schmeißen vielleicht nicht. Was weiß ich, was bei dem im Kopf noch alles kaputt gehen kann.
»Na wenn das geklärt ist«, brabbelte Herr Fuchs und wischte sich die schweißnassen, molligen Wursthände in der Sporthose ab. Wie konnte der schwitzen, wo er doch kein bisschen Arbeit geleistet hatte? »Michael, du kommst wieder mit. Und Johnny, du bleibst bei dem Jungen und wartest gefälligst, bis er aufwacht. Klar? Klar!« Dann schwabbelte Herr Fuchs davon, gefolgt von Michael, der mir noch einen hämischen Blick zu warf. Ja, danke. Hey, Karma! Warum scheißt du mir eigentlich nicht gleich in den Hals?
Ich tat, wie man mir aufgetragen hatte und wartete tatsächlich fast 15 Minuten lang neben der Liege, bis Dornhöschen endlich erwachte. Ich nannte ihn Dornhöschen weil sein Hosenstall sperrangelweit offen stand. Und weil er mich an Dornröschen erinnerte, aber ich küsste ihn ganz bestimmt nicht wach!
»Heeeeey«, grinste er schlaftrunken und rieb sich mit einer Hand die Stirn. Ich vermutete, dass er keine Ahnung hatte, wo er war und was passiert war. »Ich wusste, irgendwann wache ich neben dir auf.«
Ich stöhnte genervt und gab der Liege einen Tritt, worauf Damien fast runter purzelte. »Ich hoffe, es tat weh. Meinetwegen kannst du ruhig öfter ohnmächtig werden.«
Er wackelte mit den Augenbrauen und stützte sich mit den Händen auf der Liege ab, um sich langsam aufzurichten. »Du bist doch nur hier, weil du dir solche Sorgen um mich machst und ein schlechtes Gewissen hattest, weil du mir einen Korb gegeben hast.«
Ich schmunzelte und lehnte mich gegen den Medizinschrank, der das einzige war, neben der Liege, das in diesen kleinen Nebenraum passte. »Träum weiter. Herr Fuchs hat mir Wachdienst aufgebrummt. Dabei hat Michael dich ausgeknockt.«
Nun verfinsterte sich Damiens Gesichtsausdruck, als erinnerte er sich wieder daran, was passiert war. »Der Arsch hat das mit Absicht gemacht. Ich glaub', der war noch sauer, weil ich eure Rauferei unterbrochen habe.«
Da mir sowohl Damien als auch Michael relativ am Arsch vorbei gingen, zuckte ich desinteressiert mit den Schultern. »Na ja, ich geh jedenfalls wieder zurück. Kannst dich ja abholen lassen, was weiß ich. Wir sehen uns.« Ich drehte ihm den Rücken zu, bemerkte aber noch zu deutlich, dass er mich anlächelte. Dabei kam er rüber, als wäre er high oder sowas.
»Da bin ich mir sehr sicher!«
»Schwuchtel!«
»Kotzbrocken!«
Hach, die Liebe.
Ich sah Damien glücklicherweise nicht so schnell wieder, weshalb sich meine Laune auch mit der Zeit hob. Als ich dann in Physik auf mein Projekt auch noch eine 1+ bekam, war ich, laut Minney: »Ein Honigkuchenpferd, dem ein Regenbogen aus dem Arsch scheint«. Ihr müsst bedenken, dass das an den 'Johnny-Bauer-Verhältnissen' gemessen ist und ich selten bis gar nicht gute Laune hatte.
Wie Minney versprochen, oder gedroht hatte, begleitete sie mich nach der Schule nach Hause. Dabei holten wir meine kleine Schwester von der Grundschule ab und die – ob ihr’s glaubt oder nicht – hängt total an Monika. Während Harriet meiner besten Freundin also freudestrahlend erklärte, was ihre blöde Schmiererei auf dem Blatt Papier darstellen sollte, schlürfte ich neben den beiden her. Ich fragte mich immer noch, warum Damien ausgerechnet mich ausgesucht hatte. Unauffällig schielte ich an mir herunter, nur um ratlos mit den Schultern zu zucken. Er hatte mich als ‚heiß‘ bezeichnet. Ich schüttelte schmunzelnd mit dem Kopf. Der Kerl war einfach vollkommen bekloppt. Fertig.
»Johnny«, säuselte Harriet neben mir plötzlich los und ich bekam ein ungutes Gefühl. Ich kannte diese Tonart. Ich brummte unbestimmt und wartete darauf, dass meine Schwester das Betteln anfing. Sie schleimte nämlich nur so herum, wenn sie etwas wollte.
»Kann Monika heute hier übernachten?« Und schon ging es los. Das kleine Biest blinzelte mit ihren langen, dichten Wimpern und machte große Äugelein. Damit konnte sie sich später bei ihren Lovern Geld für Schuhe ergaunern, aber ich fiel auf die Masche bestimmt nicht mehr rein!
»Musst du Mom fragen«, erwiderte ich nüchtern schob Harriets Schulranzen wieder hoch. Sie bestand darauf, dass ich ihn trug, wenn ich sie schon abholte. Ich hoffte einfach, dass man mich niemals mit diesem pinken Einhornranzen rumlaufen sehen würde.
»Die arbeitet doch so lange«, quengelte sie weiter. Warum nervte sie mich eigentlich damit? Als ob ich das irgendwie beeinflussen könnte.
»Dann frag Dad.«
»Der mag keine Besucher.«
Jetzt war ich kurz darauf sie zu erwürgen. Minney schien das Zucken meiner Hände zu bemerken und legte Harriet eine Hand auf die Schulter. »Wir können ihn ja mal lieb fragen, wenn wir da sind, okay?« Daraufhin wurde die Kleine endlich ruhig und zückte ihren Gameboy, auf dem sie irgendein unsinniges Pony-Spiel spielte.
»Erzähl«, forderte Minney mich plötzlich auf und drängte sich zwischen Harriet und mich. »Wie findest du den Neuen?« Es wunderte mich, dass sie so lange auf diese Diskussion gewartet hatte. Normalerweise stürzte sie sich auf Neuigkeiten wie eine ausgehungerte Hyäne. Was mich etwas an Natalie erinnerte, aber da durfte ich ihr niemals erzählen, außer ich wollte in einer Wurstpresse landen.
Ich zuckte teilnahmslos mit den Schultern. Dass Damien reges Interesse an mir gefunden hatte, würde ich ihr ganz sicher nicht unter die Nase reiben. Genau genommen wollte ich das tot schweigen und mit ins Grab nehmen. »Wie soll ich ihn denn finden?« Nervig, vorlaut, aufdringlich?
Minney grinste mich von der Seite her an. »Ihr hattet immerhin Sport zusammen.« Sie wackelte vieldeutig mit den Augenbrauen. Oh bitte nicht. »Wie sieht er so ohne Oberteil aus?«
Heiß. Moment! Nein. Nicht heiß. Wie ein ganz normaler, durchtrainierter Kerl. Warum fragte sie sowas eigentlich?! Als ob ich auf sowas achten würde! Pff.
»Weiß nicht«, erwiderte ich und hoffte, dass man mir meinen panischen, inneren Monolog nicht ansah.
Monika runzelte die Stirn. »Irgendwas stimmt hier nicht. Ist was zwischen euch passiert?«
Ich stockte, während ich versuchte, den Schlüssel ins Loch zu stecken. Erst beim dritten Versuch traf ich und händigte der aufgedrehten Harriet ihren Schulranzen aus. Endlich war ich das Einhornteil samt Besitzerin für die nächsten Stunden los.
»Was…ähä…soll denn zwischen uns passiert sein?« Blöde Fragerei. Blöde Monika. Blöder Damien!
Minney zog ihre Stiefel aus und warf sie in ihre gewohnte Ecke des Flures. Für neu Ankömmlinge klares Zeichen dafür, dass die verrückte, beste Freundin des Sohnes daheim war.
Jetzt grinste sie mich an. Mit diesem unheimlichen Grinsen, dass nur Weiber drauf hatten, wenn sie etwas wussten, von dem du ja keine Ahnung hast. Ehrlich. Frauen sind gruselig.
»Bis eben dachte ich, dass er dich vielleicht dumm angemacht hat und gedroht hat, dich zu verprügeln«, fing sie monoton an, lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Schrank im Flur und beobachtete meine verzweifelten Versuche, aus meinen Turnschuhen zu kommen. Verdammt. Seit wann saßen die denn so fest?!
»Aber jetzt…«, fuhr sie fort, mit diesem unheilvollen Funkeln in den Augen. »Da ist was anderes.«
Ich stöhnte genervt und marschierte ins Wohnzimmer, wo ich eigentlich meinen Vater erwartet hatte. Doch es war leer, die Stereoanlage schmetterte irgendwelche Countrymusik, die nur von meinem Erzeuger stammen konnte. Grässlich. Mein Blick wanderte zum Fenster und ich erkannte, dass Dad bei den Obstbäumen war und sie pflegte, was bedeutete, dass er mit ihnen redete und sie beschnitt. Toll, seinem sechsjährigen Sohn damals nicht bei den Hausaufgaben helfen können, aber mit Pflanzen reden. Jetzt wunderte mich gar nichts mehr.
»Ich glaube…«, dröhnte Minney ohne Erbarmen weiter und sprang mir von hinten auf den Rücken. Schwer war sie nicht, trotzdem knickten meine untrainierten Beine kurz ein. »…dass da was romantisches zwischen euch ist.«
»Du spinnst«, kommentierte ich das knapp und sie ächzend und stöhnend die Treppen hoch. Das machten wir seit dem Kindergarten so, nur leider wog Monika nun deutlich mehr und war auch mittlerweile größer als einen Meter.
»Du spinnst«, erwiderte sie wie ein kleines Kind, als wir oben waren und ich sie stöhnend runter ließ. Mein armer Rücken. Ich war zu alt für diesen Mist! Sie zupfte ihr Top zu Recht und legte mir eine Hand in den Nacken. »Du kannst mir alles erzählen. Und wenn du den Neuen-«
»Ich hab ihm erzählt, dass wir ein Paar sind«, unterbrach ich sie hastig. Keiner sollte denken, ich wäre schwul. Ob Monika oder sonst wer. Ich war’s nicht. Basta!
»Echt?« Sie runzelte die Stirn und folgte mir in mein viel zu kleines Zimmer. Es passten gerade mal mein Bett, ein Schreibtisch und eine Topfpflanze hinein. »Wieso denn das?«
Ich machte ein liebes Gesicht – wirklich schwierig für mich, muss ich gestehen – und nahm beide Hände meiner besten Freundin. Jetzt alles oder nichts! »Wir sind doch so gute Freunde, oder? Es ist doch egal, ob Paar oder beste Freunde, ich meine…«
Sie sah mich streng an, befreite ihre Hände und stemmte sie in die Hüfte. Ich schluckte. Kein gutes Zeichen. »Johnny Bauer! Du hast ihm die Grütze doch nicht etwa aufgetischt, weil er dich irgendwie angemacht hat, oder?«
»Ähm…« Alles oder nichts? Dann nehme ich nichts. Zum Mitnehmen bitte. Danke.
»Du kleines Wurstgesicht!« Super, sie fing wieder mit den Beleidigungen an. »Der steht also auf dich! Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«
»Ich…« Ein Seufzer entwich mir. »Es war mir eben peinlich, ja?« Minney stöhnte genervt auf und nahm mich in Schwitzkasten. Dieses Mädchen hatte mehr Kraft, als man eventuell vermutet. Erinnert mich daran, dass ich ihr keinen Dosenöffner zu späteren Hochzeiten schenke. Das kann sie auch sicher so.
»Peinlich?!«, ächzte sie und schlug mir grob gegen den Oberarm. »Es ist doch nicht peinlich, wenn so ein heißer Kerl auf dich steht.« Es schwang Bedauern in ihrer Stimme mit, was die Situation nicht besser machte. Es wäre einfacher zu begreifen gewesen, wenn Damien sich an Minney heran gemacht hätte. Sie hätten sicher ein tolles Paar abgegeben.
Sie schmiss sich auf mein Bett und ich stellte mein Radio an. Es lief irgendein neuer Popsong, doch das interessierte mich nicht weiter. Ich legte mich neben Monika, die dann anfing, mir durch die Haare zu fahren. »Wie hat er dich denn angemacht? Romantisch oder total machomäßig?« Ich hörte deutlich, wie sich darüber amüsierte. Ja ja, mein Leben war ein einziger Witz. Ohne jegliche Pointe. Mittlerweile erkannte ich auch das Lied. Irgendein neuer Scheiß von diesem berühmten DJ, der aussah wie Otto Waalkes.
»Bescheuert«, schnaubte ich. »Er hat einfach gesagt, ich sei heiß und mich dann nicht mehr in Ruhe gelassen.« Minney lachte. Und wie sie lachte. Einige Minuten lang, bis sie sich wieder einkriegte und sich Lachtränen aus den Augenwinkeln strich.
»Das ist doch süß!« Sie grinste mich von oben her an und bettete meinen Kopf in ihrem Schoß. Ich fühlte mich gerade wie eine Katze. Fehlte nur noch, dass sie mich mit Stoffmäusen spielen ließ und ich schnurrte.
»Was du so alles süß findest«, brummte ich und schloss die Augen. Gut. Wenn ich eine Katze wäre, rein hypothetisch, dann hätte ich sogar geschnurrt. Aber Katzen sind Mistviecher.
»Aber mal jetzt im Ernst.« Sie hörte auf mir den Kopf zu streicheln und klatschte mir deftig gegen die Wangen, damit ich nicht einschlief. Sonderlich begeistert darüber war ich nicht, aber ihre ozeanblauen Augen wirkten tatsächlich ernst, als ich sie direkt ansah.
»Wie findest du ihn?«, fragte sie. Obwohl es nicht direkt nach ‚Wie findest du ihn?‘ klang, sondern eher nach ‚Kannst du dir vorstellen, was mit ihm anzufangen?‘.
Dementsprechend reagierte ich. Sinnloses Gebrabbel kam aus meinem Mund und Minney zog die Stirn kraus. »Du musst doch wissen, ob du 100%tig hetero bist oder vielleicht ein wenig, ein Fünkchen…« Sie deutete mit zwei Fingern die ungefähre Breite einer Nadel. »…schwul bist.«
Ich zog eine Grimasse, drehte mich auf die Seite und schloss wieder die Augen. »Ich habe ja sowas von keinen Schimmer«, murmelte ich hilflos und spürte, wie sie wieder begann, mir durch die Haare zu streichen. »Aber wehe, du versuchst, mich mit ihm zu verkuppeln«, nuschelte ich, kurz vorm Einschlafen…
Ich wackelte mit, als sie lachte. »Wo denkst du hin?«
Ich wurde einige Zeit später durch irgendwelchen Lärm geweckt. Mich von meinem seltsamen Traum erholend – ich hatte geträumt, dass ich eines von diesen halbnackten Männermodels bin, die vor diesen Geschäften stehen und Besucher anlocken, aber wieso? – rappelte ich mich auf und rieb mir über die Augen. Eigentlich hasste ich Mittagsschläfchen. Manche erholten sich davon ja prima, aber bei mir war’s genau das Gegenteil: Ich fühlte mich danach meistens wie ausgekotzt. Seltsam, aber wahr. Das nennt sich Karma, falls es einer noch nicht kennt.
Dementsprechend sah ich wahrscheinlich gerade auch aus, was das Gelächter von Minney erklärte, als ich die Treppen runter ging, dem Lärm nach. Anscheinend hatte sie mit Harriet irgendwas Blödes gespielt, weshalb sie wie die Irren auf der Couch herum gehüpft waren. Meinetwegen könnte Minney so oft sie will Babysitter spielen. Aber mich deswegen wecken?
»Was soll der Scheiß hier?«, fuhr ich die beiden also an. Monika ließ sich von mir nicht einschüchtern, sprang aber von der Couch und lief auf mich zu. Harriet zog eine Schnute.
»Haben wir dich geweckt?«, fragte die Blondine mich honigsüß und legte mir beide Hände auf die Schultern. Sie war so unnatürlich groß für ein Mädchen, dass sie mir mit High Heels auf den Kopf spucken konnte. Zum Glück trug sie solche Teile nicht oft.
Sie wirkte nicht gerade bedauernd, weshalb es mich nicht wunderte, dass sie mir grob in den Oberarm kniff. Au. Schmerz. »Das tut mir wirklich leid!« Sie grinste mich an, ließ mich los und ging rüber zu Harriet. Zeit genug um mich von meinem Schmerz zu erholen. Was hatte man mir nur mit diesem Biest aufgebürdet?
»Wir haben deinen Dad übrigens gefragt.« Sie deutete hinaus aus dem Fenster, wo Matthias, mein Vater, gerade am Beet herum werkelte. Er bemerkte meinen Blick und winkte mir fröhlich. Aha.
»Ich darf heute hier schlafen«, lächelte Minney mich an und ließ sich aufs Sofa fallen. Ich zuckte mit den Schultern. »Wie schön für dich«, antwortete ich weniger begeistert, doch das schien sie nicht zu stören. Hätte mich auch gewundert.
Ich lehnte mich an den Türrahmen und wollte was sagen, wurde aber durch das Geklapper auf der Straße abgelenkt. Ein Klappergestell von Auto kam gerade angetuckert und sah so aus, als würde es gleich seine letzten Atemzüge machen. Ich kannte das Schrottteil schon und beobachtete, wie es vor unserem Grundstück hielt und meine Mom ungeschickt ausstieg.
»Bis morgen, Jörg«, verabschiedete sie sich von ihrem Arbeitskollegen, nahm ihren Koffer und lief mit typisch elterlichen, strengen Gesichtsausdruck aufs Haus zu. Kurz darauf hörte ich, wie hinter mir die Haustür geöffnet wurde und etwas krachte. Ich drehte mich um und musste mir jegliches Gelächter stark verkneifen, als Mom sich eifrig aufrappelte und so tat, als wäre sie niemals gestolpert. Natürlich.
Sie warf mir einen mörderischen Blick zu, ganz nach dem Motto ‚Ein Laut, und du kannst dich von deinem Teleskop verabschieden‘ – und ja, ich besaß tatsächlich ein Teleskop – und schmiss die Haustür hinter sich zu.
»Mom!« Harriet kam aus dem Wohnzimmer gestürmt, rempelte sich erbarmungslos an mir vorbei und umarmte unsere Mutter so stürmisch, was einen denken ließ, dass Mom verschollen oder in Afghanistan gewesen war. Na gut, was weiß ich denn, was manche verrückte Wissenschaftler so anstellen.
»Wie ich das sehe…« Mom kam ins Wohnzimmer und schob mich dabei gleich mit hinein. »…war Matthias wieder den ganzen Tag im Garten.« Sie seufzte und besah sich das relativ unordentliche Zimmer. Hey, das ist sicher nicht mein Verdienst!
»Und Monika ist ja auch da, hallo!« Sie schüttelte nett lächelnd Minney’s höflich ausgestreckte Hand. Nach all den Jahren waren die beiden nie über die Förmlichkeit hinaus gegangen. Obwohl meine Mutter sie fast schon so lange kannte wie ich, war es für beide sichtlich unangenehm, wenn sie aufeinander trafen. Wahrscheinlich lag das daran, dass sie so unterschiedlich waren. Frauen!
»Wir gehen dann mal hoch in mein Zimmer, okay?« Ich verbrachte nicht gerne oder viel Zeit mit meiner Mutter. Es lag nicht daran, dass ich sie nicht mochte! Sie war sicherlich eine tolle Mutter, aber eben nicht gerade eine Person, mit der du dich über Probleme unterhältst. Es wurde schon kompliziert für sie, wenn Harriet mit ihr malen wollte. Das endete nie gut, oder mit plötzlich verschwunden oder kaputten Bundstiften. Seltsam, oder?
»Warte kurz.« Mom setzte sich auf die Couch und warf ihren weißen Kittel neben sich. Sie trug eine gelbe Bluse, eine blaue Krawatte und eine verwaschene Jeans. Typische Arbeitskluft bei Wissenschaftlern. Außerhalb ihres Jobs konnten sie ja gut aussehen, wie sie wollten, aber sobald sie bei der Arbeit waren: Nerds. Überall!
»Du brauchst doch Geld, oder?« Sie öffnete ihren Haarknoten und ihre langen, schwarzen Haare fielen ihr auf die Schultern. Ohne Scheiß, meine Mutter war hübsch. Kein Plan, wie sie bei meinem Vater landen konnte. Als Antwort zuckte ich mit den Schultern. Ich hatte nie behauptet, ich sei gesprächig. Keine Vorwürfe, bitte!
»Jedenfalls war heute einer unser Sponsoren da. Eine Frau Pasang. Sie wohnt gleich die Straße runter, in der großen Villa. Ist vor kurzem erst eingezogen. Wirklich nette Frau und sie meinte, sie bräuchte Hilfe im Garten.«
»Und die Drecksarbeit soll ich erledigen?«, hakte ich weniger begeistert nach. Gartenarbeit konnte ich nicht leiden. Statt den grünen Daumen meines Vaters zu erben, erbte ich das bunte Genie meiner Mutter. Das lässt sich nicht nur auf einen Daumen beschränken!
»Du bist es doch von hier gewöhnt und so groß wie unser Grundstück ist es nicht. Nur ein paar Hecken und den Rasen. Mehr Arbeit ist das nicht. Und sie würde dich gut dafür bezahlen!« Mom hatte genau wie Monika schon heute diesen wissenden Gesichtsausdruck drauf. Als wüsste sie genau, wie ich reagieren würde. Ich seufzte. Und sie wusste es.
»Meinetwegen gern. Ich denke mal nicht, dass das so schrecklich wird.«
Am Arsch, Johnny.
Mittwoch nach der Schule radelte ich mit meinem Fahrrad hinüber, um meinen neuen Job zu erledigen. Man hatte die Villa ganz gut restauriert. Frau Pasang musste wirklich ordentlich Kohle haben.
Ich stieg vom Rad ab, während schon eine Frau aus dem Haus gestürmt kam und hochtrabend lächelnd auf mich zu stolzierte. Schlechtes Gefühl in meiner Magengegend. Beunruhigend.
»Du musst Johnny sein!« Sie reichte mir die Hand, die ich ohne weiter nachzudenken schüttelte. Ich schätzte sie auf Ende dreißig. Ihre Haare waren kurz geschnitten und ihr Gesicht meiner Meinung nach total überschminkt, wie typisch bei Frauen, die nicht alt werden können.
»Deine Mutter hat schon angerufen. Sie meinte, du kennst dich mit Gartenarbeit etwas aus.«
Ich erwiderte ihr Lächeln höflich und besah mir unauffällig nebenbei das Grundstück. Die Hecke führte von der Haustür fast einmal um das ganze Haus rum, bis zu einem Teich. Ja, von wegen, so groß wie unseres ist das Grundstück nicht. Die Villa hier frisst Häuser wie unsere doch zum Frühstück.
»Na ja, schon etwas«, antwortete ich schlicht. Sie nickte, sagte mir, wo ich mein Fahrrad abstellen konnte und führte mich zu einem kleinen Gartenhäuschen, in dem sich mein zukünftiges Arbeitswerkzeug befand.
»Na, dann wünsche ich viel Erfolg. Du kannst jeder Zeit unsere Toilette benutzen und um fünf sollst du spätestens Schluss machen, ja?« Frau Pasang klopfte mir auf die Schulter, machte auf dem Absatz kehrt und stöckelte davon, ins Haus. Seltsame Frau, aber solange sie mich gut bezahlte…wo ist die Gartenschere?
Als erstes wollte ich das schlimmste erledigen: Diese verdammte Hecke. Sie wucherte an einigen Stellen schon deutlich über und ich fragte mich fluchend, welcher Vollidiot sich Hecken aufs Grundstück holt. Weiß der denn nicht, wie viel Arbeit das macht?!
Ich seufzte und legte mit der Arbeit los. Das einzige, was mich tröstete, war die langsam schleichende Kälte des Herbstes. Im Sommer hätte ich mir den Scheiß ganz sicher nicht angetan.
Nach einer Weile, ich hatte Hecken bereits für die nächsten Jahrhunderte satt, fuhr ein Auto vor. Das wäre nichts Interessantes gewesen, wenn diese Kleinstadt hier sonderlich belebt wäre, außerdem war die Straße hier meistens wie ausgestorben.
Ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie ein Junge aus dem Wagen stieg, Zigarette im Mund, breites Grinsen im Gesicht, Irokese…
Ich hasse mein Leben.
Damien verabschiedete sich von seinem Kumpel, schmiss die Autotür hinter sich zu und rauchte in der Einfahrt seine Kippe zu Ende. Ich derweil überlegte, ob ich mich in die nächste Hecke schmeißen sollte, wenn er vorbei lief. Ob ich es unauffällig schaffen würde, in den Teich zu springen und unterzutauchen?
Leider hatte Damien mich bereits gesichtet, als ich so über Fluchtpläne nachdachte. Sein Grinsen wurde noch ein Stück fetter und er kam zu mir rüber geschwebt. Wirklich. Geschwebt. Der Typ hatte sie nicht mehr alle und alles in mir schrie gerade: LAUF! Lauf, verdammt nochmal!
»Bist du `ne Halluzination?« Er blieb unmittelbar vor mir stehen und besieht sich das Werkzeug in meiner Hand. Anscheinend zieht er seine Schlüsse.
»Ich wünschte gerade, ich wäre eine«, brummte ich und fuhr mir durchs kurze, braune Haar. Das tat ich immer, wenn ich mich unwohl fühlte.
»Also hat meine Mom einen Trottel aufgetrieben, der im Garten ackert«, stellte Damien nüchtern fest und sah auf meine nun vollkommen zerwühlten Haare. Dann schob er seine Hände in die Hosentaschen und lehnte sich an die Hauswand.
»Ich würde dann gern weiter meiner Arbeit nach gehen«, ließ ich ihn wissen und unterdrückte den genervten Ton darin gar nicht erst. Warum war das eigentlich wieder mir passiert? Wie hoch standen denn Chancen, dass die Sponsorin meiner Mutter ausgerechnet die Mutter eines Typen ist, der mich eindeutig in den Tod treiben will? In den Tod treiben, weil ich kurz davor war, mir die Heckenschere durch die Kehle zu schieben. Flutsch.
»Oh, mach du nur«, grinste er und machte eine ausholende Geste, als wollte er mich zur Arbeitt animieren. »Ich guck dir nur etwas dabei zu. Das stör dich doch nicht, oder?« Ich ächzte, biss mir auf die Unterlippe, um mir einen weiteren Kommentar zu verkneifen und wandte mich ab, mit dem festen Vorsatz, ihn ab diesem Moment zu ignorieren.
Was sich als äußerst schwierig erwies.
Damien machte sich einen großen Spaß daraus, mir professionell auf den Geist zu gehen, während ich diese bescheuerten Hecken seiner Mami beschnitt. Am liebsten würde ich mit der Schere etwas ganz anderes abschneiden…
»Du hast da was vergessen!« Damien saß auf einer Holzbank, ein paar Meter hinter mir, mit einem Bier in der Hand. Ich war kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich antwortete aber nicht weiter und versuchte einfach den Mist hier so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
Tatsächlich gelang mir das auch relativ gut. Nur hatte ich noch Zeit übrig und es behagte mir nicht, eine ganze Stunde früher einfach abzuhauen. Verdammte Manieren. Blöde Frau Pasang. Wie konnte sie mir dieses Kind nur antun?
Ich strich mir mit einer Hand über die Stirn und warf die Gartenschere ins Gras. Erst mal Pause, bevor ich hier noch kollabierte. Gut. Ich übertrieb wohl etwas.
Damien schien das als seine Chance zu sehen und stolzierte zu mir rüber. Ich kam mir vor wie in irgendeinem lächerlichen Action/Liebesfilm, nur müsste ich jetzt vor Erwartung zittern und mich ein Loch in Arsch freuen, dass der Protagonist anscheinend auf mich abfuhr. Fehlanzeige. Ich war kurz davor, mich wieder auf die Heckenschere zu stürzen, nur damit ich eine Waffe zur Verteidigung hatte. Man kann ja nie wissen.
Er blieb knapp vor mir stehen, gefühlte Millimeter. Ich konnte sogar sein blödes Aftershave riechen. Roch gut, äh, blöd. »Bist du für heute fertig?«
Nein. »Ja.« Eigentlich ja schon. Ach, ich sollte lernen, nachzudenken, bevor ich den Mund öffnete.
Damien grinste triumphierend, als hätte ich gerade eingewilligt, ihn zu heiraten – Gott bewahre! – und kam sogar noch näher. Ich schluckte und wettete, dass er es gehört hatte. »Lust noch etwas mit mir abzuhängen?«
Immer. So lange er hängt, meinetwegen gern. »Nicht wirklich«, antwortete ich nüchtern und versuchte, mich an ihm vorbei zu schieben, leider war mir die Hecke nur unwesentlich im Weg. Ich hätte sie dem Erdboden gleich machen sollen!
»Sicher?« Er verzog den Mund und ich blinzelte verwirrt, weil es wirkte, als würde er schmollen. Dann hob er die Hand und strich eine verirrte, braune Strähne aus meinem Gesicht. In Teeniefilmen sicherlich romantisch, aber ich hatte das plötzliche Bedürfnis, ihn dafür zu beißen. Fest.
»Sehr sicher«, zischte ich und schob ihn nun ungeduldig bei Seite. Ich hatte wirklich keine Lust auf diese Spielchen.
»Oh!«, erklang plötzlich eine hohe, weibliche Stimme. Damien verzog vor mir gequält das Gesicht, als hätte man mit Fingernägeln über eine Tafel gekratzt und trat einen Schritt von mir weg. Ich drehte den Kopf und sah, wie Frau Pasang lächelnd und winkend auf uns zu tänzelte. »Das sieht ja super aus! Wenn du immer so fleißig arbeitest, dann bist du das nächste Mal schon fertig«, trällerte sie begeistert. Ich lächelte sie an, aber mein eigentlicher Gedanke war ungefähr das: Ich würde jetzt gerne gehen und Sie und ihren Sohn nie wieder sehen, ginge das?
»Und meinen Sohn scheinst du ja auch schon kennen gelernt zu haben«, stellte sie fest und ich bemerkte, wie ihre Stimme dabei eine Spur ernster wurde. Ich runzelte die Stirn.
»Stell dir vor Mom, wir sind sogar auf der gleichen Schule und in der gleichen Klassenstufe.« Damiens Gelassenheit und Coolness war gänzlich verschwunden und ich war sogar etwas geschockt über die wenig versteckte Abneigung in seinem Ton. Aha. Anscheinend war ich da in ein Familiendrama geschlittert.
Doch Frau Pasang machte das sichtlich nichts aus, sie lächelte mich lediglich honigsüß an, als wäre es völlig normal, dass ihr Sohn sie anscheinend kein Stück leiden konnte. »Wenn ihr beiden Freunde seid, wollt ihr da noch was zusammen unternehmen?«
»Ja«, kam es begeistert von Damien, der wieder sein Grinsen auflegte und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Nein!«, rief ich entrüstet und vollkommen synchron zu Damien, dass Frau Pasang uns kritisch musterte.
»Ähm, gut, macht das unter euch aus.« Sie machte sich wieder auf den Weg ins Haus, sichtlich irritiert. »Du leistest gute Arbeit, Johnny. Komm gut nach Hause!«
»Gehst du jetzt nach Hause?« Damien folgte mir, während ich den abgeschnittenen Müll zur Tonne brachte und die Heckenschere wieder in das Gartenhäuschen brachte. Schade. Gerade hatte ich mich an sie gewöhnt.
Ich seufzte und drehte mich zu der Nervensäge um. Wenn ich es nicht wüsste, klang er sowohl hoffnungsvoll als auch bedauernd. »Nein, eigentlich wollte ich noch Titanic mit dir sehen und mich verträumt an dich kuscheln.«
Damien verzog bei meinem Sarkasmus das Gesicht, doch das Grinsen blieb. »Ich wäre mehr für ‚The Dark Night‘ oder ‚Saw‘, aber beim zweiten Teil soll es an mir nicht scheitern.«
Ich holte mein Fahrrad und schob es bis zur Straße rüber. »Aber an mir«, erwiderte ich bissig und stieg auf. »Tschüss.«
Plötzlich legte er eine Hand auf meinen Lenker und hinderte so, dass ich losradeln konnte. Verwirrt sah ich ihn an. Er hatte die Stirn kraus gezogen, als dächte er über etwas angestrengt nach. »Liegt es an diesem Rock-Girl?«
Ich schaute ziemlich verblüfft drein. »Was soll an Minney liegen?«
Er brummte unbestimmt und fuhr sich leicht über seinen Irokesen. »Schon gut. Bis dann.«
Immer noch irritiert konnte ich nur nicken und die Verabschiedung erwidern, ehe ich mich auf den Weg nach Hause machte. Seltsamer Tag. Wirklich mysteriös.
Ich wusste bereits, dass dieser Samstag scheiße werden würde, als ich morgens aufstand und direkt in eine Überraschung von Mr. Moody trat. Dieser vollkommen bekloppte Kater hatte mir allen Ernstes vor mein Bett gepisst.
Ich seufzte, beschloss innerlich, falls ich noch diesen Morgen dem Kater begegnen sollte, ihn einfach platt zu walzen und hüpfte auf einem Bein ins Bad. Ihr denkt, das wär schon kein gutes Zeichen? Wartet’s ab.
Das Frühstück fiel auch nicht sonderlich gut aus. Irgendein Trottel hatte den Toaster zu hoch eingestellt und dementsprechend sah auch mein Toast aus: Fast schwarz. Mmhh. Lecker.
Der Tag wurde nicht besser. Meine Mom bestand darauf, dass ich Harriet zu einer Schulfreundin bringen sollte, die am anderen Ende der Stadt wohnte und den ganzen verdammten Weg über redete Harriet von ihren Barbiepuppen und von Pferden. Irgendwann sollte ich ihr das heimzahlen und zufällig, wenn ihr erster Freund bei ihr vorbei kam, Barbiepuppen und Plüschtiere auf ihrem Bett platzieren.
Kaum zu Hause, fragte mein Vater fröhlich, ob ich ihm beim Rasenmähen helfen könnte. Ich zeigte ihm meinen Mittelfinger und er versprach mir, wenn ich ihm nicht helfen würde, mich zu Harrierts Tanzaufführung nächsten Donnerstag zu schleppen, einfach, weil er’s konnte. Ich rannte wie von der Tarantel gestochen zum Schuppen hinterm Haus, um den Rasenmäher zu holen. Gewieft war der alte Bursche ja, das musste ich ihm lassen.
Halb vier hatte ich endlich Zeit für mich, falls ich das so nennen konnte. Ich fläzte mich auf die Couch vor den Fernseher und sah mir irgendeine Dokumentation an, als auch schon das Telefon klingelte. Als wären wir hier ein Großbetrieb!
Ich beugte mich unbeholfen über die Sofalehne und hob ab: »Bauer?«
»Hey, Johnny. Das mit heute Abend steht noch, oder?«
Ich zog eine Grimasse und kratzte mich ratlos am Hinterkopf. »Äh, heute Abend…?«
Am anderen Ende der Leitung erklang ein genervtes Stöhnen. Ich könnte wetten, dass Minney sich gerade die Hand gegen die Stirn klatschte. »Seven, heute Abend, Auftritt meines Bruders? Klingelt‘s in deiner Birne?«
Tatsächlich fiel mir alles wieder ein, was ich bereute. Großartig Lust auf einen Clubbesuch hatte ich irgendwie überhaupt nicht, aber ich hatte es Minney immerhin versprochen. Außerdem hatte ich zu viel … Respekt vor ihr, um kurzfristig abzusagen. Ihre Rache wäre grausam…
»Ach so, klar, natürlich«, ereiferte ich mich gespielt und zappte nebenher grund- und ziellos durch verschiedene Sender im Fernsehen. »Kommst du zu mir, oder ich zu dir? Und wann?«
»Du kommst zu mir. Später, so in vier oder fünf Stunden.«
»Gut«, murmelte ich und raffte mich seufzend vom Sofa auf. Schluss mit der Ruhe. »Bis dann!«
Notgedrungen, weil ich auf meinem Bett eingeschlafen war, hatte ich letztendlich nur noch 15 Minuten, um mich fertig zu machen und rechtzeitig bei Monika anzukommen. Da ich aber sowieso nicht so der Styling-Typ war, schlüpfte ich nur in dunkle Jeans, weißes T-Shirt und schwarzes Hemd. Ich fummelte noch flink Kontaktlinsen rein, schlüpfte in Turnschuhe und spazierte zu Minney herüber. Für wen sollte ich mich denn schon schön machen? Sicherlich nicht für Patrick und schon gar nicht für halbbesoffene Teenies, die sich in der Nacht sowieso die Seele aus dem Leib kotzen würden.
Kaum bei Minney angekommen, zog sie mich kommentarlos hinein und manövrieret mich wie selbstverständlich ins Badezimmer. Ich konnte nur ein ‚Hallo‘ stottern und ihre kritischen Blicke über mich ergehen lassen.
»Hey ja, ich freue mich auch dich zu sehen«, brummte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Seltsamerweise überkam mich das Gefühl, dass ich mich für mein Aussehen rechtfertigen müsste. Schwachsinn!
Minney zog die Augenbrauen hoch und tigerte um mich herum, als wäre sie der große, böse Wolf und ich ein blödes Lamm. Määh.
»Wir gehen das erste Mal seit Jahrhunderten…«, fing sie an und ich wollte sie unterbrechen, doch sie warf mir diesen mordenden Blick zu, sodass ich lammfromm die Klappe hielt. Da! Schon wieder! Lammfromm. Ich wollte nicht später als Hammel auf dem Esstisch landen. »…wieder clubben und du ziehst dich an wie zur Konfirmation deines Cousins!«
»Heath hatte Jugendweihe…«, murmelte ich, worauf sie mir grob einen Klaps gegen den Hinterkopf gab. Danke, nur weiter so!
»Mal sehen, ob ich das retten kann«, brummte sie und fing an, in Patricks Badschrank zu kramen. Tatsächlich besaß er einen ganzen Schrank und Minney nur eine Schublade. Und da kommt mir noch einer mit Klischees!
»Retten?«, jauchzte ich hilflos, während sie mir eine Tube Haargel in die Hand drückte.
»Retten«, wiederholte sie enthusiastisch und begann damit, mich umzustylen…
Zum Glück war sie mit meinen Klamotten im Ganzen zufrieden, weshalb nur meine Haare dran glauben mussten. Ich warf einen Blick in den Spiegel und konnte mir gerade so noch einen Schrei unterdrücken. »Was soll das denn?! Jetzt seh‘ ich aus wie dieser Vampir-Glitzer-Typ!«
Minney runzelte die Stirn. »Wie Robert Pattinson? So schlecht kannst du gar nicht aussehen. Ich finde, es sieht prima aus.«
Und schwul, hing ich innerlich noch hinten dran, schwieg aber sicherheitshalber. »Bin ich dann fertig?«
Grinsend schnappte Monika sich eine Parfumflasche aus Pats Schränkchen und fing damit an, mich in dem Männerparfum zu ertränken. Sie hetzte mir hinter her wie eine dieser überschminkten Parfumdamen aus dem Supermarkt. Gott, hilf!
»Spinnst du total?!«, fuhr ich sie atemlos an und lehnte mich gegen die Wand im Flur. Weit war ich leider nicht gekommen. Minney lächelte versonnen und räumte mit den Worten »Du musst stinken wie `ne Nutte, wenn du weg gehst!« das Badezimmer wieder auf. Toll. Jetzt war ich vom Lamm zur Nutte mutiert.
Im Flur knöpfte sie mein Hemd auf, fummelte noch kurz an meiner Frisur herum und schob mich dann hinaus. Sie kam ein paar Sekunden später mit einer Flasche saure Kirsch nach. War ja klar.
Erst jetzt fiel mir auf, wie gut – unter Umständen auch heiß – sie heute aussah. Sie trug ein schwarzes Kleid, hatte die blonden Haare einfach locker hochgesteckt und war ziemlich dunkel geschminkt. Es sah bei ihrer blassen Haut gut aus. Äh, hab ich gehört.
Und mir wurde kurz darauf klar, dass sie heute High Heels trug. Jetzt kam ich mir vor wie ein Zwerg. He Zwerge, he Zwerge, he Zwerge ho! Oh du liebe Güte…
Als wir die Einfahrt verließen, hatte Minney bereits ein Drittel der Flasche geleert. Gute Nachricht: Sie konnte wahrscheinlich den größten Alkoholiker unter den Tisch trinken. Schlechte Nachricht: Ich konnte das nicht mal annähernd. Ein Grund dafür, dass ich Clubs mied. Ich wurde wahrscheinlich schon durch den Tropfen aus dem Deckel der Flasche betrunken. Schluck und weg.
Das Seven befand sich mehr in der Stadtmitte, weshalb wir etwas laufen mussten. Glücklicherweise war der Himmel heute klar und Regen war auch nicht angesagt. Ich wäre einfach wieder umgedreht, hätte es angefangen zu pissen. So einen Scheiß hätte ich mir bestimmt nicht angetan! Vor dem Club hatte Minney die Flasche fast geleert und verlangte nun von mir, den Rest zu trinken. Ich seufzte, unterwarf mich, exte die Plärre und warf die leere Flasche kurzer Hand einfach ins Gebüsch. So, jetzt durfte ich den restlichen Abend nichts mehr trinken.
Wir wurden sofort an der Schlange vorbei geführt und rein gelassen, weil wir ‚zur Band gehörten‘. Wir machten uns nicht die Mühe, sie zu berichtigen und marschierten durch. Ich fühlte mich wie ein VIP. Kniet nieder.
Das Seven war ein … multikultureller Schuppen. Es gab fünf verschiedene Tanzräume plus Flure, in denen von fünf verschiedenen Genres Musik gespielt wurde. Hip-Hop, Metal, House, Oldies und Rock. Das war zwar ziemlich cool und dementsprechend gab es auch viele Leute, die ins Seven gingen, aber leider kam es so auch oft zu Auseinandersetzungen.
Wir schlugen uns zum Rock’n’Roll-Bereich durch, wo sich die einzige, richtige Bühne des Clubs befand. Patrick war mit seiner Band bereits fleißig am Aufbauen, obwohl sich sein Drummer anscheinend gerade über etwas beschwerte, während Pat einfach nur … Pat war. Er hatte wieder diese Ausstrahlung, als könnte hinter ihm eine Bombe explodieren und er würde nur verschmitzt grinsen, mit den Schultern zucken und ‚Ups‘ sagen.
Der Schlagzeuger gestikulierte wild und Patrick nickte, klopfte ihm dann auf die Schulter und sagte bestimmt so etwas wie: »Du packst das schon«. Ich könnte wetten.
Dann bemerkte er uns, immerhin standen wir nicht gerade übersehbar direkt vor der Bühne und Minney winkte, als würde ihr Leben davon abhängen. Patricks Grinsen wurde breiter. Er fuhr sich kurz durch sein chaotisches, hellbondes Haar – ihm stand das chaotische eindeutig besser als mir – und hüpfte mit einem uneleganten Sprung zu uns runter. Beinahe wäre er auf meinen Füßen gelandet.
Er umarmte seine Schwester zur Begrüßung und riss sie dabei fast von den Füßen. Ich grinste belustigt, als sie ihm dafür in den Bauch boxte. Dann richteten sich seine ozeanblauen Augen auf mich und er legte dieses schiefe Grinsen auf. »Du auch hier? Konnte dich meine Schwester mal aus deinem Loch holen?«
Ich zog die Augenbrauen hoch. Loch? »Sieht so aus«, lächelte ich lediglich und sah mich gespielt interessiert im Saal um. Kam es mir nur so vor, oder war es heute deutlich voller als sonst?
»Wann fangt ihr an?«, fragte Minney ihren Bruder, der mich, wie ich deutlich bemerkte, die ganze Zeit schon aus dem Augenwinkel beobachtete. Er wandte sich seiner Schwester zu und zuckte nach einem Blick auf die Uhr mit den Schultern. »So in ein oder zwei Minuten«, antwortete er, als ginge es ihn überhaupt nichts an. Er war ja nur der Frontsänger oder so. Pff. Nicht weiter wichtig!
»Sag mal, riech‘ ich da mein Parfum?« Patrick schnüffelte in der Luft und Minney wurde bleicher, falls man das bei der Beleuchtung überhaupt richtig erkennen konnte. »Äh, ich glaube, ihr fangt jetzt an. Viel Erfolg!« Sie drückte ihrem älteren Bruder flüchtig einen Kuss auf die Wange, packte mich am Handgelenk und düste mit mir in die hinteren Reihen. Irgendwie fand ich das alles hier ziemlich amüsant. Vielleicht war der Tag doch gar nicht so scheiße, wie ich dachte.
Vielleicht aber doch. Patrick und seine Band fingen mit einem undefinierbaren Song an, der mir fast das Trommelfell wegfetzte. Die Zuschauer fanden das wohl total cool und jubelten und sprangen aufgeregt wie kleine Kinder herum. Ich konnte das leider nur nicht lange beobachten, da ich von jemandem weggezogen und zur Bar geschleift wurde. Gerade, als ich mich losreißen und denjenigen anpöbeln wollte, der mich herumzerrte als wäre ich ein Sack Kartoffeln, erkannte ich ihn.
»Damien«, knurrte ich und lehnte mich gegen die Bartheke. Er grinste und setzte sich auf einen Hocker. »Hast du mich vermisst?«
»So sehr wie man dich vermissen kann«, erwiderte ich nüchtern. Nämlich gar nicht. »Sag mal, stalkst du mich?« So viel Pech konnte ich ja gar nicht haben, ihn ausgerechnet heute ausgerechnet hier zu treffen. Hatte ich denn nie Ruhe?
»Du wohl eher mich«, entgegnete er, nachdem er sich beim Barkeeper etwas bestellt hatte. Sicherlich irgendwas Hochprozentiges. »Ich bin hier bestimmt öfter als du.«
Ich verdrehte die Augen und beschloss, einfach nicht weiter mit ihm zu reden. Initiative: Verduften. Der Plan schlug nur leider fehl, als Damien mich am Handgelenk festhielt. Okay, das hatte ich mir eindeutig einfacher vorgestellt.
»Bleib doch, ich geb‘ dir auch einen aus.« Er zwinkerte mir versucht charmant zu und grinste. Das Grinsen verblasste, als ich ihn nur wortlos anstarrte.
»Bist du mit deiner Freundin hier?«, fragte er kurzer Hand drauf los, ohne auf meine düstere Miene zu achten. Er klopfte auf den Hocker neben sich und freute sich Hundertpro ein Loch in den Arsch, während ich mich dann tatsächlich dort hinsetzte. Minney war es sicherlich gar nicht aufgefallen, dass ich verschwunden war und rumstehen brachte eigentlich auch nichts.
»Ja.« Ich bestellte mir eine Cola und trommelte etwas unwohl mit den Fingern auf der Theke herum. »Ach und, sie ist übrigens nicht meine Freundin.«
Und schon prustete Damien seinen Tequila auf die Theke. Der Barkeeper schenkte ihm dafür einen nicht sehr freundlichen Blick, sagte dazu aber nichts. Ich hatte dagegen ein so breites Grinsen drauf, dass es sicherlich von einem Ohr zum anderen reichte. »Ist etwas?«
Damien wischte sich sein Getränk vom Kinn und stellte schnell das Glas ab. »Warum hast du mir verfickt nochmal erzählt, du wärst mit ihr zusammen?« Verwirrt sah er mich an, was mich nur noch mehr erheiterte. Das hier war viel besser als saure Kirsch oder Vodka.
»Mir war so danach«, meinte ich monoton und zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Dir war so danach?«
»Jop.«
Als er mich noch immer anguckte, wie eine Kuh wenn’s donnert, brach das Gelächter aus mir heraus. Ich lachte ihn bestimmt mindestens ein/zwei Minuten aus, in denen er seinen Gesichtsausdruck von „Hä?“ zu „Oh Mann…“ änderte.
»Macht es so viel Spaß, mich zu verarschen?«, brummte er und trank den Rest seines Tequilas.
Ich nippte an meiner Cola, nickte und schob das Glas auf der Theke langsam von Hand zu Hand. »Ja, schon.«
Er wirkte etwas grimmig, aber ich amüsierte mich prächtig. Nach seinem zweiten Tequila fing er auch wieder zu sprechen an. »Also bist du Single?«
»So Single, wie man sein kann«, erwiderte ich und spielte mit einer gegelten, braunen Strähne meiner Robert-Pattinson-Frisur. Am liebsten hätte ich mir den Schädel rasiert.
»Aber immer noch hetero?«, hakte er weiter nach. Ich ließ meine Haare wieder in Ruhe und sprang vom Hocker. Die letzten Töne des Liedes erklangen und ich suchte die Menge nach Minney ab. Okay, ich wollte ablenken, a) – weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte und b) – weil ich ihm keine weiteren Hoffnungen machen wollte. Nicht, dass er am Ende noch weinte.
Damien bezahlte und folgte mir auf den Fuß. Ich war mir zwar sicher, dass er mein plötzliches Unbehagen bemerkte, aber anscheinend wollte er mich nicht darauf ansprechen. Aber mich in Ruhe lassen war wohl zu viel verlangt.
»Wen suchst du?«, fragte er mich nach einer ganzen Weile, in der er mich begleitet hatte, während ich durch den Flur gehastet war. Minney war tatsächlich verschwunden. Wie konnte ein so großes Mädchen mit auffällig hellen, blonden Haaren in einem Rock’n’Roll-Bereich verschwinden, zum Teufel?!
»Minney.« Ich seufzte, fuhr mir durchs Haar, wobei ich sicherlich Monikas Meisterwerk zerstörte und gab die Suche auf. Irgendwann würde sie schon wieder auftauchen.
Mittlerweile spielte Patrick mit seiner Band das vierte oder fünfte Lied und ich konnte den Rock-Scheiß langsam nicht mehr hören. Natürlich, er sang gut. Sehr gut sogar. Unter anderem könnte er bestimmt mit dieser Stimme Karriere machen. Mein Blick schweifte automatisch zu ihm. Er sang, als hätte er nie etwas anderes getan und war so mit allem bei der Sache, dass man meinen könnte, er würde auch nie etwas anderes tun wollen. Patrick sah zwar verschwitzt und erschöpft – und natürlich immer noch heiß, aber ich konnte das ja gar nicht beurteilen, immerhin war er ein Kerl und ich auch und … ihr wisst, was ich meine – aus, aber glücklich. Glücklich verstrahlt. Musik musste sein Leben sein.
Ich schreckte zusammen, als ich in den Oberarm gekniffen wurde. Wütend starrte ich Damien an und rieb mir über die schmerzende Stelle. »Geht’s dir noch gut?!« Er sah mich nur wenig mitfühlend an und zog eine Augenbraue hoch. Als ob ich irgendwas verbrochen hätte.
Er zuckte mit den Schultern und nickte in Richtung Bühne. »Du hast ihn nur so komisch angestarrt und da war ich so frei, dich aus deiner Schwärmerei zu holen.«
Ich wurde unweigerlich rot. »Ich habe nicht geschwärmt!«
Damien schnaubte. »Ja klar. Du hast ihn ja nur angeguckt, als wäre er Obama persönlich.«
Ich stöhnte genervt auf und drängelte mich durch die Menge zurück zur Bar. Mein ewiger Stalker folgte mir natürlich. »Du kennst doch sicher noch nicht mal seinen Namen«, zeterte Damien weiter. Meiner Meinung nach grundlos. Er sollte sich hier nicht so aufführen, als wäre er meine Mutter. Als ob ich ein Groupie wäre und kreischend mein Top hoch gerissen hätte. Der war ja so…
»Eifersüchtig«, grinste ich und lehnte mich gegen die Bartheke. »Du bist ja sowas von eifersüchtig.«
Damien zuckte ertappt zusammen, sah mich aber an, als ob ich behauptet hätte, er wäre ein Schlumpf. »Eifersüchtig? Ich? Na ja, also…ich habe ja nur gemeint, dass du als Hete nicht so…ähm…ich meine, man könnte das falsch verstehen.«
Ich lachte leise in mich hinein. Heute amüsierte ich mich ja regelmäßig auf Damiens Kosten. So rum gefiel mir das jedenfalls besser. Endlich war ich nicht mehr am Ende der Nahrungskette, oder auch der „Ich-Bin-Cooler-Als-Du“-Kette. »Patrick macht sich bestimmt nicht noch mal an mich heran, nachdem ich ihm damals die Cola in den Schoß geschüttet habe.«
Damien verzog das Gesicht und sah mich fragend an. »Du kennst ihn also?« Ich nickte und boxte ihm freundschaftlich gegen die Schulter. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich Damien beruhigen musste. »Er ist immerhin der Bruder meiner besten Freundin.«
»Und du hast ihm einen Korb gegeben?« Ich verdrehte die Augen, nickte bestätigend und war froh, als Damien endlich wieder seinen lässigen Gesichtsausdruck drauf hatte und sich nicht mehr anstellte wie eine nervige Ehefrau.
»Weißt du«, fing er plötzlich an und lehnte sich mit kaum vorhandenem Abstand neben mir an die Theke. »Hättest du was mit ihm gehabt, wüsste ich wenigstens, dass ich eine Chance haben könnte.«
Ich runzelte die Stirn. »Weil ihr beide recht gut ausseht, oder wie?« Damien lachte, anscheinend erfreut über mein verstecktes Kompliment. Hätte ich gelogen, wäre es sowieso aufgefallen. »Der kleine Rockstar spielt nicht in meiner Liga«, schnaubte der Schwarzhaarige gelassen und klang dabei so selbstsicher, dass ich mich begann zu fragen, wer wenn nicht Patrick in seiner Liga spielte. George Clooney?
Und dann fragte ich mich, warum zum Teufel Damien eigentlich hinter mir her war. Ich sah nicht mal annähernd so gut aus wie Patrick, also wieso hatte er an mir Gefallen gefunden? Hatte er einen Fetisch für unerfahrene, naive Kleinstädter? Irgendwie lächerlich.
»Habe ich überhaupt Chancen bei dir?«, seufzte Damien, der meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck bemerkt hatte. Bestimmt hatte er die Frage öfter von Typen gehört als ich. Ich hätte sowieso nie gedacht, dass ich mal in so eine Situation geraten würde.
»So viel Chancen wie Rosinen.« Ich hasste Rosinen. Und ich wollte ihm eben keine falschen Hoffnungen machen.
Er grinste lediglich. »Dann wirst du Rosinen wohl bald lieben.«
Wie Recht er hatte.
Tatsächlich redeten wir noch eine Weile. Er gab mir einen ‚Sex on the Beach‘ aus und lachte sich einen Ast ab, als ich an dem Vodka fast erstickte. Seltsamerweise machte es Spaß mich mit ihm zu unterhalten. Es war einfach, unbeschwert. Solange wir uns über Normalitäten unterhielten und nicht über meine oder seine Sexualität. Ich hatte das Gefühl, dass wir jetzt Freunde waren. Keine Blutsbrüder, aber ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, aus dem Fenster zu springen, wenn er in der Nähe war.
Leider wurde unser Kaffeekränzchen unterbrochen, indem ich an der Schulter angetippt wurde. Verblüfft drehte ich mich um und sah unmittelbar in Patricks blaue Augen. Ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass die Band aufgehört hatte zu spielen.
»Hey, weißt du, wo Minney ist?« Er lächelte und erinnerte mich dabei an einen verstrahlten Engel. In diesem Licht glänzten seine Haare förmlich und es sah aus, als ob er einen Heiligenschein trüge.
Ich zuckte unwissend mit den Schultern. »Ich sitze hier schon eine ganze Weile. Ich dachte, sie steht weiter vorne an der Bühne, habe sie aber auch nicht mehr gesehen.«
»Vielleicht ist sie…« Patrick stockte plötzlich und sein Blick wanderte von mir zu meinem Sitznachbarn. »Oh, hallo Damien.«
»Patrick«, erwiderte der nüchtern und rieb sich über sein Kinn. Es fühlte sich an, als wäre es hier um einige Grad kälter geworden. Verwirrt sah ich zwischen den beiden hin und her.
»Wie geht’s dir so?« Auch wenn es eigentlich eine freundliche Frage war, klang sie bei Patrick ungefähr so: »Du schon wieder. Ich will dich nicht sehen!«
»Gut«, antwortete Damien. »Bestens.« Und das kam so rüber: »Verzieh dich einfach.«
Patrick lächelte leicht und sah Damien und mich an, als hätte er uns in flagranti erwischt. Ich hatte das Gefühl, mich schämen zu müssen. »Du und Johnny, ihr seid Freunde?«
Ich machte den Mund auf, um zu antworten – immerhin ging das ja nun auch mich etwas an – aber Damien kam mir zuvor. »Ja, Freunde«, bestätigte er nachdrücklich.
»Äh«, machte ich, wurde aber von keinem von beiden großartig beachtet. Ja, super. Ich bin wirklich gerne Luft. Wusch. »Hast du mal wieder was von Tristan gehört?«, fragte Damien ruhig, aber Pat reagierte, als hätte er ihm ein Messer in die Brust gesteckt und daran herum gerüttelt.
»Nein«, zischte er und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. »Ich geh‘ und such Minney. Viel Spaß euch beiden noch.« Er würdigte uns keines Blickes mehr und drehte ab, wahrscheinlich raus. Mir war es gleich. Sehr viel Lust auf einen Bitchfight zwischen den beiden Kerlen hier hatte ich wirklich nicht.
»Was war das denn?!«, fragte ich Damien, kurz nachdem Patrick verduftet war. Damien hatte einen Gesichtsausdruck, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Ich dachte, du kennst Patrick.«
»Ich kenne Patrick ja, aber nicht so. Sonst ist er verpeilt, freundlich, lustig, aber das gerade war ein…Anti-Patrick.« Noch immer irritiert schaute ich auf den Platz, wo der Sänger bis eben noch gestanden hatte.
»Du kennst ihn nicht so wie ich. Oder zumindest nicht die eine Seite an ihm.« Der Schwarzhaarige bestellte sich einen ‚Flying Hirsch‘ und ich fragte mich, was für ein Getränk denn einen fliegenden Hirsch darstellte.
»Das habe ich auch gerade gemerkt«, entgegnete ich mich am Kopf kratzend. »Lass mich raten, um diese Seite zu kennen, muss man mit ihm geschlafen haben?«
Damien wurde rot und bestätigte somit automatisch meine Annahme. Ich seufzte, aber im Gegensatz zu Damien interessierte es mich nicht wirklich, mit wem er schon sein Bett geteilt hatte. Wie sollte ich eifersüchtig sein, wenn ich es ihm nicht einmal verdenken konnte. Außerdem waren wir nur Freunde. Mehr nicht.
»Wir hatten keine richtige Beziehung, nur um das klarzustellen.« Damien grinste verschmitzt, da ihm das Thema anscheinend nicht ganz behagte. »Wir haben nur ein paar Mal mit einander geschlafen. Außerdem hatte er zu der Zeit einen Freund.«
»Tristan«, tippte ich frei heraus und er nickte bestätigend. »Der hat davon Wind gekriegt und Stress gemacht. Am Ende hat er die Beziehung mit Patrick beendet und der hat mich dafür verantwortlich gemacht. Tja, und seitdem sind wir nicht mehr die dicksten Freunde.«
»Das habe ich gemerkt«, schnaubte ich und nahm mir heraus, einen Schluck von Damiens ‚fliegenden Hirsch‘ zu probieren. Es schmeckte scheußlich.
Damien grinste über mich und nahm mir das Glas geschickt wieder ab. »Das ist Red Bull und Jägermeister«, erklärte er mir großzügig und exte das Getränk, als wäre es Wasser.
»Deswegen also fliegender Hirsch.« Ich klopfte mir innerlich wegen meiner Kombinationsgabe auf die Schulter.
Er lachte wieder und lehnte sich zu mir rüber. »Richtig, du brain.« Täuschte ich mich, oder machte er sich nun über mich lustig?
»Leute!« Ich erschrak mich beinahe zu Tode, während Patrick auf uns zu gerannt kam, als wäre Voldemort persönlich hinter ihm her. »Ich habe Minney gefunden.«
Etwas ratlos besah ich mir den schnaufenden Jungen. »Äh, herzlichen Glückwunsch.«
»Du verstehst nicht«, schnaufte Pat. »Sie will sich wieder prügeln und ich kann sie nicht überreden, es zu lassen. Du musst mitkommen.«
Na so eine Scheiße.
Damien begleitete Patrick und mich hinaus. Draußen vorm Seven standen in Gruppen Leute, die rauchen wollten oder sogar ein paar torkelnde Pärchen, die wackelig versuchten, sich gegenseitig die Zunge in den Hals zu stecken.
Meiner Meinung nach war es zu kalt, um draußen rumzustehen, aber Minney hatte wahrscheinlich nicht an mich gedacht, bevor sie diese Streiterei angefangen hatte. Wie egoistisch, oder?
Meine beste Freundin war nicht zu übersehen, oder eher zu überhören. Sie fluchte laut und beschimpfte einen…Schrank. Ja, Schrank traf es ganz gut. Der Typ war fast zwei Meter groß, breite Schultern, kantiges Gesicht. Zwar wirkte er nicht übertrieben muskulös aber ich dachte schon daran, Minney eine dafür zu klatschen, dass sie sich ausgerechnet mit diesem Hulk anlegte.
Als wir dann einen Meter entfernt stehen blieben, erkannte ich auch den Grund für den Aufruhr. Minney hatte einen riesigen, nassen Fleck auf dem Kleid und auch ihre Schuhe waren bekleckert und es gab einige Sachen, die sie noch kommentarlos akzeptieren konnte, aber wenn man ihre Klamotten befleckte, war Schicht im Schacht. Ich hatte da schon so einige Erfahrungen mit machen dürfen.
Ich erwartete eigentlich, dass der Typ wegen Monikas wüsten Beschimpfungen wenigstens missgelaunt war, aber er blickte nur leicht überfordert und hilflos drein. Als würde eine Ameise an seinem Zeh nagen und er wüsste nicht, ob er sie zerquetschen oder füttern sollte.
»Monika Grünling!«, schrie ich laut zu ihr rüber und packte sie an beiden Unterarmen, als sie den Versuch gestartet hatte, gegen die Brust des lebenden Felsbrocken zu hämmern. Ich glaube, er hätte es nicht einmal gespürt.
»Lass mich los! Dieses Gulaschgesicht hat sein verdammtes Bier auf mir entleert, ich werde ihm die Eier rausreißen, in seinen Mund stopfen und…« Ich hielt ihr den Mund zu – den Rest des Satzes musste ja nicht unbedingt jeder hören – und zog sie etwas Abseits. Letztendlich biss sie mir für meine Heldentat in die Hand. Autsch.
»Damien?«, kam es von dem Hünen, der zwischen Monika, mir und Damien hin und her sah. Ich hätte beinahe laut aufgestöhnt. Wehe, der war wieder so ein Ex-Stecher der Stress machte! Dann würde ich den Punk hier persönlich kastrieren. Wir waren hier immerhin in keiner Daily-Soap!
»Bro!« Damien lief rüber zu ihm und lachte, während er seinen Kumpel musterte. Nur Freunde nannten sich gegenseitig ‚Bro‘. Hoffte ich zumindest. »Hast‘ dich mit der Furie angelegt, was?«
»Wie hat er mich genannt?!«, fauchte besagte Furie und kämpfte gegen meinen Griff an. Zum Glück kam Patrick herbei und begann tadelnd auf seine kleine Schwester einzureden. Sie hätte sich locker von mir losreißen können, ich war wahrscheinlich nicht mal annähernd so stark wie sie.
»Das war ein Versehen«, beteuerte der Riese und schaute schmollend zu Minney rüber. Die schnaubte nur. »Mir egal, ob das ein Versehen war oder nicht! Das Kleid und die Schuhe ersetzt du mir!«
Damien lachte wieder amüsiert und sein Freund verzog das Gesicht. Er sah bedauernd aus. Nicht wirklich bedrohlich oder unfreundlich. Er hätte sich wahrscheinlich nicht gewehrt, wenn Minney versucht hätte, ihn zu verprügeln. Am Ende hätte er sich bestimmt auch noch entschuldigt.
Monika beruhigte sich nach einiger Zeit wieder, sprach aber nicht in Sätzen und brummte nur unzufrieden, wenn man sie etwas fragte. Wir beschlossen, erst mal draußen zu bleiben, bis sich die Sache geklärt hatte. In einem überfüllten Club konnte man sich eben nicht so gut unterhalten.
»Woher kennt ihr euch eigentlich?«, fragte ich Damien bemüht leise, während sich Patrick gerade im Namen seiner Schwester bei dem Schrank entschuldigte. Damien grinste immer noch, als er antwortete. »Jakob ist mein bester Freund«, erklärte er mit einem Blick zu besagtem. Gut, also kein ehemaliger Bettgefährte.
Patrick schliff seine Schwester gerade an uns vorbei – wir hörten sie noch eine ganze Weile draußen fluchen – als Jakob nun auch mich zu bemerken schien und fragend von Damien zu mir und wieder zurück sah. Gott, hoffentlich dachte er nicht…
»Und, woher kennt ihr euch?«, fragte mit einem schiefen Grinsen und richtete sein Hemd wieder, das bei Monikas Attacke etwas verrutscht war. Allgemein sah er ziemlich durcheinander aus. Ja, Monika konnte einem schon einen Schock fürs Leben verpassen.
»Schule«, antwortete ich schlicht und beobachtete, wie Damien sich innerlich über die hilflosen Versuche Jakobs, sich wieder herzurichten, bepinkelte. Was der alles so lustig fand.
»Ich geh dann mal wieder rein«, seufzte ich, da mir jegliche Lust auf eine Unterhaltung mit Damien oder gar seinem ABF – Oh Dear! – vergangen war. Ich hob kurz die Hand zum Abschied, drehte mich um und marschierte zurück in den stickigen, muffigen Club voller betrunkener Partygänger und kotzenden Teenies. Nein, ich bin kein Teenie. Ich war immerhin schon 16! Und außerdem nicht betrunken.
Zumindest war ich es an dem Zeitpunkt noch nicht. Ich suchte gerade Minney und Patrick, stolperte durch die Menge und entdeckte sie schließlich eine Viertelstunde später an der Bar, genau an den Plätzen, wo ich und Damien vor kurzem noch gesessen hatten. Welch Ironie.
»Na«, machte ich und setzte mich mit Schwung auf den leeren Hocker neben Patrick, da sich neben Minney ein schwankender Typ mit Tequila platziert hatte. »Krallen wieder eingefahren?« Ihr müsst wissen, dass jeder andere, der das gefragt hätte, bestimmt von ihr in der Luft zerrissen worden wäre. Glücklicherweise hatte ich diesen Freundschafts-Bonus.
Monika schnaubte und rührte wenig begeistert in ihrem Cocktail herum. Schade, dass man sie nicht abfüllen konnte. Das Leben wäre so viel einfacher…
»Jetzt redet sie eine Weile nicht mehr mit uns«, erklärte Patrick und grinste mich locker von der Seite her an. »Bis sie wieder irgendwas braucht oder will.«
Ich nickte bestätigend und bestellte mir meine Cola. Ich kannte Minney und wusste nur zu gut, dass sie ziemlich nachtragend sein konnte. »Moment!«, warf Pat plötzlich dazwischen und ich plumpste vor Schreck beinahe von meinem Hocker. Was hatte er denn jetzt?! »Du bestellst dir allen Ernstes eine Cola? Wie alt bist du, zwölf? Nein, du trinkst jetzt mal was Richtiges. Wie wär’s mit Jägermeister?« Patrick grinste mich dabei so verschmitzt an, dass ich nur hilflos vor mich hin stammeln konnte, während er für mich Jägermeister bestellte und mir dann auch gleich vor die Nase hielt. Mir schwante nichts Gutes. Das hatte ich irgendwie so im Gefühl.
Und wie wir ja bekannterweise wissen, ließ mich mein Gefühl auch leider nicht gerade oft im Stich. Ich behielt also Recht. Dieser Abend endete…interessant.
Ich erinnerte mich noch, dass Patrick und ich um die Wette tranken und er mich verständlicherweise locker unter den Tisch soff. Minney hatte sich irgendwann verabschiedet und mich ihrem Bruder überlassen – ich glaubte dabei ein diabolisches Grinsen auf ihrem Gesicht gesehen zu haben – und dann … tja, dann war ich betrunken. Das war so ungefähr das letzte, woran ich mich erinnerte.
Ich erwachte am nächsten Morgen ziemlich unangenehm. Die Sonne schien mir durch das gegenüberliegende, außergewöhnlich breite Fenster direkt ins Gesicht und irgendwie war meine Matratze härter als sonst.
Nicht nur meine Rückenschmerzen verhinderten, dass ich wieder einschlief. Mein Schädel fühlte sich an, als hätte jemand ein Auto in der Nacht auf meinem Kopf geparkt oder zumindest versucht ein paar Backsteine daran zu zerbrechen. So wie es schmerzte, musste es gelungen sein.
Ich stöhnte auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Okay, merke: Trinke nie wieder Jägermeister! Das war definitiv nicht mein Fall, wenn ich mich am nächsten Morgen nicht wie ausgekotzt fühlen wollte.
Was war eigentlich nach dem Wettsaufen passiert? Ich erinnerte mich, dass ich nicht gerade laufen konnte und … scheiße, ich hatte gekotzt. Wie zur Hölle war ich dann nach Hause gekommen? Hoffentlich hatte Patrick…
Scheiße. Shitshitshitshitshit. Ich sprang mit einem Satz auf, stolperte beinahe über meine eigenen Füße und landete ungelenk neben dem Bett. Dabei realisierte ich zugleich, dass es nicht mein Bett war – das im Übrigen viel bequemer war! – genauso wenig das hier mein Zimmer war und außerdem lag da jemand. Eben noch unmittelbar neben mir. Und es schnarchte. Laut.
Ich fuhr mir nervös durch die Haare und tigerte leise hin und her. Also, an mehr konnte ich mich schon mal nicht erinnern. Mit viel Glück hatte ich noch ein paar Flashbacks und dann konnte ich es mir zusammen reimen.
Bestimmt hatte mich irgendein Mädchen angelabert, ich war zu ihr nach Hause und … Gott verdammte, das, was da im Bett grunzte war definitiv kein weibliches Wesen dieser Erde! Außer vielleicht meine ehemalige Sportlehrerin, aber das würde ich mir genauso wenig wünschen wie einen Kerl.
Gut, ich hatte die letzten Stunden, an die ich mich erinnerte, mit Pat verbracht, da war es doch möglich, dass er da im Bett lag. Natürlich war das für mich keine Traumoption, aber immer noch besser als die Vorstellung mit irgendeinem fremden Kerl nach Hause gegangen zu sein.
Das Problem war nur, dass ich Patricks Zimmer kannte und das hier sah leider nicht danach aus. Da war kein riesengroßer Spiegel, kein seltsam zusammen geschraubter Schreibtisch, den Pat, wie ich vermutete, vom Sperrmüll hatte. Nein, das hier sah steril aus, fast schon nobel und auch verdammt teuer. Irgendwie ahnte ich etwas. Schon mal nicht gut.
Das einzig Gute in dem Moment, das mich zumindest etwas beruhigte, war die Tatsache, dass ich sowohl Boxershorts als auch Hose an hatte. Mein Oberteil war mir da relativ egal, solange ich nicht nackt in fremden Häusern rumhüpfte!
Ich entdeckte mein Shirt und auch mein Hemd und streifte mir beides fahrlässig über. Das Ding im Bett schmatzte und mummelte sich noch weiter ein. Super. Wenn das so weiter ging, blieb das Geheimnis, wer auch immer mich mitgenommen hatte, unerforscht. Sicherlich wollte ich wissen, wer da schlummerte, aber…irgendwie machte ich mir Sorgen, dass ich mit der Antwort nicht so recht klar kommen würde.
Leider wurde mir die Entscheidung abgenommen, als unmittelbar hinter mir die Tür aufgerissen wurde, ein Mann in schwarzen Anzug herein spazierte, als wäre es das normalste der Welt, das Fenster weit öffnete, mir einen abschätzigen Blick schenkte und sich dann an das murrende Etwas wandte: »Master Damien, das Frühstück ist angerichtet und ihre Mutter ist bereits auf Arbeit. Gibt es besondere Wünsche?« Dabei schenkte mir der grauhaarige Mann einen freundlichen Blick von der Seite, während mir mein Herz irgendwo in die Kniegegend gerutscht war.
Damien also. Super Wahl, Johnny. Wirklich, das hast du wieder toll hinbekommen. Anstatt wenigstens mit dem Bruder deiner besten Freundin nach Hause zu gehen – der mich bestimmt an Minney ausgeliefert hätte – schnappst du dir den Trottel, der jeder Zeit versucht, sich an dich ran zu machen. Danke Schicksal, du mich auch!
Ich griff mir an den Kopf und hätte mich am liebsten aus dem nächsten Fenster gestürzt – offen war es jetzt immerhin schon – und bekam gerade noch so mit, wie der Butler (Gott, er hatte einen Butler, wo war ich nur gelandet?!) den Raum wieder verließ und Damien sich grummelnd wie ein Bär aus seiner Decke schälte.
»Gut geschlafen, Kotzbirne?« Damien grunzte und setzte sich langsam auf, wobei er mir einen belustigten Blick schenkte. »Wow, du siehst echt scheiße aus.« Ich zog eine Grimasse und hätte ihm am liebsten irgendwas Schlagfertiges an den Kopf geschmissen, wenn ich nicht fast eine Herzattacke gekriegt hätte, als ich bemerkte, dass er halbnackt war. Er hatte ein Tattoo, ein riesiges Tribal fast auf dem ganzen Rücken und einen Schriftzug auf der Schulter, den ich von hier aus nicht ganz erkennen konnte. Auf jeden Fall englisch und…Scheiße, Johnny, du starrst schon wieder!
»Gott, guck mich doch nicht an, als wäre ich eine Ausgeburt der Hölle.« Er gluckste und ich war mir sicher, er war eine. »Gestern hat dich das doch auch nicht gestört«, warf er ein und trottete schlaftrunken rüber zu seinem Kleiderschrank, den er wie die Ruhe selbst durchwühlte.
Gestern? Was zum Teufel meinte er mit gestern?! Gefallen hatte mir bestimmt nichts! Ich war lediglich besoffen, sowas passierte, und dass ich ausgerechnet hier gelandet war, war purer Zufall, vielleicht auch ziemlich mieses Karma. Er sollte sich bloß nichts einbilden. Gut, ich landete sicher nicht jedes Wochenende in einem fremden Bett, aber … verfluchte Kacke, was hatte ich getan!
»Ich muss schon sagen, Alkohol verträgst du wirklich nicht«, fing Damien munter an zu erzählen. Ich ließ mich zurück auf das Bett sinken, nur um ihm nicht beim Umziehen zusehen zu müssen.
»Du hast Glück, dass ich dich mitgenommen habe.« Ich hörte, wie er die Schranktüren schloss und zu mir rüber tapste. Beinahe hätte ich empört aufgeschrien. Glück?! Er nannte es Glück? Für mich grenzte es eher an psychischen Selbstmord, gefolgt von jahrelangem Trauma.
»Lust zu frühstücken?«, fragte er mich grinsend von oben herab, nun endlich bekleidet. Ich konnte nur nicken, obwohl ich mich eigentlich hauptsächlich dafür interessierte, was zur Hölle passiert war. Außerdem war mein Appetit irgendwo weit weg gegangen und würde allzu bald nicht wieder kommen.
Wir marschierten also runter in die Küche, die ich auch tatsächlich wieder erkannte. Immerhin hatte ich hier ein paar Tage gearbeitet und irgendwann hatte mir Frau Pasang eine Tasse Tee aufgeschwatzt, obwohl ich Tee überhaupt nicht leiden konnte.
Der Butler (Ich konnte es immer noch nicht fassen, ein Butler!) hatte ein ordentliches Frühstück vorbereitet, fast wie im Hotel, mit allem Drum und Dran. Cornflakes, frisches Toast, ja sogar Pancakes. Ich fühlte mich wie ein Ami.
Stumm fingen wir an zu frühstücken, auch ohne Appetit verschlang ich mindestens die Hälfte des Frühstücks, wenn Damien mir nicht alles vor der Nase wegschnappte. Wenn so das Leben mit einem Butler war, hätte ich auch gerne einen. Oder wenigstens eine Putze.
Nachdem ich fast platzte und mein Gürtel sich über den Druck beschwerte, lehnte ich mich zurück und ließ meinen Blick schweifen. Tja, die Familie Pasang hatte richtig Kohle, keinen Schimmer woher. Dort war ein Kamin mit Sofa, eine kleine Trennwand, dann folgte eine ganze Couchecke mit Fernseher und bestimmt Millionen von Kissen und die Röhre hatte mehr Zoll als alle Fernseher bei uns zu Hause zusammen.
Und dann war da Damien, der ‚Rebell‘. Mit Irokesen, Piercing, Tattoo – das ich so natürlich nicht sehen konnte – und einem Fanshirt von irgendeiner Rock-Band namens ‚All Time Low‘. Und da war noch etwas. Ich legte den Kopf schief, formte die Augen zu Schlitzen…
…und wäre am liebsten auf der Stelle gestorben. Da war ein Knutschfleck, dick und fett etwas über seiner Halsbeuge, gut sichtbar, bei dem T-Shirt, das er gerade trug. Gott, um alles in der Welt, lass den nicht von mir sein, bitte nicht von mir!
»Wasch starrscht du denn so?«, brabbelte Damien mit vollem Mund, wobei einige Cornflakes-Flocken wieder in die Schüssel zurück flogen. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und griff nach einem Glas Orangensaft – würde meine PS3 verwetten, dass der frisch gepresst war – was mich aber anscheinend nur noch verdächtiger machte.
Damien war leider so schlau und folgte meinen Blick. Dann grinste er breit, richtig diebisch und erinnerte mich dabei so stark an den Joker, dass ich am liebsten unter den Tisch gekrochen wäre. Dieser verdammte Alkohol! Dieser verdammte Kerl!
»Tja, manchmal kannst du doch ziemlich direkt sein, wenn du etwas willst«, gluckste er belustigt und ließ mich die Hände über den Kopf zusammen schlagen. Diese Nacht würde sich als schlimmste Nacht aller Zeiten einprägen, obwohl ich noch nicht einmal den ganzen Scheiß wusste, den ich fabriziert hatte.
»Das kannst du einfach nicht ernst meinen.« Ich starrte fassungslos auf die Tischplatte. Es ging einfach nicht in meinen Kopf rein, dass ich…na ja, dass ich mich…Gott, ich konnte es ja noch nicht einmal denken!
»Gut, wenn du das sagst«, zuckte er lediglich mit den Schultern und mampfte fröhlich weiter. Was sollte das denn jetzt wieder bedeuten? Hatte ich es jetzt getan, oder nicht? Wollte ich das eigentlich überhaupt wissen?!
Seufzend richtete mich auf und sah meinen Gegenüber an. Leider siegte meine Neugier. »Wie schlimm war ich?«
Damien grinste, während er seinen Teller von sich weg schob und sich gemütlich streckte. »Schlimm würde ich es nicht nennen«, antwortete er. Ich verdrehte darauf die Augen. Seltsamerweise konnte ich mir gut vorstellen, dass er sich wegen mir ein Loch in den Arsch gefreut hatte. »Du wirst betrunken nur etwas anhänglich.«
»Wie bin ich eigentlich zu dir gekommen?«, fragte ich müde und stützte meinen Kopf auf einer Hand ab. Mich würde so gut wie gar nichts mehr überraschen.
»Na ja.« Damien rieb sich an seinem unrasierten Kinn und schien angestrengt nachzudenken, obwohl ich mir sehr sicher war, dass er sich bestens erinnerte. Ungeduldig klopfte ich mit den Fingern auf die Tischplatte und hob eine Augenbraue. Wenn das so weiter ging, standen die Chancen relativ hoch, dass der Butler Damien heute Abend ertränkt in der Badewanne vorfindet. »Du saßest mit Patrick zusammen an der Bar und warst ziemlich durch. Ich war da natürlich so frei und habe Patrick die Verantwortung abgenommen und dich mitgenommen. Ach und, du hast mir in die Karre gekotzt.« Als er letzteres erwähnte sah er mich strafend an, fast wie ein Vater, der seinen Sohn von der Polizei abgeholt hatte.
Da der Herr hier aber deutlich genug Geld hatte, um die Reinigung seines Autos selber zu bezahlen, ging ich nicht weiter darauf ein. Mich interessierte gerade was ganz anderes. »Wieso bin ich freiwillig mit dir mitgegangen?« Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals so besoffen sein konnte, dass ich mit ihm nach Hause ging!
Damien grinste diebisch und kratzte sich vollkommen übertrieben an der Stelle, wo sich der Knutschfleck befand. »Am Anfang hast du noch protestiert, weil du angeblich Angst hattest, dass ich mich an dich heran mache…« Er machte eine kurze Pause und lehnte sich – mich durchgehend angrinsend wie der Teufel persönlich – in seinem Stuhl zurück. »…aber als ich dich dann ins Auto geschmissen habe, weil du nicht mehr richtig laufen konntest, wolltest du mich einfach nicht gehen lassen.«
Okay. Ich wäre jetzt sehr dankbar, wenn mir jemand mit einem Stahlhammer jegliches Erinnerungsvermögen und am liebsten auch Schamgefühl heraus prügeln würde. Bitte. Sofort.
Während ich wohl einen äußerst kümmerlichen Anblick darbot, kicherte und gluckste Damien voller Freude vor sich hin. Wenigstens einer hatte Spaß an dieser Sache. Arsch. Wieso hatte er das zugelassen? Pff, blöde Frage. Herr Pasang hier hatte ja seinen Nutzen vollkommen aus der Sache heraus schlagen können.
»Bis du mich dann fast voll gekotzt hast.« Damien stützte sein Kinn auf einer Hand ab und kaute nebenbei auf etwas Speck herum. Ich zog eine Grimasse und schnaubte wenig begeistert. Hätte mir nicht unwesentlich früher einfallen können, dass ich kotzen musste? Dann wäre mir das Wissen, dass ich Damien einen Knutschfleck verpasst hatte, einfach erspart geblieben.
Wieso nur hatte ich das getan? Er war verdammt nochmal ein Kerl, da sollte ich nicht mal im betrunken Zustand drauf kommen, ihn abzuschlabbern. Nicht einmal unter Drogen! Und was tat ich?! Saugte mich an seinem Hals fest wie ein dämlicher Wels. Warum gab es noch keine Elektro-Armbänder, die einem einen ordentlichen Stromschlag verpassten, wenn man nur daran dachte, so etwas Dämliches zu fabrizieren?
Ich seufzte und fuhr mir durch das gestorbene Tier auf meinem Kopf, was einmal eine Frisur gewesen war. »Wie spät ist es?«
Damien kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn und warf einen Blick auf eine Wanduhr links von uns, die ich bis jetzt noch gar nicht wahrgenommen hatte. Das Ticken war nicht aufgefallen, weil ich es gewohnt war, von Uhren umgeben zu sein. Was soll ich sagen, mein Vater mochte sie eben. »Kurz vor zwölf. Wieso?«
Ich überlegte, ob ich irgendwas Wichtiges vor hatte oder etwas erledigen musste, aber mir fiel nichts ein. Gut, vielleicht suchte ich auch nach einem Vorwand, um abhauen zu können, aber wer konnte mir das verdenken?
»Nur so«, erwiderte ich wortkarg und stand langsam auf. Für ein paar Sekunden machte sich Schwindel in mir breit und mein Kopf pochte, als wollte jemand die Bitte mit dem Stahlhammer wahr machen. Es verflog schnell wieder, aber ich bemerkte deutlich Damiens besorgten Blick. »Alles in Ordnung?«
Ich brummte. »Hatte nur die schlimmste Nacht meines Lebens, aber sonst bestens.« Darauf lachte der Schwarzhaarige belustigt auf und fing an, mit seinem Stuhl zu kippeln. Hoffentlich lederte er sich ordentlich hin…
»Wo ist denn hier das Bad?« Ich wollte wenigstens nicht mehr aussehen wie ein Zombie, wenn ich mich auf den Weg nach Hause machte. Der werte Gastgeber deutete mir den Weg und ich verschwand im Badezimmer. Tatsächlich hatte Damien mit ‚scheiße‘ noch untertrieben. Ich sah aus wie ein überfahrenes und in der Waschmaschine vergessenes Eichhörnchen. Also praktisch wie pure Tierquälerei.
Nach ein paar Minuten hörte ich, wie die Tür klingelte, dachte mir aber nichts weiter dabei. Um diese Uhrzeit war es wahrscheinlich, dass es sich einfach um den Paketdienst oder die Post handelte.
Weitere Minuten vergingen, in denen ich verzweifelt versuchte, meine Haare zu ordnen und wieder Farbe in mein Gesicht zu bekommen, dann öffnete sich ruckartig die Badezimmertür und Damien trampelte herein, als wäre es das normalste der Welt. Er schien etwas im Badezimmerschrank zu suchen, deswegen achtete ich nicht weiter auf ihn, weshalb er mir auch eine ordentliche Herzattacke bescherte, als sich plötzlich zwei Arme von hinten um mich schlingen und ich im Spiegel erkannte, dass Damien spitzbübisch grinste. Er musste ein tierischer Satansbraten als Kind gewesen sein.
Ich erstarrte bei der Berührung augenblicklich zu Stein und rührte mich keinen Zentimeter, während Damien sich wie ein Kätzchen an mich schmiegte. Dieser Typ hatte doch einen Schatten!
»Verfickte Kacke, was zum Teufel…«, fing ich Zähne knirschend an und wollte auch noch fluchend fortsetzen, wurde aber durch das Eintreten einer Person abgelenkt. Jakob – ihr erinnert euch, der Schrank, pardon, der beste Freund von Damien – stand plötzlich im Türrahmen und musterte uns mit hochgezogener Augenbraue. Tötet mich.
Die Chancen standen ganz gut, dass meine vorher blasse Gesichtsfarbe nun mit einer Tomate Konkurrenz machte. Ich war nicht so sozial unausgeprägt, dass ich diese Situation als Außenstehender anders beurteilt hätte. Mir war sofort klar, was Jakob in diesem Moment dachte. Und es gefiel mir nicht!
»Stör ich?«, grinste der Hüne und ähnelte dabei unwesentlich dem teuflischen Ding, das anscheinend immer noch nicht daran dachte, mich loszulassen. Bis ich ihm letztendlich so lange anknurrte und in den Unterarm kniff – man lernte gewisse Dinge von Minney – sodass er mich beleidigt los ließ. Was dachte sich dieser Vollidiot eigentlich?!
»Nein«, brummte ich missmutig und schob mich mit hochroter Birne an Jakob vorbei, der mir höflich wie er war Platz machte. Also war er es gewesen, der an der Tür geklingelt hatte. Von wegen Paketdienst. Scheiß Karma.
Nach einer Weile, in der ich murrend in Damiens Zimmer nach meinem Handy gefahndet hatte, ohne dass sich Herr Pasang hatte Blicken lassen – was ich positiv bewertete – überlegte ich, warum es mich eigentlich so entsetzte, wenn Jakob ein falsches Bild von Damien und mir bekam. Nun ja, es störte mich eben, was war falsch daran? Er sollte mich eben nicht für schwul halten und schon gar nicht für Damiens neuen ‚Geliebten‘. Es war doch…absurd, oder? Oder?
Ich seufzte, während ich mein Handy unter der Bettdecke heraus pflückte und auf den Display sah. Drei Anrufe in Abwesenheit und zwei SMS. Ich runzelte die Stirn. Die Anrufe waren von Minney, wie erwartet. In der ersten SMS von ihr, die noch von gestern Abend im Club stammte, stand: „Wo bleibt ihr?“ und in der zweiten: „Pat hat mir erzählt, wer dich mitgenommen hat. Ich hoffe, du hast Spaß“ mit einem merkwürdigen Smiley, der zu zwinkern schien.
Zischend steckte ich das Kommunikationsgerät ohne weitere Beachtung in meine Hosentasche und versuchte, nicht daran zu denken, was Minney sich wohl gerade ausmalte. Irgendwie wurde das hier nicht besser.
»Willst du schon gehen?« Damien saß mit Jakob zusammen auf dem riesigen Sofa und schaute sich irgendeine dämliche Sendung auf Viva an. Jakob hatte sich zu mir gedreht und grinste wie ein Honigkuchenpferd, als hätte er gerade ein Staatsgeheimnis erfahren.
»Ja«, antwortete ich schlicht und schlüpfte in meine Schuhe, die verstreut vor der Haustür lagen. Was sollte ich auch sonst noch hier wollen? Auf weitere Annährung konnte ich für heute verzichten.
»Und ich habe wirklich nicht gestört?« Jakob lächelte freundlich, aber ich kam nicht umhin, ein klein wenig Belustigung aus seiner Stimme heraus gehört zu haben. Jetzt wusste ich, warum die beiden so gute Freunde waren.
Ich stöhnte ein genervtes »Nein!« und verließ eiligen Schrittes das Haus. Hinter mir hörte ich, wie jemand mir ein/zwei Schritte folgte, dann rief eindeutig Damien mir hinterher. »Du weißt hoffentlich, dass meine Hose immer für dich offen ist!« Ich knurrte und legte aufgebracht einen Zahn zu.
Für eine Weile hatte ich erst mal wesentlich genug von Damien. Und von Clubs. Und von Alkohol!
»Äh, hey. Ich bin’s, Johnny. Kannst mich ja irgendwann mal zurück rufen…also, wenn du gerade Zeit hast.« Mit verwirrtem Gesichtsausdruck legte ich mein Handy auf dem Wohnzimmertisch ab und starrte auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers. Minney ging immer ans Telefon. Sie trug es grundsätzlich bei sich, ob sie nun auf Toilette war oder im Wald joggen. Deswegen war ich auch ziemlich verwundert, als der Anrufbeantworter ran ging.
Da ich durch ihre SMS‘ aber wusste, dass sie gestern sicher zu Hause angekommen war, machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber und schmiss mich auf die Coach. Meine Eltern und Harriet waren zu meinem Onkel gefahren, wie so oft. Da mein Cousin Heath aber längst bei ihnen ausgezogen war, hätte es für mich keinen Sinn gemacht, mitzugehen. Außerdem hatte es meine Eltern nicht mal ein Fünkchen interessiert, als ich erst heute Morgen nach Hause gekommen war. Matthias, mein Vater, hatte lediglich gefragt, ob ich ihm beim Unkraut jähen im Garten helfen wollte. So was nennt man Familie! Und meine Mom war krampfhaft damit beschäftigt gewesen, eine Torte für ihre Schwägerin zu backen. Meine Tante konnte nämlich im Gegensatz zu meiner Mutter ziemlich gut backen und das ließ sich Mom eben nicht gerne gefallen. Typische Frauenprobleme.
Es wunderte mich nicht, als mir nach ein paar Minuten auf dem Sofa langsam die Augen zu fielen. Nach dieser äußerst aufregenden – und definitiv schrecklichen – Nacht hatte ich sicherlich noch Schlaf nachzuholen…
Eine kühle Prise wehte mir ins Gesicht und bereitete mir eine unangenehme Gänsehaut auf den Armen. Die Welt um mich herum drehte sich etwas, wie auf einem Schiff. Irgendjemand lachte neben mir, redete auf mich ein, doch ich verstand es nicht so genau. Dann schloss sich eine Hand um meinen Unterarm und dirigierte mich zielstrebig in eine Richtung. Langsam erkannte ich auch die Umgebung, es war ein Parkplatz, glaubte ich. Mein Blick wanderte nach links und ich erkannte Umrisse einer Person. Mit Irokesen…
»Ich nehm‘ dich mit zu mir, okay?« Ich blinzelte verwirrt, während Damien mit einer Hand vor meinem Gesicht rum wedelte. »Johnny? Huhu, noch da?« Dann seufzte er und zog mich weiter, blieb stehen. Wir standen vor einem hochpolierten Wagen, der irgendwie an die 70er erinnerte. Er öffnete eine der hinteren Türen und schmiss mich förmlich auf die Rückbank. Leider konnte ich mein Gleichgewicht kaum halten und wollte mich an dem Schwarzhaarigen fest krallen, um nicht wie ein Sack Reis auf der Rückbank zu landen, doch das bewirkte nur, dass er ich ihn mit ins Verderben zog und er grob auf mir landete.
Damien gluckste. »Ganz ruhig, Tiger. Ich fahr dich jetzt zu mir.« Er tätschelte mir den Kopf, wollte sich aufrichten und gehen, doch seltsamerweise hatten sich meine Arme um seinen Hals geschlungen.
Jetzt war es an ihm, verwirrt zu blinzeln. Ich glaubte sogar einen leichten Rotton in seinem Gesicht zu erkennen. »Äh«, stammelte er äußerst geistreich, während ich keine Miene verzog. »Alles okay?«
Ich brummte ein unbestimmtes »Hmhm« und zog ihn näher zu mir heran. Der Geruch von seinem Aftershave stieg mir in die Nase und ich fragte mich, wie der Duft bei dem Muff im Club nicht verschwunden war. »Du hast eindeutig zu viel getrunken«, murmelte er, wobei sein Atem mein Gesicht streifte. Es fehlten nur ein paar Zentimeter, nur noch ein kleines Stück…
Ein lautes Surren riss mich abrupt aus dem Schlaf. Vollkommen durcheinander plumpste ich erst mal wie ein Stein vom Sofa. Fluchend und vom stetigen Klingeln der Haustür begleitet, rappelte ich mich wieder auf und schlurfte in den Flur. Das eben ist kein normaler Traum gewesen, eher ein Flashback. Ich platzte fast innerlich vor Scham, als ich realisierte, dass ich das tatsächlich getan hatte. Irgendwie hatte ich es besser gefunden, als ich mich noch nicht daran erinnern konnte. Mist.
Ich öffnete mit Ruck die Haustür und fand meinen Cousin mit erhobener Hand an der Klingel vor. Heath war zwar schlank, aber um einiges größer als ich, weshalb ich leicht zu ihm hoch sehen musste. Er lächelte mich wie die gute Laune selbst an und fuhr sich über sein wie immer glatt gegeltes, schwarzes Haar. »Hallo, Cousin!«
Ich brummte eine Begrüßung, trat zur Seite und ließ Heath hinein. Meine Laune schien ihn nicht zu stören – wie erwartet – und er marschierte also kurzer Hand an mir vorbei ins Haus. Er trug ein weißes Hemd und eine dunkelgraue Anzugshose und sah somit aus, als würde er gerade von der Wall Street kommen. Heath hatte sich kein Stück verändert. Schon in der 9ten hatte er sich gekleidet wie ein Geschäftsmann. Dafür hatte er als Kind immer geweint, wenn ich ihn bei ‚Mensch ärgere dich nicht‘ geschlagen hatte.
»Sag mal, hast du Sonnenbrand oder schläfst du neuerdings wie `ne Fledermaus kopfüber?« Heath schnippte mir mit dem Finger gegen die Stirn. Danke, mach dich nur über mich lustig! Warum konnte ich nicht normale Freunde und Verwandte haben, mit denen ich mich über Physik oder Astronomie unterhalten konnte anstatt über meine Gesichtsfarbe?
»Hab‘ nur schlecht geträumt«, erwiderte ich bemüht ruhig und fläzte mich wieder auf die Coach. »Was machst du eigentlich hier?«
»Darf man seinen einzigen Cousin nicht einfach besuchen, wenn man dazu Lust hat?« Er setzte sich mir gegenüber in Dads Sessel und überschlug geschäftsmännisch die Beine. Ich runzelte die Stirn und zog meine Beine an die Brust, um meinen Kopf auf den Knien abstützen zu können. »Nein.«
Heath grinste mit seinen perlweißen Zähnen. Dieser Typ wirkte wie aus einem schlechten James Bond Film. »Erwischt. Deine Mom hat meiner Mom erzählt, dass du gestern feiern warst und die hat mich angerufen, weil du alleine zu Hause hockst.«
Soviel also zu der Anteilnahme meiner Mutter an meinem Leben. Die kriegte eben doch alles mit, auch wenn sie versuchte zu backen. Alle Achtung. »Ja und?« Ich meine, das war immer noch kein Grund bei mir zu Hause Sturm zu klingeln, oder?
Jetzt machte er auch noch ein beleidigtes Gesicht. Hatte ich was verpasst? »Als ich mit dir immer feiern gehen wollte, bist du bei dem Gedanken daran schon ausgeflippt.« Ich wollte etwas erwidern – immerhin war ich zu dieser Zeit gerade mal 14 Jahre alt gewesen! – aber Heath kam mir zuvor: »Mal abgesehen davon…wen hast du abgeschleppt?« Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke, während Heath zweideutig mit den Augenbrauen wackelte.
»Niemanden natürlich.« Ich versuchte mich wieder in den Griff zu bekommen – auffälliger ging’s ja auch nicht mehr – und setzte mein bestes Pokerface auf. ‚Abschleppen‘ konnte man ja die gestrige Nacht nicht nennen. Wenn, dann hatte Damien mich abgeschleppt, damit das klar ist.
Heath musterte mich skeptisch. »Ach ja? John, du konntest noch nie gut lügen. Und lass das Pokerface, beim Pokern hast du auch immer verloren.«
»Dafür habe ich dich bei Dame, Mühle, Schach und selbst bei dem Leitern-Spiel geschlagen«, konterte ich trocken und lachte mich anschließend fast über den beleidigten Gesichtsausdruck meines Cousins kaputt.
»Dann eben nicht!«, schnappte er und sprang förmlich vom Sessel auf. »Lass uns PS3 zocken, dann sehen wir, wer der wahre Sieger ist.«
Ich seufzte. »Wenn du meinst, aber wehe, du heulst wieder wenn du verlierst.«
Heath und ich spielten ganze zwei Stunden lang FIFA (Ich mochte zwar kein Fußball, aber als Spiel konnte ich es noch akzeptieren) bis ihm plötzlich einfiel – nachdem ich ihn zum dritten Mal hintereinander geschlagen hatte – dass er noch bis morgen für die Uni lernen musste und verabschiedete sich eiligst. Dieser Kerl hatte zwar auch eindeutig einen an der Waffel, aber ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er mich aus der größten Scheiße holen würde, wenn es drauf ankäme.
Nach einer weiteren Stunde, in der ich aus purer Langeweile die Hausaufgaben für die ganze Woche erledigt hatte – an dieser Stelle bitte kein Neid! – kehrte nun auch meine restliche Familie heim und ging ihrer täglichen Arbeit nach, indem sie mir in multiplen Abständen auf die Nerven fielen. Harriet war total aufgedreht, höchstwahrscheinlich von dem ganzen Zucker in Moms Kuchen, und plapperte ohne Punkt und Komma. Zum Glück schnappte Dad sie sich, damit sie sich zusammen draußen um die ‚Ernte’ kümmern konnten. Das Talent in Sachen Pflanzen und Tiere war ohne Zwischenstopp an mir vorbei an meine Schwester überreicht worden. Klingt fair.
»Johnny.« Meine Mutter saß in der Küche und überflog ein paar Notizen von der Arbeit. Ich erkannte einige seltsame Skizzen und den Aufbau von irgendeinem Experiment. »Wie gut verstehst du dich eigentlich mit Damien Pasang?« Sie warf mir einen interessierten Blick über den Brillenrand hinweg zu und hatte die Hände vor sich ineinander verschränkt. Ich machte eine Miene wie drei Tage Regenwetter, hatte ich nämlich dieses Thema mehr als nur satt. Wie man sicher mitgekriegte.
»Prima«, erwiderte ich jedoch resigniert und nahm Theresa gegenüber Platz. »Wieso fragst du?« Sie konnte nichts ahnen. Das ging einfach nicht. So eine Intuition besaß nicht einmal eine Mutter.
»Nun ja«, meinte sie und lächelte leicht. »Es interessiert mich eben.« Dann tat sie so, als wäre nichts gewesen und widmete sich wieder ihren Unterlagen. Ich blinzelte verwirrt. War das gerade wirklich passiert?
Den restlichen Tag über passierte nicht viel. Harriet hatte mich unbeabsichtigt mit einer Ganker durch den ganzen Garten gejagt – ich mochte Spinnen, wirklich, aber sobald die Beine dreimal so lang waren wie der Körper flog bei mir jegliche Männlichkeit dahin – und Mr. Moody hatte es sich auf meinen Schulsachen bequem gemacht, weshalb ich auch erst früh am nächsten Morgen meine Schultasche packen konnte und verspätete mich so bereits um einige Minuten. Normalerweise machte ich mir Sorgen, dass Minney sauer wurde, weil sie immer auf mich wartete, aber da sie sich nicht weiter gemeldet hatte, war es mir gleich, ob sie sauer sein könnte. Meine Schuld war es dann ganz sicher nicht.
Nachdem ich Harriet wie jeden Morgen bei ihrer Schule abgeliefert hatte, machte ich mich im Stechschritt auf den Weg zu meinem Gymnasium. Schon seltsam. Ich besuchte ein Gymnasium. Das vergaß ich des Öfteren bei den ganzen Vollidioten in meiner Schule.
Eine halbe Minute, bevor es zur Stunde klingelte, kam ich auch dort an. Meinen Bus hatte ich leider verpasst und als ich das Schulgebäude betreten wollte, rempelte ich einen Abiturienten an und die waren, seitdem klar war, dass es nicht mehr lange dauerte bis zu ihrem Abschluss, ja ununterbrochen unter Starkstrom. Er hatte gewirkt, als ob er mir am liebsten den Hals umgedreht hätte. Obwohl es nicht sehr überzeugend rüber kam, bei seiner Nerdbrille und den viel zu hellen, blonden Haaren, die er in einem Zopf nach hinten trug.
Ich machte mir also nichts weiter aus dem Kampfpinscher und legte einen olympischen Sprint zum Klassenraum hin. Die ersten zwei Stunden hatten wir leider Sozialkunde und Herr Franke war ein psychopathisches Kerlchen. Bei ihm hatte man selbst Schiss, wenn man zu laut nieste.
»Herr Bauer!«, grüßte er mich wie einen alten Bekannten, was in mir ein ungutes Gefühl ausbreitete. »Ist das das erste Mal, dass Sie zu spät kommen?« Ich setzte mein bestes Lehrer-Lächeln auf und schlich mich fast unauffällig zu meinem Platz hinter. Minney saß brav auf ihrem Stuhl und starrte geistesgegenwärtig aus dem Fenster. Irgendwie wirkte sie verändert.
»Ja, das war das erste Mal«, bestätigte ich, während ich mich setzte. Herr Franke nickte und ließ es damit wohl auf sich beruhen. Glücklicherweise. Ein mieser Start am Montag hätte mir die ganze Woche verdorben.
Monika schwieg ziemlich lange, bis ich ihre Charakterwandlung nicht mehr aushielt und tatsächlich anfing wie ein Grundschüler einen Zettel zu schreiben. Wie tief war mein Niveau nur in letzter Zeit gesunken? Ich kritzelte also ungelenk ‚Wieso hast du dich nicht gemeldet? Ist etwas passiert?‘ auf einen kleinen, karierten Papierstreifen und schob ihn zu meiner Banknachbarin rüber.
Er flog ein paar Sekunden später schon wieder zurück zu mir. ‚Mein Ende ist passiert‘ – was sollte das denn heißen? Hatte man gestern bei ihr Krebs diagnostiziert, oder was? Verständnislos starrte ich meine beste Freundin an, die seufzend ihr Gesicht hinter ihren Händen verbarg. Musste etwas sehr schlimmes sein, wenn Monika deswegen vergaß sich am Morgen die Haare zu stylen. Sie wirkten heute stumpf oder…wie nannte man das noch? Matt? Ich kannte mich nicht so mit Haaren aus. So lange sie nicht nach innen wuchsen, war für mich alles in Ordnung.
Sie schwieg bis zur Frühstückspause eisern durch, in der sie mich dann aber erbarmungslos hinter sich her nach draußen schleifte. Kaum auf dem Schulhof angekommen, zündete sie sich mit geübten Fingern eine Zigarette an.
Natürlich machte ich mir Sorgen um sie. Man erlebte eine Monika Grünling nicht oft derartig aufgewühlt, höchstens, man würde Heath Ledger wiederbeleben und er würde sich erneut umbringen.
»Also, wo drückt der Schuh?«, versuchte ich etwas unbeholfen das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken, bzw. erst einmal eins anzufangen. Minney war so eine Person, die mit ihren Problemen nicht gerne andere Leute belästigte, weshalb man es förmlich aus ihr heraus prügeln musste.
»‘Wo drückt der Schuh‘? Keiner sagt sowas mehr, Johnny. Manchmal könnte man echt meinen, du wärst aus dem Mittelalter!« Seht ihr? Das meinte ich. Sie versuchte gerade abzulenken, aber da ich sie lange genug kannte, ließ ich mich nicht darauf ein.
»Sag mir, was los ist, oder ich hole das Foto aus der 9ten Klasse raus.« Sie verdrehte die Augen, zog an ihrer Zigarette und blies mir den Rauch direkt ins Gesicht. Ja, brummte ich innerlich, während ich mir meine halbe Lunge aushustete. Ich mag dich auch wirklich sehr!
Sie begann trotzdem zu erzählen. »Eigentlich hatte ich im Seven vorgehabt, dich suchen zu gehen, aber nachdem Patrick meinte, du wärst mit Damien mitgegangen – weshalb er auch etwas sauer auf dich zu sein scheint – ließ ich es lieber bleiben. Na ja, am nächsten Morgen war ich jedenfalls noch sauer gewesen, wegen meinem Kleid, weißt du?« Ich nickte seufzend, da ich nicht wirklich nachvollziehen konnte, wie man deswegen noch am nächsten Morgen wütend sein konnte. »Deswegen habe ich gestern etwas recherchiert. Guck nicht so! Als ob du damals mit Natalie nicht auch mitgemacht hättest!« Ich brummte und lehnte mich gegen die Wand. Das ‚Recherchieren‘ war so eine Spezialität von Minney und mir geworden. Sie hatte eine gute Menschenkenntnis und den überzeugendsten ‚Könnten-Sie-Mir-Meine-Frage-Beantworten‘-Blick, während ich mein bestes am Computer gab. Ihr wisst nicht, welche Daten von euch so im Internet herum fliegen. Also, nicht dass ich da nachgucken würde. Pff…
»Na ja, ich habe rausgefunden wo dieser Jakob wohnt, ist übrigens ein nicht sehr schönes Viertel. Hab‘ aber nichts Kriminelles über ihn gefunden. Obwohl drei ältere Brüder verboten gehören, oder?« Ungeduldig tippte ich mit dem Fuß auf den Boden. Wann kam sie denn endlich zum Punkt? »Äh, ich bin also hin und hab geklingelt, mir hat aber niemand auf gemacht. Irgendwann kam so `ne Frau raus und fragte, ob ich zu Herrn Winter wollte und ob ich seine Freundin wäre. Ich wollte glaubwürdig rüber kommen und sagte ja.« Minney grinste über meinen verrückten Gesichtsausdruck. »Du bist mal lieber still, immerhin hast du anfangs Damien ja auch weismachen wollen, wir wären ein Paar. Was sich ja anscheinend gegessen hat nach der Nacht im Club, was?«, gluckste sie und boxte mir grob in die Magengegend. Ich grinste sarkastisch. Waren wir mal wieder witzig! »Die Dame wunderte sich erst mal, dass er überhaupt eine Freundin besaß, ich hatte ja nicht mal `ne Ahnung, ob er hetero ist! Sie hat mich jedenfalls rein gelassen und ich habe oben im Treppenhaus auf ihn gewartet. Er kam irgendwann um drei und wunderte sich natürlich nicht schlecht, als ich da vor seiner Tür stand. Also, lange Rede, kurzer Sinn: Ich habe ihn angeschrien, ihm mein versautes Kleid unter die Nase gehalten, er hat mich geküsst und wir haben miteinander geschlafen.«
Bisher hatte es nicht viele, richtige Momente gegeben, in denen ich vollends sprachlos war. Das erste Mal war mit zehn Jahren gewesen, als man uns in der Schule gezeigt hat, woher die Babys kommen. Dann war ich bei der Geburt meiner Schwester sprachlos gewesen und danach folgte die sprachlose Erfahrung mit Minney bei ihrem sechzehnten Geburtstag. Hey, sie hatte es sich als Geburtstagsgeschenk gewünscht und außerdem war sie sowieso keine Jungfrau mehr gewesen.
Aber zurück zum Thema. Ich starrte meine beste Freundin gerade an wie eine Kuh wenn’s donnert und sie lächelte unschuldig. Tatsächlich, ich war in einer Daily-Soap gelandet. Fehlte nur noch, dass ich plötzlich erblindete.
»Ihr habt was?!«, platzte es dann fassungslos aus mir heraus, während im Hintergrund die Schulglocke ertönte. Mir ging Sport gerade am Allerwertesten vorbei. Mal abgesehen davon, dass ich dort auf Damien treffen würde. Ob er schon wusste, dass unsere beiden besten Freunde wegen einem versauten Kleid fröhlich miteinander in die Kiste gehüpft waren? Ob Minney das als Schuldenbegleichung sah?
»Wir hatten Sex, Johnny.« Monika schenkte mir einen Blick, als wäre ich ein Alien. »Du solltest eigentlich wissen, was das ist.«
»Du kannst mir doch nicht einfach so erzählen, dass du mit Jakob geschlafen hast! Du kennst ihn doch gar nicht! Was, wenn er irgendwelche schlimmen Krankheiten hat oder noch schlimmer, eine Freundin?!«
»Reg dich ab«, brummte Minney und schulterte ihre Schultasche wieder. »Bei Facebook hat er angegeben, dass er Single ist. Außerdem ist es ja nicht so, dass der Koitus mit ihm mein Leben so bereichert hat, dass ich nie wieder etwas mit einem anderen Kerl anfangen kann.« Sie schnaubte entrüstet, aber ich hatte sie in meinem ganzen Leben noch nie so geschwollen reden gehört. Entweder sah sie zu oft ‚The Big Bang Theory‘ oder da war was anderes…
»Ach du Kacke«, entfuhr es mir, als ich die versteckte Nachricht erkannte. »Du magst ihn!« Mittlerweile kamen wir schon so gut wie zu spät zu Sport, aber ich hoffte einfach, dass Herr Fuchs sich dafür nicht weiter interessierte. Falls es ihm überhaupt auffiel.
Ich bemerkte, wie Minney ertappt zusammen zuckte, doch sie bewahrte sich ihre Maske schnell wieder. »Du hast doch eben gesagt, dass ich ihn kaum kenne. Wir haben nur das Bett geteilt und uns nicht die ewige Liebe geschworen. Und ich finde das übrigens so schon nicht so toll, ohne, dass du das ausweidest.«
»Damien kennt mich auch nicht und macht sich andauernd an mich heran«, begann ich aufzuzählen. »Du hast bestimmt ziemlich viel durch das Recherchieren erfahren und außerdem wirst du nach dem Sex anhänglich.«
»Genauso wie du wenn du betrunken bist?« Ich erschrak mich halb zu Tode – Damien schien ein Talent dafür zu haben – als er hinter uns auftauchte. Er grinste, aber es wirkte irgendwie gezwungen. »Ich habe mich gefragt wo du bist, weil dein Platz in der Umkleide leer ist.«
»Ich gehe dann auch mal«, lächelte Monika zuckersüß und marschierte an uns vorbei. »Wir reden später weiter!« Das befürchtete ich auch. Ich hatte keine Ahnung, warum es mir was ausmachte, wenn Minney etwas mit Jakob hatte, aber sie kannte ihn auf menschlicher Basis doch überhaupt nicht. Und wenn sie ihn wirklich mochte und er ihr das Herz brechen würde…na ja, ich müsste ihm die Nase brechen und ich wusste nicht, ob ich da überhaupt heran kam.
»Wie viel hast du gehört?«, fragte ich Damien schließlich, der mich zur Umkleide begleitete. Er hatte sich bereits in Sporthose und Muskelshirt geworfen, weshalb man den Knutschfleck, der nur gering verblasst war, ganz gut erkennen konnte. »Nur so viel, dass ich dich nicht kenne und du anscheinend schon mal mit deiner besten Freundin geschlafen hast.«
Ich grinste und fuhr mir durchs Haar. Es war ziemlich kühl draußen, weshalb ich froh war, als wir die Umkleide betraten. Die restlichen Jungs waren bereits in der Sporthalle, was bedeutete, dass wir alleine waren. Ungutes Gefühl in der Magengegend bei dem Gedanken.
»Reine Neugier von Jugendlichen«, erwiderte ich kurz angebunden und warf meine Schultasche auf den einzig freien Platz, der noch übrig war. »Aber ersteres bedarf keiner weiteren Ergänzung.«
Damien legte den Kopf schief und verengte die Augen, während ich meine Sportsachen auspackte. Ich runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was ist?«
»Ich kenne dich also nicht, ja?«
»Ja.«
»Gehst du dann mit mir aus?«
»Moment, warte, ich verstehe das gerade nicht«, schmatzte Minney mit vollem Mund. »Du, Johnny Bauer, totaler Lahmarsch, hast tatsächlich ein Date mit Damien? Dem Damien, dem du am ersten Tag die Halsschlagader aufschneiden wolltest?«
Ich brummte und hörte auf, nervös auf dem Tisch zu trommeln. Gut, ich war nicht wirklich nervös. Es gab dafür auch überhaupt keinen Grund! Immerhin war das nur ein Treffen unter guten Freunden…oder so. Scheiße, ich hatte keinen Schimmer, was ich davon halten sollte, aber als Damien mich gefragt hatte…irgendwie hatte ich einfach nicht nein sagen können.
»Was gibt’s daran nicht zu verstehen?« Ich hatte einen ziemlich ruppigen Ton drauf, doch das beeindruckte meine beste Freundin herzlich wenig, die sich gerade freudig an meinen Chips bediente.
»Na ja, ich kann mich ziemlich gut daran erinnern, dass du fast panisch geworden bist, als er dich angemacht hat und du ihn ja so überhaupt nicht leiden konntest«, grinste sie deutlich schadenfroh und schmierte sich die fettigen Finger an der Jeans ab. Manchmal fragte ich mich, wie sie dünn bleiben konnte, bei den Mengen, die sie so verspeiste.
»Meinungen ändern sich«, erwiderte ich nüchtern und verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem will ich ja nichts weiter von ihm. Er hat gemeint, er will nur mehr über mich erfahren.«
Minney verschluckte sich beim Kauen und hustete mit Tränen in den Augen ein paar Chips wieder aus. Hmm, lecker. Sie lachte, als ihre Speiseröhre wieder frei war. »Das sagen sie alle! Und weißt du, was dann ist?«
Ich seufzte resigniert. »Sie sind schwanger?«
Monika nahm einen Schluck aus der Cola Flasche und nickte lächelnd. »Und da du ein Kerl bist und nicht schwanger werden kannst, wirst du dich volle Granate verlieben.«
»Das ist lächerlich«, antwortete ich. »Ich bin kein pubertärer Teenie und er ist kein glitzernder Vampir. Liebe ist bloß eine Einbildung.«
Die Blondine schenkte mir einen wissenden Blick. Als ob sie die Lebenserfahrungen eines Buddhisten hätte. »Manchmal eine sehr überzeugende Einbildung.«
»Du sprichst sicher aus deinen Erfahrungen mit deinen jahrelangen, ernsthaften Beziehung und … Moment!« Ich entriss ihr die Cola und nippte beleidigt an eben dieser. »Du hattest noch nie eine!«
Minney verdrehte unbeeindruckt die Augen und boxte mir grob in die Magengrube. Mir kam die Cola fast wieder zur Nase raus. »Du kannst so zickig und scheiße sein, wenn du willst. Sag mal, hast du deine Tage, oder so?«
Ich wollte gerade röchelnd etwas erwidern, als es an der Tür klingelte. Minney grinste mich von einer auf die anderen Sekunde an wie ein Honigkuchenpferd und schob mich kommentarlos zur Tür. Vorher korrigierte sie meine Frisur – wie immer hatte sie sich bei meinem Styling eingemischt, aber ich sah nicht übertrieben aus, sodass Damien es vielleicht bemerkt hätte – und flüsterte mir zu, dass ich ihr später alles erzählen sollte, ehe sie auch schon die Tür öffnete, Damien, der sie nur perplex anblinzeln konnte, angrinste, mich hinaus stieß und die Haustür wieder zu knallte. Und da standen wir.
Damien fing sich schneller wieder als ich und grinste mich versucht charmant an. »Dein erstes Date?« Ich wusste genau, was er meinte. ‚Dein erstes Date mit einem Jungen‘. Aber genau genommen war es egal auf welcher Ebene mein erstes Date.
Ich lächelte und versaute es wahrscheinlich kläglich. »Das ist kein Date«, stellte ich bemüht ruhig dar. »Das ist…ähm…«
»Ein Date«, gluckste Damien, packte mich am Handgelenk und zog mich hinter sich her, ein Stück die Straße runter. Ich seufzte geschlagen. Gut, dann war es ein Date. Bitte! Solange die Nachbarn mich nicht so sahen und meine Eltern bloß weit weg sind…Ein Glück waren sie mit Harriet beim Arzt. Windpocken konnten richtig praktisch sein.
»Du spinnst«, entfuhr es mir geschockt, als er vor einem Motorrad stehen blieben und Damien mir einen Helm in die Hände drückte. Er musste mich verarschen. Anders konnte ich mir das nicht vorstellen.
»Hast du etwa Schiss?« Mein ‚Date‘ – Lächerlich! – schwang sich fröhlich auf das Motorrad, während ich sprachlos daneben stand. Ich würde mich ganz sicher nicht auf dieses Teufelsding setzen. Ich war doch nicht lebensmüde!
»Nein, nur gewissen Respekt vor dem Tod!«, murrte ich und überlegte, ob Frau Pasang ihren Sohn vielleicht zu oft hatte vom Wickeltisch fallen lassen. »Bus fahren ist okay, U-Bahn meinetwegen auch, aber du kriegst mich niemals, niemals, auf dieses Todesteil!«
Wie man sich irren konnte. Ein paar Minuten später und durch die Drohung, dass Damien mich auf der Stelle packen und küssen würde, saß ich mit nicht vorhandenem Abstand hinter dem Schwarzhaarigen auf dem Motorrad. Purer Selbstmord. Tschüss Leben!
Ich klammerte mich also hilflos an ihm fest, was auch bestimmt der Grund dafür war, dass er ausgerechnet das Fortbewegungsmittel gewählt hatte und hoffte einfach nur, dass wir bald da sein würden. Meine Panik steigerte sich nur, weil ich nicht wusste, wohin er wollte.
Weitere Minuten, in denen ich schon mit meinem Leben abgeschlossen hatte, später, hielt Damien endlich an. Als ich abstieg, hätte ich vor Glück beinahe den Boden geküsst, während er mich nur kopfschüttelnd beobachtete.
»Versprich mir eins«, schnaufte ich und tippte ihm energisch mit dem Finger gegen die Brust. Er zog nur eine Augenbraue hoch. »Sollte das in irgendeiner erdenklichen Weise, meinetwegen auch nur in einer Parallelwelt oder wenn eine Gehirnhälfte von mir Matsch ist, mit uns beiden was werden, dann verkaufst du dieses Selbstmordgerät. Klar?«
Damien fing auf einmal an zu strahlen und zwinkerte mir zu. »Abgemacht. Wollen wir rein gehen?« Ich schaute ihn verwirrt an und sah mich um. »Rein gehen? Wo rein-Oh heilige Mutter Maria…«
Gut, wäre ich ein Mädchen gewesen, hätte ich jetzt gequietscht und wäre Damien um den Hals gefallen, aber ich war kein Mädchen! Deswegen machte ich den Mund nur auf und zu wie ein Karpfen und bohrte unablässig geistesgegenwärtig meinen Fingern in seine Brust.
»Aua, ja, das habe ich doch gerne gemacht.« Er zog eine Grimasse und brachte meine Hand vorsichtig außer Reichweite. »Ich schätze mal, es gefällt dir?«
»Ge…Gefallen?« Wir standen hier vor einem riesigen Planetarium, in das ich schon immer einmal gewollt hatte – aber immer war mir etwas dazwischen gekommen und Minney ließ sich für sowas nicht begeistern – und er fragte, ob es mir gefiel?!
»Das ist, wow…Woher, ähm, woher wusstest du…?« Fragend sah ich zu ihm, doch er grinste nur verwegen und drängte mich sacht in Richtung Eingang. »Sagen wir es so«, murmelte er direkt hinter mir. »Ein gewalttätiges Vögelchen hat es mir gezwitschert.«
»Hätte ich gewusst, wohin es geht, hätte ich mehr Geld mitgenommen«, brummte ich, als mir einfiel, dass es natürlich auch Eintritt kostete. Doch mein Begleiter lächelte lediglich über mich.
»Ach, darüber musst du dir keine Sorgen machen.« Er zwinkerte nebenbei einem Mann hinter der Theke zu, der uns zwei Karten reichte. »Sagen wir’s so, der Gründer dieses Planetariums war meiner Mom noch einen Gefallen schuldig.«
Mein eines Auge zuckte gefährlich, während wir einen langen Gang entlang liefen. Diese verdammten Reichen…brauchten nur Schnippen und Schwupps! Hatten sie ein ganzes Planetarium für sich gemietet! Und ich musste eine halbe Stunde anstehen, wenn ich zu Hause morgens auf Klo musste!
Wir sahen uns als erstes einen Film über den aktuellen Nachthimmel an, der rund fünfzig Minuten dauerte. So richtig konnte ich mich auch gar nicht auf den Film konzentrieren, da Damien neben mir unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschte, als hätte er Hummeln im Hintern, bis er letztendlich dadurch ruhig wurde, dass er seinen Arm mit höflichem Abstand hinter meine Lehne legte. Ich ließ es mir gefallen, immerhin berührte er mich nicht, aber er sollte heute bloß nicht zu aufdringlich werden. Ich würde ganz sicher nicht noch einmal mit ihm kuscheln! Oder schlimmeres…
Nach dem Film führte er mich in einen leeren Saal, in dem es fast stockfinster war. Ich kam nicht umhin festzustellen, dass er das hier wohl richtig durchgeplant hatte. Gut, vier Tage waren da sicher Zeit genug für, aber trotzdem…niemand machte sich so viel Mühe, wenn er sich am Ende nichts davon versprach. Und genau das bereitete mir die ganze Zeit über Sorgen.
»Es dauert noch, bis es anfängt«, hörte ich ihn neben mir sagen und fühlte darauf auch schon, wie er sich meine Hand schnappte und auf irgendwelche freien Plätze führte. Ich setzte mich tollpatschig und wäre beinahe wieder auf dem Gang gelandet. »Solange kann ich ja versuchen, mehr über dich raus zu finden.«
Ich schmunzelte, was er glücklicherweise bei dem Lichtfall nicht sehen konnte und lehnte mich zurück. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so eine Pussy wirst, nur, um mich auszufragen.«
Er lachte tief. »Na ja, vielleicht auch um mehr als nur etwas über dich zu erfahren.« Damien räusperte sich und es raschelte kurz neben mir. »Darf ich dich jetzt was fragen?«
»Tu, was du nicht lassen kannst.« Ich machte eine beifällige Geste mit der Hand, die er wahrscheinlich gar nicht bemerkte.
»Wie lange bist du schon mit Minney befreundet?« Ich fing bei der Frage an zu lächeln. Wie lange war ich jetzt schon mit Monika befreundet? Der Monika Grünling, die damals im Kindergarten noch rosa Schleifchen getragen hatte?
»Mit Pause 13 Jahre«, antwortete ich nach kurzem Überlegen. Ich nahm undeutlich wahr, wie Damien nickte.
»Also Kindergartenfreunde?«
»Ja, bis sie in der Achten bis zum Ende der Neunten kurzzeitig zur Tussi mutierte.« Tatsächlich war Minney mal die geborene Schlampe gewesen. Natürlich hatte sie noch heute so zickige Seiten an sich – wie man sicherlich schon bemerkt hatte – aber sie war keineswegs mehr so oberflächlich und humorlos wie damals. Ich hatte mittlerweile auch den Grund vergessen, warum sie zu dieser Zeit so komisch geworden war…Pubertät?
»Und ihr hatten mal was miteinander?« Er versuchte nicht allzu interessiert zu klingen, aber ich nahm den seltsamen Unterton durchaus wahr.
»Nicht richtig«, murmelte ich grübelnd. Das war schon etwas länger her und ich erinnerte mich nicht gerne daran. »Sie wollte nicht, dass ich mein erstes Mal sowohl total verpatze als auch mit einer Fremden habe und ich … na ja, ich war eben in der Pubertät und habe eben gewissen Respekt vor ihr.«
Tatsächlich lachte er mich aus, herzhaft und glucksend. Wunderbar. Fand ich auch sehr witzig! »Sie mag dich sehr, was?«
Nicht so sehr wie deinen besten Freund, spukte es mir kurzzeitig durch den Kopf, doch ich behielt das lieber für mich. »Sandkastenliebe eben«, erwiderte ich stattdessen.
»Und du hattest anderweitig nie eine Beziehung?« Gott, der Kerl konnte ja richtig hartnäckig sein. Aber das wusste ich schon seit dem ersten Tag des Kennenlernens.
»Nein. Und ich denke nicht, dass sich das allzu bald ändern wird.«
»Hm«, machte es neben mir nur und dann war da wieder dieses Rascheln. Plötzlich gingen an den Wänden kleine Lichter an und Damien hielt mir eine Packung vor die Nase. Ich spähte hinein und entdeckte darin Rosinen. Nicht sein Ernst?
»Es fängt wohl gleich an«, meinte er nüchtern und hielt mir weiterhin die Rosinen vor die Nase. »Willst du welche?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich Rosinen hasse.« Wie kam er überhaupt auf die Idee, die Teile mitzuschleppen? Chips oder Popcorn, sowas konnte ich nachvollziehen…aber Rosinen? Hatten die eine Bedeutung, die ich verpasste hatte?
»Probier‘ doch eine.«
»Wirklich, ich mag sie nicht, die Dinger sind doch ekelig…«
»Probier’s.«
Seufzend und deutlich genervt gab ich nach. Fein! Meinetwegen! War sowieso ziemlich lange her, dass ich Rosinen gegessen hatte, natürlich nicht grundlos. Wenn ich an dem Teil verreckte, dann sollte Damien bei einem Motorradunfall sterben. Wäre fair.
Ich pickte mir eins von der schrumpeligen Kost heraus und warf es ohne großes Tamtam direkt in meinen Mund. Nach kurzem Kauen stellte ich fest, dass es nicht so scheußlich schmeckte, wie ich es in Erinnerung hatte und … na ja, es schmeckte sogar ganz lecker.
Und dann fiel mir ein, was Damien damals gesagt hatte. Wie nah er bei mir saß, wie angenehm seine Gesellschaft geworden ist und wie selten ich nur noch mit dem Gedanken spielte, ihn umzubringen.
Fuck.
Ich hatte mich nicht, ich wiederhole, nicht in Damien Pasang verliebt. Nicht einmal ein wenig verknallt. Nichts dergleichen.
Sowas gab es bei mir einfach nicht. Früher hatte Minney sogar gemeint, ich würde mich später höchstens per Zellteilung fortpflanzen. Deswegen waren jegliche Veränderungen an mir, meinen Gedanken, meiner Mentalität pure Einbildung.
Als die Lichtershow, untermalt von Rockmusik aus den 70ern, deren Schallwellen einige Lichtjahre entfernt noch in der Atmosphäre kreisten – im Übrigen hätte ich mir denken können, dass Damien etwas mit Musik auswählte – anfing, da war mir wegen der Rosine schlecht und nicht, weil Damien seinen Arm nun tatsächlich um meine Schultern gelegt hatte. Ich wimmelte ihn nicht ab, doch ich schmiegte mich auch nicht gerade an ihn. Übertreiben würde ich das ganz sicher nicht.
Außerdem war ich nicht nervös oder unkonzentriert, höchstens unruhig. Wegen den Magenschmerzen. Und so. Nicht, weil ich deutlich seinen Geruch wahrnahm oder weil meine Gedanken selbstständig auf Reisen gingen und ich mich an die Nacht beim Seven erinnerte…
Das war lächerlich. So etwas fiel einem nicht von einer auf der anderen Sekunde auf. Eigentlich sollte man solche Sachen nicht bemerken, während man in einem Planetarium saß und Rockmusik hörte. Das. War. Lächerlich!
Nur, weil er mich dazu gebracht hatte – wie vorhergesagt – Rosinen zu essen, hatte das nichts dergleichen mit der Metapher von damals zu tun. Johnny Bauer verknallte sich nicht. Johnny Bauer tolerierte, schätzte und hasste, aber er liebte nicht.
Tja, was so schlimm daran wäre, wenn ich mich in Damien verschossen hätte? Alles. Einfach alles. Es fing damit an, dass er ein verdammter Kerl war und hörte mit der Tatsache auf, dass er ein verdammter Kerl war!
Ich war nicht homophob…sonst würde ich ja nicht hier sitzen, aber ich…schwul? Der Gedanke war seltsam und in mir rumorte es, wenn ich mir wieder Damiens Präsens bewusst wurde. Das war bestimmt ein schlechtes Zeichen. Bestimmt.
»Sag mal, hast du was?« Die Lichtershow war vorbei und wir streiften etwas ziellos durch das leere Planetarium. Diese verdammten Reichen.
Ich tat natürlich bemüht cool. Moment, falsch. Ich war cool.
»Was, ich?« Ich kratzte mich unruhig am Arm. »Nein, wie kommst du darauf?«
Er grinste über mich nur, zuckte mit den Schultern und schwieg. Dabei war mir sofort klar, dass er genau wusste, was los war. Dieser Bastard hatte das alles doch gerade zu provoziert. Ich wette, er hatte schon in dem Moment, in dem er zu mir ‚Du bist heiß‘ gesagt hatte, genau gewusst, was er wollte und wie er es bekommen würde.
Nur wieso hatte ich nichts weiter dagegen unternommen?
Wir verließen kurz darauf das Planetarium, da Damien sich fluchend über seinen knurrenden Magen beschwerte. Also musste ich wieder die lebensgefährliche Fahrt auf dem Motorrad über mich ergehen lassen, während der ich mehr als nur einmal um mein noch junges Leben bangen musste.
Letztendlich hielten wir bei McDonalds. Es war das einfallsloste aber auch das Beste, was uns eingefallen war. Ich hielt zwar nicht viel von dem Fast-Food Kram, sonst wäre ich wohl schon eine dicke Nudel, aber Damien schien darauf abzufahren. Wir saßen also drinnen an einem Tisch und mein ‚Date‘ verspeiste gerade seinen dritten McRip. Dieser Kerl konnte doch zu Hause nichts Ordentliches zu essen kriegen.
Dementsprechend sah er auch aus. Sein ganzes Gesicht war voller Barbecue Soße, ebenso seine Finger und auf seiner Lederjacke befand sich auch schon ein fetter Fleck.
Ich musste schmunzeln und beobachtete belustigt, wie er einen weiteren Bissen nahm, während ich meinen Cheeseburger kein Stück anrührte. Wie gesagt, ich mochte so einen Fraß nicht so gerne. Dafür war ich zu sehr das Öko-Futter von zu Hause gewöhnt.
»Hascht du har heinen Hunher?«, würgte mein Gegenüber während des Kauens hervor, was nicht sehr appetitlich herüber kam.
Ich verzog den Mund. »Nicht wirklich.« Damien würgte den Rest von seinem McRip herunter und deutete lächelnd wie ein kleines Kind auf meinen Burger. »Krieg ich den dann?« Kopfschüttelnd reichte ich ihn rüber. Wie konnte er nur so normal aussehen, wenn er so viel fraß? Hoffentlich kriegte er solche Fressattacken nur aller paar Monate, sonst wäre das echt schade um das ganze Geld.
»Sag mal, bekommst du zu Hause nur Wasser und trockenes Brot?«, fragte ich ihn irritiert blinzelnd, als ich bemerkte, dass er den Cheeseburger schon fröhlich verspeist hatte. Das war doch biologisch unmöglich, oder?
»Nein, ich kann nur diesen teuren Fraß von Günther nicht mehr sehen.« Er wischte sich die verschmierten Hände an einer Serviette ab. »Da ist Fast-Food schon Luxus für mich.«
Diese verdammten Reichen.
»Der Butler kocht für euch?« Hätte ich mir eigentlich denken können. Ob Damien sich eigentlich selbstständig den Hintern abwischen konnte?
»Ja«, brummte er, was mich darauf schließen ließ, dass es ihm wohl nicht gefiel. »Wenn es meine Mutter schon nicht tut.« Er zuckte mit den Schultern.
»Was ist eigentlich mit deinem Vater?«
Ich hätte es ahnen müssen. Es war so klar gewesen, dass ich, Johny Bauer, Hofnarr vom feinsten, mit einem Hechtsprung in ein Fettnäpfchen flog. Nein, ich bin nicht nur in eins getreten, sondern habe darin gebadet wie ein kleines Kind mit Schwimmnudel. Am liebsten hätte ich mich dafür gleich darin ertränkt, wenn es nicht nur ein bildhaftes Fettnäpfchen gewesen wäre.
Damien wurde seltsam still, sah mich aber auch nicht an. Sein Blick war auf die Serviette in seiner Hand gerichtet, die unbeweglich auf seiner Handfläche lag. Die Atmosphäre war seltsam kühl geworden.
»Mein Vater ist tot«, seufzte Damien dann, hob den Blick und lächelte mich an. Ich stutzte. Wie konnte er mich dabei anlächeln?
»Das tut mir leid«, erwiderte ich, wahrscheinlich das erste Mal zu einer anderen Person als Minney gegenüber mitfühlend.
»Muss es nicht. Er starb an einem Herzinfarkt, als ich zwölf war.« Er kratzte sich an einer kahlen Seite seines Kopfes. »Er ist ein toller Vater gewesen. Deswegen habe ich nur gute Erinnerungen.«
Ich kannte bis zu diesem Moment keinen, der solche Dinge so positiv sehen konnte. Aber eins fragte ich mich doch noch…
»Hat das etwas damit zu tun, warum deine Mutter und du so ein schlechtes Verhältnis haben?«
Damien schnaubte auf, was mich zusammen zucken ließ. Wenn man auf seine Mutter zu sprechen kam, dann wurde sein Ausdruck anders. Fast das genaue Gegenteil von eben, als er mich angelächelt hatte.
»Ja, könnte man so sagen«, grummelte er und lehnte sich, die Arme verschränkend, zurück. Selbst ich, jemand mit dem Einfühlungsvermögen eines blinden Zyklopen, bemerkte, dass er nicht weiter darüber reden wollte. Also konzentrierte ich mich auf etwas anderes. Leider war das ausgerechnet die zurückgebliebene Barbecue Soße in seinem Gesicht.
Ich musste grinsen. Er bemerkte es und ich deutete ihm, wo der Fleck war, doch er schien es nicht zu kapieren, bis ich letztendlich entnervt aufstöhnte, mir eine Serviette schnappte und es selbst erledigte.
Auch wieder so eine blöde, spontane Idee, aber ich konnte nicht ahnen, wie schnell dieser Möchtegernpunk reagierte. Kurz bevor meine Hand mit der Serviette sein Gesicht berührt hätte, packte er mich an eben dieser und zog mich noch ein gutes Stück näher zu sich heran. Da ich mich sowieso nach vorne gebeugt hatte, konnte ich mich nur noch im letzten Moment mit der anderen Hand auf dem Tisch abstützen. Zwei Millimeter von seinem Gesicht entfernt.
»Manchmal frage ich mich«, murmelte ich leise und runzelte die Stirn, »was du dir eigentlich denkst.«
Damien grinste nur und sein Atem kitzelte mein Gesicht. »Ab und an lohnt es sich, nicht nachzudenken, bevor man etwas tut.« Und dann überwandte er den letzten Abstand und seine Lippen streiften meine.
Es war sicherlich nicht mein erster Kuss. Außerdem hatte ich ihn laut meinen schwachen Erinnerungen bereits geküsst. Trotzdem war es seltsam. Ich konnte es nicht einmal richtig als Kuss bezeichnen, immerhin war es nur eine schwache Berührung, aber es bereitete mir eine Gänsehaut am ganzen Körper und wahrscheinlich den höchsten Puls in meinem ganzen Leben.
Dieser klitzekleine Moment, in dem die Zeit wohl kurz still zu stehen schien, zerbrach in viele, kleine Teile, als laut grölend die Tür von dem Fastfood-Restaurant aufgestoßen wurde und Michael mitsamt seinen Proletenfreunden hinein marschierte. Es rüttelte mich wach, ließ mich erschrocken zurückfahren, meine Jacke packen und abhauen.
Wieso hatte ich nichts getan? Wieso hatte ich das alles überhaupt zu lassen können? Ich meinte nicht nur den Kuss, sondern diesen ganzen, verdammten Tag. Und wenn Michael uns nun genau gesehen hatte? Er würde es ganz bestimmt nicht nur in sein Tagebuch schreiben und dabei belassen! Spätestens am nächsten Schultag wüsste es doch jeder, der auch nur annähernd das Schulgelände betreten hatte. Wer wollte sich denn schon so outen?
Moment. Wer sprach hier denn von outen?! Ich war nicht schwul. Nur weil das mit Damien wohl gerade etwas aus dem Ruder lief, hieß das noch lange nicht…Ja, was überhaupt? Scheiße, was lief hier denn eigentlich?!
Wir hatten ganz normal miteinander geredet. Ich hatte ihn unglücklicherweise auf seinen Vater angesprochen, dann diese verdammte Soße und plötzlich meinte der Kerl mich küssen zu müssen.
Dann war Michael reingeplatzt und hatte mich wieder zurück in die Realität geholt. Man küsste sich nicht bei McDonalds, schon gar nicht mit Barbecue Soße im Gesicht. Seit wann war das Leben denn so kompliziert? Am liebsten würde ich einfach wieder mit Kreide auf die Straße malen und mit Monika Sandburgen bauen…
Ich wusste nicht, wann er wohl bemerkt hatte, dass etwas passiert war, aber irgendwann hörte ich das Knattern eines Motorrads, das immer lauter wurde. Dann fuhr er neben mir, wurde schneller, als er bemerkte, dass ich nicht auf ihn reagierte und blieb direkt auf dem Bürgersteig vor mir stehen.
»Rennst du öfters weg, wenn dich irgendwas überfordert?« Er schaltete den Motor aus und stieg elegant von dem Selbstmordgerät. »Bist ziemlich flott unterwegs, muss ich sagen.«
»Glaubst du, Michael hat irgendwas gesehen?« Ich spielte mit dem Reißverschluss meiner Jacke und sah auf den Boden. Ich konnte ihn ja nicht mal mehr ansehen. Johnny, du bist erbärmlich.
»Und wenn?«, knurrte Damien. Er klang wütend. »Ich habe nichts zu verbergen.«
Nun sah ich ihn doch an. Seltsamerweise bekam ich ein gewisses Schuldgefühl. Was erwartete er denn von mir? Dass ich ihm vor die Füße fiel? »Das ist ja wunderbar für dich«, murrte ich nun auch und trat von einen Fuß auf den anderen. »Ich könnte aber darauf verzichten, dass sich die ganze Schule über mich das Maul zerreißt.«
»Wenn dich die Meinung anderer so sehr interessiert«, fing Damien deutlich angepisst an, »dann habe ich mich wohl in dir getäuscht.«
»Sag mal, was willst du eigentlich von mir?!« Ich trat einen Schritt auf ihn zu und tippte ihm unsanft gegen die Brust. »Wie lange kennen wir uns? Eine Woche? Was denkst du dir, zum Teufel?!«
Er knurrte unwillig und packte das Handgelenk der Hand, mit der ich ihn stieß. »Nichts, verdammt.« Ich wollte mich aus seinem Griff befreien, doch er war stärker und hartnäckiger als ich. Laut fluchend holte ich mit der anderen Hand aus, doch auch die fing er ab. Das war definitiv nicht fair!
»Du verdammter…«
»Halt endlich die Klappe, Johnny.«
Das war auch schon das zweite Mal an diesem Tag, dass Damien Pasang mich küsste. Und diesmal rannte ich nicht weg. Ganz im Gegenteil.
Anfangs war es genauso wie zuvor, in mir war alles in Bewegung, doch ich ließ mich davon nicht stören. Selbst als ich Damiens Hand an meiner Hüfte spürte, schreckte ich nicht zurück. Diesmal gab es für mich nichts Illegales. Wir waren nur zwei Kerle die sich küssten. Ob ich es realisierte? Ja. Ob ich es akzeptierte? Das war eine ganz andere Baustelle. Und das war mir im Moment auch vollkommen gleich.
»Ich mag’s, wenn du so widerspenstig bist.« Er lachte und ich boxte ihm grob gegen den Bauch, worauf er kurz röchelte.
»Das war für diese verdammte Rosine im Planetarium und dafür, dass du eben rumgeblökt hast wie ein Affe.« Ich rieb mir das Handgelenk, an dem er mich festgehalten hatte. »Und jetzt fahr mich nach Hause, Mr. Kotzbrocken.«
»Yes, Sir!« Er drückte mir seinen einzigen Helm in die Hände. Ein paar kleine Tropfen Regen klatschten auf ihn und ich bekam Bedenken, doch Damien zwinkerte mir zu. »Ich fahr auch vorsichtig.«
Damien war so großzügig und hielt mit seinem Motorrad nicht direkt vor unserer Haustür. Sobald das Fahrzeug auch nur in die Nähe unseres Hauses gekommen wäre, hätte meine Mom Wind davon bekommen und hätte wahrscheinlich vor der Haustür auf mich gewartet.
»Ich mach drei Kreuze, wenn das Ding mal kaputt geht«, keuchte ich, als ich mit wackeligen Beinen von dem Teufelsding abstieg und Damien unsanft seinen Helm in die Hände drückte. Er grinste nur vielsagend. Schon seit dem Kuss eben hatte er so ekelig gute Laune, dass man ihm sicher eine Glühlampe in den Arsch schieben könnte und sie würde leuchten, als gäbe es kein Ende.
Er schaltete den Motor aus und drapierte den Helm ordentlich darauf. Ich befürchtete nicht, dass jemand auf die Idee käme, sich an dem Fahrzeug zu vergreifen. Hier kannte jeder jeden und jemand mit so einem Motorrad würde einen vermutlich nicht so nett behandeln, wenn er wüsste, wer ihn beklaut hätte. Ob es eine brutale, aggressive Seite bei Damien gab? Sowas wie einen Kampfdackel?
»Du weißt schon, dass du nicht mit zu mir nach Hause kannst?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust, als Damien mich irritiert anstarrte. »Wieso nicht?«
»Meine Eltern sind zu Hause«, erwiderte ich wie selbstverständlich.
Der Punk machte einen Schmollmund – der reichlich bescheuert bei ihm aussah – und stupste mir gegen die Schulter. »Ich bin auch brav.«
Beinahe hätte ich laut aufgelacht. »Ach ja? Das Risiko will ich nicht eingehen. Du fährst jetzt schön nach Hause und machst das was du immer tust, atmen und solche Sachen…«
»Ich bin dir peinlich.« Er machte ein ernstes Gesicht. »Du hast Angst, dass sie bestimmte Schlüsse ziehen könnten…«
Ich zog eine Grimasse. Eigentlich hatte er ja Recht. Ich wollte nicht, dass meine Eltern irgendwas davon erfuhren. Schon gar nicht meine Mutter. Die war unberechenbar. Außerdem hatte ich ja selbst nicht mal eine Ahnung was mit mir los war, da sollten meine Eltern nicht schon vorher sich ihre Gedanken darüber machen können.
»Gut«, brummte Damien nun, die gute Laune wie weggewischt. »Dann fahr ich jetzt nach Hause. War echt `n schöner Tag mit dir, ich gehe dann atmen.« Ich seufzte genervt auf. Er klang wie ein kleines, bockiges Kind, das kein Eis bekommen hatte. Er manipulierte mich vollkommen bewusst, dieser Schauspieler. Und es funktionierte.
»Meinetwegen kannst du mitkommen.« Damien grinste wieder wie ein Honigkuchenpferd und ich bereute es noch in derselben Sekunde. »Aber nur wenn du dich gefälligst benimmst. Sonst zerhacke ich noch diesen Abend dein blödes Motorrad.«
»Ich versuche mich von meiner besten Seite zu zeigen.« Damien klimperte mit den Wimpern und ich schlug mir die Hand gegen die Stirn. »Eltern lieben mich normalerweise.«
»Ja«, brummte ich leise, während wir zu dem Zaun liefen, der unser Grundstück eingrenzte. »Weil Eltern Kerle mit Irokesen, Tattoos und Piercings ja so sehr lieben…«
Ich musste leider auch noch klingeln, weil ich Dummbeutel meinen Schlüssel zu Hause vergessen hatte. So wie ich Minney kannte, war sie gleich nach mir abgehauen, weil sie nicht auf Gefahr laufen wollte, meiner Mutter zu begegnen. Mir fiel erst jetzt ein, dass ich ziemlich am Arsch wäre, wenn niemand zu Hause sein sollte. Ich würde ganz bestimmt nicht wieder bei Damien schlafen!
Harriet öffnete mir die Tür und machte gleich große Augen. Super, dachte ich mir seufzend, der kleine Teufel also. »Johnny, da steht so ein großer Mann neben dir…«
Ich brummte und schob meine kleine Schwester zurück ins Haus. Die Kleine sollte sich mal nicht so anstellen. Und überhaupt, was hieß denn hier ‚Mann‘? War ich denn keiner? »Das ist Damien. Und jetzt steh nicht im Weg rum. Geh spielen!«
Sie plusterte die Wangen auf – wie sie es immer tat, wenn sie sich über etwas aufregte – und stapfte davon. Prima. Das bedeutete vorerst Ruhe.
Dachte ich. Ich versuchte Damien und mich bemüht ruhig hoch in mein Zimmer zu manövrieren, doch bereits vor meiner Zimmertür erwartete mich meine Mutter, mit einem Wäschekorb in der Hand. Ihr Alibi in diesem Fall.
»Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst.« Sie lächelte wieder dieses gruselige Lächeln, das sie in letzter Zeit so gut drauf hatte. »Du musst Damien sein! Nett, dich kennenzulernen.« Sie klemmte sich den Korb unter einen Arm und schüttelte lächelnd die Hand des Punks, ohne sich auch nur irgendetwas anmerken zu lassen. Damien schien das alles seltsamerweise zu gefallen.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte er höflich und grinste sein perlweißes Lächeln. Dieser Schleimscheißer.
»Ich wusste gar nicht, dass du mit meinem Sohn befreundet bist.« Täuschte ich mich, oder blitzte da was in ihren Augen auf?! »Bleibst du bis zum Abendessen?«
Ich schnaubte laut, weil ich kaum glaubte, dass Damien nach seiner Fressorgie bei McDonalds überhaupt noch etwas verdrücken konnte, doch der schien begeistert. »Wenn ich denn darf.«
»Aber natürlich!« Sie drückte mir kommentarlos den Wäschekorb in die Hände. Freude! »Ich geh dann noch mal einkaufen. Wenn Matthias fertig mit seinem Garten ist«, sie verdrehte entnervt die Augen, was mich grinsen ließ, »dann sag ihm, dass ich kurz weg bin, ja?« Ich nickte und meine Mom verabschiedete sich lächelnd. Unten im Flur hörte ich sie summen.
Meine Mutter hatte noch nie gesummt. Wann war mein Leben so gruselig geworden?
»Deine Mom ist nett.« Damien folgte mir in mein Zimmer, wo ich den Wäschekorb ohne nachzudenken auf mein Bett schmiss. Das konnte ich auch später noch machen.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich finde sie merkwürdig«, meinte ich und schloss die Tür hinter dem Schwarzhaarigen, der schon neugierig mein Zimmer beäugte. Sicher war er entsetzt darüber, dass ich keinen Pool hier drin hatte.
»Es ist klein, ich weiß«, murrte ich, mich an meinen Schrank lehnend, nachdem Damien immer noch nichts gesagt hatte. So schlimm konnte mein Zimmer gar nicht sein.
»Ach«, machte er und grinste plötzlich ziemlich fett. »Ich finde es genau richtig so für meine Zwecke.«
Entsetzt starrte ich ihn an. Seine Zwecke? Wollte er mich in Stücke hacken und unter dem Teppich verstecken? »Was hast du denn für Zwecke?«
»Wenn du schon so fragst.« Er kam gefährlich zielstrebig auf mich zu und mein Herz kam kurz ins Stottern. Och kommt schon, nicht schon wieder…
»Meine Schwester und mein Vater sind da…«, kam es etwas kläglich aus meinem Mund, während Damien bereits beide Hände an meine Hüfte gelegt hatte und mich mit einem mir unbekannten Ausdruck musterte. Irgendwie fühlte ich mich in diesem Moment nackt vor ihm. Als wüsste er genau was in mir vorgeht, dieser Bastard.
»Dann hoffen wir mal, dass sie anklopfen«, erwiderte er trocken und rückte mir weiter auf die Pelle. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, krallte mich mit den Händen am Holz des Schrankes fest und setzte zu einer vernünftigen Antwort an, die jedoch keine Chance mehr hatte, meinen Mund zu verlassen, der bereits von Damien beschlagnahmt wurde. Mal wieder.
Ich rührte mich nicht, hörte deutlich das Rauschen des Blutes in meinem Kopf, während Damien genau zu wissen schien, was er wollte. Er beließ es bei keinem normalen Kuss, wurde fordernder und Gott weiß, warum ich darauf einstieg. Hormone? Gehirntumor? Drogen? Aber letztendlich dachte ich mir nur noch: „Wieso nicht?“ Weil du es bereuen wirst, Johnny. Doch darauf kam ich in diesem Moment nicht. War auch ziemlich schwer nachzudenken mit Damiens Zunge im Hals. Sowas lenkte eben leicht ab!
Meine Gedanken jedenfalls – oder auch mein kompletter Verstand, wie man’s nimmt – verabschiedete sich mit einem fröhlichen ‚Tschüsschen!‘ und ich vergaß so gut wie alles. Wo ich war, wie ich hieß, wer der schwarzhaarige Typ war, der so gut küssen konnte, warum meine Hände an seinem Nacken lagen…
Natürlich wehrte dieser Moment nicht ewig – wir waren ja in keinem amerikanischen Kitschfilm! Irgendwann nach einigen Minuten, es hätten fünf oder zwanzig sein können, ich hätte es nicht gemerkt, klopfte es laut und pochend an der Tür.
Ich sprang nicht wie eine erschrockene Katze weg. Diesmal stieß ich nur unwesentlich mit meiner Stirn gegen Damiens, der entnervt aufstöhnte. Langsam kehrte mein Verstand zurück und ich realisierte wieder meine Umgebung und meine Situation. Unwesentlich schwer atmend starrte ich den Punk vor mir an, der mit etwas debilen Gesichtsausdruck von mir abrückte, damit ich zur Tür gehen konnte. Dabei bemerkte ich, dass die ersten vier Knöpfe meines Hemdes offen waren und ich fragte mich ernsthaft, wann zum Teufel das passiert war.
»Johnny? Bist du da drin?« Wieder klopfte es, ich zuckte kurz zusammen und versuchte vergeblich vor dem Spiegel an meinem Schrank meine Haare wieder zu richten. Mein Glück war, dass meine Haare so gut wie immer wie durchgevögelt aussahen, deswegen würde das wohl nicht weiter auffallen.
Ich räusperte mich zerstreut, öffnete langsam und bedacht die Tür und lächelte vollkommen unschuldig meinen Vater an. Gott, schon bei dem Gedanken daran, er hätte nicht geklopft…
»Ich wollte nur fragen, wo Theresa ist.« Er schielte neugierig an meiner Schulter vorbei ins Zimmer. Ich folgte seinem Blick und hoffte inständig, dass Damien nicht noch immer vollkommen durch vor dem Schrank stand. Glücklicherweise saß er auf meinem Schreibtischstuhl und besah sich ein paar Fotos, die meine Mom – in einer ehemals kreativen Phase – an meine Wand neben meinem Bett geklebt hatte.
»Du hast ja Besuch«, bemerkte Dad und musterte Damien neugierig. Er klang ziemlich verwundert. Schön, dass ich überall als sozialinkompatibel abgestempelt wurde!
»Mom ist einkaufen«, erwiderte ich abgehackt. »Ist sonst noch was?« Auffälliger konnte man eine Person auch nicht loswerden wollen.
»Nein.« Matthias guckte ziemlich verdutzt. »Dann, äh…geh ich mal runter.«
»Gut«, brummte ich nur und warf hinter ihm die Tür zu. Eigentlich konnte er nichts dafür, dass ich mich gerade fühlte wie ein hilfloses, pubertäres Mädchen, aber…ich wollte eben kein hilfloses, pubertäres Mädchen sein! Gefühle machten mir Angst. Und dieses Gerumpel und Gewabber in meinem Körper kam sicher nicht von meinem Pausenbrot heute Mittag. Für jeden normalen, emotional gestörten Menschen da draußen auf der Welt waren Gefühle etwas bedrohliches, also verurteilt mich nicht!
»Du hast mal Fußball gespielt?« Damien deutete auf ein Foto, auf dem ich in Trikot wie ein Affe einen Ball über den Platz jagte. Ich knirschte mit den Zähnen. »Ja. Aber ich hasse Fußball.«
Er runzelte die Stirn und ließ von dem Bild ab. Dann schien er etwas anderes interessantes gefunden zu haben und grinste vergnügt. »Du sahst richtig süß aus mit dem Topfhaarschnitt früher.« Er stand auf und kam wieder zu mir rüber. »Das würde dir bestimmt immer noch stehen.« Damien gluckste und fuhr mir mit einer Hand kurz durchs Haar, dann wollte er mich küssen, doch ich drehte meinen Kopf so, dass er nur den Mundwinkel erwischte.
Er schaute mich irritiert an und nahm wieder einen Schritt Abstand. »Hast du was?«
Keine Ahnung, wäre die ehrliche Antwort gewesen. Denn ich hatte wirklich keinen Schimmer, was ich denken, tun oder fühlen sollte. Ein Schuss in den Kopf wäre mir in diesem Moment am liebsten gewesen.
Fassen wir doch mal zusammen: Ich fühlte mich zu einem Kerl, den ich gerade mal zwei Wochen kannte und der innerhalb dieser Zeitspanne mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte, eindeutig hingezogen. Ich hatte mit ihm rumgemacht, als ich betrunken gewesen war. Ich hatte ein Date mit ihm gehabt. Wir hatten vor nicht einmal fünf Minuten wie Bekloppte miteinander rumgeknutscht. Ich war am Ende.
»Mir geht’s prima«, würgte ich hervor und ließ mich ungelenk auf mein Bett plumpsen. »Gings noch nie besser.«
»Normalerweise würde ich das nach einem Kuss mit mir«, er wackelte mit den Augenbrauen, um mich aufzumuntern, doch es half nicht, »ja verstehen, aber du klingst nicht gerade überzeugend.«
»Ach?«, machte ich vor Sarkasmus triefend. »Seltsam.«
»Ist es wegen Michael?« Er setzte sich zu mir. »Ich glaube nicht, dass er etwas gesehen hat. Aber selbst wenn-«
»Was heißt hier, selbst wenn?« Ich zog die Augenbrauen zusammen und starrte den Schwarzhaarigen an. »Wenn doch, bin ich am Arsch.« Bevor es wieder ausartete wie zuvor, lenkte ich ein. »Darum geht es gerade gar nicht.«
»Worum dann? Dass du schwul bist?« Er sagte es so frei heraus, dass es mir kalt den Rücken hinunter lief. Erschrocken sah ich ihn an. »Ich muss ja nicht gleich schwul sein…«, murmelte ich leise, doch Damien verstand mich wegen fehlender Distanz ganz gut.
»Dann eben bi.« Er zuckte mit den Schultern. »Na und? Was ändert das? Mann, ich steh auf dich und wenn du nicht wenigstens ein bisschen auf mich stehst, dann war das eben eine Halluzination.«
Wie zum Teufel kam er eigentlich auf mich? Warum hatte er sich mich denn rausgepickt? Wann hatte diese Idee in seinem Kopf zu keimen begonnen? Als er ich vor der Schule gesehen hatte? In der Umkleide, wo er sich zwischen Michael und mich gestellt hatte?
»Vielleicht war es das ja auch«, nuschelte ich und legte mich nun vollends auf mein Bett. Damien antwortete eine ganze Weile nicht, saß stumm da und sah mich mit seinen seltsamen, eisblauen Augen an. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen.
»Wir sehen uns in der Schule.« Damien schnappte sich seine Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte und ging. Und ich hinderte ihn nicht daran.
Ich war so ein Idiot. Den ganzen restlichen Tag und noch am nächsten Morgen fühlte ich mich hundeelend. Die Frage meiner Mom, nachdem sie nach Hause gekommen war, wo denn ‚mein Freund‘ hin wäre, machte das alles nicht viel besser.
Es ging mir nicht nur schlecht, weil ich selber keinen Plan mehr hatte, was mit mir und meinen Hormonen so vor sich ging, sondern weil ich auch das Gefühl hatte, Damien damit immer einen gewissen Arschtritt zu verpassen. Ich hätte wenigstens nicht mit ihm rummachen sollen. Das hätte mir noch ein wenig Würde erspart, aber zu spät! Johnny versaut es natürlich richtig. Wenn schon, denn schon, was? Das ist doch alles Mist.
»Du hast ja heute eine prima Laune.« Minney saß neben mir im Bus und musterte mich skeptisch. »Hast du auf’m Nadelbett geschlafen, oder was ist mit dir los?«
»Ich will nicht drüber reden«, brummte ich ihr entgegen und legte meine Füße auf den gegenüberliegenden freien Platz ab. Eine alte Oma schenkte mir dafür einen missbilligenden Blick, doch ich starrte sie nur wütend nieder.
»Ich habe dir auch das mit Jakob erzählt«, lenkte sie ein und lächelte mich zuversichtlich an. Wenn die wüsste! »Komm schon, wem sollte ich es schon weiter erzählen? Oder vertraust du mir nicht?«
Ich seufzte niedergeschlagen und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. »Du weißt ja bestimmt noch, dass ich so etwas wie ein Date mit Damien hatte.« Ich sah durch die Lücke zwischen meinen Fingern, dass Minney ihre Augen verdrehte. »Ach, das hatte ich schon komplett vergessen! Los, erzähl schon.«
Jetzt hetzte sie mich ja schon. »Na ja, lief ganz gut«, nuschelte ich und nahm die Hände vom Gesicht, um ihr ganzes Gesicht sehen zu können. Dann senkte ich die Stimme. »Also, äh, wir haben, ähm…miteinanderrumgemacht«, rasselte ich nach langem Gestotter herunter und zog eine Grimasse, während ich Monikas Mimik beobachtete.
Sie wirkte geplättet, verwirrt und dann schien sich einen Ast zu freuen. »Echt? Wirklich? Endlich?!«
Ich prustete. »Was heißt denn hier endlich?!«
»Ach komm schon, Johnny. Er scheint richtig hinter dir her zu sein und sieh ihn dir doch mal an. War doch klar, dass selbst du da nicht widerstehen kannst.« Sie machte wieder einen auf altklug. Als wäre sie Gott.
»Das ist ja nicht alles. Ich glaube, ich habe danach etwas Mist gebaut…«
Minney stöhnte genervt auf. »Sag mir bitte nicht, dass du deine emotionale Behinderung als Grund gesehen hast, wieder einen auf Arschloch zu machen?«
Erwischt. Ich grinste schräg, was wohl reichlich bescheuert aussah, und Monika sah mich an, als wäre sie eine Lehrerin, die einen beim Abschreiben erwischt hatte.
»Das ist ja wieder typisch!« Sie gestikulierte wild und hätte mir dabei fast eine gescheuert. »Du musst es wieder versauen. Meine Fresse, was wäre so schlimm daran gewesen, wenn du dich auf ihn eingelassen hättest?« Ich wollte sie unterbrechen, doch sie schlug mir einfach brutal auf den Oberschenkel, was die Oma neben uns zusammen zucken ließ. »Du hättest doch einfach abwarten können, ob das wirklich zwischen dir und ihm was wird! Warum musst du eigentlich immer sofort alles wissen? Es wäre doch völlig egal, ob du anfangs auf Weiber oder Kerle stehst, wenn es zwischen dir und ihm funkt reicht das doch!«
Beschämt, weil Monika ziemlich laut geworden wurde, neigte ich den Kopf und legte mir die Hände an die Stirn. Ich bekam Kopfschmerzen. Super Reaktion meines Körpers auf emotionale Überforderung.
Aber verdammte Kacke, ich bemerkte gerade, dass sie Recht hatte. Und eigentlich hatte ich es ja schon gewusst. Warum machte ich mir denn auch vor jedem Mist selber Angst? Monika lag richtig. Es hätte mich nicht umgebracht, wenn ich auf Damien eingegangen wäre. Das mit dem Outen…das war eine andere Baustelle, die ich auch später hätte erledigen können. Warum schob ich nur sofort immer Panik?!
Mein schlechtes Gewissen wurde durch die Erkenntnisse nicht gerade gelindert, weshalb es mir noch in der Schule beschissen ging. Dass ich Damien die ersten vier Stunden kein einziges Mal zu Gesicht bekam, bereitete mir gewisse Magenschmerzen.
Monika entkräftete meine Selbstkritik nicht, sprach mir aber so gut zu, wie sie es eben konnte. Anderen in Sachen Gefühle Ratschläge geben konnte sie, aber was sie selber betraf…na ja.
In der zweiten, großen Pause schleifte sie mich wieder auf den Schulhof, um eine zu rauchen. Ein paar der 12-Klässler saßen drüben bei der Kirche, die genau gegenüber unserer Schule lag, und schienen zu lernen. Zum Glück war unsere Schule in zwei Häuser geteilt, sodass man ab der 9ten Klasse in ein anderes Gebäude kam – wären hier jetzt schreiende Kinder gewesen, hätten sie das nicht lange überlebt.
Dann bemerkte ich ihn. Er stand abseits, vielleicht drei Meter von uns entfernt, an die Hauswand gelehnt und rauchte, den Blick weit in der Ferne. Damien wirkte etwas bedrückt. Und das nur wegen mir. Ich Arsch.
Minney bemerkte meinen Blick und boxte mir unsanft gegen die Schulter. »Du solltest zu ihm gehen und dich entschuldigen.«
Ich biss mir auf die Unterlippe und wandte mich wieder ab. »Ja, ich weiß, aber…«
»Nichts da, aber!« Sie fuchtelte mit ihrer Kippe vor meiner Nase rum. »Das ist alles deine Schuld, dann musst du-Oh, kacke.«
Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Kacke? Was ist denn jetzt schon wieder?!« Mir blieb der Mund fast offen stehen, als ich dann auch noch mitkriegte, wie Natalie Hüfte schwingend auf Damien zu stolzierte. Ich musste mich erst einmal vergewissern, ob das nicht doch eine Halluzination war. Wieso fuhr sie eigentlich so auf ihn ab? Weil sie vielleicht wusste, dass sie ihn nicht haben konnte?
Moment. Was wenn doch? Vielleicht war Damien ja auch bisexuell…ich hatte da nie so genau nachgefragt – bis jetzt hatte es mich auch noch nicht gekümmert. Aber wenn ich Natalie so sah…Die meisten Kerle flogen ja richtig auf sie. Und wenn Damien sie auch gar nicht so unattraktiv fand?
»Äh, Johnny.« Monika neben mir gluckste. »Du guckst, als würdest du gerade in eine Zitrone beißen. Hast du, ähm…irgendwie Schmerzen?« Sie grinste so verschmitzt, dass ich annahm, dass sie genau wusste, was mit mir los war. Eifersucht. Die pure Eifersucht durchfraß mich gerade.
Und ich war im Begriff, sie los zu lassen, bis mir das Gespräch der beiden zu Ohren kam: »…hast du also nicht mal Lust was mit mir zu unternehmen?«
»Johnny«, dröhnte Minney’s Stimme an meine Ohren. Ich bemerkte, dass ich meine Hände zu Fäusten geballt hatte und meine beste Freundin mich am Unterarm gepackt hatte. Nein, ich war nicht eifersüchtig. Nur misstrauisch.
»Sorry, Kleine.« Damien grinste das Mädchen schräg an, was ziemlich herablassend wirkte. Richtig so! »Ich bin schwul.«
Ein weiterer Moment im Leben von Johnny Bauer, in dem er sprachlos gewesen ist. Minney neben mir hatte derweil so laut angefangen zu lachen, dass es fast den ganzen Schulhof beschallte. Sie riss sich erst zusammen, als ich ihr grob auf die Zehen trat.
Zwei Sachen waren ab diesem Moment eigentlich sicher: Erstens, ich müsste nie wieder eifersüchtig wegen Natalie Hausmann sein.
Zweitens, Damien Pasang würde es demnächst richtig schwer auf unserer Schule haben.
Einerseits bewunderte ich Damien für sein Selbstbewusstsein, dass er sich vor der Tratschtante und Schulnutte geoutet hatte, andererseits machte ich mir gewisse Sorgen um ihn.
Unser Kaff war nicht gerade wegen seiner Toleranz bekannt und ich ahnte bereits, dass sie bei Damien keine Ausnahmen machen würden.
Natalies Reaktion fiel schon nicht gerade wunderbar aus. Erst hielt sie es für einen Scherz, doch Damien wirkte ziemlich ernst. Dann rastete sie kurzzeitig aus, bis sie anfing, über ihn zu lachen, um ihre anscheinend gekränkte Ehre wieder zu retten. Dass ich drauf und dran gewesen bin, zu ihnen rüber zu rennen und Natalie das Make-Up herunter zu prügeln, merkte ich erst, als Monika ihren Druck an meinem Unterarm verstärkte.
»Warte«, hatte sie mir nur zu geraunt und mich los gelassen. »Ich erledige das.« Sie drückte meine Hand kurz und stiefelte zu Natalie herüber, die gerade gehässig darüber redete, wie klar ihr doch gewesen ist, dass Damien schwul war. Natürlich!
»Hey, Natalie!« Minney trampelte direkt auf die ‚Quotenbarbie‘ zu und stellte sich zwischen sie und Damien, der das alles nur mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete. »Bevor du hier einen auf Großkotz machst, wie wäre es denn, wenn du deiner Mutti beim Putzen hilfst? Du könntest deine gefakten Extension zum Aufwischen von deinem verschütteten Niveau benutzen. Und jetzt verpiesel dich, sonst weiß bald die ganze Schule, dass du so viel Geld wie Gehirnzellen hast!« Sowohl mir als auch Minney – da war ich mir sicher – war klar, dass dies deutlich unter die Gürtellinie ging. Aber ich fand es in diesem Moment richtig, denn Natalie selbst hätte nicht an diesem Punkt aufgehört.
Besagte Zicke blieb wohl die Spucke weg, denn ihr entfloh kein einziges Wort mehr, bis sie irgendwann entsetzt und besiegt wie ein Drache davon kroch. Gut, vielleicht etwas übertrieben dargestellt.
»Äh, ich schätze mal…danke?« Damien lächelte meine beste Freundin leicht an. »Auch wenn’s nicht nötig gewesen wäre. So etwas in etwa habe ich schon erwartet…Ist ja nicht meine erste Schule.«
Minney grinste ihn an und fasste sich in ihre blonde Haarpracht. Das tat sie immer, wenn sie verlegen war. Glaubt mir, es sieht lustig aus. »Trotzdem, stets zu Diensten! Ach ja, wegen…« Das Klingeln der Schulglocke übertönte ihr Gespräch und ich konnte nur noch sehen, wie sie ihre Lippen bewegten. Dann traf Damiens Blick mich, fuhr mir durch Mark und Bein und brachte mich kurzzeitig innerlich ins Stottern. Er wandte sich wieder ab, schien sich von Monika zu verabschieden und verschwand im Schulhaus.
Super. Über was zum Teufel hatten sie noch geredet?! Das war doch nicht fair! Obwohl…Ich seufzte innerlich. Nachdem, wie ich es mir verbockt hatte, war es sicherlich irgendwo gerecht.
Da Monika der Meinung war, dass sie sich nach der Nummer eine Belohnung verdient hatte, lud sie sich wie so oft dazu ein, nach der Schule mit zu mir zu kommen. Ich ließ sie, da mir ein wenig Gesellschaft vielleicht gar nicht so schaden würde. Ob Damien mit Jakob genauso wie ich mit Minney über seine Probleme redete? Wusste er eigentlich, dass die beiden…?
»Hey«, holte mich Monikas Stimme aus meinen Gedanken. Sie piekste mir mit einem Finger in die Seite. »Du hörst mir gar nicht zu, oder?«
Ich blinzelte einige Male und lächelte sie dann vollkommen unschuldig an. »Was hast du denn gesagt?«
Sie nickte in die Richtung der Fahrradständer, wo Damien stand und eine rauchte. Er schien auf jemanden zu warten, doch das war nicht das Interessanteste: Michael lief mit seiner ‚Crew‘ oder seinem Schlumpfdorf direkt auf ihn zu. Das verhieß sicherlich nichts Gutes.
»Oh, oh«, machte auch meine beste Freundin und seufzte entnervt. »Dein Freund hat heute aber keinen guten Tag.«
Mein Freund. Irgendwie waren diese beiden Worte Antrieb dafür, dass ich Sekunden später neben Damien stand, der sich ein Grinsen schwer verkneifen konnte. Michael schien gar nicht großartig auf mich zu achten, sondern starrte eher etwas verkniffen Monika an, die mit verschränkten Armen neben mir stand. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie mir gefolgt war.
»Was wollt ihr denn?«, brummte Michael, als er bei uns angekommen war. Seine dämlichen Freunde tuschelten leise und warfen ab und an einen Blick zu Minney, was diese zum Grinsen brachte. Sie mochte ihr Image und ihren Ruf und ich musste anmerken – sie wurde ihm gerecht, wenn sie nur konnte.
»Die Frage ist, was du willst. Wenn du hier bist, um irgendwelche dämlichen Sprüche loszulassen, spar‘s dir.«
»Ich wollte nur wissen, ob es so richtig ist, was ich höre.« Er grinste debil. »Scheint wohl wahr zu sein, was sich so in der Schule rumspricht…« Wow, hier alle Achtung an das Netzwerk unter Jugendlichen. Wie zum Teufel konnte sich sowas nur so schnell herum sprechen?!
»Wie wäre es denn, wenn du jetzt einfach gehen würdest, Michael?« Minney klang mehr als nur genervt. »Oder müssen wir das wieder anders regeln?« In ihren Augen blitzte etwas auf, was ich nicht unschwer als ihre Aggressivität erkannte. Da steckte sicher so ein kleiner, gemeiner Dämon in ihrem Inneren…
Michael gab einen abfälligen Laut von sich, als hätte er das hier alles gar nicht nötig. »Wir gehen«, brummte er und warf Damien noch einen Blick zu. »Schönes Leben noch, Schwuchtel!« Er grinste, während sie wie die letzten Prollos davon torkelten. Was auch immer ihn so verkorkst hatte, es verleitete mich fast dazu, mit ihm Mitleid zu haben. Aber auch nur fast.
Damien schien das Gelaber von Michael nicht weiter zu stören, denn er rauchte seelenruhig seine Zigarette zu Ende, den Blick von uns abgewendet. Als er bemerkte, dass ich ihn anstarrte, zog er die Augenbrauen zusammen und sah mich skeptisch an.
»Oh!«, machte Monika neben mir und deutete vollkommen zusammenhangslos in irgendeine Richtung. »Ich glaube, ich habe da drüben gerade John Cena gesehen! Ich muss euch wohl kurz allein lassen!« Sie grinste mich eindeutig an, zwinkerte mir zu und spazierte rüber, auf die andere Straßenseite. Was zum…?
»Johnny.« Damiens Stimme klang seltsam, gravierend anders. Sie definierte ‚Ernst‘ vollkommen neu. Ich wusste nicht, ob ich ihn anlächeln oder anmuhen sollte. Denn meine Gedanken waren gerade auf einer Kuhweide.
»Damien«, brachte ich letztendlich doch noch heraus, worauf ich richtig stolz auf mich sein konnte. Er jedoch schien meine Unsicherheit kaum zu registrieren und zog an seiner Zigarette.
»Das hättet ihr nicht tun müssen«, meinte er dann nach einer Weile, in der ich Minney dabei beobachtet hatte, wie sie hochkonzentriert mit ausgestreckter Zunge SMS schrieb.
Ich blinzelte ihn verwirrt an. »Wie?«
»Das eben«, er machte eine ausholende Geste, »mit Michael. Ich wäre auch alleine klar gekommen.«
Das überraschte mich nicht, immerhin hätte ich auch nicht vermutet, dass Damien ohne uns heulend zu seiner Mama gerannt wäre – mal abgesehen davon, dass er die sowieso überhaupt nicht ausstehen konnte. Ich zuckte jedenfalls mit den Schultern. »Ich hielt es für richtig.«
»Es tut mir leid.« Verwundert ruckte mein Kopf wieder in seine Richtung und ich blickte ihm direkt ins Gesicht. »Was tut dir denn leid?« Ich hatte keinen Dunst, worauf er hinaus wollte. Immerhin hatte ich mich die ganze Zeit elend gefühlt und war drauf und dran gewesen, mich bei ihm zu entschuldigen und jetzt...Bahnhof.
»Ich hätte dich nicht so bedrängen sollen«, erklärte er sich und pustete den Zigarettenrauch bewusst in eine andere Richtung. Er wurde mir jedoch trotzdem ins Gesicht geweht. »Ich war einfach zu…überstürzt. Es war eigentlich logisch, dass du dich bedrängt gefühlt hast, immerhin habe ich dir ja auch keine Wahl gelassen. Ich hätte mich einfach zurückhalten können und nicht so viel von dir erwarten sollen.« Er lächelte zwar, aber der letzte Teil des Satzes traf mich irgendwie. Was hieß hier denn bitte ‚nicht so viel von mir erwarten sollen‘?!
Ich seufzte jedoch nur. »Mir…« Okay, gut, dass Minney weg war, sonst würde sie ewig auf diesem Moment herum reiten! »Mir tut es auch leid. Dass ich dich enttäuscht habe und dass ich so abweisend bin und äh-ähm-äh…« Es blubberte nur noch Brei aus meinem Mund, als Damien sich grinsend zu meinem Ohr vorbeugte und ein »Schon gut« raunte. Zwickt mich. Ich glaube, sonst würde ich demnächst in Ohnmacht fallen. Definitiv nicht fair, wenn er so penetrant nach Aftershave roch. Nicht, dass ich es irgendwie…anziehend fand. Ach, ich musste mich gar nicht rechtfertigen, der Typ war eine wandelnde Hormonmaschine!
Er nahm wieder Abstand von mir und tat so, als wäre nie etwas gewesen. »Ich gehe dann mal.« Damien grinste schief, drückte seine Zigarette am Boden aus und trabte davon. Ich wusste nicht, in welche Richtung und ob das wirklich sein Heimweg war, aber das interessierte mich in dem Moment auch nicht. Wie schaffte er es eigentlich, dass sich mein Leben so schnell drehte und wendete?
Ich hab’s. Magie.
»John Cena?« Ich runzelte die Stirn, als ich mich mit Minney auf den Heimweg begab. »Mehr fiel dir nicht ein?«
Monika grinste mich verlegen an und zupfte an einer Strähne ihres Haares. »Ich find ihn heiß.«
Ich verdrehte die Augen. »Hauptsache zwei Meter groß und Muskeln wie Hulk, was?«
»Ouh«, machte sie darauf mit einem mitleidigen Ton. »Bist du neidisch?«
Gerade, als ich etwas Schlagfertiges erwidern wollte – wofür sie mich hundert pro geschlagen hätte – klingelte mein Handy wie verrückt. Umständlich fummelte ich es aus meiner Hosentasche und drückte auf den grünen Knopf.
»Hallo?« Am anderen Ende der Leitung raschelte es ziemlich.
»Johnny?«
Ich dachte mir, wen er wartet hatte, als er mich auf dem Handy angerufen hatte, seufzte aber nur. »Ja, Dad?«
»Ich wollte dir nur sagen, dass niemand zu Hause ist. Wir fahren mit Harriet und einer Freundin von ihr«, hier bitte Mädchengekicher im Hintergrund einfügen, »zu so einem Indoorspielplatz.«
Innerlich grummelte ich darüber, da ich ausgerechnet heute keinen Hausschlüssel bei mir hatte. »Oh, okay…« Ich warf Minney, die an meiner Seite klebte wie ein Kaugummi, einen Blick zu, die vielsagend mit den Augenbrauen wackelte. »Ich bin dann bei Monika.«
»In Ordnung«, ein Knacken in der Leitung, »Bis später!«
Es war gar nicht nötig, dass ich mich verabschiedete, da er bereits aufgelegt hatte. Minney hakte sich selig lächelnd bei einer Seite von mir ein und zog mich in die entgegengesetzte Richtung davon – auf, auf in die Hölle!
Das Haus der Familie Grünling war nett. Ja, nett. Nicht umwerfend, schick oder sperrig. Einfach nett. An den Wänden hingen Bilder aus Teppichen und in der Küche standen selbst getöpferte Schälchen, während gebastelte Glasschäfchen von den Decken hingen. Irgendwie konnte ich es Patrick und Monika gar nicht so verübeln, dass sie so gegenteilig geworden sind. Wenn mich noch ein Tondrache angrinsen würde, dann würde ich Tüten über sie stülpen. Große Tüten.
»Meine Eltern und Patrick sind noch auf Arbeit.« Das schien sie richtig zu begeistern. »Die kommen erst spät wieder. Was wollen wir machen?« In ihren Augen funkelte es richtig, was mir Magenschmerzen bereitete. Da ich keine Ahnung hatte, wie wir uns die Zeit vertreiben konnten, übernahm sie die Führung. Kurzer Hand schnappte sich eine Packung Eis aus dem Gefrierfach, zwei Löffel, die DVD von einem Jurassic Park Film – sie liebte diese Filme über alles, weshalb man sie mögen musste, um sich mit ihr anzufreunden – und manövrierte uns aufs Sofa.
»Also«, sie klatschte das Eis auf den Tisch und legte die DVD rein. »Erzähl mir doch, wie läuft es so mit Damien?«
Eine Falle, Johnny, eine verdammte Falle!
Ich starrte sie so lange an, bis sie frustriert aufseufzte. »Komm schon. Bitte! Es ist doch nicht so, dass ich dich nicht unterstützen würde! Ich würde dir alles sagen!«
Jetzt versuchte sie mir ein schlechtes Gewissen mit der ‚Beste-Freunde‘-Nummer einzureden. »So? Wie steht’s denn so mit Jakob?«
Sie klappte den Mund auf, brachte aber kein Wort raus. Dabei sah sie aus wie ein Fisch. »Mit Jakob? Ähm, nichts. Wir haben nur miteinander geschlafen. Sexuelle Spannung und so«, sie wedelte mit der Hand in der Luft rum, als wollte sie eine Fliege verscheuchen, »das passiert doch jedem Mal.«
»Ach ja? Dann ist es bestimmt nur Zufall, dass Jakob laut deinem John Cena Ausbruch also genau dein Typ ist? Und dass du in letzter Zeit oft gedanklich abwesend bist?«
Minney hämmerte zerknirscht den Löffel in das Eis und probierte als erste. Laut der Verpackung war es eine Vanille-Marshmallow Mischung. Wie auch immer das schmecken musste. »Ich habe dich zuerst gefragt«, murrte die Blondine und nahm den Löffel in den Mund, nur um mich darauf mit großen Pupillen anzusehen, als hätte sie eben eine Ölquelle in ihrem Garten entdeckt. »Das schmeckt fantastisch!«
Ich seufzte und schnappte mir den zweiten Löffel. »Gut«, ich löffelte mir ein wenig Eis raus, »Damien hat sich eben bei mir entschuldigt.«
Anstatt sich zu wundern – da sie doch so beteuert hatte, ich sollte mich entschuldigen – nickte sie zufrieden und lutschte an ihrem Löffel rum. »Ist doch toll.«
Minney hatte so recht gehabt. Das Eis schmeckte göttlich. Das Vanilleeis war okay, aber die kleinen, rosanen, süßen Marshmallows da drin machten es aus. »Na ja und…« Ich dachte daran, wie er sich wiedermal an mich ran gemacht hatte. Das konnte ich ihr nicht erzählen. Auf gar keinen Fall! »Er hat übrigens gemeint, dass er auf mich steht.«
Sie grinste mich fett an und fraß mit einem Haps die halbe Packung Eis. »War doch klar.«
»Ich meine nur…« Ich stoppte, als Minney mir die Süßspeise vom Löffel klaute. »Äh, für was steht denn eigentlich ‚stehen‘?«
Meine beste Freundin sah mich an, als spräche ich plötzlich Portugiesisch. »Wie?«
»Na, auf einer Skala, wo stünde da ‚auf jemanden stehen‘?«
Sie machte ein Geräusch, als würde sie nun verstehen und tippte sich übertrieben nachdenklich ans Kinn. »So zwischen ‚Lust über Nacht zu bleiben?‘ und ‚Hier hast du meinen Verstand‘.«
»Wer steht auf wen?« Erschrocken fuhren wir herum, direkt zu Patrick, der mit einer Gitarrentasche auf dem Rücken im Türrahmen stand. Mit einem gezielten Fußtritt schloss er die Tür hinter sich.
»Nicht so wichtig«, kam es von Minney wie aus der Pistole geschossen. Sie drehte sich auf dem Sofa und ragte mit dem Oberkörper über die Lehne rüber. »Wieso bist du schon da?«
»Weißt du noch, als Mom und Dad gesagt haben, sie würden uns unsere Freiheit lassen und auf jeden Vorschlag oder jede Bitte von uns eingehen?« Patrick schlüpfte hüpfend aus seinen Schuhen, die er achtlos in die Ecke warf, gefolgt von seiner Jacke.
»Ja, und?« Er grinste seine kleine Schwester an und ließ sich in den freien Sessel fallen. »Na ja, scheint so, als wäre das vorbei.«
Monika stöhnte genervt auf und legte sich so theatralisch aufs Sofa, dass sie auf meinem Schoß landete. »Was hast du getan?«
»Ich habe nur vorgeschlagen, dass sie ja mal Rock in ihrem Laden spielen könnten. Und da wollte ich ihnen eine Aufnahme von mir andrehen und dann…« Er machte ausholende Gesten, um eine explodierende Bombe zu symbolisieren. »…sind sie explodiert. Wie ich denn solche Musik produzieren könne und dass ich ihnen damit bloß nicht auf die Pelle rücken solle.«
»Nimm ihnen das nicht übel«, wandte Minney ein. Sie setzte sich wieder auf und lehnte sich an meine Schulter. Sonderlich überraschen tat es mich nicht, was Patrick erzählte. Immerhin kannte ich Herr und Frau Grünling. »Sie sind einfach…«
»Abgekaterte Öko-Spießer«, vollendete Pat überdreht grinsend ihren Satz. »Schon okay. Hab eigentlich nichts anderes erwartet. Aber die werden schon gucken, wenn ich irgendwann berühmt bin und einen Haufen Kohle habe!«
Die beiden stritten sich noch eine Weile über die Vor- und Nachteile des Star-Faktors, während ich wohl zu Luft geworden war, bis sie durch das Klingeln an der Tür unterbrochen wurden.
»Hast du noch jemanden eingeladen?«, fragte Patrick verwundert und marschierte im Laufschritt zur Haustür. Minney und ich schauten uns überrascht an und zuckten synchron mit den Schultern.
Es herrschte kurz Stille, dann ertönte eine tiefe, männliche Stimme und Monika neben mir lief augenblicklich so rot an wie eine Tomate. Aha. Interessante Reaktion.
Patrick kam mit einem schwarzhaarigen, breitschultrigen Kerl wieder, der mit perlweißen Zähnen in die Runde strahlte. »Sag mal, hat einer von euch einen heißen, muskelbepackten Typen bestellt?« Pat bemerkte, wie seine Schwester neben mir beinahe zwischen den Sofakissen verschwand. »Schwesterherz?«
Minney räusperte sich, kraxelte aus der Coach und stellte sich Jakob entgegen, der bis jetzt noch keinen Ton hervor gebracht hatte. »Patrick, das ist Jakob. Jakob, das ist Patrick, mein Bruder.«
»Freut mich«, brachte nun auch der ungeahnte Gast hervor und reichte dem Blondschopf lächelnd die Hand. Der erwiderte den Händedruck, nicht ohne ein breites, anzügliches Grinsen. »Und mich erst.«
»Ich habe keine Ahnung, warum ich mir das antue.«
Wir saßen zu viert auf dem Sofa, während Patrick den Film ‚The Big Lebowski‘ startete. Ich mochte den Film eigentlich, auch wenn er irgendwo ziemlich seltsam war. Leider waren Patrick und Minney im Begriff, mir diesen Film maßlos zu verderben.
»Okay«, meinte Monika, nachdem sie die vier Gläser gefüllt hatte. Neben den vollen Gläsern befanden sich zwei Wodkaflaschen. Ich würde heute so etwas von sterben.
»Alles bereit.« Minney salutierte ihrem Bruder, grinste vor Vorfreude und starrte auf den Bildschirm. »Auf Fuck, ja?«
»Auf ‚Fuck‘«, bestätigte Patrick und Jakob und ich sahen uns an, als wären wir in der Hölle gelandet. Da würde ich am Ende dieses Abends landen. Ein Trinkspiel zu diesem Film? Mein sicherer Tod. Mr. Moody würde sich sicher vor Freude den Hintern lecken, wenn ich nicht wieder nach Hause käme.
Ab der Hälfte des Filmes bekam ich Halluzinationen. Denn die Tondrachen schienen mir zuzuwinken und eines der Glasschäfchen sprang über einen imaginären Zaun. Ich gluckste.
»Oh man«, meinte Minney darauf, nüchterner als ein Russe zu Weihnachten. »Du verträgst wirklich überhaupt nichts.« Kurz wedelte sie mit einer Hand vor meinem Gesicht rum. Ich folgte mit meinem Blick der Hand, bis er sich verlor.
»Stopp mal den Film, Pat. Ich hol Johnny kurz was Normales zu trinken und ruf bei ihm zu Hause an.« Meine beste Freundin stand mit Schwung auf, flog dabei fast über die ausgestreckten Beine unseres Bodybuilders namens Jakob und trabte davon. Ich fragte mich, ob er tatsächlich so wenig zu tun haben konnte, dass er mitten in der Woche hier vorbei schaute, nur um Monika ihr Kleid wieder zu geben und danach Trinkspiele mit uns zu spielen. Nicht ganz koscher, musste ich sagen.
Patrick folgte ihr, anscheinend, weil er mir das Gästebett fertig machen wollte. Wie sie mich alle umsorgten! Richtig rührend.
Jakob lehnte locker neben mir am Sofa und beobachtete mich dabei, wie ich hilflos versuchte, mich aufzurappeln.
»Du solltest lieber liegen bleiben«, merkte er ruhig an. »Sonst wird dir noch schlecht.«
Ich jammerte und gab die Versuche auf. »Das ist nicht fair. Ihr könnt alle trinken wie Popey und ich? Lieg hier wie…wie…«
»Ein Schluck in der Kurve?«, half Jakob mir freundlicherweise auf die Sprünge. Ich nickte. »Mach dir nichts draus. Weißt du, wovon Damien richtig besoffen wird?« Leider konnte ich meine Neugier nicht so gut unterdrücken wie ich vielleicht gewollt hätte, da ich bei dem Namen des Schwarzhaarigen hochfuhr wie eine Rakete. Eine betrunkene Rakete.
»Von Tequila. Am besten als Cocktail, dann kriegt er kaum mit, wie er betrunken wird.« Der ebenfalls Dunkelhaarige grinste breit, was ziemlich ansteckte. Tequilas waren also eine Möglichkeit, Damien mal eins auszuwischen. Wie er wohl drauf war, wenn er einen sitzen hatte?
»Du bist gut mit ihm befreundet, oder?« Ein Wunder, dass ich noch ein vernünftiges Gespräch aufbrachte. Aber die Drachen hatten aufgehört meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und auch das Schäfchen baumelte ruhig vor sich hin.
Jakob zuckte mit den Schultern. »Sieht so aus. Hab‘ ihn vor ein paar Jahren in einem Club getroffen, als er noch ‚hetero‘ war.« Er lachte, als gäbe es einen Witz, von dem ich nichts wusste. »Wir haben uns ganz normal unterhalten, bis er mir betrunken gestanden hat, dass er nicht weiß, was er hier soll und gemeint hätte, er wäre zu schwul für diesen Club.«
Stimmte eigentlich. Auch ein Damien Pasang hatte irgendwann bemerkt, dass er sich für das eigene Geschlecht deutlich mehr interessierte als für das andere. »Und als ich darauf gelacht habe und ihm noch ein Bier ausgegeben habe, sind wir irgendwie zu Freunden geworden.« Es wunderte mich, dass er sich anscheinend nicht an Jakob heran gemacht hatte. Denn der war attraktiv, oder zumindest deutlich attraktiver als ich. »Den wird man sowieso nicht mehr los, wenn der einen einmal angequatscht hat«, brummte ich und schnappte mir ein Kissen, um es gegen meinen Bauch zu drücken. Vielleicht würde so ja die Übelkeit verschwinden.
Er lachte über meinen ‚Witz‘, der eigentlich vollkommen ernst gemeint war und kippte sich sein Glas Wodka, einfach so zwischendurch, in den Rachen. Mein Mageninhalt klopfte gerade an die Vordertür, bei dem Gedanken daran, noch mehr zu trinken. »Er mag dich wirklich, weißt du?« Jakob sah mich ernst an und stellte sein Glas wieder ab.
Ich seufzte und vergrub mein Gesicht im Kissen. Als ob ich das nicht langsam wüsste. Das einzige, was dabei noch stetig an mir nagte, war die Frage wieso. Wieso stand ein Damien Pasang auf mich? Wieso war er nicht längst einfach gegangen und hatte sich einen anderen Kerl gesucht?
»Minney scheint dich auch zu mögen…«, warf ich nach ein paar Minuten des Schweigens ein, was ihn nicht im Geringsten so ausflippen ließ wie besagte Blondine. Er grinste gut gelaunt und schaute in Richtung Küche, in der sich Monika gerade befand und mit meinem Dad telefonierte. »Ich glaube, sie braucht jemanden, der sich nicht von ihr unterbuttern lässt…«
Verwirrt blinzelte ich ihn an. »Äh, schon klar…Und du meinst, du…?« Ich ließ das Ende des Satzes bewusst offen. Jakob kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht schreit sie mich an, weil sie Angst hat…vielleicht aber auch, weil ich ihr wirklich auf den Wecker gehe.« Ich gluckste belustigt und klopfte ihm versucht motivierend auf die Schulter. »Mich schreit sie auch andauernd an. Und wie du siehst, sind wir immer noch beste Freunde.« Oder eher sogar. »Das kann also zwischen euch nur was werden!« Ich hoffte einfach, dass er die Herausforderung mit dem Namen Monika Grünling bestehen würde und nicht von eben dieser in Stücke zerrissen oder verjagt wurde. Denn ich würde es den beiden gönnen.
Nach einiger Zeit kam Patrick wieder hinein getrödelt und schmiss sich zwischen Jakob und mich aufs Sofa. Er lächelte den Schwarzhaarigen unschuldig an und strich sich durch das ungeordnete, blonde Haar. »Ich will es nur mal sagen, aus reinem Verständnis«, plauderte er drauf los, den Blick auf Jakob, »Wenn du es tatsächlich schaffen solltest, meine Schwester in irgendeiner Weise zu verletzen, ob körperlich oder psychisch, werde ich dich finden, dich schnappen und dein Inneres mit großem Vergnügen nach außen stülpen.« Für einen kurzen Moment bereitete mir das, was ich in Patricks Augen bemerkte, Angst. Dabei stellte ich fest, dass ich ihn vielleicht doch nicht so gut kannte, wie ich vorher gedacht hatte. »Also!«, sein Ausdruck war wieder normal geworden, er lächelte, als wäre nie etwas gewesen. »Wer will noch Wodka?«
Am nächsten Morgen dröhnte mein Schädel, als wäre man mit einem Schwertransporter drüber gefahren. Ich war der festen Meinung, dass mein Hirn irgendwo im Zimmer verteilt hätte liegen müssen.
Ich war ziemlich dankbar dafür, dass ich bei Monika übernachten durfte. So hätte ich es wahrscheinlich gar nicht ordentlich nach Hause geschafft und selbst wenn – ich glaube kaum, meine Eltern wären begeistert gewesen.
Also holten wir am nächsten Morgen noch schnell meine Sachen von zu Hause ab und machten uns auf zur Schule. Patrick war ein chronischer Langschläfer, deswegen bekam ich ihn nicht mehr zu Gesicht. Jakob hatte sich am Abend bereits verabschiedet und war nach Hause gefahren, trotz aller Angebote von Patrick (der sich schelmisch grinsend dabei die Hände gerieben hatte), dass er doch ebenfalls hätte bei uns übernachten können.
Wenn man von meinem mördermäßigen Kater absah, dann war es eigentlich ein Tag wie jeder andere. Ich bekam eine eins auf die letzte Mathematikarbeit – Minney musterte mich deswegen die Hälfte der Stunde und behauptete dann, ich wäre ein Alien – und eine Stunde Französisch fiel aus, während der ich Monika bei ihrer Biologiehausaufgabe half.
Letztendlich hatte ich nur noch zwei Stunden Sport zu absolvieren, dann konnte ich meinen brummenden Schädel ins Klo oder in den nächsten Kühlschrank stecken. Es war lächerlich, aber in der Umkleide herrschte schiere Panik, weil jeder verdammte Kerl so weit weg wie möglich von Damien kommen wollte – als hätte er eine ansteckende Krankheit, die einem das Hirn absterben ließ. So wie es aussah, war das schon passiert. Es wunderte mich, dass sie nicht bemerkten, dass sie so aneinander gedrängt viel seltsamer wirkten, als Damien, der das grinsend beobachtete.
Allgemein war die Toleranzrate bei uns an der Schule gleich Null. Immer wieder hatte jemand seltsame Sprüche, abfällige Kommentare oder Beleidigungen gegenüber Damien fallen lassen. Dass mich das rasend machte, amüsierte ihn noch mehr. Ich hatte keine Ahnung, wie er so gut damit klar kam und wie er daran noch seinen Spaß fand.
»Hey«, Damien boxte mir in die Seite, als wir zusammen die Turnhalle betraten, »Guck nicht so verkniffen…das gibt Falten.« Als er mir dann auch noch vor versammelter Mannschaft in den Hintern kniff, konnte ich ihn nur sprachlos anstarren.
Dieses Mal kündigte Herr Fuchs an, dass wir Fußball spielen würden. Ich ließ mir nichts anmerken, aber am liebsten wäre ich vor den nächsten Zug gesprungen. Fußball! Ich konnte wirklich vieles akzeptieren, aber nicht Fußball.
»Was regst du dich denn so auf, Bauer?« Einer von Michaels Freunden, ich glaubte, dass er Lukas hieß, saß rechts neben mir und starrte ziellos durch die Halle. »Du kannst doch Fußball spielen.«
Ich antwortete darauf nicht und wartete einfach ab, bis die Mannschaften gewählt wurden. Damien guckte auch nicht schlecht, als ich, im Gegensatz zu meiner sozialen Beleibtheit, als einer der ersten gewählt wurde. Es war eben doch ein Nachteil, wenn man seit Jahren mit den gleichen Leuten auf einer Schule war. Ob man wollte oder nicht, irgendwann kannte man sich.
Es war kein strategisch durchdachtes Spiel, aber ich beschwerte mich nicht, da es mir relativ egal war. Na und, dann spielten wir halt Fußball. Na und, dann verloren wir eben. Solange man mich schön in Ruhe ließ…
Das Spiel wurde nur richtig verbockt, als Michael sich den Ball per Foul bei mir holen wollte. Irgendwie neigte der Kerl in jeder Sportart dazu, ohne Rücksicht auf Verluste zu gewinnen. Wegen solch einem Ehrgeiz konnte ich Sport im Verein nicht leiden. Kämpfen bis aufs Blut? Nicht mit mir. Wir waren doch keine Gladiatoren!
Es war eigentlich überhaupt nicht Michaels Schuld, aber als ich unsanft auf meinem Hintern landete, spritzte tröpfchenweise Blut auf meine Jogginghose. »Shit«, murmelte ich, hielt mir die Hand unter die Nase und bemerkte fröhlich, dass ich Nasenbluten bekommen hatte. Bevor hier Panik ausbrach – ich hatte das öfters, war sogar schon fast chronisch. Als ich zwölf war, hatte ich einmal die Nase gebrochen und das schien schlecht behandelt worden zu sein, da mir das seither passierte. Es war lästig, aber ich konnte nicht viel dagegen unternehmen.
Dieses Mal war es sogar ziemlich heftig. Das kleine Rinnsal verwandelte sich förmlich in einen Bach. Notgedrungen meldete ich mich schnell bei Herr Fuchs ab und stürzte zurück in die Umkleide, um meine Taschentücher zu suchen. Dann flitzte ich ins angrenzende Jungenklo und drückte, den Kopf über dem Waschbecken leicht vorgebeugt, mit dem Taschentuch die Nasenlöcher zu. So würde es nicht ganz so lange bluten und außerdem auch nicht meine schöne Jogger vollsauen.
Ich stand so einige Sekunden, bis die Tür zur Toilette aufflog und ein abgehetzter Damien eintrat. Als er mich sah, kam er sofort auf mich zu und lehnte sich mit besorgtem Blick gegen die geflieste Wand. Ich beobachtete ihn durch den Spiegel, da ich den Kopf nicht weiter neigen wollte.
»Dieser Arsch«, fluchte Damien neben mir. Ich runzelte die Stirn, weil er ziemlich wütend wirkte, sagte aber nichts. »Das hat dieser Dreckskerl doch mit Absicht gemacht. Ich weiß nicht, was sein Problem ist, aber er wird gleich noch eins haben…« Der Schwarzhaarige schnaufte aggressiv, die Hand, mit der er sich nicht an der Wand abstützte, zur Faust geballt und wirkte dabei eher wie ein wütendes Stinktier, als tatsächlich irgendwie bedrohlich, weshalb ich laut anfing zu lachen. Er dachte also, mein Nasenbluten rührte daher, dass Michael mich so ruppig gefoult hatte. Ich musste gestehen, dass ich seine Besorgnis ganz niedlich fand.
Er schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust, den Blick strikt auf mich gerichtet. »Wieso…wieso lachst du?« Damien nahm die Arme wieder herunter und ließ sie bewegungslos neben dem Körper baumeln. Ich schüttelte mich derweil noch vor Lachen, bis ich mich wieder einkriegte und mein blutendes Köpfchen über das Waschbecken hielt.
»Du kannst richtig süß sein«, grinste ich ihn an, wobei meine Stimme äußerst nasal klang. Es schien ihn zu beruhigen, da er das Grinsen halbherzig erwiderte. »Das«, ich deutete auf meine blutende Nase, »war nicht Michael. Das habe ich öfters.«
Damien zog eine Grimasse, wirkte aber ziemlich erleichtert. Dabei war ich mir sicher, dass er mich gerächt hätte, wenn die Chance gekommen wäre. »Also muss ich niemanden vermöbeln?«
»Nein«, erwiderte ich nüchtern und seufzte genervt, als das Bluten immer noch nicht stoppte. »Höchstens das Karma.«
»Hey, sieh’s positiv«, raunte mir Damien zu und wie am Vortag wurde ich dadurch äußerst nervös, »mit dem ganzen Blut wirkst du richtig sexy.« Er schlang von hinten die Arme um mich und grinste mich durch den Spiegel an. Ich zeigte ihm fröhlich meinen Mittelfinger. »Wirklich sehr witzig!«
Sein Gesichtsausdruck wurde wieder ernst, er löste sich aber dennoch nicht von mir. Anscheinend brauchte er seine tägliche Kuscheldosis. »Woher kommt das?«
»Als ich zwölf war, habe ich mir die Nase gebrochen.«, erzählte ich nüchtern und wechselte das Taschentuch, das bereits vor Blut triefte.
»Die Nase gebrochen? Wie denn?« Endlich ließ Damien von mir ab, trat einen Schritt zurück und musterte mich von der Seite. Ob Blut leicht aus der Kleidung zu waschen war?
Ich zuckte mit den Schultern. »So halt.«
»So halt? Bricht man sich so eine Nase?« Skeptisch zog er die Augenbrauen hoch.
»Mann«, ich stöhnte genervt, »Es ist doch egal.«
»Mich interessiert es aber«, ließ er nicht locker. »Du kannst es mir doch sagen. Oder ist es so schlimm?«
»Du kannst nicht akzeptieren, dass ich dir mal etwas nicht erzählen möchte, was?« Ich war genervt und gereizt. »Bei einem Spiel hat der Gegner mir mit dem Ellbogen die Nase gebrochen. Hat `ne rote Karte dafür gekriegt. Das war’s, mehr nicht.«
Damien schaute mich gespannt an, als erwartete er noch etwas. Doch ich schwieg. »Wie lange hast du Fußball gespielt?«
»Vier Jahre«, brummte ich und tupfte mir das Blut unter der Nase weg. Langsam stoppte der Blutfluss.
»Lass mich raten, wenn ich dich frage, wieso du aufgehört hast mit Fußball, antwortest du mir nicht?« Er grinste schief, nahm mir das benutzte Taschentuch ab und warf es in den Mülleimer. Dann besah er sich meine Nase und nickte bestätigend. »Hat aufgehört.«
»Doch«, wandte ich ein und ließ seine Fürsorge über mich ergehen. »Weil Fußball der größte Mist ist.« Ich grinste vielsagend, er verdrehte genervt die Augen und nahm wieder Abstand. »Wenn ich nicht so auf dich abfahren würde, wäre mir das alles schon zu viel geworden.« Was’n Kompliment. Er schien seinen Charme ja heute mit Gabeln gelöffelt zu haben.
»Wenn ich so kompliziert bin, dann geh doch«, zickte ich und befeuchtete ein weiteres Papiertaschentuch, um das bereits trockene Blut von Kinn und Nase zu wischen. Andauernd hieß es, ich wäre so ein Arsch! Bitte, dann sucht euch doch eure Zuckerwattefreunde.
»Ouh«, machte er langgezogen und tätschelte mir die Wange. »So leicht wirst du mich nicht los. Außerdem stehe ich auf Herausforderungen.« Er gluckste, zog mich am Kinn näher zu sich und drückte mir seine Lippen auf. Ich erlaubte mir nur zeitweilig darauf einzugehen, ehe ich ihm kurzer Hand einfach auf die Lippe biss. Spontane Idee, verurteilt mich nicht.
»Autsch«, er ließ mit einem Ruck von mir ab. Er fluchte, schüttelte über mich den Kopf und checkte im Spiegel, ob ich ihn nicht irgendwie verletzt hatte. Weichei. »Du bist ja heute wieder bissig.«
»Ich dachte, du stehst auf Herausforderungen?« Provokant verschränkte ich die Arme vor der Brust. Erst die große Klappe und dann doch nichts – wie erwartet.
»Ja, eben deswegen lass ich mir ja die Lippen von dir malträtieren.« Er machte ein Schmollgesicht. »Und wenn ich das nicht tun würde, wäre ich niemals so doof, es ein zweites Mal zu probieren, oder?«
Er küsste mich überraschenderweise wieder, doch dieses Mal konnte ich nicht die Willenskraft aufbringen, ihn erneut zu unterbrechen – mal abgesehen davon, dass er sich ziemlich anstrengte. So fordernd und grob hatte er mich bis jetzt noch nie geküsst, aber…na ja, für alles gab es eben ein erstes Mal. Wir stoppten erst, als ich mit dem Rücken gegen ein Waschbecken stieß. Ich stützte mich darauf ab und schnappte etwas hilflos nach Luft. Und nach Fassung, denn die schien er mir gerade eben ausgesaugt zu haben.
»Nicht schlecht«, er fuhr sich grinsend mit einer Hand über den Mund, »Du scheinst von mir zu lernen.«
Ich schnaubte abfällig. »So wird es sein.« Das seltsame Grinsen war dennoch nicht aus unseren Gesichtern zu wischen. Es war seltsam. Ich fühlte mich seltsam. Es war irgendwie das selbstverständlichste der Welt, dass sich das zwischen Damien und mir so entwickelt hatte. Und wenn es so weiter ging und sich nicht bald herausstellen würde, dass er ein gesuchter Schwerverbrecher ist, dann würde das hier eventuell klappen. Also, so richtig, ‚klappen‘. Ich meine, die Chancen standen ganz gut, wenn ich schon keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, obwohl er tatsächlich nur neben mir stand.
Damien hatte mich beim Nachdenken die ganze Zeit lächelnd beobachtet. Der Moment war bizarr, aber ich erwiderte sein Lächeln. »Ich…« Er setzte an, atmete tief ein und hob die Hand, ließ sie aber wieder fallen. »Du?«, versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen. Es musste etwas wichtiges sein, wenn ausgerechnet er einmal zögerte. Ein unsicherer Damien war immerhin eine Rarität.
»Ich will dir nur sagen, dass…ich-«
»Hey.« Lukas platzte rein, die Klinke der Tür in der Hand und uns ziemlich ungeduldig anstarrend. »Herr Fuchs sagt, ihr sollt wieder reinkommen. Und zwar sofort.«
Ich warf Damien einen Blick zu, der so viel heißen sollte wie ‚Wir reden später‘ und folgte Lukas wieder aus dem Jungenklo. Es bestand keine Möglichkeit, dass Lukas irgendwie die richtigen Schlüsse ziehen konnte und seltsamerweise schätzte ich ihn auch im Gegensatz zu Michael nicht so ein.
Wieder in der Halle setzte ich mich mit Damien auf die nächste Bank und beobachtete meine Mannschaft, wie sie gerade spielte. Mein Verlust schien nicht sehr groß gewesen zu sein, da wir trotz gegnerischer Bemühungen führten.
Mein Blick fiel auf meinen Sitznachbarn, der sich nachdenklich auf die Unterlippe biss und auf das Parkett starrte. Ich fragte mich, was Damien mir hatte sagen wollen…
»Was würdest du tun, wenn das dein letzter Tag wäre?«
Wir saßen zu dritt auf einer freien Bank auf dem Schulhof. Der Unterricht war zwar vorbei, aber es schien nicht so, als würde einer von uns demnächst nach Hause gehen. Außerdem war ich in dem Moment sowieso zu faul aufzustehen.
Während Minney schon wieder eine rauchte, hatte Damien dieses Mal nicht zu dem Gift gegriffen, saß ruhig neben mir und schaute in den klaren Himmel. Ziemlich gutes Wetter heute, stellte ich fest.
Entsetzt fiel bei der Frage mein Blick auf den Schwarzhaarigen. »Stirbst du etwa bald?«
Er lachte eine Weile, Minney kicherte leise, bis er sich räusperte und mich von der Seite her anlächelte. »Keine Angst. Das war reine Neugier. Ich werde nicht sterben…bin kerngesund.«
»Was ich tun würde, wenn das mein letzter Tag wäre?«, hakte ich nach, worauf er nickte. Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. Mein letzter Tag…
»Ich bin mir nicht so sicher«, fing ich an und kontrollierte die Umgebung. Keiner mehr da, wir waren tatsächlich die letzten, wenn man von dem Hausmeister absah, der gerade zum Schulhaus schlürfte. »Wahrscheinlich etwas in der Richtung…«
Keine Ahnung, woher ich die gute Laune und diese gewisse Überwindung nahm, aber es fühlte sich eben gut an, wenn ich ihn küsste. Wenn man einmal auf den Geschmack gekommen war…
Als ich wieder von ihm abließ, hatte er einen so überraschten Gesichtsausdruck drauf, dass ich anfangen musste zu lachen. Dass ich das mal erlebe!
»Wer bist du und was hast du mit Johnny gemacht?« Ich verdrehte über diesen klassischen Scherz die Augen und lehnte mich wieder zurück. Dabei fiel mir auf, dass Minney uns lächelnd beobachtete. Als wären wir ein altes Ehepaar.
»Was würdest du denn tun, wenn das dein letzter Tag wäre?«, drehte ich nun den Spieß um und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Der Tag heute war doch gar nicht so schlecht.
»Ich weiß auch nicht so genau…« Schalk stahl sich in seine Augen, als er mir die Hand in den Nacken legte. »Aber ich denke, wir werden uns einig sein…«
Ich grinste in den Kuss, war viel zu ekelig gut gelaunt, um zu registrieren, dass wir uns gerade aufführten wie ein frisch verliebtes Paar. Na gut, vielleicht waren wir das ja auch…
Minney neben uns seufzte. »Ihr seid schon süß und so, aber wisst ihr, heute ist nicht der letzte Tag und ich muss leider nach Hause.«
Ich räusperte mich, fuhr mir kurz durch das sowieso chaotische Haar und stand mit einem Ruck auf. »Dann sollten wir wohl gehen, was?«
»Hey.« Damien gesellte sich zu mir und schulterte seinen Rucksack. Ich sah in eben diesem ganz deutlich eine Zigarettenschachtel und fragte mich, warum er nicht rauchte. »Ähm«, er richtete völlig selbstverständlich mein Shirt, das wohl verrutscht war, »Könnte ich noch mit zu dir?«
Verwirrt beobachtete ich seine Finger, die an dem T-Shirt zogen. Meine Mutter war arbeiten, nur mein Vater war zu Hause. Meine Schwester hatte noch irgendeine Probe wegen ihrer Theater-AG.
»Klar«, zuckte ich also mit den Schultern, »Gibt’s dafür einen bestimmten Grund?«
Damien grinste mich an, folgte Minney zur Bushaltestelle und zog mich förmlich hinter sich her. »Brauch ich dafür denn einen Grund?«
Darauf konnte ich nur seufzen. Wenn ich ja sagen würde, dann hätte er wieder angefangen rumzuzicken und nein…bedeutete dann wohl nein.
Mein Leben war scheiße. So richtig kacke. Immer wenn ich dachte, es würde vielleicht doch gar nicht so schlecht laufen, entleerte jemand boshaft lachend eine Schublade voller Mist auf meinem Leben.
Diesmal traf es mich sogar richtig unerwartet und fest in der Magengegend. Da mein Vater draußen ziemlich verkniffen an den Obstbäumen herumwerkelte und auf mein ‚Hallo‘ nur mit einem griesgrämigen Brummen geantwortet hatte, spazierten wir einfach weiter. Es hätte mich eigentlich irritieren müssen, als ich einen fremden Männermantel an der Kommode entdeckte, dachte mir aber nichts weiter dabei. Es war ziemlich still im Haus, weshalb ich mit Damien im Gepäck einfach ins Wohnzimmer stolperte. Ohne großes Gerede und ohne dass ich hätte Einwende aufbringen können, zog er mich an der Hüfte zu sich. Es hätte höchstens noch ein Blatt Papier zwischen uns gepasst und wieder roch er penetrant nach herbem Männerparfum. Fand ich persönlich gut.
Es hätte ein schöner Moment sein können, mein Puls setzte aus und wieder tauchte dieses dämliche Grinsen in meinem Gesicht auf, doch es wurde mir gründlich verdorben.
Wie? Nun ja, es war eben nicht so toll, wenn der Großvater aus der Küche marschierte und mitten rein platzte, mit meiner Mutter gleich im Gepäck. Der Vater meiner Mutter – ehe würde ich mir auf die Zunge beißen, als ihn ‚Opa‘ zu nennen – starrte uns an, als wären wir zwei Dämonen, die gerade vor seinen Augen aus der Hölle gekrochen waren. Dann folgte das, was ich bereits erwartet hatte, während ich schnell wieder Abstand zwischen Damien und mich brachte. Er rastete aus.
»JOHNNY BAUER!« Es war lustig, wie seine Nasenflügel bebten, wenn er wütend war. »Was um Gottes Willen geht hier vor sich?!«
»Hallo, Peter«, begrüßte ich nüchtern. Damien neben mir schien wie festgefroren und starrte nur immer wieder von mir zu dem alten, dicken Sack, der mich in diesem Moment am liebsten hochkant in ein Internat gesteckt hätte – glaubt mir, ich kenne ihn.
»Du sollst mich Großvater nennen!« Der Grauhaarige hatte die Augen verengt und tötete den schwarzhaarigen Punk neben mir gerade förmlich mit seinen Blicken.
»Und du kannst mich mal«, war meine freundliche Antwort, die mir viel leichter von den Lippen floss als gedacht.
»Wie redest du denn mit mir?! Ich komme nach all dieser Zeit wieder einmal zu Besuch, um meine Enkelkinder zu sehen und muss mir das hier…« Er warf Damien einen angeekelten Blick zu, »…ansehen. Du bist eine Schande!«
Welche Überraschung. Ich zog die Augenbrauen hoch und schaute zu meiner Mutter, die sich vollkommen genervt die Stirn massierte. Sie signalisierte mir, dass ich ruhig bleiben sollte und begab sich wieder in die Küche. Ich folgte ihr, meinen Begleiter einfach am Handgelenk hinter mir herziehend. Sonst würde Peter ihn noch an den nächsten Scheiterhaufen binden und verbrennen.
Wir setzten uns zu viert an den Esstisch und bei dem verbitterten Gesichtsausdruck meines Großvaters ging mir auf, wieso Dad so mies gelaunt gewesen war. Er hatte schon immer kein gutes Verhältnis zu seinem Schwiegervater gehabt – so gesagt, hatte niemand jemals ein gutes Verhältnis zu Peter gehabt. Eben deswegen war meine Mutter so weit weg gezogen, aber leider schien man nie Ruhe vor ihm zu haben. Wieso hatte sie ihm auch unsere Adresse gegeben?
»Opa ist für zwei Wochen zu Besuch hier her gekommen«, selbst meine Mutter spuckte die Bezeichnung ‚Opa‘ förmlich aus, »und wird bei dir im Zimmer schlafen, Johnny. Du wirst derweil auf einer Matratze bei Harriet schlafen.«
Ich lupfte eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde hier wohl nicht gefragt? Bevor er«, ich machte eine abfällige Geste in die Richtung des Alten, der deswegen am liebsten gleich wieder an die Luft gegangen wäre, »vierzehn Tage in dem gleichen Haus wie ich lebt, tanz ich Hula auf dem Mond.«
»Das hat er bestimmt von Matthias«, würgte Peter abfällig hervor, »Dabei bist du immer so ein ruhiges und liebes Kind gewesen…« Ich stöhnte genervt. Ja, damals, als ich meinen Mund noch nicht geöffnet hatte und mich durch Schokolade hatte bestechen lassen. Die Betonung liegt also auf gewesen. Irgendwann verstand jeder, dass mein Großvater ein niederträchtiges Schwein war.
»Du hättest ihn damals auf das Sportinternat schicken sollen!« Ich glaube, mein Schwein pfeift! »Dann hätte er jetzt wenigstens Disziplin und würde sich nicht mit…solchen Jungs rumtreiben.« Na, was sagte ich? Internat bedeutete bei dem Vater meiner Mutter übersetzt so etwas wie ‚Lösung für alles‘. Mein Onkel hätte auch langjährig eins besuchen müssen, wenn er nicht einfach abgehauen wäre. Deswegen mochte ich meinen Onkel. Der war unkompliziert.
»Mein Sohn wird tun und lassen, was er will«, erwiderte meine Mutter mit ihrer nüchternen Tonlage, die pure Disziplin bei ihr ausdrückte. Ich wette, sie würde ihn am liebsten in dem Moment aus dem Haus schmeißen. »Ich vertraue darauf, dass er sich seine Freunde gut auswählt.« Sie lächelte Damien an, der nur hilflos den Mund verziehen konnte. »Und außerdem ist dieser junge Mann der Sohn einer wichtigen Sponsorin.«
»Geht es wieder um deine Karriere als Wissenschaftlerin?« Peter tat so, als wäre Mom eine Prostituierte. »Ich habe dir damals dazu geraten, dass du Ärztin wirst…aber du wolltest nicht. Deswegen musst du jetzt nicht meinen Enkel verkaufen, als wäre er Nutzvieh. Und was soll dieser Junge eigentlich darstellen? Einen Inhaftierten?«
Okay, meine Mutter war gerade kurz davor zu explodieren. Ihr rechtes Auge zuckte unkontrolliert und sie putzte ihre Brille so brutal, dass sie sich verbog. Bemüht unauffällig schnappte ich mir Damien bei der Hand und rannte wie eine gestochene Sau mit ihm die Treppen hoch, in mein Zimmer. Peter rief uns irgendetwas hinterher, aber kurz darauf wurde er auch schon durch Mom unterbrochen, die mit deutlich erhobener Stimme etwas zischte. Gut, dass wir abgehauen waren. Wenn sie einmal wütend wurde, konnte man tatsächlich nur noch die Beine in die Hand nehmen…
Oben angekommen warf ich die Tür hinter uns zu und setzte mich schnaufend auf mein Bett. Damien lehnte äußerst überwältigt an der Wand und starrte mich an, als wäre ich ein Überlebender eines Tsunami. »Das ist dein Großvater?«
»Ich würde gerne ‚nein‘ sagen, aber leider Gottes ist er das tatsächlich.« Nachdenklich fuhr ich mir mit einer Hand durchs Haar. Mein Blick schweifte durchs Zimmer und ich überlegte, wie schnell ich die wichtigsten Dinge zusammengepackt hätte. Nur zu wem sollte ich gehen?
»Wow«, schnaubte Damien und stützte sich an meinem Schreibtisch ab. »Ich bin ausnahmsweise richtig froh, dass meine halbe Familie unter der Erde liegt.«
Mit einem Ruck stand ich auf, riss meine große Sporttasche aus dem Kleiderschrank und packte alle nötigen Sachen ein. Ich würde hier keinesfalls bleiben, wenn Peter hier sein würde. Zwei Wochen lang? Nicht. In. Diesem. Leben.
»Hey«, der Schwarzhaarige beobachtete verwirrt, wie ich einige Schulsachen, gefolgt von Klamotten, in die Tasche schmiss, »Was wird denn das?«
Ich registrierte ihn wieder, als hätte ich vergessen, dass er da gewesen war und stellte die Tasche auf dem Bett ab. Nicht einmal eine Sekunde hatte ich daran gedacht, ihn zu fragen, ob ich derweil bei ihm wohnen könnte – ich zweifelte nicht an dem Platz in der Villa, aber eher daran, wie sich das auf ihn und mich auswirken könnte. Kurzum, ich fand es dafür viel zu früh. So eine aufdringliche Person war ich nicht.
»Tut mir leid, dass du das miterleben musstest«, fing ich freundlich an und dirigierte ihn aus dem Zimmer, wieder die Treppen runter, leise an der Küche vorbei bis zur Haustür. Er ließ es kommentarlos geschehen. »Vergiss das alles am besten ganz schnell wieder und…wir sehen uns in der Schule, ja?«
»Hey, warte mal!«, unterbrach er mich und hielt mich am Handgelenk fest. »Was wirst du-« Ich stöhnte genervt, befreite mich nebenbei aus seinem Griff und unterbrach ihn, indem ich ihm grob meine Lippen aufdrückte. Natürlich wirkte das so gut wie sofort und er ließ sich mitreißen, bis ich meinen Kopf bestimmend zurückzog und der Tür mit einem „Bis morgen!“ einen Stoß gab. Okay, vielleicht nicht das netteste, was ich bisher getan hatte, aber auch nicht das unfreundlichste, oder?
»Schon wieder!«, stöhnte Peter, der mittlerweile im Wohnzimmer stand, direkt meiner Mutter gegenüber, die mich schwach anlächelte. Sie tat mir leid. »Wann ist aus meinem Enkel eine verdammte Tunte geworden?!«
Ich bemerkte in diesem Moment deutlich, dass ich das Kind meiner Mutter war, als mein Auge zu zucken begann. Ich zeigte ihm jedoch nur meinen Mittelfinger und spurtete die Treppen wieder hoch, nahm zwei Stufen auf einmal. Mein einziger Gedanke: Nichts wie raus hier!
Ich hatte kaum die wichtigsten Sachen gepackt, da klopfte es an der Tür und Mom trat ein, mit blassem Gesicht und gebückter Haltung, als wäre sie eine geprügelte Katze. Es ging mir einfach nicht in den Kopf, wie sie es all diese Jahre mit diesem Tyrann ausgehalten hatte. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht so verdammt aufgebracht gewesen wäre, hätte ich mir das mit dem Gehen noch einmal überlegt – ihr zu Liebe.
»Zu wem wirst du gehen?«, fragte sie ruhig, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich seufzte, schnappte mir die Henkel der Tasche und warf sie mir über die Schulter. »Zu Heath. Ich hoffe, er hat einen Platz frei für mich, sonst gehe ich zu…keine Ahnung«, ich lächelte Mom an und drückte ihre Hand kurz. Die intimste Geste, die ich seit langem mit ihr ausgetauscht hatte. »Ich schaff das schon. Mach dir keinen Kopf, okay? Und lass dich nicht von ihm kaputt machen.«
Sie lachte auf, was die Spannung etwas löste. »Sagst ausgerechnet du, ja? Melde dich, wenn was ist. Ich versuche derweil mal deinen Großvater zum Schweigen zu bringen…«
»Ach ja«, setzte ich nun unwesentlich unwohl an, »Wegen Damien…ich meine, er und ich…äh…wir…«
Meine Mutter grinste mich an, klopfte mir auf die Schulter und schien irgendwie richtig stolz auf mich zu sein. »Ich tue jetzt mal so, als hätte ich es mir nie denken können und du verschwindest durch die Gartentür, ja?«
Bedröppelt marschierte ich also im Stechschritt durch die Hintertür in der Küche hinaus, vollkommen unbemerkt an Peter vorbei. Draußen angekommen klöppelte ich mit aller Gewalt die Tasche auf den Gepäckträger meines Fahrrads, das die Last hoffentlich unbeschädigt mit zu Heath tragen würde und stieg auf. Ich wank meinem Dad, der unter einem Obstbaum saß, und radelte davon. Hoffentlich bekam ich bei Heath endlich meine heißersehnte Ruhe.
Falsch gedacht! Na gut, es war alle Male besser als bei mir zu Hause und mein Cousin nahm mich so liebevoll in Empfang, dass ich mich richtig gerührt fühlte. Leo, seine langjährige, verrückte Freundin, die mit ihm zusammen wohnte, wickelte mich sogar maßlos übertrieben in eine warme Decke ein und drückte mir eine Tasse heißen Kakao in die Hände. Dann setzte sie sich zu mir und tätschelte mir den Kopf, als wäre ich ein Hund.
»Leo«, stöhnte Heath entnervt und scheuchte die Blondine auf, die enttäuscht die Backen aufplusterte. »Er ist mein Cousin und schon mindestens zwölf. Du brauchst ihn also nicht so behandeln. Und was habe ich dir beigebracht?«
»Fußgänger nicht mit Wasserpistolen abschießen?«, fragte sie unschuldig und nippte an ihrem Tee.
»Nein, das ist lustig.« Er grinste. »Ich meinte eigentlich, dass du Gäste nicht so bedrängen sollst. Was meinst du, warum die anderen Studenten nie zu uns nach Hause kommen wollen?«
»Weil ihr verrückt seid«, tippte ich frei heraus und trank von dem warmen Kakao. Nicht schlecht hier, musste ich zugeben. Ich würde zwar laut Heath auf dem Sofa schlafen müssen, aber das war ausziehbar und Felix, der Kater, der hier die Stellung hielt, war mir deutlich sympathischer als Mr. Moody. Er schnurrte mir gerade wie auf Kommando ins Gesicht und machte sich auf meinem Schoß breit. Der schwarze Kater begann auf die Decke zu sabbern, als ich ihn am Ohr kraulte.
»Sag mal, ist euer Großvater wirklich so schlimm?« Leo, eigentlich Leonie, setzte sich mir gegenüber auf Heath seinen Schoß und schlang unelegant einen Arm um seinen Nacken, nebenbei Tee trinkend, als wäre es völlig normal. Sie trug eine Jogginghose und ein Männerhemd, das ich hundert pro bereits an meinem Cousin gesehen hatte.
Wir seufzten beinahe synchron genervt auf. »Schlimm ist gar kein Ausdruck«, brummte ich und streichelte Felix am Bauch, dem das richtig zu gefallen schien. »Ich war keine halbe Stunde da und er hat mich Schande genannt und als Tunte abgestempelt.«
»Meinen Dad hat er sofort enterbt und jeglichen Kontakt abgebrochen, als er vom Internat gegangen ist und als Künstler durchstarten wollte«, erzählte Heath nun und lächelte dabei leicht. »Und was war? Mein Dad hat ordentlich Geld mit seinen Bildern verdient.«
Das stimmte. Mein Onkel war vielleicht kein berühmter Künstler wie Rembrandt, doch er hatte immer für genügend Geld gesorgt und lebte nun nicht schlecht mit seiner Frau. Dadurch, dass Heath ihr einziges Kind war, hatten sie auch nie sonderlich viel Geld bürgen müssen – was natürlich nicht hieß, dass sie ihn nicht verwöhnt hätten.
»Warum hat er dich denn eine Tunte genannt?« Verwirrt musterte mich Leo, nur um dann ratlos mit den Schultern zu zucken. »Ich finde, du siehst nicht schlecht aus.« Sie bemerkte Heaths empörten Blick und tätschelte ihm die Wange. »Natürlich nicht halb so gut wie du, Schatz.« Sie umarmte ihn und schüttelte hinter seinem Rücken in meine Richtung heftig mit dem Kopf, was mich zum Lachen brachte. Misstrauisch beäugte uns der Schwarzhaarige, bis Felix aufsprang und miauend in die Küche rannte. Ein Ablenkungsmanöver à la Katze. Fand ich gut.
»Ich geh mal die Katze füttern«, erklärte Heath, während er Leo vorsichtig von sich runter drängte und in die angrenzende Küche schlenderte, wobei Felix ihm mit erhobenem Schwanz hinterher trabte.
»Und wir gucken schön fern«, Leo grinste so breit, dass ihre Mundwinkel hätten reißen müssen, »Es gibt jetzt meine Lieblingsserie.«
Es war schrecklich, denn es stellte sich heraus, dass Leos Lieblingsserie ‚Berlin Tag und Nacht‘ war. Nicht, weil sie die Leute toll fand, sondern weil sie es richtig zu lieben schien, den Darstellern wie Tieren im Zoo zuzusehen, wie sie sich gegenseitig besprangen wie rollige Katzen. Nichts gegen Felix.
Heath fühlte sich genauso gefoltert wie ich, kannte das wohl aber schon, da er keine Einwände aufbrachte und es sich gefallen ließ, wie Leonie kommentarlos über die Fernbedienung herrschte. Man merkte ziemlich schnell, wer hier die Hosen an hatte…
Ich konnte nichts Schlechtes gegen Heath und Leo sagen. Nach meiner ersten Nacht auf dem Sofa hatte ich zwar Rückenschmerzen, aber irgendwie mochte ich es. Weit und breit keine Harriet, keine Mom, kein Dad, der im Garten mit Bäumen quatschte – es gefiel mir.
Leo beispielsweise war morgens ein gefährliches Pflaster. Das Beste war, wenn man sie nicht ansprach, bevor sie den ersten Kaffee getrunken hatte. Und wenn das geschehen war, strahlte sie in die Gegend, als hätte sie nie versucht, mich mit einer Cornflakesschachtel zu verprügeln.
Es war wirklich seltsam, aber je öfter ich in Ruhe auf dem Sofa saß, Heath und Leonie in der Küche tratschen hörte, desto wohler fühlte ich mich eigentlich. Wahrscheinlich tat es mal ganz gut eine kurze Familien-Pause zu machen.
»So!« Leo kam hüpfend und schwebend wie eine Fee herein geschneit und stellte mit bemühter Grazie einen Teller voller Chips auf den Tisch. »Wer hat Bock auf einen ordentlichen DVD-Abend mit Supernatural?«
Ich schenkte Heath einen fragenden Blick, der nur mit den Schultern zuckte und debil grinsend auf Leos Hintern zeigte, der in der engen Jeans ganz gut zur Geltung kam. Darauf konnte ich nur genervt stöhnen und mir an den Kopf greifen. Hormone, eine tückische Erfindung…
Es schüttete ohne Ende.
Ich saß mit Felix auf dem Schoß vor dem Fernseher, auf dem irgendeine Dokumentation über Häftlinge aus den USA flimmerte, die mich so viel interessierte wie die Nagellackfarben von Leo und starrte aus dem Fenster. Es war mittlerweile schon dunkel geworden, während es hoch oben in den Wolken donnerte und grummelte. Für eine Katze wirkte Felix ziemlich uninteressiert an dem Gewitter. Mr. Moody wäre bei uns zu Hause schon die Wände hochgelaufen. Heath war mit Leo zu Freunden gegangen, die sie vom Studium kannten. Ich hatte verneint, als sie mich gefragt hatten, ob ich mitkommen wollte – was hätte ich schon tun sollen? Ich hätte nur gestört und ein Abend alleine schadete mir bestimmt auch nicht. Außerdem hatte ich ja Felix.
In der Schule war mir Damien seltsamerweise nicht unter die Augen gekommen. Egal, wann oder wo, ich hatte nach ihm Ausschau gehalten, aber nichts. Der Punk war wie vom Erdbeben verschluckt. Minney hatte gemeint, dass er bestimmt nur krank war. Vielmehr hatte sie sich dafür interessiert, warum ich nicht zu ihr gezogen war, aber das hatte zwei gute Gründe. Erstens: Ihre Eltern. Herr und Frau Grünling waren gewöhnungsbedürftig und benahmen sich manchmal wie die größten Hippies. Zweitens hatte ich wieder dieses Gefühl, dass ich mich nur unnötig aufgedrängelt hätte. Mir gefiel es ganz gut bei meinem Cousin und seiner seltsamen Freundin. Der schwarze Kater neben mir schnurrte friedlich, das Zucken der Blitze draußen völlig außer Acht lassend. Er sabberte mich sogar voll.
»Wir machen uns `n netten Abend, oder?« Die hellen, gelben Augen von Felix fixierten mich neugierig. »Ich ignorier einfach, dass ich ein seltsames Gefühl wegen Damien habe und du sabberst weiter. Super, oder?« Er gähnte. »Oder willst du lieber Futter? Heath hat mir gesagt, du magst Whiskas. Wie wär‘s?« Ich seufzte auf, als ich bemerkte, wie verzweifelt ich versuchte das Interesse einer Katze zu wecken. So weit hatte es mich also schon getrieben.
Der Kater streckte sich und begann energisch damit sich zu putzen, inklusive Hinterteil, das ich als deutliches Zeichen wertete. Am liebsten hätte ich mich per Handy versichert, dass Damien nicht in der Gosse gelandet oder in Scheibchen geschnitten worden war – aber ich war ja keine Glucke und besaß außerdem noch nicht einmal seine Nummer. Arm. Aber er hatte mich auch nie nach meiner gefragt.
»Du mich auch«, brummte ich Felix zu, stand auf und trampelte in die Küche, wo ich mir die Cola aus dem Kühlschrank holte. Sonst befand sich nur Mineralwasser und Bier im Kühlschrank und beides war für mich nicht so der Bringer.
Ich nippte also an der Flasche – wofür Leo mich mit einem ihrer High Heels durch die Bude gejagt hätte, nur um sich dann mit Keksen bestechen zu lassen – und lehnte mich an die Theke. Links über dem Herd hing eine Kreidetafel, an die man schrieb, welche Sachen man beim Einkaufen zu besorgen hatte. Heath hatte sich den Spaß erlaubt einen großen Drachen zu zeichnen, der mit Flammen die Sachen verbrannte, die Leonie vorher krakelig an gekritzelt hatte. Irgendwie beneidete ich beide für ihre Beziehung. Sie waren genau auf derselben Wellenlänge, verstanden sich ohne jedes Wort. Lernte man so etwas oder wurde man damit geboren?
Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Ich stellte die Flasche weg und griff nach dem Hörer. Mittlerweile war es normal, dass auch ich abhob. Irgendein Mitstudent von Heath hatte mich mal eine geschlagene halbe Stunde vollgelabert, bis er gemerkt hatte, dass ich gar nicht mein Cousin war. Das hielt ihn aber nicht davon ab, mich gleich weiter voll zu quatschen.
»Hier bei Stelter?«, meldete ich mich und bemerkte, wie seltsam der Nachname klang. Der Geburtsname meiner Mutter. Der Nachname meines Großvaters…
»Ich bin‘s«, tönte es zurück. Mom. »Ich will mich nur nach meinem einzigen Sohn erkundigen. Ist Heath auch da? Und seine Freundin? Diese seltsame Lea oder Lily.«
»Du meinst Leonie«, korrigierte ich sie und spazierte zurück ins Wohnzimmer, wo ich mich auf das Fensterbrett hievte. »Die beiden sind unterwegs. Mir geht’s übrigens gut, mehr als gut, super.«
»Das ist schön«, seufzte sie am anderen Ende der Leitung. »Dein Großvater ist nach wie vor da und scheint auch nicht vorher gehen zu wollen. Du solltest vielleicht nochmal mit ihm reden…«
»Um wieder gesagt zu kriegen, ich sei eine Schande und eine Tunte?«, schnaubte ich wütend. »Nein danke! Ich bleibe hier bis er endlich weg ist. Warum schmeißt du ihn nicht einfach raus? Immerhin ist das dein Haus!«
»Er ist immer noch mein Vater.« Mom klang streng, räusperte sich dann aber. »Außerdem ist er so nett zu Harriet. Sie…sie mag ihn.«
Gedankenverloren spielte ich mit einer Kerze, die auf dem Fensterbrett neben mir stand. Ich war wütend, aber das schien meine Mutter nicht zu interessieren. »Ich wusste schon immer, dass etwas nicht mit meiner Schwester stimmt. Aber pass auf, nicht dass er sie zum Ballett zwingt und ihr euch dann wundert, warum sie so verkorkst ist.«
Ich legte auf und war froh, als meine Mutter nicht noch einmal versuchte anzurufen. Eigentlich meinte sie es ja gar nicht so schlecht, immerhin war ihr Vater der Tyrann, aber mir gingen die Nerven dafür aus. Ich war in der Pubertät, so gesagt hatte ich genug Probleme damit, dass ich auf Kerle stand, als dass ich mir da noch Gedanken über meinen idiotischen Großvater machen musste!
Aus purer Verzweiflung und weil es mir die Serie tatsächlich irgendwie angetan hatte, zog ich mir eine weitere Staffel von Supernatural rein. Ich musste leider zugeben, dass die beiden Schauspieler gewisse…Vorzüge hatten. Also schnappte ich mir eine Tüte Chips aus Heaths ‚Versteck‘ und schmiss mich schon zum zweiten Mal heute vor die Glotze. Felix hatte sich zum Schlafen auf seinen Kratzbaum gelegt, der genauso schwarz wie er war, weshalb man ihn kaum noch sah.
Nach der dritten Folge, so um 23 Uhr, klingelte es äußerst penetrant an der Tür. Da ich damit rechnete, dass es Heath und Leo waren, die einfach ihre Schlüssel vergessen hatten, öffnete ich nichtsahnend die Tür – und stand einem völlig durchnässten Damien gegenüber.
Ich starrte ihn einige Zeit mit offenem Mund an, während er tropfend auf der Fußmatte von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Sein Irokese war platt und von einer Spitze des Haares floss immer wieder Wasser auf seine Brust. Das T-Shirt, das er an hatte, war bereits klitschnass und lag so eng an seinem Körper, dass ich die Konturen seiner Brust erkennen konnte.
»Lässt du mich gefälligst mal rein?«, bibberte er los und drängte sich im gleichen Moment an mir vorbei in die Wohnung. Ich wachte aus meiner Trance auf, warf die Tür zu und schubste den anscheinend auch noch unterkühlten Punk ins Bad.
»Scheiße, warum zum Teufel rennst du um diese Uhrzeit bei diesem Wetter nur im T-Shirt durch die Gegend?!« Ich riss ungeachtet ein paar Handtücher aus dem Stapel und bewarf ihn förmlich damit. Er lehnte jedoch schwer atmend an der gefliesten Wand und machte kein Anzeichen, dass er sich irgendwie bewegen würde.
»Ich wollte zu dir…«, nuschelte er dann und rutschte im gleichen Atemzug an der Wand runter auf seinen Hintern. Ich stöhnte genervt, schnappte mir eines der Handtücher und begann, wie ich es von Harriet noch gewöhnt war, ihm die Haare trocken zu rubbeln.
»Um 23 Uhr? Bei Gewitter? Wie kamst du denn auf diese bescheuerte Idee?!« Ihm fielen die Augen zu, während ich von der zerstörten Frisur abließ. Unter anderen Umständen hätte ich über den verstorbenen Irokesen gelacht.
»Ich hatte Streit...mit meiner Mutter«, murmelte er und rappelte sich langsam auf, »und dann bin ich ziellos rumgelaufen, bis du mir einfielst.«
Es interessierte mich im ersten Moment enorm, woher er die Adresse von Heath kannte, beließ es aber dabei, weil der arme Kerl echt vollkommen durch war. Ich musste ihn aus den nassen Klamotten raus kriegen.
»Stell dich auf das Handtuch, sonst setzt du die ganze Bude unter Wasser. Ich bin gleich wieder da.« Ich joggte in Heaths Zimmer und nahm mir die Freiheit heraus, ein Shirt und eine Hose von ihm zu klauen – der Kerl hatte genügend Klamotten, glaubt mir. Leonies Schuhsammlung war dagegen ein einziger Witz.
Wieder im Badezimmer angekommen, legte ich die Kleidung erst mal auf den Wäschestapel, weil Damien noch immer in triefendnassen Klamotten in die Gegend starrte. »Zieh dich aus«, befahl ich ihm und nahm ein weiteres, trockenes Handtuch zur Hand. Er sah mich jedoch an, als wäre ich ein alter, pädophiler Sack. »Du musst aus den nassen Sachen raus«, erklärte ich, obwohl ich nicht gedacht hätte, dass das nötig wäre.
»Dass ich das mal von dir höre«, murmelte er und zog sich das T-Shirt über den Kopf, dass mit einem Klatschen auf den Fliesen landete. Dann machte er sich an seinem Nietengürtel zu schaffen, den er irgendwie nicht schaffte zu öffnen. Etwas debil grinsend wandte er sich an mich und fragte zuckersüß: »Kannst du mir helfen?«
Ich stöhnte genervt, verkniff mir aber einen bissigen Kommentar, weil irgendwo tief in mir der Beschützerinstinkt wütete, weshalb ich bemüht ruhig mit ein/zwei Handgriffen seinen Gürtel geöffnet hatte. Die Hose war durch das Wasser so schwer geworden, dass sie mit dem Gürtel zu Boden rutschte. Er trug eine Unterhose von Diesel.
»Steig aus der Hose«, dirigierte ich ihn und nahm die nasse Jeans in die Hände, um sie mit dem T-Shirt in die Badewanne zu schmeißen. »Die Unterhose musst du auch ausziehen, sonst frierst du dir den Arsch ab. Ich gehe während du dich umziehst-wouh!« Ich duckte mich, als er mit der nassen Unterwäsche nach mir schmiss. Mit sicherlich knallrotem Gesicht versuchte ich überall hinzusehen – nur nicht zu ihm.
»Oh, jetzt wirst du verlegen, was?« Er gluckste amüsiert und ich hörte wie Kleidung raschelte. Ich amtete beinahe laut auf, als ich realisierte, dass er sich gerade anzog.
»Ich…äh«, ich musste mich räuspern, damit meine Stimme wieder normal klang, »geh derweil Tee machen. Du magst doch Tee, oder?«
»Geht auch Kakao?« Damien lachte, als er bemerkte, dass ich immer noch apathisch an die Decke starrte. »Du kannst wieder gucken, Jungfrau. Du bist ja prüder als ich gedacht hatte.«
Ich ließ den Blick langsam durch den Raum gleiten, bis ich ihn wieder im Visier hatte. Er hatte nicht gelogen, er war angezogen, aber oberkörperfrei war er immer noch. »Ich bin’s eben nicht gewöhnt, dass nackte Kerle mit Unterwäsche nach mir schmeißen«, brummte ich und kratzte mich am Nacken. »Und Kakao geht klar.«
Ich schlürfte also in die Küche und machte mich daran, das Kakaopulver zu finden. Bis die Milch warm war, dauerte es auch einige Minuten und als ich mit dem fertigen Kakao in das Wohnzimmer spazierte, saß Damien auf dem Sofa und beobachtete, wie Sam und Dean im Fernsehen gerade einem Vampir den Kopf ab schlugen.
»Sowas guckst du?« Er nahm dankend den Kakao entgegen und verbrannte sich sogleich. Trottel. Ich setzte mich neben ihn und warf ihm die Decke zu, die grundsätzlich auf dem Sessel lag. Normalerweise schlief Felix darauf, aber für Wärmezwecke sollte sie noch herhalten.
»Gelegentlich«, erwiderte ich nüchtern. Ich zog eine Augenbraue hoch, als ich sah, wie Damien die Decke kein Stück beachtete.
»Du sollst dich zudecken, Trottel.«
»Ich bin doch kein Kleinkind mehr!«
»Du hast dir bis eben noch den verdammten Arsch abgefroren, also deckst du dich jetzt auch zu.«
»Mir wird schon wieder warm.«
»Du wirst krank. Deck dich zu.«
»Aber-« Er schloss den Mund wieder, als ich ihm einen eindeutigen Blick zuwarf. Kurzer Hand stellte ich meine Tasse auf den Wohnzimmertisch und legte eine Hand an seine Stirn und die andere an seine Wange. Wie vermutet war die Stirn heiß und seine Wange noch bitterkalt. »Du bist schlimmer als meine kleine Schwester«, seufzte ich und ließ wieder von ihm ab. »Außerdem glüht deine Stirn förmlich.«
Er blinzelte mich, von meiner Aktion wohl noch immer ein Stück überrascht, an und stellte nun auch seine Tasse ab. »Ich habe ja gehört«, begann er und grinste mich schief an, »dass Körperwärme da super helfen soll.«
»Tust du alles was ich dir sage, wenn ich mich zu dir setze?« Gott, jetzt verhandelte ich schon.
»Ich mache alles, was du sagst, Mama.« Ich verdrehte genervt die Augen und rutschte zu ihm rüber. Eigentlich hätte ich mich nur direkt neben ihn gesetzt, aber er schien andere Pläne zu haben. Mit der Begründung, das ‚wäre viel zu harmlos‘ und so würde er ‚ja nie warm werden‘ rutschte er hinter mich, platzierte mich zwischen seinen Beinen und schlang von hinten seine Arme um mich. Mir ging dabei der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass er keine Unterwäsche trug. Verdammte Hormone.
Er legte sein Kinn auf meiner Schulter ab und ich griff ganz souverän nach meinem Kakao, meinen viel zu schnellen Herzschlag ignorierend. Ich befürchtete, dass Damien ihn mehr als deutlich hörte. Und ich behielt Recht.
»Dein Herzschlag könnte sich langsam wieder beruhigen«, gurrte er hinter mir vergnügt und ich trank verkrampft einen Schluck von dem heißen Getränk. »Ich weiß schon, dass ich dich aus der Fassung bringe, aber das grenzt ja schon an hyperventilieren.« Eine seiner Hände schlüpfte unter mein T-Shirt und ich verschluckte mich brutal an meinem Kakao.
»Nicht so nervös, Johnny.« Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken und bekam sogleich eine Gänsehaut. Das war ja nicht mehr normal mit dem!
»Das sagt sich so leicht«, zischte ich und stellte flink die Tasse wieder ab. »Es würde mir wirklich helfen, wenn du deine Finger bei dir behalten könntest.«
»Wo wäre da der Spaß?« Ich biss mir auf die Unterlippe, als er plötzlich begann meinen Nacken zu küssen. Dieser Bastard! »Entspann dich doch mal ein bisschen.«
Als er dann auch noch an meinem Ohrläppchen – was ich sonst bestimmt nicht zugelassen hätte – knabberte, war es irgendwie um mich geschehen. Ich schimpfte noch ein »Idiot«, ehe ich auch schon auf seinem Schoß saß und wir uns erneut, wie so oft in letzter Zeit, um den Verstand küssten. Langsam wurde das ja schon krankhaft.
»Jetzt«, kam es zwischendurch aus seinem Mund, »wird mir warm.« Seine Hände waren weit unter mein Shirt gewandert, aber das realisierte ich in dem Moment kaum. Ich stützte meine Hände an der Sofalehne ab, damit ich nicht nach hinten fiel. Meine Eingeweide schienen zu glühen und mein gesamter Körper prickelte. Der ganze Raum knisterte förmlich. Es war anders als die letzten Male – irgendwie elektrisierender.
»Wenn wir nicht gleich aufhören…« Er atmete schwer und ließ den Satz offen in der Luft hängen, doch ich gab in diesem Moment einen Scheiß darauf. Während mein Oberteil also mit einer schnellen Handbewegung von Damiens Seite aus durch den Raum flog, hatte er wieder den Weg zu meinem Nacken gefunden. Er schien genau zu wissen was jegliche vernünftige Gedanken aus meinem Kopf fegte.
Leider waren wir so beschäftigt, dass wir das deutliche Knacken der Haustür überhörten, das Rascheln von Schlüsseln ebenso. Erst als die deutlich angesäuselten Stimmen von Leonie und Heath zu uns herüber dröhnten, brachen wir ab.
»Psst, Heath! Johnny schläft bestimmt schon.« Sie kicherte hell und das Geräusch von Schuhen, die auf das Parkett knallten, ertönte. »Warum hör ich den Fernseher dann noch?«
»Ouuh, er ist bestimmt auf dem Sofa eingeschlafen!« Damien und ich sahen uns mit hochgezogenen Augenbrauen an und konnten uns ein von Gefühlen betrunkenes Grinsen nicht verkneifen. »Vielleicht hat er ja auf uns gewartet?«
Ich rutschte derweil etwas hektisch von Damiens Schoß und fahndete nervös nach meinem Shirt, das unglücklicherweise direkt auf den Kratzbaum und somit auf Felix gelandet war. Er maunzte mich an, als ich ihm das Stück Stoff abnahm und ich beschloss mich später mit Katzenmilch bei ihm zu entschuldigen.
»Hey, Leo! Hier liegen Klamotten in der Badewanne…« Ich hörte wie sie das Licht im Bad anschalteten. Ich derweil schlüpfte in mein T-Shirt und versuchte wieder herunter zu kommen. Damien hatte sich in die Decke eingemummelt und beobachtete mich grinsend. Bestimmt stellte ich ein lustiges Bild dar.
»Scheint so als hätte er Besuch. Nassen Besuch«, stellte Leonie nun fest. In dieser Wohnung hörte man echt alles. Ich sage es euch: alles. Dann wurden die Schritte auf dem Parkett lauter und Heath stand im Türrahmen. Er grinste wie blöd und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hallo, Cousin. Willst du uns nicht jemanden vorstellen?«
Ich seufzte genervt, weil man deutlich merkte, dass der Dunkelhaarige zu viel getrunken hatte, tat aber was er sagte. »Heath, das ist Damien. Damien, das ist Heath, mein Cousin, der mich mit offenen Armen hier aufgenommen hat und wie ein Bruder für mich ist und blablabla…«
Ich duckte mich noch rechtzeitig, weil mein äußerst netter Verwandter mit einem kleinen Notizblock nach mir geworfen hatte. War ich heute eigentlich die Zielscheibe für jedermann?! »So dankst du es mir also?!«, fragte er belustigt und machte Platz, als Leo an ihm vorbei ins Wohnzimmer wollte. Sie lächelte so süß, dass es klebrig wurde.
»Ich bin Leonie, kannst mich aber Leo nennen.« Sie nahm grinsend Damiens Hand und schüttelte sie energisch, während sie sich neben ihn setzte. »Sag mal, hast du mit Klamotten geduscht oder warst du bei dem Wetter picknicken? Ach ja, willst du hier übernachten? Dann hol ich nämlich noch eine Matratze, aber ich würde nicht im gleichen Zimmer wie Johnny schlafen, der kann vielleicht schnarchen! Soll ich deine nassen Klamotten gleich waschen? Brauchst du noch was zum Anziehen?«
»Leo!«, rief ich verzweifelt und massierte mir die Schläfen. »Kannst du nicht eine Minute lang mal ruhig sein?!«
»Nur noch eine Frage!«, grinste sie und lehnte sich wie eine Therapeutin gegen die Sofalehne und musterte Damien mit verengten Augen. »Wie lange seid ihr schon zusammen?«
Frauen und ihre Intuition. Wird mir immer ein Rätsel sein.
Mein Blick schweifte abwechselnd von Leonie, die mich mit großen Kinderaugen ansah, zu Heath, der wiederum mit angestrengtem Gesichtsausdruck erst mich und dann Damien musterte, der hilflos in die Runde grinste.
Ich kam mir reichlich bescheuert vor, wie der letzte Trottel bei einer Mottoparty, der statt in Superhelden-Kostüm in Tierverkleidung auftauchte. Fehlte nur noch, dass jemand mit dem Finger auf mich zeigte. Eindeutiger ‚Fail‘ in meinem Leben. Hatten Frauen eigentlich ein Radar für so etwas? Einen siebten Sinn?
»Äh«, machte ich und lächelte Leo vollkommen unschuldig an, »du bist schon ziemlich angesäuselt, oder?« Gott, ich war so ein Idiot. Warum nicht gleich laut ‚Ablenkungsmanöver‘ schreien und aus dem Fenster springen?
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich das nicht merken würde?« Die Blondine lachte hinter vorgehaltener Hand und boxte mir gegen den Oberarm, den sie beinahe verfehlt hätte. »Du bist ja so süß!«
»Also«, machte Heath nun und verschränkte skeptisch die Arme vor der Brust, »ihr seid ein Paar? Ihr beide?« Er deutete mit dem Finger auf Damien und mich. Ersterer beobachtete misstrauisch, wie Leonie an seinem noch platten und zerstrubbelten Irokesen herumhantierte. Es sah witzig aus.
»Nein«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen und starrte Damien verwirrt an, als dieser grinsend ein »Ja« verlauten ließ. Er schien wegen meiner Antwort nicht minder irritiert. »Sowas in der Art«, einigte ich mich dann und fand, dass das gar kein schlechter Kompromiss war. Jedenfalls schien Damien darauf nicht mehr ganz so beleidigt.
»Und wie lange läuft das schon?«, hakte Heath skeptisch nach, während er sich an die Kommode lehnte. Ja, wie lange lief das eigentlich schon? Viel zu kurz. Wir kannten uns ja kaum! Vielleicht ging das hier doch einige Nummern zu schnell?
»Nicht lange«, erwiderte Damien dann und boxte mir nun auch gegen die Schulter. War wohl eine richtige Verlockung für jedermann mich zu schlagen. »Johnny hier ist eine ziemliche Jungfr-Au! Du alte Zicke!« Der Schwarzhaarige schmollte und rieb sich die Brust, in die ich ihn gekniffen hatte. Der Blick, den ich ihm gerade schenkte, hieß nur eins: Halt die verdammte Klappe! Und das schien er wohl auch zu kapieren.
»Ich geh ins Bett«, stöhnte Heath dann und massierte sich mit beiden Zeigefingern die Schläfen. »Wehe ich hör heut Nacht von euch was. Homosexualität toleriere ich, aber ich will davon nichts mitkriegen. Kapiert?«
Mir klappte der Mund auf. »Das heißt, du findest das nicht total ekelig und schmeißt mich raus?«
Mein Cousin legte darauf den Kopf schief. »Äh, sehe ich aus wie unser Großvater? Außerdem ist das doch deine Sache und…«, er beugte sich vor und verfiel in den Flüsterton, »…wenn er dir irgendwas antut, kann ich endlich mal jemanden verprügeln!«
Ich stöhnte genervt und gab ihm einen Schubs. »Du hast echt Probleme.« Verprügeln! Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete ich Damien, der Stück für Stück von Leonie wegrückte, die grinste wie ein Honigkuchenpferd. Auf Crack. Bei dem Anblick bekam man wirklich Gänsehaut. Sollte Damien es tatsächlich in einer Art richtig bei mir verkacken, zog ich Heaths Vorschlag eventuell doch noch in Betracht. Vielleicht aber auch aus Lust und Laune.
»Also, gute Nacht ihr beiden.« Damit zischte Heath ab, ohne sich noch einmal umzudrehen. Irgendwie berührte es mich, dass er mich einfach so akzeptierte – als wäre das völlig normal. Vielleicht war es das auch. Normal.
»Soll ich euch nicht noch die Matratze holen?«, säuselte Leo lieblich und lächelte ungetrübt. Leider wurde sie durch das Brüllen ihres Freundes unterbrochen, der wie ein kleines Kind nach ihr schrie. Sie verdrehte die Augen, wünschte noch eine gute Nacht und verschwand nun, leicht schwankend, ebenfalls.
»Ich geh dann mal duschen«, verkündete Damien trocken und hüpfte auf seine Beine. Ich blinzelte ihn überrascht an, aus genau zwei Gründen: Einmal, weil irgendein Teil von mir erwartet hatte, dass wir da weitermachten, wo wir gestört wurden und dann weil ich außerdem gedacht hatte, dass er es heute nicht mal mehr ins Bad schaffen würde.
»Duschen?«, hakte ich also verwirrt nach und beobachtete, wie er sich durch den langsam trocken werdenden Irokesen fuhr.
»Das kennst du doch bestimmt noch, das Ding mit dem großen, runden Wasserhahn wo in vielen kleinen Strahlen Wasser raus kommt? Wo man sich drunter stellt?«
Ich zog süffisant eine Augenbraue hoch. Wollte der mich gerade für blöd verkaufen? »Und du weißt auch noch sicher, was ein Fenster ist? So ein Ding aus Glas, wo man nach draußen sehen kann und durch das ich dich gleich werfe?«
»Ouh«, machte er und beugte sich so vor, sodass sich sein Gesicht direkt vor meinem befand. »Das würdest du nicht tun, dafür sehe ich zu gut aus. Und du magst mich.«
»Einbildung ist auch `ne Bildung…«, schnaubte ich, musste aber lachen, als er anfing, an meinem Hals zu knabbern – prinzipiell die kitzligste Stelle an meinem Körper. Jackpot.
Er ließ wieder von mir ab und sah mich schmunzelnd an. »Wenn du nicht gerade mit mir duschen willst, dann geh ich jetzt ins Bad. Du musst nicht auf mich warten Schatz, leg dich ruhig schon hin.« Damien schnurrte gespielt, als ich ihm schnaubend einen Tritt in den Allerwertesten gab. »Tu uns doch allen einen Gefallen und ertränk dich unter der Dusche.«
»Du magst mich!«, trällerte er noch, ehe er in den Flur spazierte und im Badezimmer verschwand. Das seltsame war, dass er damit recht hatte und mein dämliches Grinsen gar nicht mehr verschwinden wollte.
Irgendwann war ich eingeschlafen, nachdem Damien auch nach einer halben Stunde nicht wieder aus dem Bad gekommen war. Ich ließ genügend Platz auf der Couch, damit er sich an den Rand legen konnte ohne Risiko, dass ich ihn in der Nacht runter kickte.
Ich träumte nicht, jedenfalls nicht so, dass ich mich daran erinnern konnte. Als ich aufwachte, hatte ich nur ein Bild von meinem Großvater im Kopf, was mir sogleich ein unwohles Gefühl bereitete. Klang nach einem Alptraum.
Jedenfalls vergaß ich es schnell wieder, da mich die Umgebung aufmerksamer machte. Die Balkontür – denn Heath und Leo besaßen einen kleinen Balkon an ihrer Wohnung – stand offen und draußen erkannte ich Umrisse einer Person. Rauch stieg vor ihr auf und ich schloss daraus, dass es sich um einen nächtlichen Rauch-Drang handelte.
Da es durch die offene Balkontür im Wohnzimmer reichlich zog und etwas frische Luft gar nicht so schaden konnte, rappelte ich mich auf und schleppte mich träge auf den Balkon. Damiens Gesicht spiegelte sich im fahlen Licht der Laterne und mit dem platten, schwarzen Berg Haaren auf seinem Kopf sah er aus wie ein Krimineller. Oder wie ein Nachtgespenst.
»Hab ich dich geweckt?« Er drehte sich mit Kippe im Mund um und musterte mich amüsiert. Irgendwie kam es mir vor, als hätte er genau das beabsichtigt. Seine Frage klang scheinheilig.
»Du siehst aus wie ein Verbrecher«, erwiderte ich jedoch lediglich im Halbschlaf und setzte mich auf den Gartenstuhl, der neben einem Blumentopf mit längst verwelkten Primeln der einzige Gegenstand auf dem Balkon war.
Dem Schwarzhaarigen klappte irritiert der Mund auf und stierte mich an, als hätte ich gerade behauptet, ein Horn würde auf seiner Stirn wachsen. »Ein Verbrecher?«
»Na, mit dieser Frisur.« Ich zuckte mit den Schultern. »Siehst eben wie einer aus. Weinst du jetzt?«
»Du bist, wenn du müde bist, ja richtig charmant!« Er schnaubte, zog noch einmal an seiner Zigarette und drückte diese dann im Aschenbecher aus. »Geh am besten wieder schlafen, bevor du mir noch sagst, dass ich fett bin.«
»Du bist `n richtiges Mädchen«, brummte ich und rieb mir über die Augen, »aber ich geh nur wieder ins Bett, wenn du mitkommst.«
Damien pfiff langgezogen und schloss hinter uns die Balkontür. Ein letzter, kalter Windzug streifte meine Beine und augenblicklich überzog eine unangenehme Gänsehaut meinen Körper. »Willst du mir etwa an die Wäsche?«
Ich verdrehte innerlich die Augen, war aber viel zu müde, um in irgendeiner Art und Weise lange diskutieren zu können. »Auch. Aber jetzt will ich erst mal schlafen.« Als ich ihn dann schließlich am Kragen packte und zurück zu dem ausgezogenen Sofa schleppte, konnte er mich nur sprachlos anstarren. Damit lernte er also auch meine müde Seite kennen. Hey, wenn er dann auch noch meine hungrige Seite kennen lernte, gehörte er schon fast zur Familie!
»Du bist echt seltsam«, murmelte der Schwarzhaarige und deckte mich zu, während ich schon deutlich wieder am Einschlafen war. Ich spürte, wie das Sofa am anderen Ende etwas sank und wie automatisch drehte ich mich zu ihm. Er grinste schief und fuhr mit einer Hand durch mein Haar. Zufrieden und noch verdammt müde schloss ich die Augen.
»Ich bin total in dich verliebt, das weißt du, oder?«
Ich grunzte und spürte, wie er mir ins Gesicht pustete, kurz bevor ich einschlief.
»War das ein ja?«
Wieder ein Grunzen meinerseits, er lachte, zog mich zu sich und ich fing an, von einer rosa Amsel zu träumen, die fröhlich auf einem Ast saß und ein Liedchen pfiff. Es wirkte surreal, beruhigte mich aber enorm, sodass ich wunderbar schlief…
Durch lautes Getratsche und unverhohlenes Gelächter wachte ich schließlich am nächsten Morgen auf. Ich fand mich in einer so innigen Umarmung mit meinem Bettnachbarn vor, dass ich Angst bekam, zwischen Damiens kräftigen Oberarmen zu ersticken. Das einzige was ich heraus brachte war ein klägliches ‚Hilfe‘, das aber glücklicherweise von Leo gehört wurde. Die jedoch lediglich eine Kamera zückte und uns lieb lächelnd fotografierte.
»Wenn das auf Facebook landet, mach ich aus deiner DVD-Sammlung Sushi«, brummte ich und entzog mich dem viel zu aufdringlichen Griff des Schwarzhaarigen.
»Ich mag Sushi«, schmollte Leonie und reichte mir nebenbei die Hand, um mir aufzuhelfen. Sie legte die Kamera schnell wieder weg und führte mich zum Esstisch, wo Heath bereits saß und Kaffee trank. Ich hasste Kaffee. Den Tisch hatte jemand – und ich tendierte zu Leo – äußerst liebevoll gedeckt, mit wohl frisch gepresstem Orangensaft und Apfelscheiben auf dem Teller.
»Sie will vor unserem Gast angeben«, erklärte Heath nüchtern und stellte seine Tasse wieder ab. Mein Blick fiel dabei auf den noch immer schlafenden ‚Ehrengast‘, der gerade auf sein Kopfkissen sabberte. Sein T-Shirt hing schräg und wenn man genau hinsah, konnte man sein Tribal erkennen, ebenso den Schriftzug auf der Schulter. Es war das erste Mal, dass ich ihn las. ‚Soldier On My Own‘. Wann er sich das wohl hat stechen lassen? Manchmal fragte ich mich, was er bis jetzt schon so erlebt hatte, dass er sich so entwickelt hatte. Ich meinte das nicht schlecht – ich mochte diesen Damien, verdammt, sogar sehr, aber da existierten eben noch so einige Sachen, die ich gerne über ihn wissen würde.
»Willst du auch was essen oder lieber weiter starren?«, holte mich Leo unsanft aus meinen Gedanken und drückte mich bestimmend in einen der freien Stühle. Mit dem Spiegelei und dem Speck hatte sie versucht, ein niedliches Gesicht darzustellen, aber irgendwie wirkte es bedrohlich.
»Und was ist mit Damien?«, hakte ich misstrauisch nach, als sie in Richtung Sofa hüpfte. Ich konnte mir schöneres vorstellen, als von Heath’s verrückter Freundin geweckt zu werden. Aber auch schlimmeres, deswegen machte ich keinen Mucks, schnappte mir eine Gabel und begann – untermalt von Damiens Gebrabbel, das er heraus brachte, während Leo ihm Felix direkt ins Gesicht hielt – das Eier-Speck-Gesicht zu essen.
Nach fünf Minuten saß Damien letztendlich doch noch mit am Frühstückstisch, zwar mit Sabberfleck auf der Schulter, aber er schien halbwegs wach zu sein. Leo hatte sich in die Küche verzogen, um die Unordnung, die sie beim Anrichten des Frühstücks angerichtet hatte, wieder aufzuräumen. Heath schien unbeeindruckt.
»Deine müde Seite gefällt mir übrigens«, grinste Damien irgendwann, nachdem er eine halbe Ewigkeit gebraucht hatte, um sein blödes Brot mit Frischkäse zu beschmieren.
Ich warf ihm einen schrägen Blick von der Seite her zu. »Meine müde Seite?«
Er runzelte die Stirn und musterte mich so angestrengt, dass man meinen konnte, er würde gleich explodieren. »Kannst du dich an heute Nacht erinnern? Auf dem Balkon? Und danach?«
»Ich war wach?«, war meine einzige Gegenfrage, die Damien dazu brachte, seinen Kopf gefrustet auf die Tischplatte knallen zu lassen. Was sollte das denn wieder bedeuten? Am Ende hatte der Kerl eh wieder nur geträumt oder gar Halluzinationen von seiner ‚Klatschnass-Aktion‘ davon getragen.
»Was hat er denn?«, fragte Leonie verwundert, als sie bemerkte, wie der Herr Pasang sein wunderschönes Gesichtchen auf dem Teller liegen hatte. Wo war denn da die Etikette?
»Frag mich doch nicht!«, verteidigte ich mich und hob abwehrend die Hände. Immerhin konnte ich auch nicht in seinen Kopf gucken, obwohl das natürlich äußerst praktisch wäre, wenn man einen auf Edward Cullen machen könnte. Aber bitte ohne glitzern.
Ich bemerkte Heath‘s amüsierten Blick und wie er über uns den Kopf schüttelte. Als wäre er allwissend! »Ihr seid schon putzig«, gluckste er dann und spießte etwas von seinem Ei auf.
»Ach du scheiße, hat mein Cousin gerade >putzig
»Das ist doch der größte Scheiß«, fluchte Damien und verschränkte bockig die Arme vor der Brust. Er linste kurz, wofür Leo ihm gleich einen Klaps gegen die Schulter gab. »Halt doch endlich mal still«, herrschte sie ihn an und malte weiter mit der Körperfarbe auf sein Gesicht, speziell im Augenbereich. Es war faszinierend, wie perfekt er mittlerweile aussah.
Also, bevor hier jemand etwas falsches dachte – es war Halloween, der 31. Oktober, ich wohnte mittlerweile seit über zwei Wochen bei Heath und Leo und kurzerhand hatten die beiden uns eingeladen, sie auf eine Halloweenparty von Mitstudenten zu begleiten. Da Damien gemeint hatte, Studenten würden immer ordentlich feiern und dabei so begeistert geklungen hatte, sagten wir zu. Natürlich unter der Bedingung, dass wir uns kostümierten. Wenn Monika mich so sehen würde…
Wenn ich darüber nachdachte, dann hatte ich eigentlich noch das bessere Los gezogen. Vampir war klassisch, einfach und nicht übertrieben. Leo hatte mir zwei rote Blutfäden ans Kinn gemalt und so ein dämliches Gebiss gegeben, das ich ganz sicher nicht in den Mund nehmen werde – was weiß ich denn, wo das schon überall drin gewesen ist. Abgerundet wurde das alles durch mein weißes, blasses Gesicht und einen passenden, schwarzen Umhang. Heath hatte sich letztes Jahr als Vampir verkleidet, war aber am nächsten Morgen neben Leonie aufgewacht – lange Geschichte.
Leo selbst ging als dunkle Fee, mit tiefschwarz umrandeten Augen, lila Kleidchen und passenden, glitzernden Flügeln. Auf mich wirkte sie eher wie eine verdorbene Drag-Queen, aber das sagte ich ihr lieber nicht.
Heath passte dieses Jahr überhaupt nicht zu seiner Freundin, so als aufgeschlitzter Krankenhauspatient mit durchblutetem Kittel. Auf den ersten Blick sah er wirklich ekelig aus, auf den zweiten Blick schon eher übertrieben.
Tja, und zu guter Letzt wäre da Damien – das Skelett. Zu Ehren des Tages hatte Leo ihm die Haare zu einem perfekten Irokesen gestylt, komplett in schwarze Klamotten gesteckt und war gerade dabei, sein Gesicht in einen wunderschönen Totenschädel zu verwandeln. Ihre Talente, was das Kostümieren betraf, grenzten an ein künstlerisches Genie. Auch wenn sie nur eine drogenabhängige, böse Fee war.
Schwarz machte richtig schlank, vor allem bei Damien. Mit dem langärmligen, dunklen Pullover sah er richtig sportlich aus – und viel zu gut für einen durchschnittlichen, schlaksigen Vampir, der mit der Frisur aussah wie eine miese Kopie von Edward Cullen. Alles Leonies Schuld.
Sonderlich begeistert darüber, dass Damien mittlerweile schon über 45 Minuten bewegungslos im Bad stehen musste, war er nicht – aber wer schön sein will muss leiden, oder? Letztendlich konnte sich das Ergebnis wirklich sehen lassen. Wenn man auf der Party einen Preis für das beste Kostüm verleihen würde, bekäme er ihn sicherlich. Irgendwie hatte er die perfekte Schädelform für dieses Totenkopfgesicht. Gruselig. Aber das war ja auch Sinn der Sache.
Die Party fand in einem Wohnheim in der Nähe der Universität statt, die Heath und Leo besuchten. Da die praktisch gleich um die Ecke war, gingen wir zu Fuß dahin, ganz zu Damiens Leidwesen, denn der wurde von so gut wie jedem – meistens von Kindern – angestarrt. Wir anderen hingegen amüsierten uns prächtig.
Wie passend zu Halloween war der Sternenhimmel so klar, dass man den Mond perfekt sehen konnte. Die Straßen waren zwar spärlich beleuchtet, aber dennoch relativ belebt, durch die vielen kleinen Hexen, Feen, Mumien und was auch immer Eltern sich so für Kostüme für ihre Kinder einfallen ließen. Ich glaubte, vor unserer Haustür sogar eine Kellerassel gesehen zu haben, mit Schnüren zwischen den einzelnen Beinchen, sodass sich alle bewegten, wenn der kleine Junge einen Arm hob. Leonie hatte darüber nur den Kopf geschüttelt.
Heath war bereits bester Laune, weil er schon zu Hause eine halbe Flasche Gin getrunken hatte. Ab und zu schwankte er bedrohlich, aber Leo lenkte ihn beinahe wie automatisch wieder in die richtige Richtung.
Nachdem das fünfte, dicke, mit Süßigkeiten vollgestopfte Kind Damien eine ganze Weile seltsam angestarrt hatte, wandte dieser sich genervt an das einzige Mädchen in unserer Reihe. Eigentlich hatte ich noch vorgehabt Minney einzuladen, aber die hatte weder auf meine Anrufe noch auf die SMS von mir geantwortet, deswegen hatte ich es sein gelassen. Wer nicht will, der hat schon.
»Wann sind wir endlich da?!«, brummte er verdrossen und auf einmal wirkte das Skelett richtig traurig. Mit dem zerknautschten Gesicht kein Wunder.
Leo tätschelte ihm den Arm, während sie an dem ihres Freundes zog, damit dieser nicht in der nächsten Pfütze landete. »Es ist gleich um die Ecke. Lächel doch mal!«
Damien zog unbegeistert die Mundwinkel hoch. Mit dem geschminkten Gesicht hatte er damit was vom Joker. Es so seltsam aus, dass ich den restlichen Weg über grinsen musste.
Schon vor dem Wohnheim erwarteten uns betrunkene Studenten. Ein Mädchen erbrach sich im Gebüsch, während ein paar andere im Zwielicht standen, graue Rauchschwaden stiegen über ihnen auf. Leonie und Heath wurden in Empfang genommen, als wären sie die totalen Partylöwen, von allen Seiten wurden Begrüßungen gerufen und irgendein Mädchen umarmte unsere ‚Kosmetikerin‘ so überschwänglich, dass sie beide fast zusammen umfielen wie Reissäcke. Heath lachte darüber und klang dabei wie eine alte Hexe.
Die große Halle, die man extra für die Party leer geräumt hatte, war reichlich beschmückt. An jeder Ecke standen Kürbisse mit eingeschnittenen Fratzen, die wirkten, als würden sie einen anstarren. Ein paar richtig gute Kostüme kamen uns entgegen, von einer Zombie-Lady GaGa bis hin zu einem richtig behaarten Werwolf. Es gab sogar Bowle mit diesen Glubschaugen, die man essen konnte.
»Es ist witzig«, meinte Damien nach einer Weile, während wir am Büffet standen und Bowle tranken. Ich sah ihn skeptisch an. »Meinst du die Zombie-Lady GaGa? Tot sieht sie eindeutig besser aus.«
Er grinste über mich und nippte kurz an seinem Becher. »Die auch. Aber ich meine eigentlich, dass uns hier kein einziger kennt. Wir können tun was wir wollen…weißt du, was ich meine?«
Mein Blick schweifte über die Menge von tratschenden und tanzenden Leuten, die alle irre Spaß zu haben schienen. Sie nahmen kaum Notiz von ihrer Umgebung und ich verstand sofort, was er meinte.
»Lass uns tanzen.« Keine Ahnung, woher diese Entschlossenheit stammte, aber ich krallte mir kurzerhand Damien und zerrte ihn mit rüber zur ‚Tanzfläche‘, zu dem Stück in der Halle, das sich am nahsten an der Musikanlage und den großen Boxen befand.
Es wurde irgendeine alberne Halloween-Musik gespielt, wie beispielsweise „Thriller“ von Michael Jackson. Die Musik interessierte uns aber kaum – wir tanzten so ausgiebig miteinander, dass wir so gut wie alles andere vergaßen. Die Blicke der Studenten neben uns interessierten mich kein bisschen, als Damien beide Hände an meine Taille legte und mich so lasziv angrinste, dass ich ihm absichtlich auf den Zeh trat.
»Du könntest ruhig öfters deine schnöde Brille zu Hause lassen«, brüllte er über die Musik hinweg, direkt in mein Ohr und kniff mir dabei in die Seite.
»Und du könntest ruhig öfter als Skelett rumrennen«, erwiderte ich trocken, was ihn dazu brachte zu schmollen. »Ich könnte mich an den Anblick gewöhnen«, bohrte ich noch weiter in der Wunde herum. Er drückte mir darauf nur grob seine Lippen auf, beinahe penetrant, aber ich wehrte mich nicht.
Prinzipiell war der Abend ziemlich witzig. Damien und ich tanzten noch eine Weile, klebten dabei aneinander wie Kaugummi, bis Leo uns schließlich gewaltsam trennte, weil Heath so steinhagelvoll war, dass sie ihn nach Hause bringen musste. Mit der Begründung, dass wir den Weg zurück schon finden würden, wimmelten wir sie ab und setzten uns an einen leeren, klebrigen Tisch und tranken wieder Bowle. Irgendwie schmeckte sie beim zweiten Mal deutlich bitterer.
»Wodka«, erklärte Damien wie selbstverständlich und exte seinen Pappbecher. »Die haben da was rein geschüttet, damit es besser knallt.«
Ich zuckte mit den Schultern und bemerkte, wie eine Gruppe Studenten uns immer noch ziemlich seltsam musterte. Wollte hier jemand einen Gang-Krieg? »Du kennst dich mit sowas richtig aus, was?«
Jetzt wirkte er richtig verlegen. »Hab‘ meine wilden Zeiten eben schon hinter mir. Erfahrungen muss jeder irgendwann sammeln, oder?« Ich beobachtete, wie seine Hand wie gewöhnlich über den Irokesen fahren wollte, aber er erinnerte sich dabei wohl an die Tonnen von Haarspray, die Leonie dafür rausgeschmissen hatte und ließ wieder von ihm ab.
»Wie hast du gemerkt, dass du schwul bist?« Meine Augen hefteten sich an seine, die diesen unfreundlichen, eisblauen Farbton hatten. Wenn man genau hinsah, erkannte man dunkelblaue Sprenkel in ihnen.
Damiens Gesichtsausdruck wurde ernst. Er legte beide Hände auf den Tisch, auf dem wässrige Tropfen im flackernden Discolicht zu erkennen waren. Selten sah ich ihn so ernst. »In der achten habe ich’s gemerkt, als ich für einen ehemaligen guten Freund mehr empfunden habe als ich sollte. Er hat mich abblitzen lassen und es der halben Klasse erzählt. Da war ein selbstbewusstes Outing für mich nicht mehr drin. Jedenfalls habe ich dann irgendwann Jakob kennengelernt, entschieden, mir ein schönes Leben zu machen und dieses Jahr beschlossen die Schule zu wechseln. Das ist auch schon alles.«
Ich musterte ihn neugierig. Die Vorstellung, dass Leute wie Michael von Damien und mir wüssten, bereitete in mir immer noch Unbehagen aus. Damit wäre meine gesamte schöne Schulzeit vorbei – die Hölle würde mich erwarten. Ich hätte nur noch Minney, Damien, Leo und Heath. Andere Mitschüler mieden mich, hauptsächlich wegen Monika und die, die nichts gegen sie hatten, hielten mich für den total uncoolen Nerd. Wer würde da schon noch zu mir halten?
»Man sollte sich nicht immer so viele Gedanken darüber machen, was andere von einem denken.« Ich fand, seine blauen Augen hoben sich wunderbar von dem dunkel geschminkten Gesicht ab. Er fühlte sich seltsam nah an. Oder lag das an dem Alkohol?
»Ich frage mich gerade, was die noch so in die Bowle getan haben«, fuhr Damien fort und nahm mein Kinn in die Hand, um mir besser in die Augen gucken zu können. »Deine Pupillen sind geweitet. Siehst `n bisschen durch den Wind aus.«
»Wie du wenn du Tequila getrunken hast?«, setzte ich nach und kicherte über seinen entrückten Gesichtsausdruck. »Jakob hat dir das erzählt, oder? Dieser Mistkerl!«
»Jetzt hab ich dein Kryptonit.« Ich grinste belustigt und malte aus der Pfütze auf dem Tisch ein lächelndes Gesicht. Mittlerweile war ich mir sicher, dass es sich bei der Flüssigkeit um Gin handelte. Das erinnerte mich wieder an meinen Cousin und ich fragte mich, wie es ihm ging. Bestimmt kotzte er zu Hause das gesamte Klo voll.
»Jetzt müsstest du mir nur noch was von dir verraten.« Damien wackelte mit den Augenbrauen und ich zog die Stirn kraus.
»Wieso?«
»Das wäre fair.«
»Wer sagt, dass ich fair bin?«
»Sag mir, warum du Fußball so hasst und was dein Großvater damit zu tun hat.«
Mist. Ich mochte über so etwas nicht reden. Meine Mom hatte mir mal erzählt, dass ein Junge mich übel verprügelt hatte, als ich gerade mal fünf gewesen war – und ich hatte keinen Mucks gemacht, kein Wort gesagt. Im Nachhinein hatte der Junge es trotzdem bereut, nachdem Minney ihn dafür im Kindergarten immer geärgert hatte. Ich konnte mich daran erinnern, dass sie ihn mal kopfüber im Sandkasten vergraben hatte. Armer Kerl.
Ich beschloss es trotzdem Damien zu erzählen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es okay wäre, wenn er es wüsste. Wir standen uns zu nahe – und außerdem hatten die mehr als Wodka in diese verdammte Bowle getan – als dass ich ihn deswegen jetzt abweisen würde.
»Damals ist mein Großvater oft zu Besuch gekommen. Er hat immer gewollt, dass alle irgendwas machen, was ihm gefällt. Da war es ganz praktisch, dass sein zweiter Enkel auch ein Junge wurde – den er gleich zum Fußballtraining schicken konnte, sobald dieser ordentlich genug laufen konnte. Er war selber mal ein guter Fußballspieler, aber Arschloch ist Arschloch. Ich habe nie direkt ‚Nein‘ gesagt, war ja noch ein kleiner Junge. Irgendwann jedenfalls, ich glaube mit acht, habe ich dann gesagt, Fußball würde mir keinen Spaß mehr machen – du weißt nicht, wie er durchgedreht ist! Da ging die Hölle erst richtig los.« Ich seufzte tief und kratzte mich am Hinterkopf. »Na ja, er hat mich behandelt wie einen Spieler von der Nationalmannschaft und nicht wie ein kleines Kind. Training bis zum Limit und darüber hinaus. Bis meine Mom, als ich zwölf war, den Mund mal aufgemacht hat, ihm gesagt hat, dass er sie und ihre Kinder in Ruhe zu lassen hat und er ist gegangen, stinksauer natürlich. Und das war auch schon die ganze tragische Familiengeschichte.« Ich zuckte mit den Schultern. »Nichts Schlimmes. Bin nicht traumatisiert oder sowas.«
Damien amtete die Luft pfeifend zwischen den Zähnen aus und lehnte sich im Stuhl zurück. »Dein Großvater ist echt der größte Arsch. Neben Charlie Sheen natürlich.«
Ich grinste wieder. Das hier war eigentlich kein guter Platz um sich gegenseitig zu therapieren und mit Mitleid zu bewerfen.
Ich glaube, letztendlich hatten Damien und ich allein die Hälfte der Bowle getrunken, was unseren Ausgangszustand perfekt erklärte. Außerdem fand ich sogar, dass Damien am Ende betrunkener als ich war. Er konnte kaum stehen und meinte andauernd, mir über die Wange lecken zu müssen. Das war mehr als nur ekelig, wenn man von einem lebendigen Skelett zu Halloween abgeschleckt wurde. Klang richtig nach Stoff für einen Psychiater.
Ich hätte nie vermutet, dass eine ‚harmlose‘ Halloween-Party so den Bach runter gehen würde. Es lag nicht an der Party – die betrunkenen Studenten, die tanzten, als hätten sie epileptische Anfälle, waren mehr als nur unterhaltsam. Es lag einzig und allein an Damien, vielleicht noch an der Bowle.
Prinzipiell war ich keine kitschige Person, schon gar nicht romantisch. Ich erwartete auch nicht viel von einer Beziehung – Zuneigung, Spaß, Entspannung und Treue. So ein Zeug eben, was dazu gehörte. Aber nachdem ich aus der Toilette kam, weil Damien mir, betrunken wie er war, etwas von der Bowle auf den Schoß geschüttet hatte, tat es schon irgendwo weh.
Ich hatte immer über diese dramatischen Szenen in Büchern oder Filmen gelacht, wenn Frauen oder Männer ihren Partner mit jemand anderem ‚intim‘ sahen. Dann hatte ich gedacht ‚So ein Schwachsinn‘ und was für eine viel zu emotionale Reaktion die Charaktere dann grundsätzlich abzogen.
Als ich jedoch Damien und irgendeinen schwarzhaarigen Graf Dracula eindeutig knutschen sah, hatte ich das Gefühl, das ganze Wohnheim in Einzelteile zerlegen zu müssen. Wenn Natalie mich einmal eifersüchtig gemacht hatte, dann war das hier etwas vollkommen anderes – etwas viel schlimmeres.
Plötzlich bemerkte ich, dass das Vampir-Kostüm perfekt zu mir passte. Ich hätte in dem Moment wirklich nichts dagegen gehabt, diesem Möchtegern-Dracula die Halsschlagader aufzubeißen. Ob sein Blut nach Verrat und Damiens Aftershave schmecken würde?
Dafür, dass ich nur maximal zehn oder zwölf Minuten weg gewesen war, wirkten die beiden richtig bewandert auf ihrem Gebiet, sich gegenseitig Krankheiten per Speichelfluss zu übertragen. Hoffentlich hatte dieser Bastard AIDS.
Wütend war zu schwach. Wild kam nah ran, aber für mich klang kaltblütig am besten. Tausend Gedanken rasten durch meinen Kopf, von einen auf den anderen Schlag war ich wieder komplett nüchtern. Mordpläne schossen in meinen Kopf, neben der Idee, sie beide kopfüber in die Bowle zu stecken – Minney hätte es getan. Ich wünschte mir in dem Moment nichts sehnlicher als meine beste Freundin.
Kurz bevor ich tatsächlich darauf kam, etwas richtig Blödes zu tun, das ich sicherlich bereut hätte – die Chancen standen gut – wandte ich mich ab, suchte mir durch die zahlreichen Menschen den Weg nach draußen und hoffte, das hier einfach zu vergessen. Vielleicht passierte sowas, wenn man sich einem Menschen öffnete, einfach aus Schicksal. Wäre das nicht passiert; hätte Damien das nicht getan, würden wir vielleicht zusammen auf dem Heimweg sein, lachend und gut gelaunt. Wie konnte er sich nur so gedankenlos in mein verdammtes Leben einmischen und am Ende auf einer verdammten Halloween-Feier alles kaputt machen?!
Selbst wenn es wegen dem Alkohol gewesen war…das wäre für mich keine Begründung. Nie. Sollte ich also davon ausgehen, dass er jedes Mal nach einem Bier irgendeinen anderen Kerl anbaggerte? Nein, darauf konnte ich wirklich verzichten. Gott, ich fühlte mich wie eine dieser lächerlichen, blondierten Weiber aus den amerikanischen Teenie-Filmen, die auf dem Abschlussball total von ihrem Freund enttäuscht wurden und dann ausflippten.
Mein Leben war scheiße. Man muss wohl auf alles gefasst sein. In der einen Minute war man verknallt, betrunken und glücklich und dann kommt so ein Dracula daher und machte es einem kaputt. Ich könnte nie wieder Dracula gucken ohne daran zu denken. So ein Mist aber auch.
Ich war eigentlich keine nachtragende Person. Sonst wäre ich wohl kaum noch mit Minney befreundet, nachdem sie eine Zeit lang zur Barbie mutiert war. So gesagt, vergaß ich Dinge, wegen denen ich sauer war, auch recht schnell wieder. Aber das konnte ich schwer einfach so wieder vergessen.
Keine Ahnung, ob er sich am nächsten Morgen überhaupt noch daran erinnerte, was er getan hatte – außer natürlich er war direkt neben Dracula aufgewacht – oder ob er es dadurch bemerkte, dass ich seine Anrufe, SMS und Ansprechversuche in der Schule stur und abweisend ignorierte, aber das interessierte mich auch nicht weiter.
Es erschütterte einen schon, wenn man erkannte, dass man sich derart in einer Person getäuscht hatte. Aber wie sollte Damien auch jemals treu sein, wenn seine einzigen Beziehungen lediglich Sexbeziehungen gewesen waren? Es sollte mich eigentlich nicht wundern. Ich war selbst schuld, wenn ich mich auch noch auf ihn einließ, in dem Wissen, dass dieser Kerl so weit dachte wie ein Goldfisch.
Eine ganze Woche. Unsere ‚Beziehung‘ hatte nicht einmal eine läppische Woche gedauert. Und nun? Wenn er versuchte mit mir zu reden, rannte ich förmlich vor ihm davon – und im Sportunterricht sogar wortwörtlich. Halte das mal ganze sieben Tage aus.
Mein Großvater war mittlerweile sogar abgezogen, nachdem meine Mom ihm allmögliche Dinge an den Kopf geworfen hatte. Er sah logischerweise nichts davon ein und nahm mit roter Birne und seiner gesamten, schmierigen Gestalt Reißaus. Harriet hatte keine Sympathie ihm gegenüber mehr gezeigt, als sie bemerkt hatte, wie sehr Mom, Dad und ich ihn verabscheuten. Auch kleine Kinder lernten irgendwann. Sah irgendwie nach Happy End aus, was? Wäre natürlich super. Beim nächsten Kino- oder Clubbesuch lernte ich dann meinen Seelenverwandten kennen, blieb bis ans Ende aller Tage mit ihm zusammen und ab und an erinnerte ich mich an den Typen namens Damien, der mich darauf gebracht hatte, dass ich vielleicht doch nicht so sehr auf Frauen stand. Wirklich grandios.
Momentan jedoch steckte ich lieber den Kopf in den Backofen, als irgendwelche positiven Gedanken oder Handlungen fließen zu lassen. Monikas Eltern würden glatt meinen, mein ‚Chi‘ wäre blockiert.
»Komm schon, Johnny.« Minney klopfte mir auf die Schulter. Sie meinte es gut mit mir. Seitdem ich ihr die Sache auf der Party erzählt hatte, verabscheute sie Damien ungefähr genauso sehr wie ich. »Morgen geht’s auf nach Hamburg. Da kannst du den Scheiß einfach vergessen. Wir machen alles was wir wollen und stellen ganz St. Pauli auf den Kopf! Komm schon, lächel doch mal!«
Ich zog kläglich die Mundwinkel hoch und schaute zu meiner besten Freundin auf, die neben dem Küchentisch stand und eine Dose Cola in der Hand hielt. Sie zog über meinen mickrigen Versuch nur eine Grimasse. »Schon gut. Wir haben die Woche ja genügend Zeit dich wieder zum Lächeln zu bringen. Und bis dahin, nur die Harten komm‘ in Garten!«
»Und die Härteren in die Gärtnerin«, grinste Patrick, der gerade aus dem Wohnzimmer zu uns spazierte und seiner Schwester leichtfüßig das Getränk abnahm.
»Wer will schon in die Gärtnerin«, brummte ich missmutig und fuhr mir bemüht vorsichtig durchs Haar. Am Freitag hatte Minney darauf bestanden, dass ich mich besser fühlen würde, wenn ich einen ‚Typ-Wechsel‘ durchmachen würde. Ich fand, mal abgesehen davon, dass ich keine einfarbigen T-Shirts mehr trug, dass ich nicht sonderlich anders aussah. Meine Brille staubte von nun an zu Hause ein, Kontaktlinsen waren tatsächlich richtig praktisch und Monika hatte wieder voller Elan an meinen Haaren herum gewerkelt. Sie waren nun nicht mehr ganz so lang, vielleicht acht oder neun Zentimeter und meistens irgendwie so mit Gel bearbeitet, dass sie zwar wie geleckt aussahen, aber auch durcheinander. Ich hasste es, aber Patricks positive Reaktion darauf hatte mich davon abgehalten mir den Schädel zu rasieren. Ich war ja keine Britney Spears.
»Ja, ich wär auch eher für einen Gärtner«, schnurrte Pat und kniff mir grob in die Wange. Durch und durch nur Freaks in meiner Umgebung. »Übrigens, ist die Jeans nicht ein wenig eng?« Er griff mir von hinten an den Gürtel und zog etwas daran. Ich wurde natürlich sofort puterrot. »Ich könnte dir aus ihr raus helfen.«
»Finger weg von ihm, Patrick. Der wird nicht als Betthäschen missbraucht. Und nun troll dich!« Strafend sah Minney ihren Bruder an, die Hände in die Hüfte gestemmt. Der Blondschopf zog eine Schnute und trabte beleidigt davon, nicht ohne mir noch einen Klaps auf den Hintern zu geben. Ich atmete erleichtert auf, kaum, dass er weg war und griff mir automatisch an meinen Gürtel – wer weiß denn, ob er ihn nicht unbemerkt geöffnet hatte? Glaubt mir, mir war einmal etwas Ähnliches mit Monikas notgeilen Bruder passiert.
»Jetzt, wo er weiß, dass du ‚an seinem Ufer fischst‘«, sie machte Gänsefüßchen in die Luft, »ist er viel direkter geworden, aber lass dich nicht verunsichern. Steig nur bloß nicht darauf ein, ja?«
Ich schnaubte entrüstet und wedelte abwertend mit der Hand in der Luft. »Als ob ich was mit deinem Bruder anfangen würde.« Signalisierend schüttelte ich mit dem Kopf. »Eher würde ich mit Damien und diesem Dracula eine Dreiecksbeziehung eingehen.« Und das war schon so wahrscheinlich wie zwei Lottogewinne innerhalb von zwei Wochen. Dass das mit dem Punk und mir überhaupt wieder was werden würde, stand in den Sternen. Nicht gerade in denen des Planetariums.
»Hast du alles?«, fragte meine Mutter nüchtern und musterte mein Gepäck und mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich werkelte gerade an meinen Schnürsenkeln herum und murrte entnervt. Es war nicht gerade das erste Mal, dass meine Mom das fragte.
»Zahnbürste? Zahnpasta? Handtuch? Kontaktlinsenlösung, Brillenetui, Socken, was zum Lesen…«, listete sie alles ungerührt auf und starrte mich von oben herab an. Man sollte meinen, dafür, dass ich eine Woche mit unserem gesamten zehnten Jahrgang in Hamburg sein würde, müsste ich aufgeregt sein – aber momentan war ich eigentlich nur genervt. Abschlussfahrten waren anstrengend. Und ich war noch nicht einmal los!
»Danke, Mom«, unterbrach ich sie wirsch und drückte ihr umständlich mit dem viel zu schwerem Rucksack auf dem Rücken einen Kuss auf die Wange. »Ich habe alles. Vielleicht bring ich euch was mit. Und sag Harriet, sie soll nicht wieder ständig anrufen.« Dafür, dass meine Schwester nämlich richtig zickig sein konnte, mutierte sie manchmal – meistens wenn ich verreiste – zu einem Nähe bedürftigen Kuscheltier. Das letzte Mal hatte sie mir wie eine irre Ex-Freundin hinterher telefoniert.
»Ich versuche sie davon abzuhalten«, schmunzelte Mom und drückte mich kurz. »Du siehst richtig erwachsen aus.«
Ich stöhnte genervt. »Mach da jetzt keinen sentimentalen Stuss draus. Ich bin in einer Woche wieder da. Es ist nur eine Klassenfahrt!«
»Schon gut.« Sie lächelte und dirigierte mich in Richtung Tür. Als wollte sie mich auf einmal los werden. »Da kommt schon deine Limousine. Pass auf dich auf und klingel mal durch, wenn ihr da seid!«
»Mach ich. Bis dann!«, verabschiedete ich mich, spazierte zur Haustür hinaus bis zum Straßenrand und wank meiner Mutter noch, ehe auch schon meine ‚Fahrgemeinschaft‘ unmittelbar vor meinen Füßen anhielt. Monikas Vater grinste mich freundlich vom Fahrersitz aus an und ich schmiss kurzerhand mein Gepäck in den Kofferraum, in dem sich bereits Minneys auffällige, rosa/schwarze Tasche befand. Sie hatte eindeutig mehr eingepackt als ich.
»Na, seid ihr schon aufgeregt?« Wilfred, Herr Grünling, linste durch den Rückspiegel zu uns hinter. Anscheinend verzichtete Monika darauf neben ihrem Vater zu sitzen. Ich verstand sie, immerhin roch ich deutlich den Eigengeruch à la Ökobauer. Ob er Duschen als Sünde sah?
»Es geht«, erwiderte ich aus Höflichkeit, worauf die Konversation in dem Fahrzeug bis zur Ankunft vor unserer Schule abstarb. Vor dem Gymnasium parkte ein Doppeldeckerbus, mit Scharen von Schülern, die sich mit ihren Koffern und Taschen davor tummelten wie Ameisen um einen Kuchen. Die Lautstärke war enorm und ich fragte mich beinahe ängstlich, wie es im Bus sein würde…
»Schafft ihr es ab hier alleine? Ich muss nämlich in den Laden.« Wilfred half uns noch, das Gepäck aus dem Kofferraum zu hieven und verabschiedete sich mit einer flüchtigen Umarmung von seiner Tochter. Dann rauschte er mit seinem Wagen ab und Minney und ich waren umzingelt von Teenagern. Hurra! Erschießt mich.
»Hey«, kam es von links und ich erschrak mich beinahe zu Tode. Lukas, ein Kumpel von Michael, stand neben uns und lächelte nett. Nett! Und der war wirklich mit diesem Hormonschlumpf befreundet? »Ihr kommt etwas spät, aber die Zimmerverteilung ist schon raus.« Demonstrierend wedelte er mit einem Zettel vor unseren Augen herum. Minney schnappte ihn sich sogleich und überflog ihn mit nervösem Blick.
»Ich bin mit Annika, Laura und so einer Tina in einem Zimmer.« Sie seufzte erleichtert. »Und Natalie ist ganz weit weg…«
Lukas neben mir gluckste. »Ist Tina nicht Natalies beste Freundin?« Die Augen der Blondine weiteten sich geschockt und entsetzt gab sie den Zettel an mich weiter. »Die Tina? Mit den toupierten Haaren?« Lukas, mit seinem kurzen, schwarzen Schopf und den dunklen, ausländischen Teint; der eigentlich bei Michael und seinen Kumpanen stehen sollte, lachte. Und zwar wegen Monika, bei uns! Ich musste ihn später fragen, wie es zu dieser Wendung gekommen war. Vielleicht gab es ein Heilmittel gegen Michael?
»Ich werde es schon überleben«, murrte Minney und fuhr sich durchs Haar. »Wenn sie mir krumm kommen sollte, dann sperr ich sie einfach im Bad ein.« Sie lächelte wie ein Unschuldsengel und brachte Lukas erneut zum Grinsen.
Ich überflog derweil den Zettel und bekam auch gleich den Tritt in den Arsch, den ich mir jahrelang verdient hatte. Vollkommen überrollt stammelte ich „Scheiße“ vor mich hin und fasste mir an die Stirn. Es war so klischeehaft, so charakteristisch, so typisch für mein Leben…
»Was denn?« Lukas linste auf die Stelle, auf die ich starrte und nahm mir das Stück Papier wieder ab. »Bin ich so schlimm?« Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, dass Lukas irgendwie beleidigt klang, hatte Minney schon den Grund für mein Entsetzen erraten: »Damien.«
»Damien?«, hakte der Schwarzhaarige unwissend nach. »Damien Pasang? Der Punk mit dem Irokesen?«
»Genau der«, knurrte ich und wäre am liebsten wieder nach Hause gegangen. Das konnte ja eine wunderbare Woche werden!
»Ich dachte eigentlich, ihr wärt befreundet?« Lukas schaute ahnungslos drein, erinnerte mich dabei an einen hilflosen Berner Sennenhund, sodass ich das Thema einfach fallen ließ. Ich wollte mich jetzt nicht aufführen wie eine pubertäre Abschlussballkönigin. Dann würde ich Damien eben ignorieren, wie ich es die Woche davor auch getan hatte…
»Nicht wirklich«, antwortete ich also schlicht und ging zu der Schlange, die sich gebildet hatte, um mein Gepäck los zu werden. Monika und Lukas folgten mir, ohne noch ein Wort über die Zimmeraufteilung zu verlieren.
Im Bus setzten wir uns an einen Viererplatz. Trotz all meiner Bedenken, dass es sich nur um eine Laune von Lukas gehandelt hatte, gesellte dieser sich zu uns, seinen (ehemaligen?) Kumpels keine Beachtung schenkend, die unbedingt im oberen Teil des Busses sitzen mussten. Wir blieben unten, da ich meine Empfindlichkeit in Sachen Busfahren kannte – da würde eine höhere Sitzposition bestimmt nichts verbessern.
Auf den leeren Platz neben Lukas stellten wir unser Handgepäck, aus Sicherheit, dass sich dort niemand hinsetzte, denn Herr Kirutschke hatte bereits gierig auf den freien Sitzplatz geschielt. Minney schien wohl das Objekt seiner Begierde zu sein, was er mit seinem aufdringlichen Verhalten fast täglich in der Schule zur Schau trug. Deswegen war unser Gegenüber nun ein Haufen Rucksäcke. Ich taufte ihn Rucki.
Auf der Fahrt unterhielten wir uns hauptsächlich über einander, da Lukas ‚neu‘ und ‚unbekannt‘ für uns war, praktisch eine neue Spezies. Er musste Insiderwissen von Michael und seiner Clique haben – beinahe tat er mir schon leid. Er erzählte, dass sein Vater Brasilianer war, aber er ihn nie kennen gelernt hatte; dass er eine kleine Schwester hatte, im gleichen Alter wie Harriet und dass er leidenschaftlich Fußball im Verein spielte. Er grinste viel, mit einem Grübchen an der linken Wange. Innerhalb der ersten zwei Stunden brachte er Minney zweimal so zum Lachen, dass sie fast in den Gang gepurzelt wäre. Dadurch, dass er mein Zimmergenosse war, sah ich optimistischer in die Zukunft – wer war schon Damien?
Nach einer weiteren Stunde war unser neuer Leidensgenosse eingedöst und schnarchte wie ein Mähdrescher. Vielleicht ein negativer Punkt an ihm, aber man konnte ja nicht alles haben.
»Hast du Jakob eigentlich mal wiedergesehen?« Interessiert sah ich zu meiner Sitznachbarin, die irgendein unsinniges Spiel auf ihrem Handy spielte. Sie fluchte andauernd.
Auf meine Frage hin reagierte Monika wie gewohnt, wenn der Name ihres Schwarms fiel – ein Rotschimmer breitete sich auf ihren Wangen aus, ihr Blick heftete sich an einen beliebigen Punkt und jegliche Tätigkeiten wurden abgebrochen. »Äh, also, wenn du schon so fragst…«
»Seid ihr jetzt richtig zusammen?«, hakte ich nach und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Im Bus war es unerträglich heiß, aber durch mein ärmelloses, schwarzes Shirt und die nicht allzu langen Shorts schwitzte ich kaum. Außerdem besaß ich so einen niedlichen, kleinen Handventilator.
Minney seufzte und spielte mit einer hellen Strähne ihres Haares. »Na ja, er wollte sich diese Woche mit mir treffen und die Dinge klären, nachdem ich ihn beim letzten Treffen ziemlich … äh … blöd angemacht habe. Aber ich bin ja nun leider auf Klassenfahrt und er hat sich auch nicht weiter gemeldet.«
»Inwiefern hast du ihn denn blöd angemacht?« Ich kannte meine beste Freundin immerhin. Sie konnte einen ziemlich über den Haufen fahren.
»Na ja, er hat … er hat …«, sie schüttelte sich, als hätte sie etwas äußerst ekeliges erlebt, »…er hat ‚ich liebe dich‘ gesagt! Wir sind nicht einmal richtig zusammen, haben ein paar Mal miteinander geschlafen und uns getroffen…das war einfach viel zu früh!«
Wenigstens war ich mir nun sicher, dass ich mit meinen hässlichen Beziehungsproblemen nicht alleine auf der Welt war. Auch wenn ich das Minney und Jakob wirklich nicht gewünscht hätte.
»Und wie hast du reagiert?« Ich blinzelte, als die Sonnenstrahlen durch das Fenster direkt in mein Gesicht schienen. Dafür, dass Herbst war, strengte sich die Sonne in den letzten Wochen nochmal richtig an. »Na wie wohl!« Sie prustete und verschränkte bockig die Arme vor der Brust. »Hab ihn gefragt, was das soll! Ich meine, er kennt mich ja gar nicht … und dann habe ich mich irgendwie in Rage geredet«, sie seufzte, »Gut, vielleicht habe ich auch etwas übertrieben.«
Bevor ich etwas Sarkastisches erwidern konnte – und das hätte ich gewiss – rührte sich Lukas wieder, indem er sich ausgiebig streckte und uns verschlafen anblinzelte. »Habe ich was verpasst?«
Ich grinste verhalten und ignorierte Minneys ernstes Gesicht. »Ja, Natalie ist wohl allergisch gegen ihr Parfum und eben hinter uns krepiert.«
Lukas lachte, während ich einen Tritt gegen meinen Sitz spürte. War eben nicht so praktisch, wenn die Erzfeindin direkt hinter einem saß. Monika hatte es bis jetzt noch ganz gut ignoriert. Auf einen Zickenkrieg in einem viel zu kleinen Bus hatte ich reichlich wenig Lust.
»Dann ist sie anscheinend jetzt ein geschminkter Zombie«, erwiderte Lukas belustigt, was Monika nur ein Schnauben entlockte. »Als ob sie das nicht schon vorher gewesen wäre…«
Als wir endlich an unserer Jugendherberge angekommen waren, war es bereits spät abends und über der Hafenstadt ging langsam die Sonne unter. Unser Wohnheim befand sich oberhalb der Landungsbrücken, was eine recht schöne Aussicht von den oberen Zimmern aus beinhaltete. Hoffte ich zumindest, denn Hamburg gefiel mir praktisch auf den ersten Blick. Es war erst das zweite Mal, dass ich eine Großstadt besuchte – einmal hatte mich mein Vater auf eine Landwirtschaftsmesse mitgeschleppt. In Berlin! Nie wieder.
Wie erwartet erhielten wir eine Moralpredigt und unzählige Informationen, bevor wir endlich auf unsere Zimmer durften. Minney hatte ich bereits bei der Gepäckvergabe verloren, aber ich wähnte sie in Sicherheit, da bis jetzt kein blutiger Natalie- oder Tina-Kopf über die Menge hinweg flog. Lukas hingegen befand sich nachwievor an meiner Seite, zwar mit müden Augen und getrockneter Sabber am Kinn, aber immerhin. Die Messlatte war nicht gerade weit oben.
»Sind wir eigentlich die einzige Dreiergruppe?«, wandte ich mich an den Dunkelhaarigen, der wie aus seiner Trance erwacht mich ansah, als wäre ich Spiderman und hätte mich gerade von Laterne zu Laterne geschwungen.
Er zuckte darauf nur mit den Schultern. »Keine Ahnung. Scheint so…Hey! Ich krieg das Einzelbett!« Grinsend boxte er mir gegen den Arm, worauf ich nur abwertend brummen konnte. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich wollte das Recht auf das Einzelbett meinem neuen ‚Kumpel‘ nicht gleich wieder abstreiten. Wird schon schief gehen…
»Ich nehm die Schlüssel!«, ereiferte sich mein Zimmergenosse auch gleich weiter und ich fragte mich ernsthaft, wie man nach einer so langen, drögen Busfahrt solch einen Elan aufbringen konnte. Irgendwas lief mit dem falsch.
Kaum drinnen wurde uns auch gleich Bettwäsche in die Hände gedrückt, schwer zu handeln, wenn man gleichzeitig Gepäck trug, aber machbar. Ich war froh, dass ich Damien noch nicht begegnet war, aber das Schicksal ist ein Arschloch, weshalb eben genau der Punk direkt vor der noch verschlossen Zimmertür stand und auf uns wartete. Meine Motivation rutschte irgendwo zwischen das Stockwerk ‚Mit-Föhn-Duschen‘ und ‚Im-Tigerkäfig-Ein-Steak-Essen‘.
Sein Blick heftete sich an mich, was ich geflissentlich versuchte zu ignorieren, während Lukas mir seine Bettwäsche kurzzeitig in die Hände drückte, um den Schlüssel ins Loch stecken zu können.
Kaum, dass die Tür offen war, quetschte ich mich an Damien vorbei, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Es war kindisch, ich weiß. Wir hätten uns wie Erwachsene trennen sollen – aber das wäre viel zu einfach gewesen. Wie konnte ich mit jemandem befreundet bleiben, mit dem ich nie wirklich zusammen gewesen war? Außerdem hatte er ja mit diesem miesen Dracula rumgemacht!
Das Zimmer war schick. Man hatte eine ganz schöne Aussicht auf den Hafen und die Zimmer sahen ordentlich aus. Bei uns stand im Gegensatz zu den anderen Räumen nur ein Hochbett, aus Holz und mit weißer Decke und weißem Kissen, die perfekt zur farblosen Bettwäsche passten. Das Gute war, dass wir ein eigenes Badezimmer mit Dusche und WC hatten – also keine Gemeinschaftsduschen mehr. Ihr wisst nicht, wie glücklich ich darüber war!
Ich schmiss ohne ein weiteres Wort mein Gepäck auf das untere Bett, ebenso die Bettwäsche. Lukas stieß sowas ähnliches wie einen Freudenschrei aus und landete mit viel Schwung auf seinem Einzelbett. Er grinste von einem Ohr zum Anderen und verschränkte lässig die Arme hinter dem Kopf.
Damien wirkte fehl am Platz, ruhig und uninteressiert, mit unfreundlicher Ausstrahlung. Wie damals, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Mit diesen unnahbaren, eisblauen Augen…
Ich bemerkte, dass ich starrte und wandte mich von dem Schwarzhaarigen ab, um die Informationszettel, die wir eben noch bekommen hatten, einzustudieren. Wir müssten in einer halben Stunde zum Abendessen und um elf war für uns Bettruhe. Man wollte ja den Schein wahren.
Wir bezogen unsere Betten und räumten grundlegende Dinge, wie Schuhe und Jacken, in die Kleiderschränke ein. Das alles lief stillschweigend ab, mal abgesehen von Lukas, der die miese Atmosphäre zu ignorieren schien und fröhlich eine Melodie vor sich hin summte. Er wurde mir immer sympathischer.
Bevor ich jedoch mit Lukas zum Speisesaal düsen konnte, wurde ich an der Tür von jemandem unwirsch aufgehalten. Da ich genau wusste, was mich jetzt erwarten würde, deutete ich meinem Zimmergenossen, dass er schon mal vorgehen sollte. Nachdem der um die Ecke war, schloss ich lautstark die Zimmertür, verschränkte die Arme vor der Brust und stierte Damien wütend an. Er erwiderte den Blickkontakt mit ähnlicher Begeisterung, doch ich erkannte einen Funken Zurückhaltung in der Kälte.
»Wir müssen reden«, verlautete er und schloss hinter mir die Tür ab, wahrscheinlich aus Angst, ich würde wieder weglaufen. Ich hätte es sicherlich auch getan.
»Bitte«, schnaubte ich und setzte mich bockig auf einen Stuhl, der zu einem recht freundlichen Holztisch gehörte. Auf diesem lag einiges von Lukas‘ Handgepäck verstreut, wie sein iPod und leuchtend orangene Kopfhörer. »Du kannst reden so viel du willst.«
Damien nickte bestätigend, stellte sich mir gegenüber und starrte mich an, als wüsste er nicht, ob er mich schlagen oder küssen sollte. Er entschied sich jedoch schnell. Ich erwartete den klischeehaften Stuss, sowas wie ‚Es war nicht so, wie es aussah‘ oder ‚da waren keine Gefühle im Spiel!‘. Wie ich mich darauf freute.
»Ich liebe dich.«
Das hatte ich jedoch nicht erwartet.
»Du glaubst doch nicht…« Pause. Ich atmete tief ein und aus, um meinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen. »…dass das…« Ich spürte, wie seine Finger unter mein Shirt wanderten und irgendwas in meinem Bauch zu flattern begann. »…alles wieder wett macht, oder?«
»Hm?« Er blinzelte entrückt, mit leicht verklärten Augen und ließ eine Sekunde von mir ab. Ich stöhnte entnervt, drückte ihn von mir weg und fuhr mir durch das ungeordnete, wirre Haar. »Ich habe dir weder verziehen noch will ich mit dir zusammen sein.« Das war deutlich einfacher für ihn zu verstehen. Seine vom Küssen geschwollenen Lippen bildeten einen Schmollmund. Dafür, dass wir uns eben noch beinahe zur Besinnungslosigkeit geküsst hatten, war mein Kopf noch ziemlich klar. Ich würde ihm bestimmt nicht wegen einem lächerlichen „Ich liebe dich“ einfach so verzeihen. Gut, im ersten Moment war ich schon ziemlich gerührt, daher auch das Geknutsche, aber jetzt, wenn ich genau darüber nachdachte, dann wusste Damien doch sicherlich noch nicht einmal, was Liebe überhaupt ist. Und um ehrlich zu sein, wusste ich es selbst nicht.
»Aber…« Er erinnerte mich in diesem Moment an einen geprügelten Hund. Ich blieb jedoch unerbittlich. Ganz sicher würde ich es ihm nicht so einfach machen wie beim ersten Mal! »Ich gehe jetzt essen«, war das letzte, was ich sagte, ehe ich auch schon das Zimmer verließ und in die vermutete Richtung des Essenssaals joggte. Nicht, dass Lukas sich nachher noch Gedanken darüber machte, wo ich blieb.
Nach dem Essen hatten wir um 19 Uhr eine Führung durch St. Pauli. Minney war so begeistert von der ganzen Rotlicht-Aura des Viertels, dass sie so gut wie alles fotografierte. Ich als Prostituierte hätte mich enorm belästigt von ihr gefühlt. Lukas plapperte viel, aber hielt uns immer auf Trab und ließ so gut wie nie zu, dass wir uns langweilten. Ich mochte ihn mit der Zeit von Mal zu Mal mehr, bemerkte aber deutlich die stechenden Blicke, die sich wie Pfeile in meinen Rücken bohrten. Damien folgte uns wie ein Schatten, nie wirklich nah, aber er war da.
Als wir wieder in der Jugendherberge ankamen, tranken wir im Bistro noch Cola und unterhielten uns über Gott und die Welt, bis Minney meinte, sie müsste zurück zu ihrem Zimmer, wenn sie vor Mitternacht noch hinein wollte, ohne, dass Tina sie aussperrte. Also blieben Lukas und ich zurück, nicht wissend, über was wir reden sollten. Es war keine von den angenehmen Stimmungen, wo man die Ruhe miteinander genoss, sondern mehr diese peinliche, in der beide darauf warteten, dass der jeweils andere etwas sagte.
»Also…« Ich kratzte mich am Hinterkopf, während ich krampfhaft darüber nachdachte, über was wir uns unterhalten konnten. Lukas grinste verlegen und rieb sich sein Kinn. Dabei bemerkte ich einen dicken, weißen Strich, den ich als Narbengewebe identifizierte.
»Woher hast du die?« Ich nickte in seine Richtung und er fuhr wie automatisch über die Stelle am Kinn. Kurz schien er zu überlegen, bis er wie gewohnt ein kleines Lächeln aufsetzte und die Hände auf den kniehohen Tisch vor uns abstützte.
»Bin mit meinem Cousin in der Stadt gewesen, irgendwann abends, da kamen irgendwelche Neonazis und meinten, sie müssen eine Streiterei anfangen. Da war ich eben das ausgesuchte Opfer, wegen meinem Aussehen und dann ging’s Schlag auf Schlag«, er grinste, weil er sein Wortspiel wohl witzig fand, »und einer hat mir eben eine ins Gesicht verpasst, einige Passanten wurden aufmerksam, nachdem ich dann am Boden lag und dann irgendwann sind sie abgehauen…Das Kinn war eigentlich noch ganz in Ordnung, etwas geschwollen, aber na ja. Das Schlimmste war eigentlich der ausgeschlagene Zahn.«
Er grinste so breit, dass ich die Zahnlücke sehen konnte. Ich glaube, durch die konnte er einen Stift stecken. »Und dann?«, hakte ich wesentlich entsetzt nach. Immerhin hatte ich diesen Rassismus bei uns noch nie so nah wahrgenommen. »Habt ihr sie angezeigt?«
Lukas zuckte nur mit den Schultern. »Durch unsere angeblich ungenauen Angaben – es war ja dunkel – haben sie sie nicht gekriegt. Na ja«, er grinste wieder, wie der personifizierte Sonnenschein, »Shit happens.«
Faszinierend, dass es solche Personen wie Lukas auf dieser Welt noch gab. Die der Scheiße direkt ins Gesicht lächelten.
»Hey.« Ich zuckte bei seiner Stimme zusammen, was so auffällig war, dass Lukas mich skeptisch, mit hoch gezogener Augenbraue, ansah. Damien setzte sich auf den durch Monika frei gewordenen Platz, überschlug die Beine und lächelte freundlich in die Runde. Am liebsten hätte ich ihm mit der Menükarte eins über den Kopf gezogen.
»Entschuldige, wenn ich euch störe.« Es tat ihm sowas von überhaupt nicht leid. »Ich weiß nur nicht, was ich tun soll.«
»Kein Problem«, ereiferte sich Lukas gleich freundlich. Seine Nettigkeit war wohl doch ein Nachteil. »Wir könnten ja Karten spielen oder sowas.«
»Ich bin müde«, brummte ich, da ich keinerlei Lust hatte, mit Damien Karten zu spielen. Außerdem waren die einzigen Kartenspiele die ich beherrschte Maumau, Uno und Poker. Keine große Auswahl also.
»Oh«, machte der anwesende Strahlemann, »schade. Na dann eben morgen. Gehen wir aufs Zimmer?« Er wandte sich dabei an Damien, der mit leicht bedrücktem Gesichtsausdruck in meine Richtung geschaut hatte. Als Antwort nickte er nur, sagte nichts weiter und folgte uns aufs Zimmer. Auf den Fluren huschten einige Jugendliche, nicht nur von unserer Schule, über das Laminat und kicherten und lachten, sodass es von überall widerhallte. Lukas hatte uns schnell und geschickt in unser kleines ‚Revier‘ manövriert. Es war etwas stickig, weshalb ich als aller erstes gleich die Jalousien bei Seite zog und das Fenster weit öffnete. Wir befanden uns im zweiten Stock, unten war Rasen. Wenn man sich gekonnt abrollte, würde ein Sprung gar nicht so schmerzhaft enden…
»Wer will einen Film sehen?« Lukas hielt begeistert zwei DVDs hoch, auf den Tisch hatte er bereits seinen Laptop platziert. Es schien sowieso schon beschlossene Sache zu sein und mein Kommentar dazu, dass ich müde sei, war längst vergessen.
»Was steht denn zur Auswahl?«, fragte Damien nach, der aus dem Badezimmer hervor lugte. Er trug nur noch Boxershorts, der Irokese war vom Umziehen etwas platt gedrückt worden und sein Tribal sprang einem förmlich ins Gesicht. Ich versuchte hartnäckig nicht zu starren und konzentrierte mich auf Lukas mit seinen DVDs, der aber auch eindeutig zu lange den halbnackten Damien anstarrte. Dann grinste er, als wäre es nie anders gewesen.
»Also, ich habe hier ‚Inception‘ und ‚30 Days Of Night‘. Ich hätte ja Lust auf Horror.«
»Ich auch.« Ich nahm ihm die gewählte DVD aus der Hand und las mir die Beschreibung hinten durch. Gegen Blut hätte ich nichts auszusetzen – nur bloß nichts Tiefgründiges. Einfach ein Film, in dem Menschen Gott-weiß-wieso abgeschlachtet werden. Das brauchte ich jetzt.
»Hey«, jammerte Damien derweil und kramte aus seiner Reisetasche eine große Tüte Chips. Er war eindeutig vorbereitet. »Und wenn ich Angst habe?« Er machte große Augen und bekam ganz diplomatisch von mir ein Kissen ins Gesicht geworfen. »Dann wirst du wohl oder übel in deine Bettdecke heulen müssen.« Ich bemühte mich wirklich, neutral zu sein und das war noch das Netteste, was mir in diesem Moment auf der Zunge lag. Außerdem war der Kommentar unnötig gewesen – erwartete er etwa, dass ich ihm tröstend die Schulter tätschelte, wenn im Film literweise Blut floss? Ich bin doch nicht die Nanny.
Lukas bemühte sich, die brutzelnde Aura im Zimmer zu ignorieren und startete den Film. Da es draußen sowieso schon stockfinster war, schalteten wir nur noch die Lampen aus und schon war das perfekte Kino-Feeling vorhanden. Mal abgesehen davon, dass ich kein Popcorn hatte, das ich Damien an den Irokesen kleben konnte.
»Wehe du verrätst das Ende des Filmes«, warnte ich Lukas vor, der wie ein kleines Kind begeistert auf dem Boden saß und sich ungefragt an den Chips bediente. Er drehte den Kopf leicht zu mir und wank abwehrend ab. »Keine Angst! Ich verrate schon nicht, dass…hey!«
Er hob das Handtuch auf, das ich nach ihm geworfen hatte – heute war Werfen eindeutig mein Ding – und schmiss es auf einen leeren Stuhl. Leise grummelte er noch ein „Schon gut“ und blieb den Rest des Filmes über still. Was auch leider daran lag, dass er nach ungefähr der Hälfte des Filmes mit dem Gesicht auf der Chipstüte lag und döste.
Damien gluckste. »Der Kleine ist ja putzig.« Im Film wurde einem kleinen Mädchen gerade mit einer Axt der Kopf abgetrennt. Ich hätte gerne eine Axt.
»Oh, fang gar nicht erst damit an. Ich glaube nicht, dass er auf der nächsten Party betrunken mit dir knutschen möchte.« Nein, kein Vorwurf. Nur eine Feststellung.
Damien saß auf Lukas‘ Bett und zog ein Gesicht, als hätte ich ihm gerade ein Messer in den Bauch gerammt. »Hör mal, ich will mich gar nicht entschuldigen, ich kann das auch nicht rechtfertigen, es gibt einfach keinen logischen Grund für mein Handeln, es ist nur…es…«
Ich schnaubte nur. »Ja ja, schon gut. Ich hätte mich eben gar nicht erst drauf einlassen sollen.« Plötzlich wieder Feuer und Flamme stützte er sich auf den Händen ab und sah zielgerecht zu mir rüber. »Und was wäre dann? Du würdest immer noch nicht wissen, dass du keinerlei Interesse an Mädchen hast – oder du würdest es zumindest noch verdrängen. Wäre das so viel besser?«
Wütend geworden wollte ich die Stimme erheben, wurde aber durch einen lauten Schnarcher von Lukas unterbrochen. Mich sammelnd knetete ich das Kissen in meinen Händen, bis es einem weißen Klumpen glich. »Ja! Ja, wäre es! Weil ich dann nicht hätte sehen müssen, wie der Kerl den ich mag, blindlings mit einem anderen regen Speichelaustausch durchführt!«
Er seufzte tief und fuhr sich scheinbar müde über die Augen. »Johnny…«
»Nichts ‚Johnny‘! Ich habe einfach keine Lust mich mit dir darüber zu unterhalten. Akzeptiere es doch einfach.«
»Nein! Ich habe dir gesagt, wie ich fühle und deswegen werde ich auch nicht mehr locker lassen.« Entschlossenheit stand in seinem Gesicht, nur dadurch zu sehen, da im Film gerade ein heller Schneesturm herrschte. Seine eisblauen Augen passten da perfekt rein. »Ich will nicht, dass es aufhört, bevor es überhaupt angefangen hat.«
»Ich wollte das ganz bestimmt auch nicht! Aber es lag anscheinend nicht in meiner Hand.« Eine Motte hatte sich am Fenster festgesetzt. Sie war so dick, dass sie aussah, als könnte sie ein ganzes Bündel Socken auf einmal essen. Ich war unendlich müde.
»Aber jetzt liegt es in deiner Hand!« Damien war aufgestanden, über den friedlich schlafenden Lukas hinweg gestiegen und hockte nun vor meinem Bett, ungefähr auf meiner Hüfthöhe. »Gib mir noch `ne Chance.«
Ich verengte die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. Meine Festlegung, dass ich es ihm nicht einfach machen würde, stand für mich immer noch fest. Doch ich wollte ihn nicht völlig abweisen, da er, wie ich feststellte, das Potenzial zum Kämpfen hatte. »Nenne mir nur einen Grund, warum ich dir noch eine Chance geben sollte.«
Plötzlich grinste er, so direkt, dass der Schalk förmlich aus seinen Haarspitzen tropfte. »Weil ich gut küssen kann.«
Und wie er das konnte. Er bewies es mir noch im nächsten Atemzug deutlich, schwang sich auf mein Bett, streifte mit seinem Irokesen das Holz des Bettgestells und ließ sich wie ein nasser Sack auf meinen Schoß plumpsen. Seine Hände waren so gut wie überall, nur nicht da, wo sie hingehörten. Irgendwann verschwand mein T-Shirt, ich fand mich auf dem Rücken wieder und er saugte an meinem Hals wie ein Blutegel. Oh, keine gute Idee, gar nicht gut, nicht hier…
»Damien…« Ich rückte unwohl hin und her und er fixierte mich kurzerhand mit seiner Rechten auf dem Bett. Er versuchte es zumindest, aber seine Kräfte schienen nicht so zu wollen wie er. Sein Griff war schwach. »Damien!« Vollkommen entnervt ließ er von mir ab und sah mir prüfend in die Augen, ob irgendwas falsch war. Fluchend stand ich auf und stakste ins Badezimmer, schaltete das Licht ein und besah mir das Desaster.
»Jeder Vollidiot wird den Fleck sehen!«, fauchte ich los, als er hinter mir das Bad betrat. Er betrachtete den Knutschfleck an meinem Hals und grinste schlussendlich stolz. Dafür hätte ich ihm am liebsten tatsächlich eine verpasst. Mit der Faust. Aber dafür müsste mein Blut erst mal wieder woanders hinfließen…
»Na und? Sie werden sich irgendwas Lächerliches ausdenken. Trag doch einen Schal wenn’s dir nicht passt.« Er lehnte sich an den Türrahmen und zwinkerte mir keck zu. Wieder ein Motiv zum Mord.
»Wenn du nicht in den nächsten drei Sekunden gehst, wird man dich von der Wand kratzen müssen.«
Er grinste, kam näher und umschloss meine Hände mit seinen. »Dafür sind deine Hände viel zu mickrig. Ne, das würde ich eher Minney zutrauen.« Im Spiegel hielt er Augenkontakt, während er sein Kinn auf meiner Schulter abstützte. Meine Mundwinkel zuckten kurz, aber ich verkniff mir jegliche Emotion. »Und wenn ich ihr sage, dass du mir was antun wolltest? Sie wird dich irgendwo im Wald vergraben und keiner wird je erfahren, was wirklich passiert ist.«
Er gluckste tief, gab meine Hände frei und schloss seine Arme nun um mich. Er war so warm, dass ich beinahe zu schwitzen begann. »Tja, dann komme ich als Geist oder Dämon wieder und nerve dich, bis du irgendwann runzlig bist und vor Schreck einen Herzinfarkt bekommst.«
»Charmant«, brummte ich und lehnte mich gegen ihn. Wahrscheinlich bemerkte er es gar nicht.
»Du hast angefangen.«
»Ich weiß.«
»Ich liebe dich.« Sein Atem kitzelte meinen Nacken. Mir wurde heiß und kalt.
»Ich weiß.«
Am nächsten Morgen war ich trotz einem Kaffee todmüde. Minney bewarf mich mit Cornflakes, während ich auf dem Frühstückstisch fast einschlief. Lukas lachte darüber und trieb das Spiel mit kleinen Tomaten weiter. Es endete damit, dass Damien sein Tablett so vor mir abstellte, dass ich von der anderen Seite förmlich abgeschieden war. Als Dank grunzte ich nur.
»Du bist nächtliche Aktivitäten noch nicht so gewöhnt, oder?«, raunte er mir direkt ins Ohr, nahm sich etwas Butter und schmierte sich unschuldig wie Mutter Theresa sein Brötchen.
»Spiel dich nicht so auf«, knurrte ich schläfrig und rieb mir Schlaf aus den Augen. »Es läuft doch nie mehr als das übliche Rumgeknutsche.«
Der Schwarzhaarige pfiff langgezogen, was uns einiges an Aufmerksamkeit ein bescherte. Er wackelte zweideutig mit den Augenbrauen, weshalb ich ihm unterm Tisch gegen das Schienbein trat. »Klingt so, als wolle da jemand mehr?«
Genervt verpasste ich ihm gleich noch einen Tritt, um dann hinter dem Tablett auf den Platz zu deuten, auf dem Lukas saß. Noch achtete er gar nicht auf uns, da er sich angeregt mit Monika unterhielt, aber ich konnte ihn noch nicht so gut einschätzen, um zu wissen, ob er nicht wieder zu Michael zurück rennen würde, wenn er so etwas derartiges prekäres erführe.
Damien seufzte nur und verdrehte die Augen, als wäre ich ein nerviges, kleines Kind. Letztendlich wurde das Frühstück ruhig und ohne weitere Zwischenfälle fortgesetzt. Glücklicherweise.
»Hey, hat einer eine Idee, was für heute machen?« Minney guckte fragend in die Runde. Ihre blonden Haare sahen heute zerstreuter aus als sonst. Sie musste auch eine lange Nacht gehabt haben.
»Eine ‚spezielle‘ Tour durch Hamburg und eine Schiffrundfahrt. So stand’s zumindest auf dem Programmzettel.« Lukas hing mit seinem Blick irgendwo weit hinter mir und ich tippte frei heraus auf Michael und seine Crew. Ich hatte völlig vergessen unser neues Mitglied zu fragen, wieso er die Mitgliedschaft im ‚Vollassi-Club‘ gekündigt hatte.
Monika zuckte mit den Schultern und trank den Rest ihres Tees aus. »Was auch immer. Wir werden so oder so Spaß haben, oder Johnny?« Sie klimperte mehrmals mit den Wimpern und legte liebäugelnd den Kopf schief. Ich hatte keine Lust auf eine Unterhaltung, prinzipiell wollte ich nur noch schlafen.
»Ich schätze schon«, meinte ich gleichgültig, nahm mein Tablett mit dem leeren Teller und der Tasse und schaffte die Sachen zum Abwasch. Damien folgte mir wie ein verdammtes Schoßhündchen.
»Entgegen deiner Befürchtung ist der Knutschfleck noch niemandem aufgefallen.« Er stellte sein Tablett ab und lief an meiner Seite zurück zum Ausgang. Wir mussten unsere Rucksäcke noch für den Tag packen.
»Ach, meinst du? Weißt du wie mich Lukas heute Morgen angestarrt hat? Er ist nicht doof, weißt du.« Ich schloss unser Zimmer auf und warf ziellos Sachen in meinen Rucksack, von denen ich meinte, dass ich sie gebrauchen könnte.
Damien seufzte und küsste mich beiläufig, direkt auf die Stelle, wo sich der Fleck befand. Dann schmiss er sein Handy in meine Tasche und wartete vor der Tür auf mich. Ich schloss ab, da Lukas bereits seit sieben in der Früh fertig war und ich von weitem ihn und Monika schon am Ausgang sehen konnte. Die beiden verstanden sich auch schon ganz gut.
»Irgendwas stimmt mit dem Kerl nicht«, murmelte Damien, während wir zu den beiden rüber schlenderten. »Er ist sympathisch, ja, aber irgendwie werde ich nicht aus ihm schlau.«
Ich runzelte die Stirn, kam aber zu der Erkenntnis, dass ich genauso dachte, sagte aber nichts weiter und wurde von Monika begrüßt, indem sie mich stürmisch umarmte. Überrascht hielt ich sie fest, bis sie wieder auf die Beine kam und mich angrinste, als hätte Jakob ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht. Bevor ich jedoch nachfragen konnte, zwinkerte sie mir zu, nahm mich bei der Hand und führte uns hinaus. Der Himmel war bewölkt, von einer weißen Schicht zugedeckt, doch es sah nicht nach Regen aus. Draußen hatten sich bereits viele andere Schüler zusammen gefunden und standen in Gruppen da, tratschend und abwartend. Die Lehrer zählten ihre Klassen immer wieder nach, obwohl es im Endeffekt egal war, ob die Klassen geordnet waren, auf die Endzahl kam es an.
Als dann schließlich der Bus für die Tour ankam und alle Schüler verstaut waren, nahm die Aufregung auch wieder ab und die noch trägen Jugendlichen beruhigten sich wieder. Das bemerkte ich vor allem an mir – ich war hundemüde.
Lukas saß eine Reihe vor uns neben Minney. Ich war unwesentlich verärgert darüber, dass mich meine beste Freundin so im Stich ließ, beschwerte mich aber nicht, lehnte meinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und genoss die Ruhe, während wir an diversen Häusergruppen vorbei fuhren. Ich hörte der Tussi, die sich als unsere Stadtrundführerin vorgestellt hatte, überhaupt nicht zu und hing bemüht konzentriert meinen Gedanken nach. Soweit ich gesehen hatte, hörte Damien Musik. Ab und an schallte seine Rock-Musik sogar zu mir rüber. Das schläferte mich nur noch mehr ein…
Ich träumte davon, wie Damien und ich am Strand lagen, dabei hasste ich es am Strand zu liegen und nichts zu tun. Er trug etwas, das mich stark an eine Matrosenuniform erinnerte und grinste mit geschlossenen Augen. Sein Ohrenpiercing glänzte in der Sonne. Seltsamerweise hatte er keinen Irokesen mehr, sondern kurze, struwwelige Haare, kaum fünf Zentimeter lang. Als ich zum Meer sah, konnte ich dort ein kleines Kind spielen sehen. Es hatte genauso helle Augen wie Damien und lachte, während es mit einer Schaufel am Wasser spielte. Ich ließ den Blick schweifen und entdeckte Lukas, der eine große Sandburg baute, die Cinderellas Schloss richtig Konkurrenz machte. Dabei grinste er noch übertriebener als sonst. Als schließlich eine riesige Monika kam und die Sandburg mit einem Schritt zermalmte, erwachte ich aus meinem kurzen, unangenehmen Schlaf und stieß mich sogleich an der Fensterscheibe.
Damiens Hand lag auf meiner Schulter und er lächelte mich entschuldigend an. Es war beinahe merkwürdig ihn wieder mit Irokesen zu sehen. »Sorry, aber wir machen eine kurze Pause. Ich wollte fragen, ob du mit zu McDonalds kommst.«
Ich gähnte langgezogen und streckte mich ausgiebig. Dabei bemerkte ich, dass Minney’s und Lukas‘ Plätze leer waren und ging auf Damiens Angebot ein. Wir stiegen aus dem Bus aus und fanden die beiden auf dem Weg zu dem Fast-Food-Restaurant wieder. Ich fühlte mich noch seltsam von meinem Traum, sodass ich die ganze Zeit kaum ansprechbar war. Weshalb ich auch nicht bemerkte, wie Michael und seine Freunde uns folgten.
»Hey, ihr Schrumpfköpfe!« Er lachte blöd, während er Damien bei Seite rempelte, um zu überholen. Ich blinzelte verwirrt und beobachtete, wie Lukas fröhliche Ausstrahlung verschwand. Er starrte seine ehemaligen Freunde an als hätten sie die Pest.
»Verpiss dich, Förster, oder soll ich dir noch eine verpassen?!« Mein Ex – konnte man ihn als solchen bezeichnen? – knurrte wütend und rückte seine Jeansjacke wieder zurecht. Michael lachte nur gehässig. »Mach doch! Dann kannst du aber auch gleich nach Hause fahren, Schwuchtel.«
Nun endgültig provoziert machte Damien einen Schritt nach vorne, ich zog ihn jedoch am Ärmel wieder zurück und warf ihm einen deutlichen Blick zu. Sollte er sich tatsächlich mit diesem Idioten anlegen, dann dürfte er sich schnell wieder von Hamburg verabschieden. Und das wollte selbst ich nicht, auch wenn das hieß, dass ich für ihn denken musste.
»Geh doch einfach, Michael.« Lukas klang resigniert und fuhr sich übers Kinn. »Was willst du überhaupt?«
»Eigentlich nichts«, er grinste debil. Einer seiner Kumpels rief herein: »Wir wollten eigentlich nur sehen, wie die Loser sich zusammenrotten. Sieht echt witzig aus! Wusste ja nie, dass du gerne mit Homos befreundet bist, Lukas. Aber jeder wie er will, was?« Sie lachten, einige grinsten verhalten, wahrscheinlich, weil sie sich noch daran erinnerten, mit ihm befreundet gewesen zu sein, aber der Angesprochene blieb stumm. Er biss sich so stark auf die Zähne, dass sein Kiefer ganz weiß wurde.
»Sucht euch irgendjemand anderen auf eurem Niveau, ich bin mir sicher, dass es hier in der Nähe einen Kindergarten gibt«, fauchte Minney und legte Lukas beinahe tröstend eine Hand auf den Oberarm. »Und jetzt macht `n Abgang! Ich fahr meinetwegen auch nach Hause, wenn ich euch dafür in den nächsten Gulli stecken kann!«
Sie brummten, nuschelten und Michael gestikulierte seltsam, doch sie hörten tatsächlich und machten sich auf den Rückweg zum Bus. Die gesamte Situation war so seltsam, dass ich am Ende gar nicht mehr wusste, was überhaupt passiert war. Müde war ich wirklich zu nichts zu gebrauchen.
»So«, Minney lächelte nun statt Lukas, der den Jungs noch immer hinterher sah, »Wer hat Bock auf einen Burger?«
»Das ist nicht so einfach wie es aussieht!« Ich murrte, zog fester, nach links, nach rechts, doch es tat sich nichts, nicht mal, als ich stieß. Damien hinter mir stöhnte genervt und drückte mich bei Seite. »Lass mich mal!«
Ich verdrehte die Augen und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. »Du machst doch nur wieder alles kaputt!« Er drückte einmal kräftig, mit einem einzigen Ruck und es funktionierte. Zweideutig wackelte er mit den Augenbrauen. »Ich hab eben Erfahrungen.«
Skeptisch zog ich die Stirn kraus, während ich Lukas antippte, der auf seinem Bett lag und bereits am Einschlafen war. »Du hast Erfahrungen darin, Fenster zu öffnen?«
Lukas gähnte mir herzhaft entgegen, streckte sich und fuhr sich durch sein zerwühltes Haar. Er sah so ungewollt niedlich aus. »Geht’s jetzt los?«
»Ja«, grinste Damien begeistert, schnappte sich meinen Rucksack und warf ihn im hohen Bogen aus dem Fenster. »Außerdem habe ich nicht Erfahrungen darin, wie man Fenster öffnet, sondern eher wie man sich heraus schleicht.«
»Hey!«, kam es von draußen und jemand fluchte laut. »Euer scheiß Rucksack hat mich nur haarscharf verfehlt!«
Ich streckte den Kopf raus und erkannte Minney unten, wie sie mit erhobener Faust auf der kleinen Wiese stand und zu mir hoch sah. »Dann ist ja alles in Ordnung! Hast du die Leiter?«
»Sonst wäre ich nicht hier, Idiot!« Monika hob etwas an der Hausfassade an und kurz darauf lehnte auch schon eine riesige Holzleiter unter unserem Fenster.
»Der Hausmeister verschließt seinen Schuppen nicht gerade ordentlich.« Grinsend hielt die Blondine ein glänzendes Teil hoch, das ich im fahlen Licht der Straßenlaternen als kaputtes Schloss identifizierte.
»Wer geht zuerst?«, wandte ich mich an meine Zimmergenossen. Lukas blinzelte mehrmals, mit einem Kissenabdruck im Gesicht, ehe er mit den Schultern zuckte und schläfrig grinste. »Ich mach’s.«
»Du?« Ich schnaubte amüsiert. »Nachher schläfst du beim Klettern ein. Nein, ich geh zuerst.« Mühsam schwang ich ein Bein über das Fensterbrett, fahndete im Dunklen nach der ersten Sprosse und kletterte versucht vorsichtig hinunter. Minney erwartete mich unten grinsend und umarmte mich überschwenglich, als hätte sie mich jahrelang nicht gesehen.
Als Zeichen – weil wir nicht das gesamte Wohnheim wecken wollten – rüttelte ich so an der Leiter, dass sie sich kurz bewegte. Der Nächste stellte sich als Damien heraus, der Irokese war selbst in dem schlechten Licht noch deutlich zu erkennen. Entweder es kam mir nur so vor oder der Kerl tat es mit Absicht, aber irgendwie streckte er von Sprosse zu Sprosse seinen Arsch in der viel zu eng anliegenden Jeans mehr und mehr heraus. Unten angekommen strahlte er wie ein kleiner Junge. Ich verdrehte nur die Augen.
Lukas taumelte als letztes hinunter und stürzte dabei fast von der Leiter. Zum Glück war er da nur noch auf geschätzter ein Meter Höhe, sodass er mir praktisch direkt in die Arme fiel. Der Schwarzhaarige lächelte verlegen und rieb sich den Nacken, während er sein verrutschtes T-Shirt wieder richtete. »Hab mies geträumt«, erklärte er sich knapp und richtete sich unter Damiens kritischen Blicken alleine wieder auf. »Aber gleich bin ich wieder wach.«
»Wäre auch besser so!«, grinste Minney, während sie die Leiter hinter einer langen Hecke, die das Grundstück beinahe umrundete, verschwinden ließ. »Denn gleich heißt es ‚Party‘!«
»Freu dich nur nicht zu sehr darauf«, mahnte ich meine beste Freundin. »Nicht, dass du am Ende enttäuscht bist.«
Das war sie durchaus nicht. Es war nicht so kalt wie die letzten Tage, weshalb die Nacht ganz angenehm war. Nicht, dass man darauf großartig achten würde, wenn man sich mit drei Schulkameraden, einer davon dein Ex und die andere eine verrückte, durchtriebene Blondine, um halb zwölf in St. Pauli rumtrieb. Im geschätzten zehn Sekunden Takt hatte ich Angst davor aufgeschlitzt, niedergeschossen oder ausgeraubt zu werden, Reihenfolge beliebig, manchmal glaubte ich sogar an alles drei gleichzeitig. Selbst der Himmel war so tief schwarz, dass man nicht einmal die Sterne sehen konnte – nichts Tröstliches in der unsichersten Umgebung Hamburgs. Ich hoffte, dass sie meine Leiche später wenigstens noch identifizieren konnten.
»Sei doch nicht so ein Angsthase!« Monika hatte sich bei mir eingehakt und grinste ununterbrochen, seitdem wir die sichereren Straßen verlassen hatten. Sie schien sich, umgeben von Nutten, Zuhältern, zwielichtigen Bars und Kriminellen, richtig wohl zu fühlen.
»Ich habe keine Angst«, warf ich unsicher ein, den Blick immer schweifen lassend. »Ich bin nur realistisch. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass wir überfallen oder zusammen geschlagen werden.«
»Ich sag’s ja«, brummte die Blondine. »Du hast Angst.«
Lukas klinkte sich plötzlich ein, bis eben noch die Augen staunend an jedem Neonschild klebend. »Leute, wir wollen Spaß haben, also denkt nicht so viel nach. Wo gehen wir als erstes hin?«
»Wie wär’s mit dem Schuppen? Ich hab Durst.« Damien deutete auf eine fette Bar, die vor Rock-Atmosphäre beinahe triefte. Vor ihr waren Motorräder aufgereiht, sowie einige Frauen, die mit Zigarette in der Hand vor den Fenstern lungerten wie Motten. Alles in mir schrie förmlich „Geh da nicht rein! Lauf! Lauf um dein Leben!“ aber als Damien wie selbstverständlich meine Hand nahm und uns hinter sich her in die Bar schliff, vergaß ich das seltsamerweise schnell wieder.
Drinnen roch es nach Muff; nach Urin, Schweiß und billigem Parfüm. Einige fette Kerle tranken ganz klassisch an der Bar ihr Bier und grölten über die miese Rockmusik im Hintergrund hinweg. Es gab einen Billardtisch, einen kleinen Fernseher in einer Ecke und ein paar dreckige Tische, an denen Gruppen von stinkenden, betrunkenen Menschen saßen. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Film.
»Geil«, strahlte Minney und zog wie wild an meinem Arm, »Ist das nicht mal was neues als unser schnödes Kaff?« Sie strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht, schnappte sich nun auch Lukas Arm und zerrte uns zu Damien an die Bar. Der Barkeeper musterte uns skeptisch, aber als sein Blick unmissverständlich in Monikas Ausschnitt landete, fragte er recht höflich, was wir haben wollten.
»Vier Doppelte«, erklärte unser Punk ruhig und grinste den kahl rasierten Mann hinterm Tresen netterweise noch an. »Ich bezahle«, erzählte er uns dann schließlich und zwinkerte mir zu. Dass es mir galt, erschloss ich dadurch, dass er mir danach, natürlich ganz zufällig, in die Seite kniff. Ich ignorierte es.
Wir setzten uns an einen schmierigen Holztisch, direkt gegenüber von zwei Typen die aussahen, als würden sie mit ihrer Stirn Wallnüsse knacken. Ich versuchte verkrampft nicht zu ihnen herüber zu schauen und konzentrierte mich auf meinen Wodka. Alle anderen hatten ihr Glas bereits geleert – ich überlegte noch, wie ich mich aus dieser Situation retten könnte. Migräne?
»Trink schon!« Damien lachte und stieß mir mit einem Ellbogen gegen den Brustkorb.
Skeptisch musterte ich das Gesöff und seufzte. Dann stürzte ich den Alkohol hinunter, ignorierte das Brennen in der Kehle und schüttelte mich anschließend. Die Typen gegenüber grinsten über mich.
Wir unterhielten uns noch eine Weile in dem Schuppen, tranken zwei weitere Gläser und machten uns wieder auf den Weg. Es stellte sich heraus, dass St. Pauli gar nicht so schlimm und postapokalyptisch war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Vielleicht lag es an dem Wodka, vielleicht aber auch daran, dass ich mich benehmen konnte wie ein ängstliches Cheerleaderhäschen aus miesen Horrorfilmen. Zumindest hatte ich dann auch Spaß.
Wir kauften uns bei einem Lebensmittelladen, der bis um 0 Uhr offen hatte, Sekt und Wein und setzten uns wie vollkommen kultivierte Penner auf eine Bank, bei der ich mir sicher war, dass sie schon mehrmals als Toilette missbraucht wurde.
Das pulsieren dieser großen Stadt war schon faszinierend anzusehen. Wenn sie auch bei Tag freundlich, groß und kultiviert wirkte, so hatte man spätestens jetzt, in meiner Lage, das Gefühl, irgendwo in der Atmosphäre der Neunziger zu sein. Wie konnte man sich auch im Rotlichtviertel modern entwickeln? Roboter-Huren?
So gesagt, mochte ich Hamburg sogar ganz gerne. Nicht wegen der Reeperbahn, sondern einfach, weil mir große Städte gefielen, vor allem, weil ich in einer Kleinstadt aufwuchs. Hier konnte man außerdem sein wer man wollte – es interessierte niemanden, nicht mal ein bisschen. Irgendwann vielleicht, nach dem Abitur….
»Willst du noch?« Lukas hielt mir die beinah leere Flasche Sekt hin. Mir wurde natürlich der Penner-Schluck angeboten. Ich lehnte dankend ab.
»Wisst ihr«, begann der Schwarzhaarige dann seufzend, »Es ist echt lustig mit euch, Leute. Ich find’s sogar richtig schade, dass ich euch jetzt erst kennen gelernt habe, nachdem…«
Er stockte und Minney half ihm auf die Sprünge. »Nachdem du die Clique der Intelligenz-Allergiker verlassen hast?«
»Ja«, lachte er, »Ja, so kann man’s sagen.«
Damien, der die bisherige Zeit geschwiegen hatte, meldete sich nun auch wieder zu Wort. Er hatte so einen seltsam skeptischen Blick drauf. »Wieso bist du mit diesen Affen eigentlich nicht mehr befreundet? Ich meine nur, früher wart ihr ja Pech und Schwefel…«
Die Stimmung schlug um. Auf einmal achtete niemand mehr auf die Umgebung, auf das sperrige Licht oder das Geschrei von zwei betrunkenen Frauen. Damiens eisblaue Augen wirkten kalt, prüfend und das seelenfrohe Lächeln auf Lukas Lippen war erstorben.
»Schon gut.« Der Halbbrasilianer fuhr sich durchs Haar, was ungemein gut aussah, aber sicherlich in diesem Moment nicht weiter wichtig war. »Ich weiß, dass ich früher zu den Arschlöchern gezählt habe und auch Dinge getan habe, auf die ich nicht gerade stolz bin…« Monika klopfte ihm auf die Schulter und ermunterte ihn so, fortzufahren. »Aber ich habe nicht aus einer Laune heraus mit dieser Phase abgeschlossen, sondern … na ja … ich will eben nicht so ein hormongesteuerter Idiot werden, sondern ganz einfach Ich sein.« Er lachte kurz auf und biss sich verlegen auf die Unterlippe. »Klingt bescheuert, was?«
Keiner von uns sagte ein Wort, bis Monika zu lachen anfing und ihn grob umarmte. Ich klopfte ihm auf die Schulter, Damien hingegen wahrte weiterhin Distanz und schmunzelte still vor sich hin. Worüber war nicht wirklich klar, er schien vollkommen in Gedanken versunken. »Schon gut, Sunshine«, grinste unsere Blondine und lehnte sich an den neuen Mitleidenden. »Wir verstehen schon was du meinst. Es ist nicht bescheuert. Hauptsache, du bist jetzt ganz einfach du und das mit uns.«
Wir tranken auch noch die Weinflasche, ein ziemlich süffiger Rotwein, glaube ich, und lachten über alles Mögliche – wie dick Natalie in der Fünften gewesen war; als damals Tina und Michael dabei erwischt worden, wie sie an einem Wandertag versucht haben miteinander rumzumachen, aber sich ihre Zahnspangen verkeilt hatten; wie Minney als Tussi ausgesehen hatte und auch darüber, wie sich die Kerle benahmen, seitdem Damien sich geoutet hatte. Alles war prima, bis wir deutlich angetrunken beschlossen, wieder zurück zur Jugendherberge zu tändeln.
»Es ist spät, wir müssen morgen früh raus und Lukas Wangen sind röter als Natalies Nagellack.« Monika zwinkerte dem Schwarzhaarigen zu, der angesäuselt zurück blinzelte. Wir stimmten alle zu und watschelten wie eine Selbsthilfegruppe zum Wohnheim. Das Außenlicht ging an, als wir das Grundstück betraten, deswegen spurteten wir eiligst um die Gebäudeecke, zu dem Stück Hecke, hinter dem wir die Leiter versteckt hatten.
»Ich kletter wieder durch das Fenster bei den Mädchen rein.« Das einzige weibliche Mitglied aus der Gruppe drückte uns alle nochmals und stolzierte dann mit wehender Mähne davon. Ihre Gestalt verschwand schnell im Schatten und ich stellte mir vor, wie sie wie Spiderman die Wand hoch kroch. Das wäre nun wirklich witzig.
»Okay!« Damien klatschte in die Hände und sah Lukas und mich abwartend an. »Der betrunkenste geht zuerst, den können wir dann noch – hoffentlich – auffangen. Wir wissen leider alle, dass unser lieber Lukas das ist, deswegen schwing jetzt deinen südamerikanischen Hintern da hoch und zwar pronto!«
»Zu Befehl, Sir!« Glucksend salutierte Angesprochener dem Punk und kraxelte so ungelenk und schwankend die Leiter hoch, dass man stetig Angst haben musste, dass er herunter fiel wie ein rohes Ei. Und das wäre bestimmt nicht witzig. Den Ärger und das Chaos deswegen wollte ich mir gar nicht ausmalen.
Als wir dann schließlich alle drei halbwegs ordentlich oben angekommen waren – Lukas war am Fenster hängen geblieben und hatte sich dabei die Hose aufgerissen – schmissen wir uns relativ schwindelig und angetrunken in unsere Betten. Unser Sonnenschein schlief beinahe sofort ein, während Damien sich noch im Badezimmer rumtrieb und ich eine SMS an Leo, Heath und meinen Vater sendete. Außerdem hatte Patrick mir eine ziemlich obszöne Nachricht geschrieben, obwohl ich nicht einmal wusste, woher er meine Handynummer hatte. Ich löschte sie ohne jegliche weitere Beachtung.
»Es ist süß«, hörte ich Damien aus dem Bad reden, dann wurde auch schon das Licht gelöscht und er legte sich nur mit Boxershorts bekleidet neben mich auf mein Bett. Sowas wie Privatsphäre kannte er wohl nicht.
»Was ist süß?«, hakte ich nach und verschränkte die Hände auf meinem Bauch. Wir lagen distanziert voneinander, wie gute Freunde. Mehr nicht. Ich wusste nicht, ob mir das gefallen sollte, aber ich hatte auch keine Lust das zu hinterfragen. Wenn es drauf ankäme, würde er sowieso von vornherein den ersten Schritt machen.
»Lukas«, erklärte er ruhig und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Er ist gerade in der ersten Phase.«
Verwirrt drehte ich mich auf die Seite und stierte meinen Bettnachbarn an. »Erste Phase? Erste Phase wovon denn?« Als Antwort grinste er, rollte sich vom Bett und kletterte hoch zu seinem Schlafplatz. Nun neugierig geworden – ich war ja auch nur ein Mensch – stand ich auf und lugte zu ihm hoch. »Komm, jetzt kannst du’s mir auch sagen.«
Der Schwarzhaarige lachte, warf beiläufig einen Blick auf den schnarchenden Lukas und lehnte sich dann vor. »Unser kleiner Latino hier«, der eben in diesem Moment im Schlaf etwas undeutliches brabbelte, »scheint langsam zu bemerken, dass er schwul ist.«
Vollkommen aus der Bahn gerissen, konnte ich Damien darauf nur anstarren wie ein Reh, das im Scheinwerferlicht eines Autos stehen geblieben war. Fehlte nur noch das Auto, das mich erwischte.
»Wie zum Teufel«, setzte ich laut an, senkte dann aber vorsichtshalber die Stimme, »kommst du darauf, dass ausgerechnet unser Sonnenschein hier schwul ist?! Ich meine, okay, mich hast du auch irgendwie umgedreht, bitte!« Ich hob abwehrend die Hände und er wackelte zweideutig mit den Augenbrauen. »Aber Lukas ist doch niemals…«
»Schwul«, ergänzte er nüchtern und strich mir ganz beiläufig durchs Haar. »Vielleicht auch bi, aber dafür ist er zu niedlich, schätze ich. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie das bei mir früher gewesen ist. Für mich ist das eindeutig, aber es dauert sicher noch ein bisschen, bis er auch drauf kommt.«
Verwirrt runzelte ich die Stirn und dachte angestrengt nach. Schwul? Ausgerechnet Lukas, der bis vor kurzem noch zu den größten Idioten gezählt hatte? Damien wusste sicher wovon er sprach, ich nahm Dinge erst wahr, wenn man sie mir direkt vor die Nase hielt, trotzdem irritierte mich das. Wie kam er darauf, was für Anzeichen gab es dafür? Und wieso zur Hölle begann das Chaos eigentlich ganz zufällig, kaum, dass Damien unsere Schule besuchte?! Es könnte alles so normal sein!
»Ouh, es sieht richtig süß aus, wenn du so grübelst.« Er zwickte mir in die Wange und zog dabei eine Schnute. »Das trifft dich echt, was?«
Ich brummte missmutig und schlug seine Hand weg. »Es wundert mich eben. Passiert ja nicht jedes Jahr, dass alle ans andere Ufer schwimmen.«
»Nicht alle«, warf Damien ein, »aber bei dir war’s mir wichtig.« Ich verdrehte die Augen und legte mich wieder in mein Bett. »Ach, hab ich gar nicht gemerkt.«
»Schlaf schön.«
»Ja ja.«
Die Woche in Hamburg ging relativ schnell um, sodass ich gedanklich bereits beschloss, wieder her zu kommen. Es war interessant, die meiste Zeit auch unterhaltsam und ein Teil meines Lebens, den ich wohl nicht vergessen würde. Ein Teil, indem ich beschlossen hatte, mich von Damien Pasang fernzuhalten – zumindest auf emotionaler Ebene – und erfuhr, dass eben dieser sich in mich verliebt hatte. Dennoch machte ich keine Anstalten, die Sache zu erleichtern. Auch wenn ich es nicht gerne zugab, ich war tatsächlich immer noch wütend wegen der Sache bei der Halloween-Party, aber wie konnte man mir das auch verdenken?
Die Tage nach der Klassenfahrt waren hingegen das Grauen. Da die Winterferien vor der Tür standen, beschloss das gesamte Lehrerkollegium uns beinahe täglich irgendeine Arbeit reinzudrücken. Wir quälten uns von einem Test in den nächsten, lernten in den Pausen und schrieben uns Spicker auf die Arme, Flaschen und sogar T-Shirts (was natürlich recht schnell aufflog). Das ging zwei Wochen lang so, bis wir bestimmt in jedem Fach zwei Arbeiten hinter uns hatten und selbst die Lehrer keine Lust mehr hatten miese Ausfüllbögen zu korrigieren. Nach zwei Wochen büffeln, fühlte man sich ziemlich erledigt, weshalb ich nicht weiter auf mein und Umfeld geachtet hatte. Mit Minney und Lukas unterhielt ich mich nur noch in den Pausen, nach der Schule hielt ich mich grundsätzlich zu Hause auf. Damien dagegen bekam ich fast gar nicht mehr zu Gesicht, da Sport wiedermal ausfiel und er in den Pausen wie ein Krimineller im Schatten stand und rauchte. Er sprach auch nicht weiter mit mir, ab und an sah er zu mir herüber, aber reden war nicht mehr drin. Manchmal fragte ich mich wieso, aber dann stellte ich fest, dass diese Pause ganz angenehm war. Mehr als angenehm.
Es war Samstagabend, als ich in mein Zimmer schlenderte und die Musik ausstellte. Meine Eltern und meine Schwester waren längst im Bett und ich war kein Stück müde, weshalb ich beliebig ein Buch von meinem Schreibtisch pickte und mich aufs Bett schmiss. Das einzige Licht das brannte, war das meiner Nachttischlampe, um die bereits eine Motte surrte und mit einem Klacken immer wieder gegen die Glühlampe flog. Klack. Ich schlug mein Buch auf und begann zu lesen.
Klack. ‚Homo faber‘ war eins meiner Lieblingslektüren, schon ziemlich abgegriffen. Ich schlug irgendeine Seite auf und fing an zu lesen. Klack. Langsam fragte ich mich, wie blöd diese Motte war und beobachtete, wie sie beinahe panisch immer wieder um die Lampe herum flog. Dann klackte es wieder, aber diesmal laut und auch kein Insekt war daran beteiligt. Wenn doch, müsste das Flügelvieh mindestens 1.70m groß sein, aber das traf glücklicherweise in diesem Fall nicht zu.
Überrascht von dem Geräusch pirschte ich mich zum Fenster, paranoid wie ich war und lugte vorsichtig an den Gardinen vorbei hinaus. Der Mond schien so hell, dass ich unseren Garten mit Dads geliebten Obstbäumen ganz gut erkennen konnte. Im fahlen Licht identifizierte ich Umrisse einer Gestalt, war sogar schon kurz davor mir eine Waffe zu suchen, bis mir aufging, dass es für einen Einbrecher selten dämlich wäre, Steinchen ans Fenster zu schmeißen, wenn er einbrechen wollte. Also öffnete ich das Fenster und spähte tiefer in die Dunkelheit. Lächelnde, eisblaue Augen strahlten mir förmlich entgegen und ehe ich mich versah, lehnte eine Leiter unter meinem Fenster. Überrascht ließ ich den Schwarzhaarigen in mein Zimmer klettern, bis er stolpernd auf meinem Teppich zum Stehen kam.
»Hey.« Damien grinste, fuhr sich über die Stoppeln auf seinem Kopf und schob die andere Hand in seine Hosentasche. Ich öffnete den Mund, wollte was sagen, ohne zu wissen was, schloss den Mund wieder und starrte ihn nur an.
Okay, reden nach zwei Wochen Ruhe war doch schwieriger als gedacht. Mal abgesehen davon, dass es irre war, wenn man mitten in der Nacht in mein Zimmer kletterte, als wäre es das normalste der Welt. Mit einer neuen Frisur. Hey, wo war sein Irokese hin?!
»Ähm, hey.« Ich runzelte skeptisch die Stirn. »Ja, äh, komm ruhig rein, weißt du, die Haustür ist abgeschlossen, ich versteh das…Ach und schicke, neue Frisur! Ist die besser für das ‚durchs Fenster klettern‘?«
»Sorry, dass ich hier so reinplatze und dich beim…« Er hob mit einer Hand das Buch von meinem Bett und musterte mit hochgezogener Augenbraue die Rückseite. »…Lesen störe. Das Buch sieht aus wie aus der DDR. Von wem hast du das? Deiner Oma?«
»Die ist tot«, erwiderte ich knapp und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso bist du hier, Damien?«
Er seufzte, kratzte sich an seinem kurz rasierten Schädel und setzte sich wie selbstverständlich auf mein Bett. Ich konnte mich noch zu gut an das letzte Mal erinnern, als er in meinem Zimmer gewesen war und wie das ausgegangen war. Nicht gut. Und das lag sicher nicht an meinem Zimmer.
»Ich wollte mit dir reden. Und dich fragen, wie du meine Frisur findest. Zu kurz, oder?« Damien zeigte seine weißen Beißerchen und erinnerte einen dabei an einen schlechten Clown. Ich verdrehte die Augen und setzte mich neben ihn, damit ich ihn nicht mehr direkt ansehen musste. »Ist doch egal.«
»Stimmt«, pflichtete er mir bei, »ich sehe immer scharf aus.« Gott, wie konnte man nur so sehr von sich selbst überzeugt sein? Da wurde einem schon fast schlecht.
»Was machst du hier, Damien?«, erinnerte ich ihn und stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite. »Man klettert nicht um diese Uhrzeit bei jemandem durchs Fenster um über Frisuren zu reden.«
»Gut, ich sag’s dir«, er atmete tief ein und aus, »Ich liebe dich.«
Da mich diese Information nicht überraschte, herrschte einige Minuten Stille, bis ich mich schnaubend zurücklehnte. »Vielleicht überrascht dich das jetzt, aber das wusste ich bereits.«
Er lachte und legte sich neben mich, sein herber Geruch wehte mir um die Nase. »Du scheinst nicht ganz zu verstehen, Johnny.« Seine Hand strich mir durch das gegelte Haar. Mittlerweile hatte ich den Bogen raus, wie ich meine Haare zu stylen hatte, ohne, dass ich aussah wie Robert Pattinson. »Ich liebe dich. Ich weiß das mittlerweile und ich weiß auch, was es bedeutet.«
»Oh, wirklich? Ich dachte, dass Liebe auch Treue bedeutet, aber vielleicht irre ich mich ja auch.« Scharf kreuzten sich unsere Blicke, ich skeptisch, ungläubig, er entschlossen. Es war wie ein Spiel. Vielleicht war es Glück, Wahrscheinlichkeit oder Zufall. Man denkt anfangs, das Spiel wäre einfach, bis man in die schweren Levels kam und ein Leben nach dem anderen verlor.
»Du glaubst mir nicht.«
»Nein.«
»Es ist aber wahr.« Er setzte sich auf und lehnte sich auf einen Arm. »Du weißt es vielleicht nicht mehr, aber du hast gesagt, dass ich mit einem Irokesen aussehe wie ein Krimineller. Und tadaa!« Damien strich sich stolz über die Stoppeln. Ich wollte etwas einwenden, doch er verdeutlichte mir, still zu sein. »Das ist nicht alles! Ich habe dir versprochen – bei unserem ersten Date – dass ich mein Motorrad verkaufe, wenn aus uns tatsächlich etwas wird. Es ist weg, verkauft, nicht mehr da. War echt nicht leicht, wenn ich das mal so sagen darf. Und ich rauche nicht mehr, falls es dir aufgefallen sein sollte. Also, zumindest versuche ich bis jetzt damit aufzuhören und Mann!« Er grinste verlegen. »Wenn ich das jetzt so aufliste, klingt das, als wäre ich ein vollkommen verliebter Trottel.«
Ich musste auflachen, nickte und ignorierte, dass er näher zu mir rückte. »Das bist du ja auch.«
»Und?« Der Schwarzhaarige legte seinen Kopf auf meiner Brust ab und ich hatte Angst, dass er so meinen Herzschlag zu deutlich hören würde. »Glaubst du mir?«
»Wenn du denkst, dass so ein paar lächerliche Dinge mich überzeugen würden…«, begann ich, doch er unterbrach mich, indem er sich so drehte, dass er auf mir lag. »Okay, ich fahre jetzt die wirklich harten Geschütze auf.«
Ich musste kurzzeitig unter seinem Gewicht prusten und brachte so nur noch ein stockendes Gelächter heraus. »Sagst du das zu jedem Kerl?«
Damien schmunzelte über mich und beugte sich so tief über mein Gesicht, dass sein Atem meine Wange streifte. »Nein, du bist der Erste.« Er küsste meine Wange, mein Ohr, bis zu meinem Nacken. Ich spürte, wie ich Gänsehaut bekam und versuchte mich zu konzentrieren. »Aber das sagst du doch bestimmt manchmal!«
Er lachte gegen meine Schulter, der heiße Atem kitzelte. »Hmh, du bist der Erste. Der Erste zumindest, bei dem Gefühle mit im Spiel sind…«
»Oh, bitte!« Ich schnaubte, wurde aber wieder still, als er mich küsste und mir darauf in die Unterlippe biss. Für mich klang das nach Gefühlsduselei. Ob er vorher was getrunken hatte? Zum Mut antrinken? Wäre doch nicht so unwahrscheinlich…
Ich brummte unwillig, auch wenn der Biss nicht sehr weh getan hatte, wurde aber durch federleichte Küsse auf Kinn und Hals wieder beschwichtigt. Zumindest vergaß ich den Schmerz rasch. Und langsam vergaß ich auch unsere Differenzen. Mein Gott, der Kerl verkaufte für mich sein Motorrad und rasierte sich den Schädel! Wenn das nicht sogar schon fast psychopathisch ist, dann weiß ich auch nicht. Träumten die Weiber aus den Liebesfilmen nicht immer von Männern, die alles für sie taten? Diese plötzliche Konfrontation jagte mir teilweise Angst ein, so viel Nähe und so viel Emotionalität war ich auf einen Schlag nicht gewöhnt, aber andererseits…wenn es richtige Gefühle gab, dann konnte doch gar nichts schlechtes dabei heraus kommen, oder? Sollte der Arsch mich tatsächlich ein zweites Mal hintergehen, dann – und das wusste sicherlich auch er – wäre die schöne Zeit seines Lebens vorbei. In jeglicher Hinsicht. Leider schien es so, als müsste ich dieses Risiko eingehen. Hiermit verabschiedete ich mich von meinem unkomplizierten, gefühllosen Leben. Ich würde es vermissen.
Nachdem uns die Luft und die dazugehörige Ausdauer vergangen waren, lagen wir einfach nur nebeneinander auf dem Bett und starrten die Decke an. Ausnahmsweise war diesmal sein T-Shirt beim Rummachen verschwunden, wahrscheinlich achtlos in eine Ecke geschmissen worden. Damien schmiegte sich so nah an mich, dass ich seine nackte Haut an meiner Schulter spürte. Er war warm, fast schon heiß. Ein krasser Gegensatz zu seinen Augen, die kühl das Zimmer in Betracht nahmen, obwohl es nicht das erste Mal war, dass er hier war.
»Minney und Jakob sind jetzt ein Paar«, erzählte er ruhig und verschränkte seine Finger mit meinen. Die Fingerspitzen waren kalt. »Ich war gestern bei ihm, da saßen sie zusammen auf der Couch und haben sich DVDs angesehen. Er hat mir gesagt, dass er sie sehr mag, auch wenn es nicht immer einfach mit ihr ist.« Ich lachte, trotz der geringen Überraschung, dass es die beiden endlich geschafft hatten. Dann fiel mir auf, dass wir genauso dalagen – harmonisch, ein wenig romantisch, eben wie ein Pärchen. »Ich hätte auch gern die perfekte Beziehung.«
»Perfekte Beziehung?«, entrüstete ich mich. »Die beiden haben doch total einen an der Klatsche.«
Er schnaubte. »Als ob wir das nicht hätten. Ich habe mir die Haare für dich abrasiert und du stehst auf Astronomie. Wenn das nicht verrückt ist…«
»Stimmt.« Sein Daumen streichelte über meinen Handrücken, immer wieder, im gleichen Tempo. »Ich finde es seltsam, dass du dich so leicht von mir beeinflussen lässt. Als ob dein Charakter plötzlich verschwunden wäre.« Kaum, dass ich geendet hatte, nahm er meine Hand fester und schob seine andere, ohne auch nur ein Wort oder eine Veränderung seiner Mimik, in meine Hose. Es war nicht das erste Mal, dass er so weit ging, aber trotzdem erschrak ich unter der kalten Berührung. »So ist das eben, wenn man in einer Beziehung ist.«
Zu meinem Glück bewegte sich seine Hand nicht weiter und ich dudelte einfach die Anwesenheit in meiner Jeans. »Sind wir das denn?«, hakte ich nach, die bizarre Situation ignorierend. Es war so ruhig, wenn man von uns absah, dass das lauteste Geräusch das Rauschen der Bäume vor meinem Fenster war. Damien gluckste und schloss die Augen. »Wenn du es willst.«
Tja, da ich nicht wollte, gingen wir nun getrennte Wege. Es ist zwar scheiße, seinen Ex so gut wie jeden Tag irgendwo zu sehen und das Ende kam auch ziemlich mies, aber…
Natürlich verarsch ich euch nur. Ich wiederhole mich nur ungern, aber dieser Punkt traf zu gut auf Damien zu: Wenn man ihn einmal an sich kleben hatte, dann wurde man ihn auch nicht wieder los. Sicher war nur, dass ich das mittlerweile auch nicht mehr wollte.
Inoffiziell waren wir schließlich doch so etwas wie ein Paar. Die einzigen, die darüber Bescheid wussten, waren unglücklicherweise meine Eltern – meine Schwester war an dem Abend reingeplatzt, was Damien dazu gebracht hatte, schnellst möglich zu flüchten, wobei leider das Fenster die nächstliegende Möglichkeit zur Flucht gewesen war und er etwas ungeschickt von der Leiter gefallen war; meine Schwester glaubte lustigerweise am nächsten Morgen, es wäre ein Traum gewesen – und Heath und Leo, weil die beiden gar nicht richtig mitgekriegt haben, dass zwischen Damien und mir mal Sendepause gewesen war. Damien hatte sichtbar aus den Anfängen gelernt und benahm sich vorbildlich. Er drängte mich zu nichts; es machte ihm nicht einmal was aus, wenn ich ihm in aller Öffentlichkeit einen deftigen Tritt gegens Schienbein verpasste, wenn er versuchte mir irgendwie näher zu kommen. Ein Outing, kurz vorm Abitur, wegen eines durchgeknallten Punks? Nein, danke!
Es war Mittwoch, als Damien beschloss, mir mal ‚ausnahmsweise‘ richtig auf den Sack zu gehen. Er nutzte seine neuen Privilegien maßlos aus und meinte, mich andauernd bedrängen zu müssen. Es fing mit plötzlichen Kuschelanfällen auf dem Jungsklo an und endete bei stürmischen Küssen in der Abstellkammer des Hausmeisters. Es würde mich nicht wundern, wenn eines Tages der Hausmeister reinplatzen würde und den Schock seines Lebens bekäme.
Tatsächlich war es nicht der Hausmeister, der uns erwischte, sondern Minney, die, wie ich nachträglich feststellte, uns schon seit Anfang der Woche hinterher spionierte. Sie war uns bis zur Toilette gefolgt und zerrte uns am Kragen wieder hinaus, als hätte sie eine besonders große Beute ergattert.
»Ich hab’s gewusst!«, trällerte sie beinahe nonstop, schliff uns bis zum Hof, wo sich momentan keine einzige Seele befand, da wir eigentlich nur eine fünf Minuten Pause hatten und stellte uns ab wie zwei Schaufensterpuppen. Monika interessierte es eher weniger, dass es in der nächsten Minute klingeln müsste, denn sie stemmte vor uns die Hände in die Hüften und stierte uns in Grund und Boden.
»Wie lange schon?«, fragte sie gerade heraus und legte den Kopf schief. Damien und ich schenkten uns einen schrägen Blick. Manchmal fand selbst ich meine beste Freundin gruselig. Hätte ich im Kindergarten doch bloß nicht in dieser Sandkiste gespielt!
»Also, äh…ich weiß wirklich nicht, ob dich das was angeht-«, fing ich sanft an, während mein Freund – wow, neu! – mich mahnend ansah. Minney unterbrach mich jedoch barsch und tat vollkommen genervt. »Wie lange schon?«
»Seit Samstag«, brach es nun aus Damien heraus, der ihr Starren nicht mehr aushielt. »Außer dir, seinen Eltern und Leath weiß es niemand.«
Verwirrt runzelte sie die Stirn. »Leath?«, hakte sie nach. Ich seufzte und zuckte mit den Schultern. »So nennt er Heath und Leonie. Er meint, sie wären so ein schräges Pärchen, dass sie so gut wie eine Person darstellen.«
»Ist ja auch egal!« Die Blondine wedelte abwehrend mit den Händen vor sich rum. »Ich sehe jetzt großzügig über eure Geheimhaltung hinweg und freue mich einfach für euch!« Sie grinste fröhlich und drückte uns beide, während im Hintergrund das Läuten der Schulglocke zu hören war.
»Nur so nebenbei«, sprach Minney dann, als wir wieder ins Schulgebäude schlenderten, »weil Johnny ja keine älteren Geschwister hat und sein Vater den Job wohl kaum übernehmen wird…« Sie blieb stehen und platzierte sich im Flur direkt gegenüber Damien, sodass sein Fluchtweg so gut wie blockiert war. Der Arme. »Wenn du noch mal seine Scheiße abziehst wie auf dieser Party, Pasang, kriegst du gewaltigen Ärger!« Dann verabschiedete sie sich lächelnd von ihm, packte mich am Handgelenk und manövrierte uns zu unserem Klassenraum. Manchmal konnte ich ihr einfach nichts übel nehmen.
»Psst.« Ich rüttelte an der Schulter meines Bettnachbarn und versuchte ihn aus seinen, anscheinend recht fesselnden, Träumen zu holen. Bis vor kurzem hatte er sogar noch so laut geschnarcht, dass ich schwören könnte, dass es meine Eltern zu Hause hören müssten.
Jetzt jedoch hatte ein anderes Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen – unten, in dieser gottverlassenen Villa, knackte und knirschte es. Diesmal war ich mir aber sicher, dass nicht Damien dahinter stecken konnte, denn der lag ja bekanntlich wie ein Sack Kartoffeln neben mir im Bett. »Hey, Damien! Wach auf!« Er regte sich nicht und ich beugte mich zu seinem Ohr herunter. »Damien, der Tourbus von All Time Low ist verunglückt.«
Wie ich geahnt hatte, schrak der werte Herr förmlich aus dem Schlaf, riss die Augen auf und starrte mich so seltsam an, dass ich nicht einmal mehr darüber lachen konnte. »W-was ist los?!«
Genervt schnippte ich ihm gegen die Stirn. »Du Idiot solltest nur aufwachen. Irgendjemand schleicht durchs Haus!«
Platt ließ er seinen Kopf wieder auf sein Kissen fallen und seufzte tief. »Ist bestimmt nur der Butler.« Ich boxte ihm gegen die Schulter, damit er nicht gleich wieder einschlief und stieg aus dem Bett. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, diese Nacht bei ihm zu übernachten, aber er hatte mich letztendlich mit seinen zahlreichen, teuren ‚Spielsachen‘ (PS3, Xbox, ein netter Billardtisch und sogar ein verdammter Whirlpool!) so lange hingehalten, bis ich keine Lust mehr hatte, auf mein Fahrrad zu steigen und im stockdunkeln nach Hause zu radeln. Dieser Bastard wusste genau was er tat. Jedenfalls hatte er es so eingefädelt, dass ich nach der letzten Runde Billard und dem ganzen Bier, das wir dabei getrunken hatten, ziemlich müde geworden war. Er hatte mir angeboten, in seinem Bett zu schlafen, aber das Wort ‚Gästezimmer‘ beruhigte mich enorm. Dass er dann irgendwann in der Nacht trotzdem zu mir ins Bett geschlüpft kam, weil er meinte „Es ist sein Haus, er kann machen was er will“, ahnte ich natürlich nicht. Ich war aber zu müde gewesen, ihn raus zu schmeißen. Außerdem war er warm.
»Hast du nicht gesagt, du hast ihm das Wochenende frei gegeben?«, hakte ich weiter nach, nachdem die Geräusche unten nun noch deutlicher zu hören waren. Ich war so paranoid, dass mein Herzschlag sich beschleunigte. So eine scheiß teure Villa lud ja förmlich zum Einbrechen ein!
»Ja«, brummte Damien ins Kissen und kratzte sich am relativ kahlen Kopf. »Ja, stimmt.« Dann stöhnte er genervt, schaltete seine Nachttischlampe an und setzte sich betont langsam auf. Er gähnte so langgezogen, dass ich befürchtete, sein Kiefer würde abfallen. »Soll ich runter gehen und nachsehen, damit du nicht weinst?«
Ich schnaubte abfällig und schloss das Fenster, damit nicht irgendein Getier herein flog. »Wenn’s nicht zu viel für dich ist.« Hinter mir hörte ich, wie er sich aus dem Bett wälzte und barfuß zu mir rüber gestapft kam. Dann schlangen sich zwei Arme um meine Taille und ich spürte, wie er träge seinen Kopf auf meiner Schulter ablegte. Schlimm genug, dass er groß genug dafür war und es auch noch immer wieder tat.
»Schon gut, Prinzessin. Ich erfülle dir doch jeden Wunsch.« Er küsste mich noch einmal, ehe er zur Zimmertür ging und diese weit aufstieß. Seine Hand fahndete im Halbdunkeln nach dem Lichtschalter für den Flur und kurz darauf war auch schon das halbe Haus hell erleuchtet. Unten klirrte es.
Nun doch ziemlich wach, spannte Damien sich sichtlich an und spähte in den Hausflur. Ich erkannte seine Anspannung an seiner vermaledeiten Rückenmuskulatur. Die bekam man doch nicht allein vom Vögeln!
Abwartend lauschten wir, doch plötzlich war es still. Kein Ton war zu hören, wahrscheinlich hätten wir jetzt selbst das Blubbern der Fische in dem Aquarium im Wohnzimmer vernehmen können. Dann wieder: Ein Rumsen, als wenn jemand eine Tür zu kräftig geöffnet hatte und diese gegen die Wand gestoßen war. Damien sah sich nach mir um, nickte mir zu und ging voran. Ich dachte mir, wenn das das letzte Mal gewesen sein sollte, dass ich diesen Idioten lebendig vor mir gesehen hatte, müsste ich mich immer an dieses dämliche Nicken erinnern und es ewig bereuen, also beschloss ich ihm zu folgen. Wir tappten über das Parkett, bis zur Treppe, über deren Geländer gebeugt wir hinab in das Erdgeschoss schauten. Von dort konnte man die Hälfte des Wohnzimmers überblicken, bis zum Kücheneingang. Dort brannte Licht.
»Kein Einbrecher schaltet das Licht an«, meinte Damien, nun sichtlich beruhigt. Er atmete tief ein und aus und griff nach meiner Hand. »Ich habe schon so eine Ahnung, wer das sein könnte.«
Seine Finger umschlossen kühl meine, während er uns Stufe für Stufe hinunter führte, bis zur langen, ledernen Couch, die sich vor dem gewaltigen Flatscreen im gesamten Raum ausbreitete. Es gab keine Tür zwischen Küche und Wohnzimmer, sodass man durch einen großen, hölzernen Rahmen direkt zum Kühlschrank blicken konnte. An eben diesem bediente sich gerade eine ältere Frau, die ich schließlich erschrocken als Frau Pasang identifizierte – Damiens Mutter!
Der Schwarzhaarige seufzte nun, angesichts der – deutlich angesäuselten – Frau, die ihn geboren hatte, genervt und fuhr sich über die müden, blauen Augen. »Ich hatte eigentlich gehofft, sie kommt erst Morgen wieder…«
Durch die Stimme ihres Sohnes alarmiert, schreckte die Dunkelhaarige auf und schaute zu uns herüber. Ihre, im Gegensatz zu ihrem Sohn, dunklen, blauen Augen fixierten mich und versuchten anscheinend mich irgendwie zuzuordnen. Dann erinnerte sie sich schließlich, öffnete mit einem lauten ‚Plop‘ die Sektflasche in ihrer Hand und setzte ein süffisantes Lächeln auf, das falscher wirkte als Monikas Mathe Hausaufgaben. Ich erinnerte mich an den Tag, als ich sie das erste Mal gesehen hatte, vor ihrem Haus. Wie sie die Abneigung ihres Sohnes schlichtweg ignoriert hatte. Seither hatte ich auch nie weiter über sie oder Damiens Familienleben nachgedacht. Zwar wusste ich, dass er seinen Vater gemocht zu haben schien und dieser leider verstorben war, aber was es mit seiner Mutter auf sich hatte … nun, sagen wir mal, bis jetzt machte sie den Eindruck, Alkohol zu mögen.
»Damien, mein Sohn!« Ihre Stimme klang diesmal echt, nicht so verstellt wie damals. Sie hatte einen süffigen, rauchigen Ton, wie bei diesen dicken Frauen aus Filmen, die ihr Leben lang in Bars arbeiteten. »Und der liebe Sohn von Frau Bauer ist ja auch hier! Na, hat der süße, kleine Dami dich verführt?« Sie lachte bitter, brachte mich aber nicht davon ab, über den eindeutig amüsanten Kosenamen für den Punk neben mir zu grinsen. Dami? Ihr Ernst?
Damien hingegen fand das alles nicht so witzig. Seine Hand umklammerte meine so fest, dass seine Knöchel schon teilweise weiß hervor traten. Ich ließ mich nicht beirren, befreite meine Hand und setzte mich freiheraus einfach gegenüber an den Esstisch, der viel mehr Platz barg als nur für zwei Personen.
Frau Pasang musterte mich skeptisch, während ich hörte, wie mein Freund hinter mir an den Kühlschrank ging. Sie nuckelte an der Sektflasche wie ein kleines Baby, hielt den Blickkontakt aber aufrecht. Es war bizarr, wie wir mitten in der Nacht am Esstisch saßen, Damien hinter mir an der Theke gelehnt, und uns einfach nur anstarrten.
Letztendlich brach sie das Schweigen. »Hat mein Sohn dich umgedreht?«, fragte sie zwischen zwei Schlucken, ohne eine Veränderung in der Mimik. Ich gluckste und stützte mein Kinn auf einer Hand ab. »Kann man so sagen, aber wissen Sie, so schlimm ist das nicht.«
»Oh«, machte sie mit geröteten Wangen, »du musst mich nicht siezen. Nenn mich Anna.« Beduselt wank sie mit ihrer Hand ab und fummelte am Flaschenverschluss rum.
»Also, Anna«, ich betonte ihren Namen, weil ich Angst hatte, dass sie mich überhaupt nicht mehr wahrnahm, »Sie…äh…du weißt, dass dein Sohn schwul ist?«
»Ob ich’s weiß?« Anna schnaubte und beugte sich über den Tisch in meine Richtung. »Ich hab’s gemerkt, als er des Öfteren mit unserem lieben Gärtner ‚verschwunden‘ ist.« Ich hörte, wie besagter Kerl hinter mir zu husten begann, weil er sich wohl verschluckt hatte. Mit hochgezogener Augenbraue drehte ich mich zu ihm um und musterte ihn kritisch. Mit dem Gärtner also, soso? Wie in einer billigen Telenovela. »Ja ja, Damien«, spöttelte seine Mutter weiter und grinste breit, »Deine liebe Mama sieht alles!«
»Deswegen hast du Oliver gefeuert?«, entrüstete sich der Schwarzhaarige auch noch plötzlich und setzte sich zu uns an den Tisch. Anna verdrehte die Augen und nahm einen großen Hieb aus der Flasche. »Deswegen, und weil er fünf Jahre älter als du gewesen ist.« Dann fuhr sie sich durch die chaotischen, ungeordneten Haare und ignorierte ihren Sohn wieder so gut es ging. »Und seine Gartenarbeit wurde auch immer liederlicher.«
Ich konnte nichts dagegen tun, mag es noch so seltsam in diesem Moment sein, ich prustete laut und fing an zu lachen. Es ging nicht anders, nicht hier und nicht bei diesen Themen. Damien und der Gärtner! Das war ja schlimmer als Desperate Housewives! Man fühlte sich glatt wie im Fernsehen. Und dann noch dieser putzige, idiotische Zwist zwischen Damien und seiner viel zu betrunkenen Mutter. Mir fehlte nur noch Popcorn.
»Entschuldige«, brachte ich lachend heraus und fuhr mir über die noch müden Augen. »Es ist nur … ach, vergesst es.« Ich atmete tief ein und aus, um mich wieder unter Kontrolle zu kriegen und beschloss dann, das Gespräch wieder anzukurbeln. »Ich geh mal davon aus, dass Damien dir nicht erzählt hat, dass wir ein Paar sind?«
Anna zog blinzelnd beide Augenbrauen hoch und schaute ziemlich verdutzt drein. »Ein Paar? So eine richtige Beziehung?« Dann schnaubte sie herablassend, schüttelte den Kopf und schwenkte den Sekt in ihrer Hand. »Früher dachte ich immer, das wäre nur so eine Phase von ihm, wie Mütter sich das eben denken«, begann sie leichtfertig zu erzählen, »aber ich realisierte dann, dass ich Enkelkinder wohl vergessen konnte.« Dabei schenkte sie Damien einen beinahe anklagenden Blick, der mich stocken ließ. »Na ja, ein Glück, dass dein Vater das nicht sehen muss.«
Stille. Bis jetzt war die Stimmung vollkommen unscharf gewesen, aber plötzlich hatte ich das Gefühl, dass jeder Zeit irgendetwas hochgehen konnte. Und wenn’s nur Damien war. Ich hatte das Gefühl, das schlimmste verhindern zu müssen und schaltete mich ein, ehe er es tun konnte. »Ich würde mich am liebsten über Sie aufregen«, lächelte ich ruhig und spürte, wie Damien mir seine Hand aufs Knie legte, »aber ich erinnere mich gerade daran, wie mein Großvater so drauf ist und muss sagen, Sie sind dagegen noch ganz nett.«
Wieder Ruhe, sie musterte mich streng. Mittlerweile fand ich ihre Augen viel stechender als Damiens, trotz der intensiven Farbe. Dann lächelte sie leicht, ein kleines Zucken im Mundwinkel. »Du redest auf jeden Fall mehr als mein Sohn.«
Obwohl ich nicht wusste, was das in diesem Moment mit unserem Gespräch zu tun hatte, wollte ich nicht weiter darauf herumhacken. Betrunkene sagten ja bekanntlich immer die Wahrheit, oder? »Das glauben Sie«, erwiderte ich also knapp und schmunzelte kaum merklich.
»Das glaube ich«, bestätigte Anna und nickte, wie um das zu unterstreichen, »Und du sollst mich endlich duzen!«
Letztendlich erwies sich Frau Pasang als gar nicht so schwierig und war sogar ganz handzahm, nachdem sie die Sektflasche leer gekriegt hatte. Sie redete nicht viel, kritisierte ab und zu das Benehmen der heutigen Jugend und erzählte uns zum Schluss noch, wie lächerlich sie es fand, wenn Homosexuelle Kinder adoptierten, mit der Begründung, das wäre ‚ja nicht Sinn der Sache‘. Trotz allem fand ich sie irgendwie witzig.
Als wir sie endlich ins Bett gesteckt hatten und Damien sie kommentarlos zudeckte, lächelte sie müde und tätschelte seine Hand. »Einen guten Jungen hast du dir da ausgesucht.« Dann zwinkerte sie mir, an ihm vorbei, zu. »Ich wünsch euch zwei Süßen viel Spaß!«, gluckste sie betrunken, bis ihre Stimme versagte. »Genießt es, solange ihr es noch könnt.«
Ich schaltete das Licht aus und folgte Damien zum Gästezimmer, in dem wir vorher noch versucht hatten zu schlafen. Tja, manchmal können sich vermutete Einbrecher als betrunkene Mütter entpuppen.
»Ich würde es jetzt verstehen, wenn du dich von mir trennen willst«, stöhnte der Schwarzhaarige genervt und streckte sich geschafft im Bett aus. Viel mehr Platz war also nicht mehr für mich, sodass ich mich kurzerhand halb über ihn legte. Er murrte nur.
»So schlimm war sie gar nicht.« Ich musste lachen, als er mich von sich schob und dabei in die Seiten kniff. »Hätte wirklich unfreundlicher sein können.«
»Oh, ich war schon richtig traurig, dass sie nur behauptete, Homosexualität wäre eine lebensgefährliche Krankheit«, brummte er und schloss träge die Augen. »Das war ja fast langweilig.«
»Stimmt«, erwiderte ich halbherzig ernst, die Schlaflosigkeit langsam spürend.
»Ich hasse es, wenn sie trinkt.« Seine Stimme triefte so vor Abscheu, dass ich mich auf die Seite drehte und ihn ernst ansah. Im Halbdunkeln – denn der Vollmond spendete ausnahmslos viel Licht – glühten seine Augen beinahe. »Das hat sie früher schon immer gemacht. Ich hasse es.«
Ruhig, fast vorsichtig, strich ich ihm mit einem Finger über das Gesicht; über die Stirn, die Nase, die Lippen, bis zum Kinn. Seine kalten Augen wanderten zu mir. »Bist du deswegen so sauer auf sie?«
»Nein«, flüsterte er nüchtern, »Ich bin auch nicht sauer, nur…enttäuscht. Ich habe damals mehr von einer Mutter erwartet. Und dann war sie eben eine andere.« Er wandte sich nun vollkommen mir zu, legte seine Lippen auf meine, wie ein kleines Hauchen, kaum spürbar. Dann lehnte seine Stirn an meiner. Eine ungewohnt zärtliche Geste.
Ich wollte das hier nicht zerstören, aber ich konnte meine Neugierde nicht verbergen. Sollte man seinen Partner denn nicht richtig kennen? Gehörte da die Vergangenheit denn nicht zu? »Es hat was mit dem Tod deines Vaters zu tun, oder?«
»Er war älter als sie«, begann Damien plötzlich freiheraus zu erzählen. Seine Stimme nahm einen neutralen Ton an – die vollkommene Emotionslosigkeit. »Um einiges, ich glaube, zwanzig Jahre, mindestens. Sie war damals mit einem reichen Mann verheiratet und zog zu ihm, in diese bescheuerte Villa.« Es klang, als würde er es hassen, all das hier, mit dem gesamten Geld und den vielen Sachen, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen geschweige denn besessen hatte. »Sie liebte ihn nur wegen seinem Geld und als er plötzlich Kinder wollte, bröckelte die Ehe. Da schmiss sie sich dann an den nächstbesten Kerl ran – was dann der Haushälter war.«
»Du meinst«, unterbrach ich ihn nachdenklich und er stieg mit einem bestätigenden Nicken ein, »Mein Vater. Er verwaltete schon lange diese Villa und kümmerte sich um den Haushalt, den Garten, all das. Meine Mutter meinte immer, er hätte es bereut, mit ihr eine Affäre angefangen zu haben. Die größten Probleme erledigten sich aber von allein – Mutters erster Mann starb bei einem Autounfall, ziemlich plötzlich. Dann wurde sie steinreich, heiratete den Haushälter, von dem sie schwanger war und machte einen auf glückliche Familie. Mein Vater hatte hingegen ein schlechtes Gewissen, weil er seinen langjährigen Arbeitgeber so hintergangen hatte. Er ist ein ausgesprochen treuer, ehrlicher Mensch gewesen. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter.«
Er seufzte, gähnte und brummte gleichzeitig, was meiner Meinung nach schon eine Meisterleistung war. »Irgendwann war sie das Leben als Mutter und treuer Ehefrau leid. Sie begann zu trinken und kümmerte sich um so gut wie gar nichts mehr. Nicht, dass sie sich je gut um mich gekümmert hätte, ach was! Sie stritten sich öfter, schlimmer, lauter. Er war schon älter, hatte ab und zu Probleme mit dem Herz und eines Tages traf’s ihn halt, im Garten, als ich in der Schule war und meine Mutter zu besoffen, um ihm zu helfen. Dann war sie eben wieder Witwe.«
Traurig. Mehr fiel mir zu dieser Geschichte nicht ein. Einfach traurig. Traurig, weil mir dieser ehrliche, hoffnungslose Mann leid tat; weil mir die gescheiterte Persönlichkeit Damiens Mutter leid tat; weil mir dieses unschuldige Kind, das das alles miterlebt hatte, leid tat.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht runterziehen.« Damien lächelte und küsste mich, erst unentschlossen, dann fordernd. Ich löste mich wieder von ihm und legte eine Hand an seine Wange. Mehr als ein schmunzeln brachte ich nicht zustande. Verdammte Empathie. Wieso nahm mich das so mit?
»Ist schon gut so«, erwiderte ich energisch und rutschte näher zu ihm, um seine Wärme zu spüren. »Es fühlt sich gut an, so viel über jemanden zu wissen, den man mag.« Er grinste versucht, stützte seinen Kopf nun auf einer Hand ab. Den Gesichtsausdruck kannte ich. Er wollte nicht weiter darüber reden.
»‘Den man mag‘? Mehr nicht, mögen?« Etwas enttäuscht zog er eine Schnute. »Hatte jetzt irgendwie mehr erwartet.«
Mir entfuhr ein genervtes Stöhnen und plötzlich hatte ich den starken Drang zu schlafen. »Weißt du noch, du hast gemeint, du willst mich zu nichts mehr drängen. Wie wär’s also, wenn wir jetzt schlafen?« Ich gab zu, es klang abweisend, aber wenn er wieder mit diesem Mist anfing, würde es leider Ärger geben.
»Ja ja«, murrte er nun gedämpft, »Schon kapiert. Gute Nacht.«
»Nacht, Zimtzicke.«
»Ist das nicht ein wunderschöner Morgen?« Die Sonne brach wie eine Sturzflut durch das große Fenster ins Zimmer herein, ließ das Bett förmlich glühen. Draußen mussten ausnahmsweise sogar mal mindestens 10°C sein. Ungewohnt. Leider sagte der Wetterbericht, dass es die nächsten Tage kälter werden sollte – Adieu, Herbst! Der deprimierende Winter war längst überfällig.
»Wenn du mich hasst, dann sag es doch einfach.« Damien war anscheinend weniger begeistert, fluchte laut und legte sich dann den Arm über die Augen. »Das ist grausam.«
»Stell dich nicht so an«, meckerte ich halbherzig und schlüpfte in Jeans vom Vortag. Dann schnappte ich mir einfach ein T-Shirt aus dem Schrank, der neben der Tür platziert war, weil ich davon ausging, dass die Klamotten nur Damien gehören konnten – was auch stimmte. Ich erwischte ein seltsames Shirt mit, soweit ich vermutete, Jason aus ‚Freitag der 13te‘, der darauf abgebildet war, mit Kettensäge in der Hand. Charmant. Wer will mich mit nach Hause nehmen?
»Ich geh dann mal. Meine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen«, gelogen, die juckte das bestimmt kein Stück, »und außerdem muss ich noch Hausaufgaben machen. Wir sehen uns in der Schule.«
»Toll«, murmelte er in seinen nicht vorhanden Bart, den Arm im Gesicht. »Ich bin mit dem größten Streber zusammen. Weißt du, wann ich meine Hausaufgaben das letzte Mal erledigt habe?« Er wartete kurz, ehe er sich langsam aufsetzte und mich klagend und verschlafen ansah. »Noch nie!«
»Schön für dich, wenn du dein Abitur versauen willst, aber ich will einen guten Abschluss.« Dann zwinkerte ich ihm zu und grinste schief. »Einer von uns beiden muss ja klug sein.«
»Arsch«, er hielt mir den Mittelfinger entgegen und ich realisierte, dass er, bei zu wenig Schlaf, morgens ziemlich zickig sein konnte. »Willst du nicht noch hier bleiben?«, hakte er danach leiser nach, wackelte mit den Augenbrauen und rückte bis zum Bettrand vor, um mich am Kragen seines T-Shirts zu packen und zu sich runter zu ziehen. Wir küssten uns, lange, bis ich der Meinung war, dass das hier in die falsche Bahn lief und ich mich möglichst bestimmend von ihm trennte.
»Ich muss wirklich«, erklärte ich nachgiebig und strich ihm über seinen stoppeligen Kopf, »Wir sehen uns doch Montag.«
Theatralisch seufzte der Schwarzhaarige, warf sich nach hinten aufs Bett und breitete die Arme weit aus. Ich fand sein Tribal unglaublich anziehend. Es erinnerte mich irgendwie an George Clooney in dem Film ‚From Dusk Till Down‘. Scharf. »Wer nicht will, der hat schon.«
»Genau«, pflichtete ich bei und ging zur Tür. »Und ich hab erst mal genug.«
Der Montag kam kalt, dreist, unbarmherzig und viel zu früh. Wie ein Schlag mitten in die Fresse. Minney fuhr wieder mit mir zur Schule, sie wirkte glücklicher, sie hatte diesen Ausdruck den Augen, aber auch seltsam gealtert. Sie wollte nicht einmal die Hausaufgaben von mir abschreiben!
Sie erzählte mir, dass Jakob noch beinahe der normalste aus seiner Familie war, da seine drei Brüder so gut wie alles toppten. Dann war da noch die Tatsache, dass ihre Eltern so beeindruckt von ihrem Freund gewesen waren, dass sie schlichtweg nicht zu einem ordentlichen Gespräch gekommen waren. Die perfekte Bilderbuchbeziehung würde es also nie werden, meinte sie, aber wenigstens hatten sie Spaß. Auf andere Kosten, wie ich bemerkte, als Minney mir erzählte, dass Jakob und sie darauf gewettet hatten, wann Damien und ich wieder zusammen kommen würden. Jakob hatte tatsächlich gewonnen. 1:0 für die Männer!
Vor der Schule wartete Damien auf uns und dann warteten wir auf Lukas, der Monika per SMS Bescheid gegeben hatte, dass sein Bus Verspätung hatte. Demnach standen wir dort also zu dritt, während alle Schüler bereits in der Schule verschwunden waren und froren uns den Arsch ab. Im Gegensatz zu dem vorigen Tag, dachte die Sonne nämlich gar nicht daran sich mal blicken zu lassen! Es war bedeckt, ein eisiger Wind wehte und meiner Meinung nach fehlte nur noch Schnee.
»Wo bleibt der denn?«, schimpfte ich genervt und rieb mir die klamm gewordenen Finger. Demnächst wurden die noch taub. Außerdem klingelte es innerhalb der nächsten zehn Minuten.
»Er müsste gleich da sein«, beruhigte mich Monika, zumindest versuchte sie es. Ihre blasse Hautfarbe sprach Bände. Ihr Atem stieg vor ihr in nebliger, dichter Dunst auf.
»Hoffe ich doch«, nörgelte ich weiter, nun voll in meinem Element, »Sonst fallen mir noch die Zehen ab.«
»Och«, machte Damien dann hinter mir, schlang die Arme um mich und zog mich an seine Brust. »Stell dich nicht so an. Ich bin heiß genug für uns beide.«
Da ich der Meinung war, es wären sowieso alle Schüler bereits in den Klassenräumen, von dort aus uns bei unserem Standort keiner sehen konnte, ließ ich die Nähe in dieser ‚gefährlichen‘ Umgebung zu. Jetzt kamen eh nur noch die, die grundsätzlich Zu-Spät-Kommer waren und die gehörten nicht gerade zu solchen Idioten wie Michael und seinen Dorfzombies.
Keine Minute später hetzte ein ziemlich erledigter Lukas auf uns zu, den Rucksack flüchtig über die Schulter geworfen, im dicken Sweater und Kapuze verpackt. Er entschuldigte sich schon, bevor er überhaupt zu hören war und schniefte so erbärmlich, dass ich das Gefühl hatte, einen armen, kränklichen Jungen vor mir zu haben.
»Sorry, sorry, sorry«, ratterte er immer wieder runter, zog den Rotz in der Nase hoch und grinste entschuldigend, »dieser blöde Bus hatte Verspätung, weil irgendwas nicht in Ordnung war und dann war da noch Michael und sein bester Freund Philipp, die mich unbedingt nerven mussten und ja…scheiß Montag, würd‘ ich meinen.« Also selbst ein Lukas gab den Optimismus an einem Montag mal auf. Dieser Wochentag schlug eben jeden in die Pfanne.
Nur beschlich mich das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Etwas, dass so präsent war, dass ich es bereits vergessen hatte. Mir fiel nur beim besten Willen nicht ein was. Bis Minney mich darauf brachte. »Michael und Philipp? Sind die mit dir Bus gefahren? Dann kommen die ja auch zu spät.«
Ich wusste es, bevor ich sie überhaupt reden hörte. Mir lief es so eiskalt den Rücken runter, dass die winterlichen Temperaturen vergessen waren. Damien bemerkte die Anspannung, hörte das gehässige Gelächter und machte so ein verkniffenes Gesicht, dass auch er es wohl realisiert haben musste.
»Ei ei ei, was seh‘ ich da! Ein verliebtes Homopaar! Guck dir die Schwuchteln an, Phil!«
Scheiß Montag.
»Ich hab’s ja immer gesagt«, grinste Michael debil und stieß seinem Kumpel mit dem Ellbogen in die Seite. »Der Bauer lutscht Schwänze!«
Mein Leben war früher immer ziemlich langweilig gewesen. Das einzige, das unnormal gewesen war, war grundsätzlich meine beste Freundin, die mir ab und zu einen Schubs in die aufregendere Richtung des Lebens gegeben hatte. Mittlerweile brauchte mich niemand mehr zu schubsen, ich stolperte schon relativ selbstständig in die Scheiße.
Es war besser als damals. Ich fühlte mich besser, war zufrieden mit mir. Okay, dann war ich eben schwul, na und? Kinder in Afrika hungerten und diese beiden Hornochsen meinten wirklich mich jetzt nerven zu müssen, weil ich einem anderen Jungen nahe stand? Diese Welt war doch ein einziger Witz!
Ich fand mein Leben auch schöner so, mit all dem aufregenden Mist, der mir passierte und manchmal eher zu RTL passte als in meinen Alltag, aber bitte, wenn’s nicht anders ging. Was wäre ich denn schon ohne Damien, ohne Minney oder – und das war neu – ohne Lukas? Der gleiche, unauffällige Streber wie früher.
Um es vorher zu sagen, in meinem bisherigen Dasein hatte ich nicht ein einziges Mal etwas Auffälliges, Rüdes oder gar schwerwiegend Verbotenes getan. Dafür ist Monika immer zuständig gewesen. Ich konnte mir auch gut vorstellen, dass Damien des Öfteren schon das Gesetz gebrochen hatte, aber ich?
Also wurde es ja mal Zeit.
Philipp schaltete sich auch ein, während Damien deutlichen Abstand zwischen sich und mich gebracht hatte. Nur noch seine Hand ruhte auf meiner Schulter. »Ihr seid ein echt niedliches Paar. Schminkt ihr euch auch gegenseitig? Oder steht ihr mehr so auf SM?«
Die Finger auf meiner Schulter zuckten, ich spürte stärkeren Druck auf meiner Jacke. Dann seufzte Damien hinter mir. »Lasst uns rein gehen, sonst kommen wir zu spät zum Unterricht.«
Minney nickte bestätigend, warf den beiden spätpubertären Idioten einen abfälligen Blick zu und schlenderte mit Damien und Lukas zum Eingang der Schule. Mein Freund bemerkte als einziger, dass ich ihnen nicht gefolgt war und wandte sich suchend nach mir um.
»Kommst du, Johnny?« Es war plötzlich, als stünde ich vor einer Weggabelung und ich müsste mich entscheiden, welchen Pfad ich wählen sollte. Damien war der Pfad, den ich bis jetzt immer gegangen war; der langweilige, der schlichte. Dann war da noch Michael mit seinem Kumpel; ein ziemlich hässlicher Weg, aber das Ziel gefiel mir.
»Gleich«, murmelte ich, von einer plötzlichen Entschlossenheit überkommen, »Ich muss nur noch was erledigen.« Damit drehte ich ihm den Rücken zu, ging auf die beiden Jungs zu und blieb unmittelbar vor ihnen stehen.
Die Karmalehre besagt, dass jede Handlung unweigerlich eine Folge nach sich zieht. Manchmal bekommt man diese noch in diesem Leben zu spüren, manchmal aber auch erst im nächsten. Der nächste Johnny Bauer tat mir jetzt schon leid. Denn das, was gleich passieren würde, brachte bestimmt kein gutes Karma.
»Keine Ahnung, was dein Problem ist«, fing ich wütend an und baute mich vor den beiden auf, »vielleicht hat dich dein Vater ja nie geliebt oder deine Mutter hatte sich lieber ein Mädchen gewünscht, aber das interessiert mich auch nicht. Du hast also ein Problem mit Homosexuellen? Dann hast du etwas gegen 1,3 Prozent der deutschen Bevölkerung. Und die gehen nicht davon aus, dass sie das Problem sind, sondern eher solche abartigen Leute wie ihr!« Mein Blick wanderte von einem zum anderen, beide sahen nicht so aus, als wüssten sie in dem Moment, was sie darauf antworten sollten, also fuhr ich fort. »Ihr könnt es meinetwegen jedem hier erzählen, ja, der ganzen Schule, aber das wird nichts daran ändern, dass ihr kleine, verkümmerte Menschlein seid, die einem eigentlich nur leidtun sollten.«
Es war still, keiner von ihnen sagte ein Wort. Ich bekam mit, wie sich jemand neben mich stellte und ohne nachzugucken, wusste ich, dass es Damien war. Michael und Philipp sahen sich an, als müssten sie überlegen, wie sie mir jetzt am besten eine verpassten, ehe ein eher unberechenbarer Ausdruck in ihre Gesichter trat.
»Ihr Schwuchteln seid doch nicht normal«, schimpfte er wütend und blähte die Nasenlöcher auf. Wie ein Kampfstier. »Bei euch läuft doch was schief im Kopf! Wegen euch Pussy’s«, und er benutzte dieses Wort tatsächlich, »wird die ganze Menschheit noch aussterben.«
Ich lachte bitter auf, lauter, als er eben gesprochen hatte. »Genau, so wird’s sein! Weil wir ja so wenig sind, klar. Du bist ja so ein vollkommen verblödeter…«
Ich bekam nicht genau mit, was passierte, aber ein dumpfes, seltsames Geräusch ertönte und dann sah ich auch schon, wie sich Damien und Michael gegenüber standen, ersterer mit einer deutlich roten Wange, und sich anstarrten wie mexikanische Kampfhähne.
Philipp wollte sich wohl auf die Seite seines dunklen Meisters schlagen, doch ich wusste, dass ich jetzt, nachdem ich das hier so herauf beschworen hatte, etwas unternehmen musste. Ich stellte mich ihm in den Weg, packte ihn an den Schultern und drängte ihn weg, bis er beinahe auf der Straße stand. Aufgebracht schlug er meine Hände von sich und stierte mich wütend nieder. »Fass mich nicht an, du Homo!«
Da ich mit dem Rücken zu Damien und Michael stand, konnte ich nur erahnen, was hinter mir passierte. Dieses charakteristische Geräusch von knirschenden Steinen unter Schuhsohlen war zu hören, gefolgt von einem wütenden Knurren. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn ich jetzt einfach die Augen auf machen könnte und in meinem Bett liegen würde. Aber leider war das Leben nicht so einfach.
Im Gegenteil, Philipp schien ähnlich aggressiv zu sein wie sein dämliches Herrchen und wollte genauso auf mich los gehen. Er stürzte auf mich zu, wollte mich irgendwie packen, doch ich, vollgepumpt mit Adrenalin, reagierte bevor ich nachdenken konnte, was ziemlich selten bei mir war.
Ich hatte es so oft in Filmen gesehen und mit sechzehn sollte es also letzendlich so weit sein – mein erster Schlag, direkt ins Gesicht. Immerhin hatte es in diesen miesen Actionstreifen so einfach ausgesehen!
So war’s leider nicht. Ich traf ihn zwar, aber ich hatte den darauf folgenden Schmerz nicht einkalkuliert. »Verfluchte Scheiße!« Meine Hand schüttelnd sprang ich von meinem Angreifer weg, der nun, das Gesicht mit einem Arm verdeckt, zurück taumelte. »Au, das tut ja scheiße weh, verdammt!« Fluchend massierte ich mir die Faust, Philipp jedoch nicht aus den Augen lassend. Ich glaube, da tropfte Blut von seinem Kinn. Wow!
»Du Bastard!« Auch er war nicht gerade begeistert. »Ich blute!« Er stand in gebückter Haltung, presste beide Hände ins Gesicht und schaute halb heulend zu mir hoch. Wie auf einen Schlag verschwand das Adrenalin aus meinem Körper und machte der neuen Erkenntnis Platz: Ich hatte mich geoutet und dazu noch gleich jemandem so eine verpasst, dass er blutete! Gott, wenn mir das jemand noch vor einiger Zeit aufgetischt hätte, dann hätte ich ihn höchstwahrscheinlich ausgelacht und für verrückt erklärt, aber hier stand ich. Mit schmerzender Hand. Das tat vielleicht weh!
»Richtig heiß.« Damien grinste mich an, die Zähne voller Blut. Seine Wange war schon richtig dick und außerdem voller Dreck, nachdem er sich mit Michael über den halben Schulhof gekegelt hatte. Dagegen waren Philipp und ich noch einigermaßen gut davon gekommen.
Wir saßen zusammen im gleichen Arztzimmer, auf der gleichen Liege, wie an dem Tag, als wir uns kennengelernt hatten. Nur diesmal lag er nicht mit offenem Hosenstall dar, sondern hockte neben mir mit ausgeschlagenem Zahn, dicker Backe und sicherlich etlichen diversen blauen Flecken. Ich hatte im Nachhinein nur noch beim Gerangel – als wir Michael und Damien voneinander trennen wollten – einen Ellbogen ins Gesicht bekommen und das leider direkt am Auge. Wunderschönen guten Tag, blaues Auge, nett, dass Sie mich beehren. Um ehrlich zu sein, tat mir die Hand schätzungsweise mehr weh.
»Ist das irgendwie ein Fetisch, dass du auf Verletzungen und Narben und so ein Zeug stehst?« Abwertend musterte ich meinen Freund, leicht von ihm abrückend. Der Schularzt hatte uns nur allein gelassen, um ein paar Sachen zu holen und damit er sich draußen um Michael und Philipp kümmern konnte. Sie wollten uns nicht zusammen in einen Raum stecken, aus Angst, wir würden wieder wie tollwütige Hunde aufeinander los gehen. Verständlich irgendwie.
»Kann sein«, er zuckte mit den Schultern. Dann grinste er. »Du weißt schon, dass wir gewaltigen Ärger kriegen werden?«
Ich seufzte und nickte. »Schätze schon, aber … sonst hätte sich das ja gar nicht gelohnt, oder?« Überrascht zuckte ich zusammen, als er seine rauen Lippen auf meine presste, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er löste sich wieder und hinterließ einen metallischen Geschmack. Blut.
»Johnny Bauer, du bist verrückt, aber ich liebe dich.« Er grinste breit, mit blutigem Zahnfleisch und Zahnlücke. Ich erwiderte das Grinsen halbherzig. »Ich weiß doch. Und ich hoffe, das bleibt auch erst mal `ne Weile so. Ich oute und prügel mich ja nicht umsonst!«
Der Schularzt behandelte uns flüchtig und kam zu dem Schluss, dass es unnötig wäre, deswegen noch einen Krankenwagen zu rufen. Damien sollte lediglich mal zum Zahnarzt gehen, wenn alles abgeschwollen und verheilt ist und ich sollte Eis aufs Auge legen, fertig. Nein, meine Hand war in keiner Weise verletzt. Der Schularzt meinte schlicht, ich „sollte mich nicht so anstellen“. Klang, als hätte er schon schlimmeres hinter sich.
Das größere Übel war eigentlich die darauf folgende Unterhaltung mit dem Direktor. Er faselte ununterbrochen etwas von Selbstdisziplin und der zunehmenden Gewalt an deutschen Schulen, während das Grinsen aus unseren Gesichtern trotzdem nicht wegzuwischen war. Damien und ich hätten sogar beinahe einen Schulverweis bekommen, bis das Argument mit der Selbstverteidigung kam und dass es Notwehr gewesen sei. Außerdem konnte der Alte mich nicht von seiner Schule schmeißen. Ich war einer der einzigen, der den Notendurchschnitt dieses Gymnasiums in irgendeiner Weise hob. So gesagt, war ich die Hoffnung dieses ganzen Bundeslandes. Glaubt ihr etwa, Typen wie Michael bezahlen später eure Rente? Na klar.
Jedenfalls wurde dann beschlossen, dass wir einige Tage von der Schule suspendiert wurden, während auf Michael und Philipp ein Schulverweis wartete. Bei uns gab es die Regel, dass man erst beim dritten Schulverweis flog – hofften wir also einfach mal, dass Michael bereits ein paar gesammelt hatte.
Mein Vater holte mich mit dem Auto meines Onkels von der Schule ab. Damien und ich verabschiedeten uns stürmisch, ehe er zu seinem Butler (Dass es so etwas in Deutschland noch gibt!) in den Porsche stieg. Angeber.
Ich setzte mich möglichst ruhig auf den Beifahrersitz, das Kühlpack ins Gesicht haltend und die Schultasche auf dem Schoß. Matthias fuhr verkniffen vom Schulhof und rollte über die Landstraße nach Hause. Man merkte sofort, dass er nicht oft Auto fuhr.
Da diese Stille wirklich unangenehm war, hatte ich das Gefühl, mich irgendwie rechtfertigen zu müssen und seufzte laut auf. »Dad, also, ich…«
»Nein«, unterbrach er mich hastig und bog in unsere Straße ein. »Ich will noch gar nichts hören. Das klären wir mit deiner Mutter zusammen.« Holla, so hatte ich das ja noch nie gehört! Und diese Tonlage. Na gut, wie denn auch, bisher hatte ich ja immer braven Sohnemann gespielt. Auch Eltern mussten mal neue Erfahrungen machen, oder? Sonst hätten sie noch was verpasst. Jetzt wussten sie, wie es war, wenn man einen rebellischen Sohn hatte. Welche Eltern wollten denn nicht mal erfahren wie das ist? Wahrscheinlich alle.
Zu Hause wurde ich schon sehnlichst erwartet. Meine Mutter saß am Küchentisch und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Sie hatte diesen Blick drauf, der typisch für sie war, wenn sie überlegte, wie sie jetzt richtig reagieren sollte. Eine Mischung aus ‚Ich werde ihn umbringen‘ und ‚Wie kann er eine Lehre daraus ziehen‘. Mom war eine meist temperamentvolle Frau, manchmal nicht allzu praktisch als Wissenschaftlerin.
»Setz dich«, meinte sie mit ausladender Handbewegung. Ich runzelte die Stirn, zog den Stuhl ihr gegenüber zurück und nahm Platz. Mein Vater lehnte sich an die Küchentheke und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war still. Zu still.
»Also«, fing ich erneut an, in der Hoffnung, diesmal nicht unterbrochen zu werden, »ich gehe mal davon aus, dass euch alles schon ausreichend vorgetragen wurde?« Ich nahm das Kühlpack aus dem Gesicht und legte es kurzerhand einfach auf den Tisch. Mom hatte die Hände ineinander gefaltet und warf Dad andauernd irgendwelche Blicke zu, als würden sie sich telepathisch unterhalten. Wer weiß, meiner Mutter traute ich alles zu.
Als Antwort nickte sie, was auch schon so seine Zeit dauerte. Ich fuhr fort. »Und ich schätze mal, es nützt nichts, wenn ich sage, ich habe es für eine gute Sache getan?«
Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie sichtlich entspannter wirkte. »Der Direktor schilderte uns die Situation, nachdem er sich mit euch unterhalten hat. Versteh mich nicht falsch«, ich mochte diesen Satz nicht, weil darauf nie etwas Gutes folgte, »wir haben nichts gegen Damien oder gegen eure Beziehung. Es ist nur…«
Jetzt kam also das, aha. Ich hatte mich schon gewundert, warum sie sich nie wirklich zu Damien und mir geäußert hatten. Gut, meine Mutter hatte nicht besonders darauf reagiert, als wäre es tatsächlich absehbar gewesen und mein Dad … der war eben mein Dad. Uninteressant, langweilig und meinungslos.
»Was ist nur?«, warf ich dazwischen. »Was ist das Problem?«
»Du warst früher nicht so.« Mom fuhr sich über die Augen und lächelte mich dann gut gemeint an. »Du hättest dich niemals mit irgendeinem Jungen geprügelt! Ich meine, Johnny…solche Sachen regelt man eigentlich anders. Zumindest habe ich dir etwas mehr Intellekt zugemutet. Ich muss dich ja nur ansehen, John. Das muss doch weh tun.« Sie hatte eine so mitfühlende, zärtliche Miene auf, dass ich ihr in diesem Moment gar nicht böse sein konnte.
»Geht schon«, brummte ich und massierte mir ungeduldig die Fingerknöchel. »Und was willst du mir jetzt damit sagen? Schon klar, das war scheiße, aber … manche Teenager machen schlimmere Sachen.« Die hatten immerhin noch richtig Glück mit mir! Ein schwuler Sohn mit einem Durchschnitt von 1,1. Andere waren in meinem Alter entweder schon vorbestraft oder Eltern.
»Das wissen wir!« Sie griff über den Tisch nach meinen Händen. »Uns ist klar, dass du so etwas bestimmt nicht noch einmal machen wirst. Aber darauf will ich auch gar nicht hinaus.« Meine Mutter atmete tief ein und aus und schien auf einmal richtig begeistert. Hatte ich was verpasst? »Also, du kannst dich doch bestimmt noch an diese Privatschule erinnern, auf die du damals unbedingt wolltest. Die sich auf Naturwissenschaften spezialisiert hat. Damals waren uns die Schulkosten zu hoch, aber … die Direktorin hat sich bei uns gemeldet, weil sie von meinen Arbeiten als Wissenschaftlerin erfahren hat und jetzt sind sie bereit, einen großen Teil der Kosten mitzufinanzieren.«
Ich zog süffisant eine Augenbraue hoch und entzog mich ihren Händen. »Das bedeutet demnach…« Theresa strahlte nun förmlich und lehnte sich wie stolz zurück. »Du wirst ab dem nächsten Halbjahr diese Privatschule besuchen.« Dann blinzelte sie, als würde sie sich in dem Moment daran erinnern, dass nicht sie diejenige war, die die Schule wechselte. »Also, falls du das noch willst…«
Das war eindeutig zu viel für mich an einem Tag. Outen, Prügeln, Schule wechseln. Dabei hatte ich gedacht, dass mir diese Veränderung gut tun würde. Ich konnte zu Damien und mir stehen und hatte mich sogar – primitiverweise – dafür körperlich eingesetzt, zwar leicht kassiert, dennoch gewonnen und nun … Privatschule? Und das nicht einmal wegen dieser Auseinandersetzung! Eigentlich war es sogar eine ausgesprochen vorteilhafte Chance für meine Zukunft. Schluss mit dem dämlichen Gesabbel auf diesem Kleinstadt Gymnasium. Außerdem war die Schule gar nicht mal so weit weg. Das würde nur bedeuten, dass die Schulzeit mit Minney vorbei war. Wir säßen nicht mehr morgens zusammen im Bus und führen auch nicht zusammen wieder zurück. Wir könnten uns nicht mehr während des Unterrichts streiten oder über Natalie herziehen. Und Damien? Allzu begeistert war der sicher auch nicht, aber solange war er auch wieder nicht auf unserer Schule. Prinzipiell würde sich gar nicht sehr viel ändern.
Ich seufzte laut auf und erhob mich vom Tisch. »Ich, äh, muss drüber nachdenken.« Ohne auf die Reaktion meiner Eltern zu warten, verzog ich mich auf mein Zimmer. Dort schaltete ich mein Radio an, erst wummernd laut, bis mir einfiel, dass Harriet krank war und direkt im Raum gegenüber schlief. Es war mir egal, welcher Song lief, klang so überflüssig wie jedes andere Lied, das zurzeit überall rauf und runter gespielt wurde. Das verletzte Auge machte sich langsam bemerkbar und plötzlich hatte ich keine Lust mehr, an überhaupt irgendwas zu denken. Also schmiss ich mich auf mein Bett, zog die Decke bis über meinen Kopf und hoffte, wenn ich das nächste Mal die Augen öffnete, dass es wieder Montagmorgen war.
Es war nicht Montagmorgen, als ich später aufwachte. Die Luft unter der Decke war muffig, sauerstoffarm und der Arm, auf dem mein Kopf gelegen hatte, war eingeschlafen. Ich fühlte mich etwas taub, es fühlte sich an, als würde mein Gehirn surren. Auf der Bettkante saß meine Mutter, ein Tablett auf dem Schoß und wieder mit eher eingefrorener Miene. Das war schon eher meine Mutter.
»Wie geht’s dir?«, fragte sie ruhig und überreichte mich eine Tasse, aus der nebliger, leichter Dampf aufstieg. Tee. Den machte sie immer, wenn jemand krank war. Oder eben verletzt, wie ich. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie das helfen sollte. Ein anderes Glas stellte sie mir auf den Nachttisch – selbst gepresster Orangensaft, aus den Orangen meines Vaters, praktisch direkt aus dem Garten. Unser Keller, der tatsächlich nur als Vorratskalender fungierte, war voll von Orangen.
»Sagen wir’s so«, ich rührte mit dem warmen Metalllöffel in dem Hagebuttentee, »ich lebe.«
Mutter verdrehte die Augen und nahm Mr. Moody, der durch den Türspalt hinein geschlendert kam, auf den Schoß. Er schnurrte, taxierte mich aber mit so feindseligen Blicken, dass es mir kalt den Rücken hinunter lief. »Männer, ihr übertreibt immer.« Der Kater hatte wirklich stechende, gelbe Augen. »Trink du erst mal deinen Tee und entspann dich. Denk gut über die Sache mit der Privatschule nach!«
Sie drängte Mr. Moody sanft von ihren Oberschenkeln und stand, mit dem leeren Tablett, wieder auf. Ich seufzte hörbar. »Ich muss nicht weiter darüber nachdenken«, erklärte ich ruhig und zog mit dem Löffel Kreise, »Ich habe mich schon entschieden. Ich werde auf diese Privatschule gehen.«
Man braucht eigentlich gar nicht so viel Zeit, um sein Leben einmal umzukrempeln. Man brauchte nur eine verrückte, beste Freundin, eine seltsame Familie, eine grässliche Schule und einen Typen, der einen innerhalb von Wochen einfach umdreht. Und jetzt war ich nicht mehr ‚Johnny Bauer, der langweiliger nicht sein konnte‘ sondern ‚Johnny Bauer, der sich einfach outet, sich prügelt und demnächst eine Privatschule besucht‘. Das war doch schon ein großer Unterschied, oder etwa nicht?
Meine Eltern waren natürlich überaus begeistert über meine Entscheidung, mein Vater holte sogar einen guten Wein aus dem Keller und stieß mit Theresa darauf an. Weil ich trotzdem nicht wirklich Lust auf eine große, freudige Zusammenkunft hatte, verzog ich mich, wie so oft an diesem Tag, nach oben. Diesmal machte ich aber einen Schwenker hin, zu dem Zimmer meiner Schwester.
Harriet lag unwesentlich blass und kränklich in ihrem Bett, einen Teddybären unterm Arm, neben sich einen Berg von Taschentüchern und vor ihr, auf ihrem Schreibtisch, lief im Fernsehen eine kitschige, glitzernde Pony-Serie. Ich fühlte praktisch beim ersten Blick wie ich Krebs bekam.
Ausnahmsweise war die Kleine sogar wach. Sie musterte mich skeptisch mit ihren großen, braunen Augen. Als hätte sie mich dabei ertappt, wie ich versucht hätte, sie im Schlaf mit einem Kissen zu ersticken.
»Hey, Schwesterherz«, lächelte ich und setzte mich auf ihren Bettrand, »Wie geht’s dir?«
Sie schniefte einmal laut, rieb sich über die knallrote Nase und blinzelte dann öfters. »Ich atme.«
Ich blinzelte sie überrascht an. Für eine Neunjährige war die schon ganz schön schlagfertig. Manchmal konnte ich richtig stolz auf sie sein. Wehe sie wurde so eine Tussi wie Natalie oder ein kleines, unscheinbares Mauerblümchen. Dann wäre sie bestimmt keine Bauer!
»Du siehst ziemlich mies aus«, grinste ich darauf nur, wofür sie absichtlich in meine Richtung nieste. Diese Liebe. »Du nervst«, brummte sie missgelaunt und zog geräuschvoll den Rotz in der Nase hoch. Sie kam so hilflos und bemitleidenswert rüber, trotz ihrer schlechten Laune. Wer war denn auch, wenn er mit Grippe im Bett lag, gut gelaunt? Na gut, außer Lukas vielleicht. Der war ja auch nicht normal.
»Ich will mich doch nur ein bisschen mit meiner Lieblingsschwester unterhalten.« Ich schob sie etwas zur Seite, natürlich bemüht vorsichtig und legte mich zu ihr ins Bett. Sie störte es nicht weiter, seufzte und kuschelte sich an ihren Teddybären.
»Ist Minney da?«, fragte sie nach einer Weile, während sie dem Bären durch den rosa Pelz strich. Ich verneinte und Harriet seufzte enttäuscht. Manchmal fragte ich mich, wieso sie die Blondine so mochte.
»Hast du eigentlich viele Freunde?« Jetzt fing das also wieder an. Diese Fragerei. Kinder waren so neugierig.
»Na ja«, fing ich nachdenklich an und legte einen Arm auf das Kissen, »eher nicht. Ich habe Minney, Heath, Leonie und Lukas. Außerdem ist da ja noch Damien…«
»Die kenne ich ja gar nicht«, entrüstete sich meine kleine Schwester und platzierte ihren Kopf auf meinem Arm. »Das heißt, du hast ein paar richtig gute Freunde?«
»Ja, denke schon«, ich zuckte liegend mit den Schultern, »es ist auch nicht so wichtig, dass man viele Freunde hat, sondern welche, die dir auch den Arsch retten, wenn’s drauf ankommt.«
Harriet ignorierte sogar, dass ich ein ‚böses‘ Wort gesagt hatte. Sie war wohl wirklich krank. »Stellst du mir deine neuen Freunde auch mal vor?«
Ich brummte zusammenhangslos und tat gleichgültig. Wie sollte ich ihr denn die Sache mit Damien erklären? Vor allem, verstand sie das überhaupt? Oder war Mom sogar dagegen, weil Harriet erst neun war? Ich würde es sicherlich nicht unnötig in die Länge ziehen. Kinder kapierten meistens ausgesprochen schnell und reagierten teils aufgeschlossener als die festgefahrenen Erwachsenen.
»Klar«, antwortete ich dann lächelnd und strich ihr über den fiebrigen Kopf, »wenn du das willst. Sie sind vielleicht etwas seltsam, aber ich denk mal, du wirst sie mögen.«
»Ist dieser Typ, der aus dem Fenster geklettert ist, auch ein Freund von dir?« Autsch. Also wusste sie mittlerweile, dass das kein blödsinniger Traum von ihr gewesen ist. Tja, da blieb mir ja gar keine andere Wahl!
»Ja, das ist Damien. Und der ist nicht nur ein Freund, sondern, na ja…äh…« Okay, das war doch nicht so einfach zu erklären. Ich hatte keine Ahnung wo ich anfangen sollte. Sowas konnte man seiner kleinen Schwester nicht so heraus an den Kopf knallen! ‚Weißt du noch, als sie in der Schule von Bienchen und Blumen erzählt haben? Tja, das funktioniert bei mir leider nicht!‘ Ich konnte ja schlecht von Bienchen und Bienchen faseln. Da guckt die mich doch an, als wäre ich geisteskrank.
Ich brummte unbestimmt. »Also, Damien ist mein Freund«, sagte ich einfach heraus. Weiterhin stierte mich die Brünette fragend an. »Dein Freund? So wie ich und Elaine?« Oh, die Unwissenheit der Jugend! Wie gerne wäre ich noch einmal neun!
»Nee«, murrte ich und dachte angestrengt nach, »Warst du nicht mal in so einen Jungen aus der Klasse verknallt? Wie hieß er noch, Max?«
Harriet wurde rot, falls ich das bei dem Fieber überhaupt richtig erkannte. »Moritz. Er hat mir immer Schokolade geschenkt.« Nickend reichte ich ihr ein Taschentuch, als ich sah, wie ihre Nase triefte. Sie schnaubte laut aus und klang dabei wie Benjamin Blümchen.
»Jedenfalls«, begann ich wieder, »Ist das wie bei Damien und mir ziemlich ähnlich.«
»Schenkt er dir auch Schokolade?«, grinste sie hinter dem weißen Papierfetzen spitzbübisch.
Ich gluckste. »Nein, das nicht, aber wir haben viel Zeit miteinander verbracht und … mögen uns eben. Sehr sogar.«
»Ich hab’s doch gesagt«, schimpfte sie auf einmal los, sodass ich vor Schreck beinahe vom Bett purzelte. Mit der nasalen Stimme klang sie wie ein wütender Wal, der versuchte durch seine Nasenöffnung zu kommunizieren. Sollte ich zurück quieken? »Elaine hat behauptet, es wäre nicht möglich, dass Mädchen mit Mädchen oder Jungs mit Jungs zusammen sind! Aber ich hab gemeint, dass das falsch ist, weil ich letztens in der Stadt zwei Frauen Händchen halten gesehen hab – und die haben sich sogar geküsst!« Freudig klatschte sie in die Hände, als hätte sie einen Wettbewerb gewonnen. »Und jetzt wo du einen Jungen magst, wird Elaine staunen!«
Baff konnte ich meine kleine, kranke, sieben Jahre jüngere Schwester nur anstarren. So war das heutzutage also. Kinder wussten einfach viel zu viel. Früher hätte sie mir bestimmt vorgehalten, wie ekelig das sei – ob mit Junge oder Mädchen wäre gleich – und mich ganz abwertend angesehen. Das konnte nur die Tochter ihrer Mutter sein. Bloß im Recht sein, egal unter welchen Umständen oder wegen welchen Dingen. Unserer Mom wären sicherlich Tränen des Stolz und der Rührung gekommen.
»Also, ähm«, brabbelte ich weiterhin irritiert, »dann wäre das ja geklärt. Vielleicht kommt er nochmal demnächst vorbei, wenn du wieder gesund bist, natürlich. Nicht, dass der sich bei uns den Tod holt.«
Mit genervtem Blick beobachtete Harriet, wie ich aufstand und zur Zimmertür stakste. »Ich werde nicht sterben, weißt du.«
Grinsend griff ich nach der Türklinke und zwinkerte ihr keck zu. »Das glaubst du! Wir haben schon Pläne gemacht, was aus deinem Zimmer wird, wenn du erst mal weg bist.« Lachend registrierte ich, wie, nachdem ich die Tür flink hinter mir zu geschmissen hatte, etwas Dumpfes am Holz abprallte. Manchmal fand ich mein Leben gar nicht mehr so schlimm.
Das nehme ich unwiderruflich und mit verzweifelter Absicht sofort wieder zurück.
Da ich, durch die Suspendierung, plötzlich äußerst viel Freizeit hatte, verbrachte ich einige Stunden mehr mit meinem Vater, indem ich ihm im Garten half. Leider war, wie schon einmal erwähnt, der grüne Daumen an mir vorbei gegangen und ich, mit einem braunen, naturunfreundlichen Daumen, durfte lediglich Rasen Mähen, die Bäume beschneiden – also gewissermaßen die Drecksarbeit erledigen, während Dad diesen vermaledeiten Gewächsen von seinem Tag erzählte. Ungelogen! Das macht angeblich die Früchte qualitativ besser, aber ich glaubte einfach, dass mein Vater irgendwann mal von einem Baum gefallen war und dauerhafte Schäden davon getragen hatte.
Jedenfalls kam am Montag der darauffolgenden Woche die Problematik an sich in deutlich zu enger, abgegriffener Jeans, Lederjacke und mit beinahe kahlrasiertem Schädel direkt auf mich zu. Ich hatte die alte, winzige Scheune, die mein Vater als Abstellraum missbrauchte, aufgeräumt und mich zum Haus umgewandt, als er, grinsend wie ein Abhängiger, der gerade von der Methadon-Verteilung kam, aufs Grundstück spazierte und ein Liedchen pfiff. In diesem Moment fiel mir ein, dass er keinerlei Ahnung von meinem Schulwechsel hatte und ihm das Pfeifen sicherlich heute noch vergehen würde.
»Hallo, Darling«, gluckste er und pflückte mir ein halbes Spinnennetz aus dem Haar, »Wurdest du versklavt?«
Ich schnaubte und stemmte entrüstet die Hände in die Hüfte. »Es gibt tatsächlich auch Leute, die müssen selbst im Haushalt mithelfen und besitzen keinen Butler dafür!«
Er zuckte lediglich mit den Schultern. »Kann mich schlecht dafür entschuldigen. Jedenfalls«, er drückte mir einen Kuss auf, während er mit beiden Händen in die Arschtaschen meiner Jeans fuhr, »wollte ich mal nach dir sehen und gucken, ob dir die Suspendierung auch gut bekommt. Hätte eigentlich gedacht, du schmuggelst dich freiwillig irgendwie in die Schule zurück.«
»Haha«, machte ich humorlos, »du bist so witzig. Möchtest du rein kommen, was trinken und wieder gehen?«
Damien zog eine Schnute und begleitete mich ins Haus. Meine Mutter war im Labor, meine Schwester in ihrem Zimmer noch immer leicht vor sich hin kränkelnd und mein Dad saß auf dem Sofa und sah fern. Er schaute überrascht auf und grüßte freundlich, wandte sich dann aber dem Fernseher zu, sodass wir wie spurlos in meinem Zimmer verschwanden. Der Schwarzhaarige schmiss sich auf mein Bett und grinste mich lasziv an. Als wäre ich eine bestellte Prostituierte.
»Ich muss dir was sagen«, seufzte ich, seine Andeutung ignorierend und setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl.
»Du liebst mich«, grinste er, »Das weiß ich doch schon.«
»Nein, was anderes…«
»Du bist doch nicht etwa schwanger?«, fragte er mit entsetztem Gesicht. Da hatte heute wohl jemand einen Clown gefrühstückt.
Ich bewarf ihn mit einer Packung Taschentücher und blaffte ihn an. »Bleib doch mal ernst! Das ist mir wichtig.«
Die Situation erkennend, hob er abwehrend die Hände und nahm eine gerade Haltung an. Plötzlich wirkte er gar nicht mehr so souverän. Ich versuchte ihn beruhigend zuzulächeln. Eigentlich war die Nachricht nicht so gravierend, aber ich befürchtete, Damien würde sich da hinein steigern.
»Ich werde die Schule wechseln«, sprach ich es direkt aus, »Eine Privatschule hat mich genommen, sie spezialisiert sich auf Naturwissenschaften. Weit weg ist sie nicht, aber hin und zurück wird seine Zeit dauern, also werden wir uns in der Woche nicht so oft sehen, aber…«
»Du träumst wohl«, unterbrach er mich ungeniert, »Eine Privatschule? Du verpisst dich einfach?«
»Hey, hör mal!«, erwiderte ich in ähnlicher Tonart, »Das ist eine gute Chance für mich und wirkt sich gut auf meine Zukunft aus. Außerdem heißt das ja nicht, dass wir uns nicht mehr sehen werden.«
Brummend wie ein Bär, den man beim Winterschlaf gestört hatte, lehnte er sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir werden uns so gut wie nur am Wochenende sehen«, maulte er quengelig, »Und vielleicht findest du ja einen total gebildeten Archimedes, der dazu auch noch ganz passabel aussieht.«
Missbilligend runzelte ich die Stirn und sah ihn ungläubig an. »Du glaubst doch selbst nicht, was du da sagst, oder? Es wird ganz sicher niemanden dort geben, der dich Freak in irgendeiner Weise ersetzen könnte. Außerdem stellst du es dar, als würden wir eine Fernbeziehung führen.«
»Tun wir doch dann auch!«, ereiferte er sich theatralisch, dann seufzte er resigniert und ich wusste, ich hatte gewonnen, »Aber bitte, ich will dir deine Zukunft ja nicht verbauen. Es ist auch deine Entscheidung und ich bin keine Dramaqueen, deswegen, tu, was du nicht lassen kannst.«
Triumphierend grinsend lehnte ich mich vor und küsste ihn, was ihn hoffentlich besänftigte. »Nein, du und Dramaqueen, also … pff.«
Damien kniff mir strafend in den Hintern. »Weißt du, du könntest als Dank ruhig mal ein bisschen zärtlicher zu mir sein.«
Ich schnaubte entrüstet und verdrehte die Augen. »Klar, dann gehen wir Blümchen pflücken und lieben uns bis ans Ende aller Tage.«
»Das hatte ich geplant«, sagte er und der Schalk blitzte in seinen Augen auf, »So leicht wirst du mich nicht wieder los.«
Bis zum Halbjahresende war es noch lange hin und wir verbrachten zu fünft viel Zeit miteinander. Wir sahen uns nur kurz während der Schulzeit, weil Damien und Lukas in meine Parallelklasse gingen, aber nach der Schule trafen wir uns bei McDonald’s oder in irgendeinem Café. Dann brachte Minney auch Jakob mit, der die Runde noch verrückter erschienen ließ (Der fraß sicherlich Steroide!) und mit alten Geschichten über Damien immer wieder für Lacher sorgte. Monika wirkte richtig glücklich mit ihm.
Lukas hatte sich vor uns noch nicht geoutet, aber es gab, in meinen Augen, des Öfteren Anzeichen dafür, dass er Männern zumindest nicht abgeneigt war. Er wurde ausgesprochen verlegen, wenn Damien und ich öffentlich als Paar auftraten und einmal wurde er richtig panisch, als das Thema ‚Liebschaften‘ aufkam. Manchmal war er so niedlich, dass man meinen könnte, er würde Schmetterlinge pupsen.
Natürlich war Minney enttäuscht, als ich erzählte, dass sie bald allein zur Schule müsste und ohne mich die Schulbank drücke, aber sie war eben meine beste Freundin und wünschte mir viel Glück unter den ganzen Hornbrillenträgern. Ich glaubte nicht an solche Klischees, aber ein/zwei Orthopädische-Schuhe-Träger existierten ja überall.
Ich weiß nicht, was ich euch noch auftischen könnte. So ist mein Leben eben – chaotisch, aber liebevoll, gespickt mit hohen Mauern und Stacheldraht, aber mit Begleitpersonen, die mir Rückendeckung gaben. Ich könnte sagen, mein Leben wurde ab diesem Zeitpunkt einfacher, aber das wäre gelogen. Tja, warum einfach, wenn’s auch umständlich geht.
Es stellte sich schließlich am Anfang des zweiten Halbjahres heraus, dass Damien ziemlich gut in Chemie war und weil seine geliebte Mutter ein paar Beziehungen spielen lassen hat, wurde er zu meinem Klassenkamerad alias ewigen Stalker. Ich hatte ihn, nachdem er es mir erzählt hatte, gefühlte Stunden lang rund gemacht (eigentlich eher in erhobener Tonlage beschimpft), bis er mich letztendlich besänftigen konnte. Ja, ich bin beeinflussbar, aber wer wird nicht schwach, wenn sich jemand vor einem einfach auszieht?!
Natürlich hing er auch an der neuen Schule an mir wie eine Klette, weshalb natürlich nicht lange verborgen blieb, dass wir schwul und dazu noch ein Pärchen waren. Dennoch gab es keinen Aufruhr oder mit Blut geschriebene Nachrichten an der Wand im Jungsklo. Einige Mädchen erachteten uns außerdem als ganz süß und schmachteten uns hinterher wenn sie dachten, wir bemerkten es nicht.
Alles in allem lief mein Leben darauf eine Weile in geregelten Bahnen. Am Wochenende gingen wir als Gruppe feiern, genossen unsere Jugend und waren alle zufriedener denn je – also praktisch Friede, Freude, Eierkuchen. Wie es am Ende dazu kam, dass meine Beziehung so gut wie den Bach runter ging und ich sozusagen Vater wurde, ging mir auch nicht ganz auf.
Aber das war dann wohl Karma.
Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine bessere Hälfte, ohne deren Druck ich gar nicht schreiben würde.