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Ein Engel ohne Flügel



„Blue! Verdammt, steh wieder auf!“ Jemand zerrte an meinem Arm. „Die erwischen uns noch, mach jetzt nicht schlapp!“ es war mein bester Freund Halo. Er klang verzweifelt und seine sonst so sanfte Stimme war angekratzt und rau. Er hatte sie sich bei der Demo wohl heiser geschrien. Doch jetzt waren wir hier, auf der Flucht. Die Polizisten waren dicht hinter uns, aber ich konnte nicht mehr gehen. Die klirrende Kälte, die jedes Jahr in dieser Stadt herrschte, betäubte meine Sinne. Sie ließ jeden einzelnen Muskel in meinem Körper zusammen krampfen und ich hätte am liebsten vor Schmerz geschrien. Meine Beine fühlten sich an, als ob mir jemand schwere Eisenketten um sie herum gelegt hätte.
Es hatte wieder angefangen zu schneien und die weißen Flocken ähnelten von ihrer Farbe her sehr meiner ziemlich blassen Haut. Meine schwarzen Haare waren durch den Schnee komplett nass und meine Haarspitzen begannen bereits zu gefrieren. Das einzige farbige an mir war mein blauer, ausgefranster Hoodie und die blauen Haarsträhnen, die mir über mein rechtes Auge fielen. Ich war eigentlich so gut wie tot, doch dank Halo hatte ich immer wieder die Kurve gekriegt. Doch heute schien mein Schutzengel ausnahmsweise Urlaub zu haben. Ich konnte die schweren Schritte der Polizisten im Schnee hören und Halo der mich verzweifelt anschrie.
Plötzlich packte mich jemand und begann zu rennen. Aber Halo war es nicht, dass hatte ich im Gefühl. Außerdem hätte er gar nicht mehr die Kraft aufbringen können mich zu tragen, geschweige denn zu rennen. Ich schmiegte mich an den Oberkörper meines Retters. Er hatte einen warmen Wollmantel an. Er roch nach leicht süßlichem Parfüm. Ich öffnete ein Stück meine Augen konnte aber nur verschwommen sehen. Hätte er mich nicht mitgenommen wäre ich wahrscheinlich in den nächsten Minuten an Unterkühlung gestorben. „He danke für deine Hilfe Hope.“ ich öffnete meine Augen ganz als ich Halos Stimmen hören konnte. Ich zuckte zusammen als ich auf einen weichen Untergrund gelegt wurde. „...Bett...“ murmelte ich mitgenommen. Meine Augen fielen wieder zu. „Ruh dich aus Kleiner.“ ich konnte die Stimme nicht zuordnen, zumindest nicht zu einer Person die ich kannte, also schloss ich daraus dass es wohl Hope war der mit mir sprach. Er strich mir mit seiner warmen Hand über mein nasskaltes Gesicht. Ich konnte nur gedämpft verstehen was er und Halo miteinander redeten. Irgendwann wurde mir das Zuhören zu anstrengend und außerdem raubte mir das Zittern meine Kraft. Ich schlief erschöpft ein...

...Geschlagene drei Tage hatte ich durchgeschlafen, doch kalt war mir noch immer, was wohl eher an meinen Entzugserscheinungen lag. Als ich aufwachte, war mein Orientierungssinn und meine Erinnerung an den Tag der Demo gleich null. Ich setzte mich langsam auf und sah mich um. „Halo?“ keuchte ich und stand auf. Meine Beine gaben nach und ich fiel der Länge nach hin, landete aber zum Glück auf einem weichen Teppich. „Was machst du denn?“ fragte Halo und half mir auf. Ich schüttelte den Kopf. „Wo...wo bin ich hier?“ Ich setzte mich zurück aufs Bett. „Bei Hope, du hast drei Tage lang geschlafen. Halo setzte sich neben mich und strich mir durch die Haare. „Drei Tage?“ Wie hatte ich es nur solange ausgehalten? Halo nickte und streichelte mir über die Wange. „Ja, sei froh dass Hope uns gefunden hat, sonst könntest du dir jetzt die Radieschen von unten ansehen.“ Ich lachte. „Iiih Radieschen.“ Halo schlug mir an den Hinterkopf. „Idiot, mach keine Scherze. Ich will dich nicht verlieren. Du bist mein bester Freund.“ er drehte meinen Kopf zu sich und lehnte seine Stirn an meine. „Ja...entschuldige...“ murmelte ich kleinlaut. „Du solltest was essen.“ Ich verzog das Gesicht. „Wenn ich´s vertrag...“ „Das sehen wir ja dann. Entweder bleibt es wo es ist oder du siehst es wieder.“ „Ja lecker.“ ich seufzte und hob den Kopf als Hope das Zimmer betrat. Er hatte blonde, fast schulterlange Haare. Er lächelte mich an und seine grünen Augen strahlten pure Lebensfreude aus. Im Gegensatz zu meinen, die jene Hoffnungslosigkeit meiner Seele widerspiegelten. „Na wieder wach Schlafmütze?“ ein kurzes Lächeln huschte über meine Lippen. Ich wandte meinen Blick zu Boden. „Wollt ihr was essen?“ fragte Hope und Halo übernahm das Antworten für uns beide. „Gerne.“ Hope schenkte uns wieder ein sanftes Lächeln und ging zurück in die Küche. „Na komm.“ Halo stand auf und hielt mir die Hand hin. Ich hielt mich an ihm fest und zog mich hoch. „Nh.“ meine Muskeln schmerzten. Es fühlte sich an wie heiße Nadelstiche. „Alles okay bei dir?“ ich nickte und biss die Zähne zusammen.
Ich ließ mich in der Küche erleichtert auf einen Stuhl fallen. Ich atmete schwer und fing zu husten an. „...erkältet.“ brummte Halo und fragte Hope nach Medizin. Während Halo nach der Medizin suchte beobachtete ich Hope und blieb mit meinem Blick immer wieder an seinen Augen und seinen Lippen hängen. Er lächelte die ganze Zeit über und ich muss schon sagen...sein Lächeln ist wirklich wunderschön. Ich weiß nicht wieso, aber sein Lächeln brachte mich zum Schmunzeln.
Ich wurde aus meiner Schwärmerei gerissen als Halo mir mit einem Löffel an die Stirn schlug. „Pass auf, dass du dich nicht voll sabberst.“ kicherte er leise. „W-was denn?“ „Blue, Blue. Du kannst mir nichts vormachen. Mund auf!“ ich öffnete meinen Mund und verzog das Gesicht als sich die bittere Medizin auf meiner Zunge verteilte. Ich schluckte und hustete vor Ekel. „So ist´s brav.“ lachte Halo und wuschelte mir durch die Haare. „He...“ ich strich sie wieder glatt und strich sie mir über meine eingefallenen Wangen. Ich sah an mir herunter. Ich war wirklich fast nur noch Haut und Knochen. Hätte ich mein Hemd hochgezogen hätte man meine Rippen zählen können, deswegen versteckte ich meinen mageren Körper stets unter einem weiten, blauen Hoodie. Es ist der Hoodie meines Bruders gewesen, doch er kam vor 3 Jahren ums Leben...bei einer Demo.
Ich seufzte und hob meinen Kopf wieder und erschrak als Hope so dicht vor mir stand. Er hielt mir eine Schüssel mit Suppe hin. Etwas verlegen sah ich ihn an und nahm die Schüssel in die Hand. Ich konnte Halo kichern hören, ignorierte es aber und begann zu essen. Ein wenig Wärme kam in meinen Körper zurück. Ich atmete tief ein und lange aus. Ich sah Hope an und lächelte. Er lächelte, mit diesem unglaublich sanftem Lächeln, zurück. Mir wurde noch wärmer, doch ich war mir sicher, dass es nicht an der Suppe lag. Meine Wangen nahmen ein zartes Rosa an, was man auf meiner blassen Haut sofort erkennen konnte, was Halo wiederum ziemlich amüsierte. Ich seufzte leise und stand auf. „Was ist los?“ fragte Hope und fixierte mich mit seinen leuchtenden Augen. „I-ich muss noch wo hin...“ ich zog meine Kapuze über meinen Kopf und tief ins Gesicht. Halo sah mich ziemlich entgeistert an. „Blue, bitte...“ ich schüttelte den Kopf und ging, schließlich fühlte sich die Kälte da draußen wie ein sanfter Kuss an, im Gegensatz zu meinen Entzugserscheinungen


Der Schnee der dich vergessen lässt



Ich versank sofort Knöchel tief in dem kalten Schnee als ich nach draußen trat. Meine Körpertemperatur würde wohl schon bald wieder einen kritischen Punkt erreichen, aber das war mir egal. Hatte ich erst mal das was ich wollte würde ich diese unerträgliche Kälte ohnehin nicht mehr spüren. Ich machte einige Schritte und konnte mich dann so langsam recht gut auf den Beinen halten. Die Kälte trieb mich zum schneller Laufen an. Ich hatte meine Arme um mich gelegt und klapperte stark mit den Zähnen. Wenigstens schneite es nicht mehr, was mir das ganze wesentlich erleichterte. Ich wurde langsamer als ich Stimmen hören konnte. Eine von ihnen war ziemlich markant, tief und männlich. Es war Bull. Alle nannten ihn so weil er durch seine bullige Statur und seinem Nasenring etwas von einem Stier hatte. Vor allem benahm er sich öfters auch so, immer mit dem Kopf durch die Wand. Ich blieb hinter der Gruppe von Jugendlichen stehen und räusperte mich. Bull drehte sich um und fixierte mich. Sein Iro war dieses Mal feuerrot gefärbt und...irgendwie stand es ihm. „Ach, du bist´s Blue. Dasselbe wie immer?“ Ich nickte und er drückte mir unauffällig ein kleines Tütchen in die Hand. „So, jetzt sind wir quitt. Beim nächsten Mal musst du zahlen.“ er fixierte mich mit seinen...Fischaugen...Wenn ich ihn jetzt so genau ansah...er war nicht wirklich ein Augenschmaus. Sein warmer Atem roch nach...ja nach was eigentlich? Mein Geruchssinn war mir irgendwann abhandengekommen, aber Hopes Duft...der hing mir noch ganz klar in der Nase. Ich lächelte Bull an. „Danke.“ hustete ich und zog den Kragen meines Hoodies höher. „Du solltest ins Bett.“ lachte Bull und drehte sich wieder zu den anderen. „Ins Bett...mhmm...“ ob ich jetzt zurück zu Hope und Halo hätte gehen sollen? Ich entschied mich anders und stapfte wieder durch den dichten Schnee in die komplett entgegengesetzte Richtung. Jeder Schritt war eine Tortur, aber ich wollte mich nicht an andere klammern. Ich wollte keine Hilfe annehmen, schließlich hatte ich mich für das hier entschieden. Wollte ich Regeln, ein warmes Bett und was zu essen wäre ich im Heim geblieben...aber ich wollte auf mich selbst aufpassen. Ich wollte schon immer wie mein Bruder sein. Der einzige Unterschied ist, dass er damit klar gekommen ist. Er hat immer einen warmen Unterschlupf gefunden und sich um mich gekümmert. Er war immer der Stärkere von uns beiden gewesen. Doch jetzt musste ich selbst auf mich aufpassen. Ich hatte meinen großen Bruder verloren. Mein Leitfaden war gerissen und ich verfiel meist in tiefe Depressionen, die sich auf meinem ganzen Körper widerspiegelten in der Form von vielen kleinen Narben. Tiefe Schnitte...ich wusste schon längst nicht mehr wie viele es waren. Unzählige.
Ich seufzte leise und setzte mich unter eine Brücke. Hier lag wenigstens nicht allzu viel Schnee. Ich zog meine Beine an und starrte das Tütchen in meiner Hand an. Ja, den Schnee den ich in der Hand hielt...den mochte ich oder auch nicht. Je nachdem. Er half mir so vieles um mich herum zu vergessen. Meine Meinung war immer: >Was soll so ein bisschen Koks schon großartig anrichten?
Man sollte stets wachsam sein


Ich hatte einige Stunden geschlafen, denn als ich meine Augen öffnete lag eine bedrückende Dunkelheit im Raum. Ich setzte mich vorsichtig auf und sah mich um. Niemand war zu sehen. Ich stand auf und wankte in ein Zimmer. Glückstreffer, es war das Badezimmer. Ich schloss die Tür hinter mir und starrte in den Spiegel. Ein Junge mit fransigen Haaren, blasser Haut und trübem Blick sah mich an. Ich verzog den Mund und fauchte leise. „Miststück...“ ich drehte den Kopf vom Spiegel weg und räumte die Sachen von der Ablage neben dem Waschbecken weg. Ich nahm das Tütchen mit dem weißen Pulver aus meiner Hosentasche und öffnete es. Ich zog mit dem Pulver zwei gleichmäßige Linien auf der glatten Oberfläche der Ablage und packte das Tütchen wieder weg. Ich schloss für einen Moment meine Augen und dachte nach. Ich schüttelte den Kopf, bückte mich und atmete tief ein. Ich rieb mir mit dem Handrücken über die Nase und setzte mich auf den Boden. Ich wartete darauf dass die Wirkung der Droge einsetzte. Doch die Minuten kamen mir wie Stunden vor und zogen sich hin wie ein zäher Kaugummi. Doch als die Lichter im Raum plötzlich begannen zu tanzen und ihre Farbe änderten schlich sich ein grinsen auf meine Lippen. Ich drückte mich vom Boden hoch und lachte leise. Unglaubliche Euphorie ging durch meinen Körper. Ich verließ das Bad und stolperte lachend nach draußen. Halo, der gerade zur Haustür reinkam, sah mich entgeistert an. „Blue, hast du schon wieder-?“ ich ging auf ihn zu und lachte. „Wasn? Sei doch nich so ernst.“ kicherte ich. Halos Blick verfinsterte sich. Er packte mich an den Schultern. Ich verzog das Gesicht als sich seine Fingernägel in meine Haut bohrten. Ich empfand den Schmerz auf Droge immer viel intensiver. „Halo...du tust mir weh.“ Tränen stiegen mir in die Augen. „Sei ruhig!“ fuhr er mich an. Ich zuckte leicht zurück. „Warum...warum machst du noch immer diesen Scheiß? Lass dir helfen!“ fauchte er. Das war zu viel im Moment. Meine Gefühle kochten über und meine Tränen schwemmten alles an die Oberfläche. Unzählige Tränen liefen mir über die Wangen. „Du bist so ein Idiot!“ durch Halos Gebrüll wurde Hope wach, er stand hinter uns im Zimmer. „Was ist denn los?“ fragte er verschlafen. Ich biss mir auf die Lippe. „Arschloch...“ ich stieß Halo von mir weg und rannte nach draußen. Ich rannte ohne jegliches Ziel vor Augen in die Dunkelheit. Schon nach wenigen Metern Entfernung konnte man mich nicht mehr sehen. Ich lief weiter, ohne jegliche Pause. Erst als ein Auto mit grellen Lichtern und laut hupend auf mich zuraste kam ich wieder zur Besinnung. Ich wich gerade noch aus und fiel auf den Hintern. Ich verzog das Gesicht. Ich war bis zur Hauptstraße gerannt, doch zum Glück war sie um diese Uhrzeit nicht mehr allzu gut befahren. Ein Auto hielt neben mir und die Tür ging auf. „He Kleiner.“ ich hob den Kopf und sah in grüne Augen, die Hopes ziemlich ähnelten. „Alles okay bei dir?“ fragte er mit unglaublich sanfter Stimme. Ich nickte langsam. „Na...“ er legte den Kopf schief. „Steig ein, nicht dass du noch erfrierst.“ ich überlegte eine Weile lang, stieg dann aber ein. Was soll schon groß passieren? Und wenn ich unter Drogen stand war mir eh alles egal. Ich schnallte mich an und lehnte meinen Kopf an die kalte Scheibe. Der junge Mann lächelte mich an. Er war so um die 25...so sah er zumindest aus. Er hatte relativ kurze Haare und sein Pony ging ihm über die Stirn, schön auf die Seite gegelt damit ihm seine Haare nicht ins Gesicht fielen. Ich drehte den Kopf weg und sah nach draußen. Die Lichter der Stadt zogen an uns vorbei und dank der Drogen kamen sie mir viel bunter vor. Ich grinste und schloss die Augen. Zurzeit war ich immer verdammt müde. Ich döste langsam ein.
Ich hätte am besten für immer schlafen sollen, denn das was mich erwartete wenn ich aufwachen würde...glich der Hölle!


Willkommen in der Hölle



Als ich meine Augen wieder öffnete lag ich auf einem Bett in einem, mir unbekanntem, Raum. Das wäre auch nicht weiter schlimm gewesen, denn das Bett war recht gemütlich. Nur um meine Handgelenke waren Handschellen die an den Bettenden festgemacht waren. Ich verzog das Gesicht und versuchte mich zu befreien. Doch durch mein Rütteln und Zerren schnitt mir das Metall in die Handgelenke. Irgendwann gab ich erschöpft auf, denn meine Arme schmerzten. Ich rang nach Atem und zuckte zusammen als die Tür, die zum Zimmer führte, aufging. Fahles Licht fiel ins Zimmer. Ich hob meinen Kopf mit viel Mühe an. Es war der junge Mann aus dem Auto, doch seine freundliche Aura schien auf einmal verflogen zu sein.
Als er zum Bett kam stieg Panik in mir hoch. Ich begann zu zappeln und wollte einfach nur weg. Doch mit jeder Bewegung dich ich machte nahm die Panik und meine Schmerzen in den Armen zu. Mein Blut rauschte mir in den Ohren und mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Hast du Angst?“ es war eine normale Frage, aber aus seinem Mund klang sie irgendwie boshaft. Ich biss mir auf die Lippe um ein Schluchzen zu unterdrücken. Er strich mir mit seinen Fingerkuppen über die Wange, den Hals und die Brust. Er tippte mit den Fingern ein paarmal auf meinen Brustkorb. Ich hustete und drehte meinen Kopf auf die Seite. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Hoodie und mein Shirt auf dem Boden lagen. Ich zuckte zusammen und sah aus den Augenwinkeln zu dem Mann.
„Wie heißt du eigentlich?“ fragte er mich und grinste. *Wie bitte?* meine Augen weiteten sich. „Sagst du es mir jetzt endlich?“ er vergrub seine Fingernägel in meiner Brust. Ich schrie kurz auf, denn es brannte wieder Feuer. „Und?“ er sah mich erwartungsvoll an. „B-Blue...“ keuchte ich. „Hmm, das ist aber nicht dein richtiger Name oder?“ Ich schüttelte langsam den Kopf. „Okay.“ er streichelte mir über die Wange. Ich kniff die Augen zu. Er beugte sich über mich. „Du bist niedlich. Ganz genau Hopes Typ.“ *Hope?!* mir stockte der Atem. „Hope?“ fragte ich nun laut. „Ja, Hope. Ich weiß dass du ihn kennst. Schließlich ist er ja mein Zwillingsbruder.“ er lachte leise. Jetzt wusste ich auch warum er ihm so ähnlich sah. Aber ich war mir sicher, dass er das komplette Gegenteil von Hope war. Mir kamen die Tränen. Ich weinte aus Angst und Unsicherheit.
„Wa-was willst du von mir?“ ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. „Kannst du dir das denn nicht denken?“ lachte er und setzte sich auf mich drauf. Ich verzog das Gesicht, denn leicht war er nicht gerade. Ich schüttelte den Kopf. „Ich kenne Hope doch erst seit drei Tagen...Was willst du verdammt?!“ keuchte ich und kniff die Augen zu. „Dir weh tun!“ flüsterte er in mein Ohr. „Wieso?“ wimmerte ich. „Was meinst du, warum ich dich überhaupt ins Auto hab einsteigen lassen? Hope hat mich angerufen und mich gebeten nach dir zu suchen.“ Ich wurde immer verwirrter. „Worauf willst du hinaus?“ er sah mir direkt in die Augen. „Hope hat sich solche Sorgen gemacht...Er soll weiter leiden!“ fauchte er. „Aber, wieso ziehst du mich da mit rein?“ „Sagte ich doch gerade.“ seine Stimme wurde wieder ruhiger. „Er klang so besorgt, das heißt er empfindet etwas für dich. Ich kennen meinen Bruder.“ er streichelte mir über die Wange. „Er soll leiden, genau wie ich es musste als er ging ohne mir etwas zu sagen und dann taucht er einfach aus dem Nichts wieder auf! Ich musste so vieles ertragen als er mich allein gelassen hatte. Jetzt soll er selbst spüren wie es sich anfühlt, wenn man bangt und hofft dass diese eine Person wieder auftaucht.“ während er sprach hielt er mich an den Schultern fest und drückte mich mit ganzer Kraft aufs Bett. Ich spürte wie meine Knochen drohten zu brechen. „Bitte, du tust mir weh.“ flehte ich und schluchzte leise. Er lockerte seinen Griff ein wenig, blieb aber auf mir sitzen. Er sah mir wieder in die Augen. Sein Blick fühlte sich an wie Messerstiche. Ich versuchte das Thema von Hope weg zu lenken, ich hatte nämlich keine große Lust auf gebrochene Knochen. „W-wie heißt du eigentlich?“ er lachte kurz. „Mich nennen die meisten Rage und jetzt rate mal wieso.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich...meine deinen richtigen Namen.“ Rage schmunzelte. „Der tut nichts zur Sache, niemand nennt mich bei meinem richtigen Namen...außer Hope.“ knurrte er.
Themenwechsel: Fehlgeschlagen
Rage fing zu lachen an und beugte sich zu mir herunter. „Wenn es dich nicht stört, gönn ich mir ein bisschen Spaß.“ „Wa-?“ bevor ich etwas sagen konnte hatte er seine Lippen auf meine gedrückt. Er biss mir in die Unterlippe, bis diese schließlich zu bluten begann. Der Geschmack des Blutes der sich in meinem Mund verbreitete ließ mich kurz würgen. „Outch...du hast mich gebissen!“ fuhr ich ihn an. „Das ist kein Biss.“ er grinste, küsste meine Brust und verteilte mein Blut auf ihr. „Nh-“ ich legte meinen Kopf in den Nacken, denn obwohl ich Angst hatte konnte ich nicht verhindern, dass es mir gefiel. Dieser Gedanke trieb mir wieder die Tränen in die Augen.
Rage lachte und hob den Kopf. Ich drehte meinen Kopf auf die Seite. „Schmerz und Freude...beides dasselbe.“ er zog eine Augenbraue hoch und ein diabolisches Grinsen schlich sich in sein Gesicht. Ich schrie laut auf als er mit seinen Fingernägeln über die Brust kratzte. Es brannte höllisch und dieses Mal spürte ich wie mein warmes Blut über meine Brust lief. „Siehst du doch genauso oder?“ er fuhr mit der Zunge über die Wunden. „Hast du keine Angst, dass ich irgendeine Krankheit hab?“ Rage lachte wieder leise. „Nicht wirklich.“ er öffnete langsam meine Hose. „Sterben werden wir eh, früher oder später.“ „…“ ich schüttelte den Kopf, mein Plan ihn so los zu werden hatte nicht funktioniert. Ich erstarrte regelrecht als er mir die Hose auszog. Aber was sollte ich denn machen? Ich konnte mich nicht gegen ihn wehren...Ich war anscheinend bei dem Teufel persönlich gelandet...


So nah und doch so fern



Ich lag schluchzend, mit geschlossenen Augen, auf dem Bett. Rage hatte mich freundlicherweise zugedeckt, doch meine Handgelenke waren noch immer am Bett fest gekettet. Rage hatte mir ein raues Tuch um den Mund gebunden da ich immer wieder angefangen hatte, wegen den Schmerzen, zu schreien. Es schnitt mir in meine ohnehin schon rissigen Mundwinkel und sog sich langsam mit meinem Blut voll. Jedes Mal wenn ich schluckte, schluckte ich dabei auch eine Menge Blut. So langsam stieg die Übelkeit in mir hoch und ich hatte das Gefühl mich jede Sekunde übergeben zu müssen.
Meine Tränen, die mir über die Wangen liefen, vermischten sich mit dem Blut das mir am Mundwinkel herunter lief. Wo war ich hier nur gelandet? Es war die reinste Hölle und der Teufel war im Zimmer nebenan und duschte. Ich wollte einfach nur weg, selbst den Tod hätte ich jetzt dankend angenommen. Doch dieser war gerade wohl anderweitig beschäftigt.
Ich zuckte zusammen als ich hörte, dass jemand an die Haustür klopfte. Mein Herz begann schneller zu schlagen als ich Hopes Stimme hörte. „Jonas, mach auf! Ich weiß das du da bist.“ Jonas? Das war wohl Rages richtiger Name. „Ja, ja. Hetz mich nicht...Julian.“ knurrte Rage. Ich schmunzelte kurz. Hopes Spitzname wie auch sein richtiger Name waren wirklich schön.
Rage öffnete die Tür. „Was?“ brummte er. „Hast du Blue gefunden?“ „Nein.“ sagte er knapp. „Mist...Halo kommt noch um vor sorge.“ „Und du?“ fragte Rage mit provozierendem Unterton. „Ich? Was meinst du?“ „Machst du dir auch sorgen?“ „Ja, was denkst du denn? Ich meine es könnte ihm sonst was passiert sein.“
*Nein! Ich bin hier!* ich wollte schreien, aber es ging nicht. Ich zerrte an den Handschellen und begann mit den Füßen zu strampeln. *Ich bin hier! Hilf mir!* wieder begann ich zu weinen. Meine Rettung war so nah bei mir, aber ich konnte sie trotzdem nicht erreichen.
„Ach Julian. Entweder ist er tot oder irgendjemand hat ihn mitgenommen. Ich meine in dieser Kälte würde niemand so viele Stunden überleben.“ „Er ist nicht tot, da bin ich mir sicher.“ *Ich bin nicht tot!* bestätigte ich in meinen Gedanken. „Mhmmm!“ ich schlug meine Handgelenke zusammen, so dass das Metall der Handschellen aufeinander schlug. „Was war das?““ Hope ging auf die Tür zu die zu mir führte. „Hey!“ Rage hielt ihn an der Schulter fest. „Ein Schritt weiter und ich zeig dich wegen Hausfriedensbruch an!“ „Hast du etwas zu verheimlichen?“ fragte Hope und lief von der Tür wieder weg. Ich schluchzte leise. Würde ich denn wirklich so enden? Wo war der Engel der mich aus der Kälte gezerrt hatte? Warum ließ er sich aufhalten? Warum ließ er mich so leiden? Warum war dieser Teufel sein Bruder? Ich wollte nicht hier bleiben. Hope durfte nicht wieder gehen ohne mich mitzunehmen.
Ich griff nach der letzten Kraftreserve in meinem Körper und begann zu schreien. Zwar verhinderte das Tuch dass ich sprechen konnte, aber Laute konnte ich dennoch von mir geben. Ich trat mit den Füßen gegen das Bettende und schlug die Handschellen aneinander. Meine Atmung und mein Herzschlag beschleunigten sich. Langsam spürte ich wie mich meine restliche Kraft gänzlich verließ. Bevor ich bewusstlos wurde betete ich dafür, dass Hope mich gehört hatte...



Der Teufel aus meiner Vergangenheit



„Joshua! David!“ ich klammerte mich leise wimmernd an meinen großen Bruder, der schützend seine Arme um mich legte. Mein Vater stapfte laut die Treppen hoch. Er schlug die Tür, zu Davids und meinem Zimmer, auf. „Da seid ihr, ihr kleinen Biester!“ er war eindeutig betrunken, das roch man auch noch zehn Kilometer gegen den Wind. Ich drehte meinen Kopf weg und presste ihn an Davids Bauch. „Also, wer hat die Sauerei da unten veranstaltet?“ „Ich, Dad.“ Sagte David mit fester Stimme und streichelte mir sanft über den Rücken. Ich schniefte leise. Denn nicht David hatte in der Küche so ein Chaos veranstaltet, sondern ich. Ich hatte für David etwas kochen wollen, aber irgendwie ging das gründlich in die Hose. Ein Fünfjähriger hatte auch eigentlich nichts alleine in der Küche verloren.
David ließ mich langsam los. Ich fiepte leise als ich seine Wärme nicht mehr spüren konnte. Er ging auf meinen Vater zu. „Du weißt ja was das für Konsequenzen hat!“ brüllte er David an, wobei er seine feuchte Aussprache zum Besten gab. David ertrug das ganze immer stumm. Mein Vater packte ihn und verpasste ihm eine Trachtprügel, die eigentlich für mich hätte bestimmt sein müssen. Doch David wollte nicht, dass mein Vater auf mich losging. Doch zu sehen wie David die Strafe für etwas bekam, das er nicht getan hatte, schmerzte mich noch viel mehr.
Endlich ließ mein Vater von ihm ab. Er rieb sich über den Handrücken. „Das nächste Mal werde ich nicht so nachsichtig sein.“ Brummte er und ging runter ins Wohnzimmer zu seinen geliebten Bierflaschen. Ich kniete mich neben David der auf dem Boden lag. Er sah mich an und lächelte. Er lächelte immer. Noch nie hatte ich mitbekommen, dass mein Bruder jemals geweint hätte. Nicht einmal als unsere Mutter sich umgebracht hatte. Er war immer stark für mich gewesen. Er war immer mein Beschützer gewesen.
Er setzte sich vorsichtig auf und strich sich mit der Hand übers Gesicht. „Warte… ich hol dir einen Waschlappen.“ Fiepte ich und lief ins Bad. Doch was ich dort sah, hatte mir wohl mehr Schaden zugefügt, als ich gedacht hatte.
Ich schrie laut auf und rannte zurück zu David. „Davii! Mamiii!“ „Hmm?“ David stand auf und sah mich fragend an. Ich packte ihn an der Hand und zog ihn ins Bad. „…“ Meine Mutter lag leblos auf dem Boden, um sie herum war eine riesige Blutlache. Mein Bruder beugte sich zu mir runter. „Mach dir keine Sorgen, ja? Mum schläft jetzt.“ „Sie schläft?“ Ich wollte zu ihr gehen und sie wecken. „Nicht so, Kleiner…“ er zog mich zu sich und hielt mich fest. Er streichelte mir sanft über den Kopf. „Sie schläft… für immer. Du kannst sie nicht wecken.“ „Aber wenn sie schläft, dann kann man sie doch auch wecken oder?“ „Bei diesem Schlaf nicht. Weißt du, das ist wie mit Dornröschen, doch leider hilft hier kein Kuss.“ Er nahm mich auf seine Arme und stand auf. „Lass sie schlafen, ja? Dann geht es ihr gut.“ Ich drückte mein Gesicht an Davids Schulter. „Okay… Gute Nacht, Mami…“ murmelte ich. Dass ich sie nie wieder in die Arme nehmen konnte oder sie nie mehr sehen würde war mir nicht klar. Ich dachte, für immer wären vielleicht ein paar Stunden. Ich verstand die ganze Situation nicht wirklich.
„So Kleiner, ich bring dich jetzt ins Bett, ja? Dann schläfst du ein bisschen und Morgen wird dann ein wunderschöner Tag.“ „Jaa…“ ich kuschelte mich leicht an David und lächelte. Er legte mich sanft in das alte, durchgelegene Bett. „Legst du dich zu mir?“ fragte ich leise und schnappte mir mein total zerfetztes Kuscheltier. Ein Straßenhund hatte es mal zu fassen bekommen und hatte es so zugerichtet. „Ja, gleich okay?“ „Ich muss noch mit Papa reden.“ „Oki…“ meine Augen waren bereits zugefallen. „Schlaf gut mein Kleiner.“ David gab mir einen Kuss an die Schläfe und ging ins Wohnzimmer. Von dem Streit, der dort losbrach, bekam ich nichts mit. Ich schlief tief und fest.

Es war eine Woche seit dem Tod meiner Mutter vergangen. Wir waren umgezogen, in eine noch kleinere Wohnung. David und ich teilten uns, wie immer, ein Zimmer. Aber das war mir nur recht, ich wollte ihn immer bei mir haben. Ohne ihn fühlte ich mich nicht sicher. Er war mein eigener, persönlicher Schutzengel.
Doch mit den Jahren war er immer seltener zu Hause. Er stieß mich weg wenn ich mit ihm kuscheln wollte und brachte oft fremde Menschen mit in unsere Wohnung. Mein Bruder kam mir plötzlich vollkommen fremd vor. Wenn wir uns sahen redeten wir nur das nötigste und wenn ich irgendetwas angestellt hatte, stellte er sich auch nicht mehr schützend vor mich. Nein, manchmal lief er einfach unbeeindruckt vorbei wenn mein Vater mit verprügelte.
Ich konnte mir nicht erklären was ihn so verändert hatte, bis ich mich einmal in seinem Schrank ein wenig rumwühlte. Ich fand einige Spritzen, benutzte und unbenutzte und andere Dinge. Ich konnte mir damals noch nicht so genau erklären was das zu bedeuten hatte. Ich war 13, als ich das in seinem Schrank gefunden hatte. Ich dachte, dass er vielleicht krank wär. War er ja auch, aber nicht so, wie ich es dachte. Ich ging laut heulend zu ihm, als er nach Hause kam und sprach ihn auf das Zeug in seinem Schrank an. Doch anstatt mir zu sagen was los war, schrie er mich an. Ich solle meine Finger von seinen Sachen lassen. Er schlug mich sogar. Und dieses Mal ertrug ich den Schmerz, stumm aber unter Tränen. Stumm liefen sie über meine Wangen und tropften zu Boden. Wie hatte er sich nur so verändern können.
„Das bist du nicht… Davi…“ murmelte ich. „Doch, das bin ich! Sieh es endlich ein.“ „Nein!“ ich sah zu ihm hoch. Meine Augen waren ganz glasig vom Weinen. „Das bist du nicht, Davi. Das bist nicht du…“ David sah mir in die Augen und er schien langsam zur Besinnung zu kommen. Er hatte so heftig zugeschlagen, dass mir etwas Blut aus dem Mund lief, über den Hals und mein Shirt saugte sich gierig damit voll. „…Kleiner.“ David ging in die Hocke und wischte mir mit meinem Taschentuch erst die Tränen und dann das Blut aus dem Gesicht. Er legte seine Arme um mich und zog mich zu sich. „Es tut mir so leid… Ich wollte das nicht.“ „Ich weiß doch…“ schniefte ich. „Verzeihst du mir?“ Er sah mir in die Augen. Ich nickte und lächelte. „Du bist mein Bruder, ich könnte niemals böse auf dich sein.“ Ich lächelte etwas kläglich. „Oh man…“ David strich mir durch die Haare. „Wir müssen hier weg… Wir müssen weg von Papa, hast du gehört?“ „Aber wohin denn?“ „Das sehen wir dann. Komm. Pack ein paar Sachen und dann gehen wir.“ Ich nickte und packte gemeinsam mit David ein paar Klamotten und etwas zu essen ein. So begann mein Leben auf der Straße, gemeinsam mit meinem Bruder…


Ein verlorenes Erinnerungsstück



Ich riss meine Augen auf und saß kerzengerade im Bett. Mein Kopf pochte laut, es war fast schon unerträglich und zwang mich dazu, mich wieder hinzulegen. „Ganz ruhig Kleiner…“ drang eine sanfte Stimme an mein Ohr. Ich konnte sie nicht ganz zuordnen, da ich alles ziemlich gedämpft hörte. Ich fühlte mich mies und so langsam kehrte meine depressive Stimmung zurück. Schließlich hatte ich jetzt eine Weile lang nichts mehr genommen. Ich zuckte heftig zusammen, als mich eine Hand an der Stirn berührte. „Keine Sorge, ich tu dir nichts.“ Meine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Es war Halo der mir nun sanft über die Wange streichelte. Ich konnte es spüren, da Halo an seinem Zeigefinger immer zwei Ringe trug.
„Ich hätte dich nicht anschreien sollen…“ er strich mir ganz sanft durch die Haare. *Gib dir nicht die Schuld…* ich bewegte tonlos meine Lippen. „Mein armer Blue.“ Ein paar von Halos Tränen tropften auf mein Gesicht. „N-nicht…“ sagte ich ziemlich leise. Meine Stimme war heiser und schwach. Ich war wohl mal wieder krank. Das kommt davon, wenn man mit Socken durch den Tiefschnee stapft. Ich hustete und legte eine Hand an meinen Hals. Es brannte schrecklich. „He…“ Halo beugte sich über mich. „Hörst du mich?“ ich nickte langsam und lächelte, als ich sah das Halo mich anlächelte. Er war sichtlich erleichtert. „Alter, mach nie wieder so was! Ich hab mir schreckliche Sorgen gemacht! Steig nie wieder in ein fremdes Auto ein!“ ich konnte ja nicht wissen, dass Halo nur kurze Zeit später an der Stelle gewesen war an der ich in Rages Auto gestiegen war.
„T-tut… tut mir leid.“ Röchelte ich. Halo legte seinen Kopf auf meine Brust. „Was würde ich denn ohne dich machen, man? Du bist mein bester Freund. Du bist wie ein Bruder für mich…“ ich zuckte zusammen. *Bruder…* „Mmh…“ mein Blick trübte sich und ich fing einfach zu weinen an. Die Tränen liefen einfach wie ein Wasserfall an meinen Wangen hinab. „Nicht weinen!“ Halo drückte mich an sich. „Bitte, das war dumm… Das hätte ich nicht sagen sollen.“ „Sch-schon gut…“ mein Versuch zu lächeln scheiterte kläglich. „Ich bin müde…“ murmelte ich. Halo ließ mich langsam los. Ich sank sanft zurück ins Kissen. „Ruh dich aus.“ Halo seufzte leise und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Werd schnell wieder gesund, nich dass die dich noch mit ner Lungenentzündung rauswerfen.“ Das konnte gut möglich sein, schließlich konnte ich die Behandlung hier nicht zahlen. Höchstens zwei Tage lang behielten sie Personen da, die mittellos waren. Ich hoffte, ebenso wie Halo, dass ich mir nichts Schlimmes eingefangen hatte.
Ich hatte meine Augen bereits geschlossen, als Halo den Stuhl zurückschob und aufstand. „Schlaf gut…“ „Mhmm.“ Ich war eingenickt und kurz darauf im Tiefschlaf…

…Einige Stunden hatte ich geschlafen. Mitten in der Nacht wurde ich wach. Meine Schmerzen hatten ein wenig nachgelassen, weswegen ich mich relativ gut aufsetzen konnte. Aber zu meiner Enttäuschung war ich ganz allein im Zimmer. Kein Hope, kein Halo. Ich seufzte und stand vorsichtig auf. Ich fühlte mich einsam. David wäre jetzt ganz bestimmt bei mir gewesen, aber er war tot und daran ließ sich nichts ändern.
Leicht wankend ging ich in das kleine Bad, das an das Zimmer angrenzte. Ich schaltete das Licht, nach dem dritten Versuch den Schalter zu treffen, an und stellte mich vor den Spiegel. Ich strich mir über den Hals, zog den Kragen des Hemdchens ein wenig nach unten und wanderte mit zitternden Fingern über meine Brust. Alles was ich berührte schmerzte und meine Lippe war angeschwollen. Der Biss würde ganz sicher eine Narbe hinterlassen. Ich legte meinen Kopf in meine Hände und fing zu weinen an. Ich bekam kaum Luft zwischen den Schluchzern. David hatte auch eine Narbe an der Lippe gehabt, an der exakt gleichen Stelle… Konnte es sein, dass er etwas mit Rage zu tun gehabt hatte? Nein, die Narbe stammte eindeutig von meinem Vater. Dieses eine Mal als er David geschlagen hatte. Ich konnte mich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen.
David hatte wieder die Schuld auf sich genommen. Mein Vater hatte ihn grün und blau geschlagen. Davids Gesicht war so angeschwollen, dass man ihn kaum noch erkannte und es war meine Schuld gewesen.
Meine Schuld. Ich lachte leise. Das hat man mir so oft gesagt und ich redete es mir auch fast jeden Tag ein. Ich schniefte laut und suchte nach irgendeinem spitzen Gegenstand. Ich brauchte das jetzt, ich brauchte diesen Schmerz, um mich von dem Schmerz in meinem Herzen abzulenken. Doch ich konnte einfach nichts finden. Verzweifelt schluchzend sank ich auf den Boden und krallte mich tief in meinen Unterarm. Ich wartete auf den erlösenden Schmerz, auf das schreckliche Brennen und das warme Blut, welches mir über den Arm lief. Meine Fingernägel bohrten sich tief in meine dünne Haut und ich spürte wie sich etwas Blut unter meinen Fingernägeln sammelte. Ich atmete schnappartig, als das Blut langsam über meine Finger lief und auf den Boden tropfte. Es war ein erlösendes Gefühl, aber nur für den Moment. Ein paar Minuten danach fühlte ich mich noch schlechter als davor.
Ich wischte das Blut halbherzig vom Boden auf und ging wieder ins Bett und was mir jetzt auffiel raubte mir den letzten Nerv. Davids blauer Hoodie war nicht hier. Er war weg. Ich durchsuchte das ganze Zimmer und rannte sogar schreiend in den Flur. Drei Schwestern mussten mich beruhigen und gaben mir ein Beruhigungsmittel, nachdem ich einer von ihnen in den Unterarm gebissen hatte. Ich drehte vollkommen am Rad, doch langsam begann das Beruhigungsmittel zu wirken. Mein Körper entspannte sich und ich wurde schläfrig. Irgendwie bestand mein gesamter Lebensinhalt fast nur noch aus schlafen…

Wie ich es befürchtet hatte, wurde ich nach zwei Tagen auf die Straße gesetzt, aber sie hatten mir wenigstens Klamotten geschenkt. Halo war schon da um mich abzupassen. Er entschuldigte sich ausgiebig dafür, dass er mich nicht nochmal besucht hatte, aber das war mir egal. Hauptsache er war jetzt für mich da. Ich hatte das letzte Erinnerungsstück an meinen Bruder verloren. Ich brauchte Halos Nähe jetzt mehr denn je.
Halo hatte sogar etwas zu essen für mich dabei, auch wenn es nur Reste waren. Das war immer noch besser als hungern. Es war eben der tägliche Kampf ums Überleben, wenn man auf der Straße lebte. Man musste nehmen was man kriegen konnte und da waren die Mahlzeiten eben auch mal aus der Mülltonne an der Straßenecke. Irgendwann macht man sich da keine Gedanken mehr, wenn der Hunger einen quält.
Halo nahm mich an der Hand. „Lass uns gehen…“ er lächelte mich an. „Ja, bloß weg hier.“ Ich klammerte mich an Halos Arm und ließ mich ein wenig von ihm ziehen. „…wie geht´s Hope?“ fragte ich leise. „Ich hab nichts von ihm gehört. Ich weiß nur, dass er dich ins Krankenhaus gebracht hat. Er hat sich auch nicht bei mir gemeldet.“ „Hm, okay…“ Halo streichelte mir über die Wange. „…Davids Hoodie ist weg…“ murmelte ich. „Oh.“ War das Einzige, was Halo zu diesem Satz einfiel. Er wusste wie viel mir dieses Kleidungsstück bedeutet hatte und jetzt war es weg. Das tat viel mehr weh, als die ganzen Wunden an meinem Körper. Es machte mich traurig, schließlich hatte ich meinem Bruder versprochen darauf aufzupassen. Er hatte ihn mir gegeben, kurz bevor ich David für immer verloren hatte…

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Tag der Veröffentlichung: 28.06.2010

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