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-Prolog-

 

Die Elite

-Prolog-

„Guten Tag, meine Lieben.“ Das waren die Worte, mit denen Miss Green die Gruppe Schüler an jenem sonnigen Dienstagvormittag begrüßte. Sie schaute in die Augen von circa zwanzig Schülern und Schülerinnen, die teils neugierig, teils nervös aussahen. „Ich nehme an, sie wissen nicht, weshalb sie hier sind. Ist das richtig?“ Miss Green schob ihre Brille auf ihre Nasenspitze und begutachtete die Schüler. Blicke wurden ausgetauscht, Köpfe gedreht und gewendet, jedoch sah man in keinem einzigen Augenpaar auch nur den leisesten Funken einer Ahnung, was gerade geschah. Miss Green lächelte und erhob sich. „Nun, meine Lieben, der Grund, warum sie hier sind, ist ein sehr besonderer. Ich nehme mal an, einige von ihnen waren schon einmal in einem Feriencamp?“ Einige Schüler nickten. Ein Mädchen in der hintersten Reihe meldete sich sogar und sagte: „Oh, ich war einmal in einem Camp von der Kirche aus.“ Dann wurde sie rot, denn sie bemerkte wohl die merkwürdigen Blicke der anderen Schüler, die sie ansahen, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Wie schön, Miss Kenny.“ Entgegnete Miss Green die noch immer lächelte. „Gut, wir kommen ein wenig vom Thema ab. Was ich sagen will ist; Sie werden alle zusammen in das Camp Calvet fahren. Dort wird ihnen dann alles weitere erklärt. Also packen sie ihre Sachen und wir treffen uns um sechzehn Uhr wieder vor der Schule. Das war’s auch schon. Ihnen noch einen angenehmen Schultag.“ Dann wies sie, lächelnd wohl gemerkt, auf die Tür ihres Büros und wandte sich wieder ihrem Schreibtisch zu. Nun könnte man denken, dass wäre alles nicht ganz so seltsam gewesen, wäre es eine Gruppe von Schülern gewesen, die sich auf irgendeine Weise ähnelten, oder irgendetwas gemeinsam hatten. Doch eben dies war nicht der Fall. Um genau zu sein; Es handelte sich hier um eine Gruppe von Schülern, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Nun gut, sie waren allesamt Schüler der Hudson High, aber das war dann auch schon alles. Es schien als wäre jede Altersgruppe vertreten und jeder Typ Jugendlicher, den man sich irgend vorstellen konnte. Nur eine Sache hatten sie in diesem besagten Moment gemeinsam, und das war die Verwirrtheit in ihren Augen.

 

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Als Nana die Türe zur Wohnung ihrer Mutter aufschloss, grübelte sie noch immer über das Camp Calvet. Vielleicht hatte ihre Mutter ja schon einmal etwas davon gehört? Nana betrat die Küche und rief: „Mum? Mum, bist du da?“ Scheinbar war dies nicht der Fall, denn niemand antwortete auf ihr Rufen. Nana zuckte mit den Schultern und ging in ihr Zimmer. Sie öffnete ihren Kleiderschrank und holte ein paar Sachen heraus. Da sie in ein Camp gehen sollte, entschied Nana sich für eher zweckmäßige Klamotten. Röcke und Kleider sortierte sie direkt aus, enge T-Shirts und tief sitzende Hosen ebenso. Dann nahm sie den Rest der Klamotten und packte sie in einen großen Trollie. Sie ging ins Bad, griff ihre Zahnbürste und eine Flasche Shampoo und ging wieder zurück in ihr Zimmer. Schließlich schoss ihr etwas durch den Kopf. Sie schaltete ihren Computer an und durchforstete das Internet. Doch egal welche Suchmaschine sie auch benutzte, nirgendwo stand auch nur ein einziger Satz über Camp Calvet. Meist einfach nur die Anzeige, dass ihre Suche Null Ergebnisse erbracht hatte, und ob sie es nicht mit einem anderen Suchwort versuchen wollte. Enttäuscht fuhr Nana ihren PC wieder runter und beschloss dann, es in der Bücherei zu versuchen. Es konnte schließlich nicht sein, dass niemand etwas über Camp Calvet wusste, denn das würde letztendlich ja bedeuten, dass Camp Calvet überhaupt nicht existierte.

 

Peter saß im Bus und hörte Musik. Sein Kopf wippte im Takt auf und ab und er schien völlig vergessen zu haben, dass er etwas unter Zeitdruck stand. Da setzte sich jemand neben ihn, drehte sich zu ihm um und sagte: „Hey.“ Peter schob seine Kopfhörer hinter seine Ohren und entgegnete: „Hi.“ Sein Gegenüber war weiblich, etwa in seinem Alter und oh wow! Peter schluckte, sie war, ohne Frage, echt heiß! Woher kannte er sie nur? Peter zermarterte sich das Hirn, während sein Gegenüber meinte: „Ich bin Alice. Ich hab dich vorher bei Miss Green gesehen und dachte, ich frag mal nach, ob du etwas über dieses Camp weißt?“ Aha, daher kannte er sie also. „Sorry, aber nein. Ich hab auch keine Ahnung was Camp Calvet sein soll. Ich hatte auch irgendwie das Gefühl, dass niemand von denen, die da hingeschickt werden, weiß, was für ein Camp es ist. Naja, aber ich muss hier jetzt aussteigen. Ich schätze wir sehen uns später?“ Er grinste und Alice meinte: „Ja, denk ich auch. Wir sehen uns.“ Peter quetschte sich an ihr vorbei und wollte gerade aussteigen, als er sie noch rufen hörte: „Hey, wie heißt du eigentlich?“ Peter schrie durch die sich schließende Tür: „Peter! Mein Name ist Peter!“ Doch er war sich nicht sicher, ob Alice das noch gehört hatte.

 

Jamie saß am Mittagstisch und aß Kartoffeln mit Salat. Ihre Eltern saßen schweigend dabei, man hörte nur das Klappern von Besteck auf Geschirr und das leise Pochen, wenn jemand sein Glas zurück auf den Tisch stellte. „So, Jamie. Irgendetwas Interessantes von der Schule zu erzählen?“ fragte Jamies Vater ohne jedoch seinen Kopf in ihre Richtung zu drehen. Jamie schluckte und antwortete: „Ja, ich fahre in ein Camp.“ Jamies Mutter schien erstaunt und meinte: „Was für ein Camp und wann?“ „Naja, ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, was für ein Camp es ist, aber Miss Green hat mich und eine Gruppe anderer Schüler extra in ihr Büro gerufen und ich muss auch gleich meine Sachen packen, denn es geht schon heute Nachmittag los.“ „Was? Mitten in der Woche? Das kann nicht sein, Schätzchen, da musst du dich verhört haben.“ Jamies Mutter schien nicht wohl zu sein, bei dem Gedanken, dass ihre Tochter ganz alleine in ein Camp fahren würde, doch Jamie brachte ihren Teller in die Küche uns sagte: „Es ist schon okay, Mutter, es sind nur wenig Leute und es ist von der Schule aus. Ich pass schon auf mich auf. Weißt du noch im Kirchencamp? Da war ich doch auch auf mich allein gestellt, und das hat ganz prima geklappt. Ich werde mich schon zurecht finden. Und jetzt entschuldige mich Mutter, ich muss meine Sachen packen.“ Mit diesen Worten verschwand Jamie in ihr Zimmer und begann ihre wenigen Klamotten in ihr kleines braunes Stoffköfferchen zu packen, dass sie seit dem Kirchencamp nicht mehr benutzt hatte.

 

Leon lag auf seinem Bett und rauchte. Sein Fenster stand weit offen, die Musikanlage dröhnte in voller Lautstärke. Leons Mutter war mal wieder ausgeflogen, irgendeinen Mann treffen, den Leon wahrscheinlich niemals kennenlernen würde und ohnehin auch nicht kennenlernen wollte. Er war genervt, denn er dachte, dass Camp Calvet mal wieder eine der grandiosen Ideen seiner Mutter gewesen war, ihren Sohn abzuschieben, damit sie mehr Zeit für ihre zahlreichen Liebhaber hatte. Als Leons Zigarette nur noch ein kleiner Stummel war, drückte er sie an den Sohlen seiner Sneakers aus und erhob sich. Er durchsuchte seine Kommode nach gewaschenen Klamotten, konnte keine finden und knallte die Schublade entnervt wieder zu. Dann ging er in die Waschküche, fand wieder nichts und nahm schließlich den Hausschlüssel und fuhr in die Stadt. Als er den kleinen klapprigen Ford in die Parklücke quetschte, fuhr er fast eine kleine grauhaarige Dame um, die wild gestikulierte und ihn im Überschallpiepston anschrie. Doch Leon war das egal. Er betrat den H&M, fischte sich zwei Jeans und ein paar T-Shirts, eine Sweatshirtjacke und ein Bündel Socken und Unterwäsche aus den Regalen und ging in die nächstbeste Umkleide. Dort entfernte er alle Etiketts von den Kleidern, natürlich entgegen der Überwachungskamera, schließlich wusste Leon, wie man richtig stiehlt, packte die Sachen in eine Tüte und marschierte geradewegs durch die Eingangstür hinaus. Unbemerkt und unbestraft, so wie jedes Mal, wenn seine Mutter vergaß, die Wäsche zu waschen. Er begab sich zurück zu seinem Ford, ließ den Motor an und fuhr mit rasender Geschwindigkeit davon.

 

Miss Green wartete auf ihre Schülergruppe für Camp Calvet. Der Busfahrer war ein leicht untersetzter kleiner Mann, der ein belegtes Sandwich aß und völlig desinteressiert durch die dreckige Frontscheibe seines Reisebusses starrte. Nach und nach trödelten die Schüler ein, manche von ihren Eltern begleitet, manche allein. Miss Green wies alle auf ihre Sitzplätze und nahm dann das Mikro in die Hand, das am Fahrersitz installiert war. „Meine Lieben“, begann sie, „ich freue mich euch alle gesund und wohlauf zu sehen und natürlich freue ich mich ganz besonders, dass ihr allesamt erschienen seid. Ich bin mir sicher ihr werdet jede Menge Spaß im Camp haben, und ich hoffe, euch alle wohlbehalten wieder zurückzusehen. Nun, ich verabschiede mich jetzt von euch und wünsche eine angenehme Reise. Auf Wiedersehen, meine Lieben.“ Dann stieg sie aus und der Busfahrer ließ den Motor an.

Alice saß neben einem rundlichen kleinen Jungen mit Brille und furchtbarer Akne, sie ekelte sich, sie ekelte sich sogar sehr. Ihre Blicke schweiften suchend über die Sitzreihen und endlich fand sie, wen sie gesucht hatte. Sie lächelte und winkte Peter zu, der zwei Reihen schräg hinter ihr saß. Der zwinkerte ihr zu und wies mit dem Kopf auf die Person neben ihm; Verwaschenes blondes Haar, spitze Nase, graue Augen, blass und ein komisches Magazin lesend. Alice nickte, rollte mit den Augen und gestikulierte in Richtung ihres unerwünschten Nebensitzers. Schließlich stand sie auf und ging auf Peter zu, sie beugte sich zu seiner Nebensitzerin und sagte: „Das ist mein Platz, auf dem du da sitzt. Miss Green muss da was verwechselt haben, du sitzt eigentlich neben Mister Akne in der vierten Reihe rechts.“ Und sie wies auf den dicken Brillenträger, neben dem soeben ein Platz frei geworden war.

Jamie hatte zwar überhaupt keine Lust, sich neben den Moppel in der vierten Reihe zu setzten, doch sie konnte es dem Mädchen ansehen, dass sie unbedingt neben ihrem eigentlichen Nebensitzer sitzen wollte. Also erhob Jamie sich und begab sich etwas widerwillig zu ihrem neuen Sitzplatz. Sie setzte sich hin, schlug ihr Magazin auf und fuhr fort zu lesen, als sei nichts gewesen.

Leon kaute Kaugummi, mit offenem Mund, so wie immer. Er hatte sein Knie an die Sitzlehne des vorderen Sitzes gelehnt, den Ellenbogen am Fensterrahmen abgestützt und starrte hinaus. Das Mädchen, das neben ihm saß, hatte er kaum registriert, sie war ziemlich unscheinbar. Dunkle Haare, schulterlang, lockig, das war auch schon alles, was er gesehen hatte. Ja, Leon war sich sicher, seine Mutter hatte diesen Schwachsinn hier eingefädelt. In jeder Sitzreihe saßen jeweils ein Junge und ein Mädchen, die sich anschwiegen, mal ausgenommen der Zwei hinter ihm, die wie die Bekloppten miteinander flirteten. Leon kippte das Fenster, holte eine Zigarette aus seiner Hosentasche, zündete sie an und zog genüsslich an ihr.

Nana konnte es nicht glauben; Da zündete dieser Typ doch tatsächlich eine Zigarette mitten im Bus an, obwohl direkt über ihm eine „Nicht Rauchen“ Plakette am Fenster angebracht war. Sie bohrte ihren Blick in seinen Schädel, doch der Typ ignorierte sie einfach. Also räusperte sie sich und meinte: „Du weißt schon, dass man hier drin nicht rauchen darf, oder?“ Der Typ drehte sich langsam zu ihr um, schaute sie kurz abfällig an, nahm die Zigarette aus seinem Mund und drückte sie sich am Oberarm aus. „Was juckt mich das?“ fragte er und Nana schluckte. „Naja, ich dachte nur…“ „Überlass das Denken lieber den Pferden, Puppe.“ Meinte der unverschämte Typ und drehte sich wieder von Nana weg. Seine Zigarette kokelte zwischen ihren beiden Sitzen vor sich hin und Nana hatte Tränen in den Augen. Wieso war sie ausgerechnet an so einen Idioten als Sitznachbarn geraten?

 

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Als der Bus anhielt, und sich die Türen öffneten, war es bereits dunkel draußen. Der Busfahrer sagte nichts, sondern wartete schweigend, bis alle ausgestiegen waren, dann fuhr er fort. Da standen sie nun, die Jugendlichen, mitten in der Pampa, ohne irgendeinen der wusste, wohin sie nun zu gehen hatten, ohne Taschenlampen oder sonstige Hilfen. Nur Nana hatte eine kleine Taschenlampe dabei, und die strahlte noch nicht einmal zwei Meter weit. „Na toll.“ Hörte man jemanden sagen, dann war alles still. Es war schon fast unheimlich, der Wald, die Geräusche. Und irgendetwas knackte im Unterholz. Da erschien vor ihnen ein Licht. Es tänzelte hin und her und kam stetig näher. Als es schließlich anhielt, war da ein Mann, in einer schwarzen Robe, mit einer Laterne in der Hand. „Willkommen in Camp Calvet.“ sagte er und deutete der Gruppe, ihm zu folgen. So marschierten sie also durch den Wald, immer der Laterne hinterher, schweigend. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis das Licht endlich anhielt. Nach dem zu urteilen, was man in dem wenigen Licht erkennen konnte, standen sie vor einem großen schmiedeeisernen Tor. Der Mann mit der Laterne legte seine Hände an das Tor und es ging auf, wie von einer Zauberhand berührt. Niemand sagte etwas, doch es war den Gesichtern abzulesen, dass irgendetwas hier nicht stimmte, und dass alle dies gemerkt hatten.

 

Der Mann mit der Laterne ging weiter und alle folgten ihm. Letztendlich standen sie vor einem riesigen steinernen Gebäude. Der Mann öffnete eine große hölzerne Türe. Man hätte meinen können, sie würde irgendein Geräusch machen, aber nein, sie ließ sich öffnen, als wäre sie eben erst geölt worden. Die Schüler folgten ihm. Es ging in eine Art Innenhof und schließlich durch eine weitere Tür. Diese war so gigantisch, dass man, wenn man den Kopf hob, nicht einmal sehen konnte, wo sie aufhörte. Die Schülerschaar ging durch die Türe und der Laternenmann schloss die Tür. Nun war es dunkel. Besser gesagt es war so dunkel, dass man die eigene Hand vor Augen nicht sehen konnte und tatsächlich schienen einige gerade dies ausprobieren zu wollen, denn man hörte Schmerzenslaute, wenn einer sich selber ins Auge fasste, oder mit seinen tastenden Händen jemand anderen ins Gesicht klatschte. Doch dann ging ein Licht an. Erst war es nur eine winzige Kerze, die sich weiter hinten im Raum befinden musste. Doch dann erhellte sich auf einen Schlag der gesamte Raum und die Schüler konnten endlich sehen, wo sie sich befanden. Es war ein großer, weitläufiger Raum mit steinernen Wänden und hohen kirchenähnlichen Fenstern. In der Mitte stand eine hölzerne Tafel, die mit silbernen Tellern und Bechern gedeckt war. Überall an den Wänden standen riesenhafte zwölfarmige Kerzenleuchter. In einigen Gesichtern konnte man große Fragezeichen erkennen, die sich wahrscheinlich darauf bezogen, wer diese monströsen Kerzenleuchter angezündet hatte. Der Mann in der schwarzen Robe deutete auf die Tafel und alle nahmen Platz. Am Ende waren drei Plätze übrig und nun sah man wieder neugierige Augen, die durch den Raum schweiften und die letzten drei Bankettteilnehmer suchten. Die Teller und Becher waren noch stets ungefüllt und der kleine dicke Junge, der im Bus neben Jamie gesessen hatte, hob sich den Bauch, der aufdringlich laut knurrte. Alice und Peter hatten die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten. Alice kicherte und machte einen eindeutigen Augenaufschlag in Peters Richtung, während sie an der Kuppe ihres Zeigefingers knabberte. Nana starrte in ihre Richtung und sagte leise zu sich selbst: „Ekelhaft.“ Da hörte sie neben sich jemanden „Was du nicht sagst“, sagen und als sie sich umdrehte, blickte sie in die Augen des unverschämten Typen aus dem Bus. Nana blickte ihn kurz an und drehte sich dann in die andere Richtung. Jamie machte einen kurzen Rundblick durch den Raum und stellte enttäuscht fest, dass sie tatsächlich niemanden der Anwesenden kannte. Natürlich hatte sie ein paar von ihnen mal in der Schule gesehen, doch nur im Vorübergehen. Da öffnete sich eine kleine Tür ganz am Ende des langen Saales und drei Personen kamen herein. Es waren zwei Männer und eine Frau. Sie waren allesamt nicht mehr die Jüngsten, doch ihre Schritte waren selbstbewusst und in keinster Weise wackelig, wie man das vielleicht sonst von grauhaarigen, in einem Fall sogar weißhaarigen, alten Menschen erwartete. Sie kamen direkt auf den Tisch zu und nahmen auf den letzten drei freien Plätzen Platz. Dann erhob sich der weißhaarige Alte, der eine Mitternachtsblaue Robe trug und schaute in die Runde. Mit einem Schlag war alles still und der Mann begann zu Reden: „Guten Abend. Mein Name ist Doktor Whineheimer und dies sind meine Kollegen Professor Hosb und Professor Brandon.“ Er deutete mit der Hand auf die kleine Frau und den langen Mann auf den Plätzen links und rechts von ihm. Diese nickten kurz und waren dann wieder steif wie Marmorstatuen. Doktor Whineheimer fuhr fort: „Wir sind die letzten übriggebliebenen Mitglieder, der sechsten Generation, der Elite.“ Blicke wurden ausgetauscht, fragende Blicke. Und einige fragten sogar leise: „Elite?“ Doktor Whineheimer antwortete: „Ja, Elite. Lassen sie mich das kurz erläutern. Die Elite ist eine Gruppe von Menschen mit, nennen wir es mal, außergewöhnlichen Fähigkeiten.“ Ein Raunen ging durch den Raum. „Haben sie denn noch nie gemerkt, dass sie etwas können, das sonst niemand kann? Möchte irgendjemand anfangen?“ Er sah sich in der Runde um und erwartete scheinbar, dass sich jemand meldete, um seine besondere Fähigkeit zu präsentieren, doch niemand schien das zu können oder zu wollen. „Also gut“, meinte Doktor Whineheimer und  Professor Hosb und Professor Brandon erhoben sich ebenfalls. „Wir werden ihnen eine kleine Kostprobe geben, worauf wir hinauswollen.“ Und er schloss seine Augen. Dann hatte man das Gefühl die Luft um ihn würde ein kleines bisschen vibrieren und schließlich erhob sich ein Schüler nach dem anderen, wie von unsichtbarer Hand gezogen. Einige stellten sich auf ihre Stühle, andere machten den Hampelmann, wieder andere begannen wild mit den Armen rudernd durch den Raum zu rennen. In einigen Augen blitzte Erstaunen auf, in anderen war echte Angst zu sehen. Als Doktor Whineheimer seine Augen wieder öffnete, gingen die Schüler schweigend und unsicher zu ihren Plätzen zurück. Dann war die Reihe an Professor Hosb. Die kleine Frau in der weinroten Robe legte ihre Fingerspitzen zusammen und es war, als würden kleine Funken aufblitzen, als wäre die Luft um sie herum elektrisch geladen. Und dann hörten die Schüler es; Ein lautes Grollen, gemischt mit zischenden Lauten. Ein furchtbares Gewitter zog herauf. Es begann in Strömen zu regnen und nur Sekunden später knallten Tischtennisballgroße Hagelkörner gegen die Fenster. Dann ließ Professor Hosb ihre Hände wieder sinken und setzte sich. Einige Schüler schluckten, manche zitterten einfach nur. Doch Professor Brandon hatte seine besondere Fähigkeit noch nicht gezeigt, und die hatte es in sich. Er ging in die Mitte des Raumes und einige Sekunden sah es so aus, als würde gar nichts passieren, doch dann begann die Luft um ihn zu flirren, wie ein starker Windhauch und schließlich veränderte Professor Brandon seine Gestalt. Er schrumpfte, schrumpfte immer weiter. Ihm wuchsen Flügel und seine Nase wurde platt und ledrig. Und als das Flirren aufhörte, saß da eine Fledermaus. Klein, haarig, und in diesem Fall, gruselig. Die Fledermaus begann mit den Flügeln zu schlagen und flog zu ihrem Platz zurück, wo sie sich auf die Lehne ihres Sitzes setzte und die Flügel um ihren kleinen Körper schlang. Dann erhob Doktor Whineheimer wieder seine Stimme: „Dies, meine Freunde, meine ich mit besonderen Fähigkeiten.“  Einigen Schülern schien bei der ganzen Sache überhaupt nicht wohl zu sein, wieder andere waren wohl begeistert, von der Vorstellung, auch sie könnten so etwas tun. „Was wir können“, meinte Professor Whineheimer, „Ist selten, nur schwer zu verstehen, und vor allem anderen; Gefährlich. Sie wurden hierher gebracht, um ihre besondere Fähigkeit zu erforschen und zu beherrschen. Aber was ihnen hier auch beigebracht werden wird ist, wie sie ihre Fähigkeiten für Gutes nutzen.“ Dann erhob sich Professor Hosb und begann zu erzählen: „Immer wieder werden junge Menschen hier her gebracht, um zu erlernen, wie sie mit ihren Fähigkeiten verantwortungsvoll umgehen. Sie meinen vielleicht, diese Fähigkeiten wären ein Segen, jedoch ist genau das Gegenteil der Fall. Fähigkeiten wie die unseren, sind ein Fluch. Sie geben Macht, und mit Macht kommt auch Gier. Gier, Unterlegene zu benutzen, zu bedrohen, zu versklaven. Es ist furchtbar, wie in manchen Ländern der Welt Macht missbraucht wird. Umso furchtbarer, wenn man sich überlegt, auf was für eine grausame Art und Weise dies geschieht. Darum wurde vor siebenhundert Jahren das Camp Calvet errichtet. Auch in anderen Ländern lernen junge Menschen das Beherrschen ihrer Fähigkeiten. Zu ihrer eigenen Sicherheit und auch zur Sicherheit der gesamten Bevölkerung. Doch leider misslingt es uns manchmal, den jungen Menschen zu zeigen, dass das falsche Anwenden ihrer Fähigkeiten Schreckliches hervorrufen kann, noch schlimmer; Einige der Studenten der Camps nutzen ihre Macht absichtlich gegen andere. Nun wir sind stolz, behaupten zu können, dass das innerhalb von Camp Calvet seit dreihundert Jahren nicht mehr der Fall war, doch leider, leider hat einer der Absolventen des Camp Calvet den rechten Pfad verloren. An einem unbekannten Ort hat dieser Absolvent ein eigenes Camp errichtet. Und dort trainiert er junge Menschen, gerade wie sie jetzt, in diesem besagten Augenblick. Doch er trainiert sie nicht, um ihnen zu zeigen, wie sie ihre Macht sinnvoll gebrauchen können, nein er trainiert sie für das genaue Gegenteil; Den Missbrauch der Macht. Er trainiert eine Art „Kampf-Elite“, um mit ihnen gegen die eigentliche Elite vorzugehen und die Bevölkerung Englands, und schließlich die der ganzen Welt, zu unterdrücken.“ Entsetzen stand in Jamies Augen geschrieben, als sie das hörte. Und sie war nicht die Einzige, der der Appetit vergangen war.

Nachdem die Teller leergegessen waren, kam der Laternenmann zurück und führte die neuen Studenten des Camp Calvet eine lange, breite steinerne Treppe hinauf und schließlich durch eine weitere Tür in einen weiten freundlich eingerichteten Raum, mit einem großen Kamin in dem ein Feuer prasselte. Bunt zusammen gewürfelte Couchgarnituren und kuschelige Sessel standen verstreut im Raum, es gab eine überdimensional große Bücherwand und einen Tisch mit mehreren Stühlen. Der Mann mit der Laterne sagte: „Damen, ihre Schlafzimmer befinden sich, wenn sie dieser Treppe folgen, rechts. Herren, sie müssen sich nach der Treppe nach links orientieren. Ich wünsche eine gute Nacht.“ Und er ging. „Was denkt ihr, was der ist? Eine Art Butler?“ fragte Peter. „Ja, sicher, und morgens bringt er dir dein Frühstück ans Bett.“ Entgegnete Nana und rollte ihre großen blau-grünen Augen. Leon lachte laut und sagte: „Zeig’s ihm, Puppe!“ Nana drehte sich um und funkelte Leon an. Dann meinte sie: „Ich geh mal schlafen, wenn ihr nichts dagegen habt.“ Sie marschierte los in Richtung Treppe, wurde jedoch nach nur wenigen Metern von Leon eingeholt. „Darf ich mitkommen, Puppe?“ fragte dieser, breit grinsend. Nana war sichtlich genervt und giftete ihn an: „Nenn mich noch einmal Puppe, und du wirst es bereuen!“ „Okay, okay, sorry… Puppe.“ Leon lachte noch einmal laut und sprintete, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Wendeltreppe hoch. Nana schüttelte ihren Kopf und folgte ihm. Jamie beschloss, dass es auch für sie Zeit zum Schlafengehen sei, und betrat als nächstes die Treppe. Als sie die Tür zum Schlafzimmer öffnete blieb sie mit vor Staunen offenem Mund im Türrahmen stehen. Das Schlafzimmer war ein riesiger, weit in die Länge gezogener Raum, mit Betten an jedem Fenster und flauschigen Teppichen am Fußende jedes Betts. Langsam tastete Jamie sich vor und begutachtete alles genau. Auf jedem Nachttisch stand eine kleine Karte, mit einem Namen darauf. Ganz am Ende des Raumes auf der linken Seite entdeckte sie das Namensschildchen mit „Jamie Kenny“ darauf und legte ihr kleines braunes Köfferchen auf das dazugehörige Bett. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass das Mädchen von eben im Bett gegenüber von ihr lag, den Kopf zur Seite gedreht und leise weinend. Jamie ging vorsichtig zu ihr und setzte sich neben sie auf das Bett. „Hey“, meinte sie. „Ich bin Jamie, Jamie Kenny. Und wie heißt du?“ Das Mädchen hob ihren Lockenschopf von ihrem Kopfkissen und antwortete: „Nana Crystal.“ Jamie lächelte und sagte: „Der Junge ist schon ein ziemlicher Fiesling, aber mach dir keinen Kopf.“ Nana starrte Jamie mit schief gelegtem Kopf an und entgegnete: „Ach der, wegen dem würde ich doch nicht auch nur eine Träne vergießen. Nein, Ich hab das Gefühl, dass ich hier Antworten finden kann. Die Antwort, warum mein Dad verschwunden ist, als ich gerade mal fünf Jahre alt war, und warum meine Mum nie über ihn redet. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sein Verschwinden was mit Camp Calvet zu tun hat. Ich weiß nur nicht, was.“ Jamie schluckte und sagte: „Manchmal gibt mir mein Vater auch das Gefühl, dass er verschwunden wäre.“ „Wie meinst du das?“ fragte Nana. „Naja, er redet mit mir, schaut mich aber nicht an, als wär' ich nicht da. Und wenn er mich anschaut, schaut er durch mich durch, wie durch Glas. Meine Mutter weint sehr viel, und mein Vater kommt immer erst mitten in der Nacht nach Hause. Dann streiten sie. Meine Mutter weint, mein Vater schreit, sie schmeißt mit Gegenständen, er knallt mit Türen. Dann ist es immer Totenstill im Haus und ich höre gar nichts mehr. Manchmal wünschte ich, ich wäre nie geboren.“ In Jamies Augen standen Tränen. Da ging die Türe auf und Alice trat ein. Ihre Wangen leicht rosa angehaucht, ein träumerisches Lächeln auf den Lippen. Sie ging auf das Bett neben Jamie zu, als wüsste sie schon, dass es ihres war, schob die Bettdecke zur Seite, kroch darunter, seufzte leise und dann hörte man nur noch ihr sanftes Atmen, zu dessen Rhythmus sich die Bettdecke hob und senkte. Jamie sah zu ihr, dann zu Nana und flüsterte leise: „Sie und Peter, oder?“ Nana grinste und nickte und kuschelte sich dann wieder unter ihre dicke Daunendecke. Auch Jamie ging nun zu ihrem Bett zurück und schlief bald darauf ein. Die anderen Mädchen trödelten dann auch Eine nach der Anderen ein, und noch bevor der Zeiger der Uhr auf Elf stand, war im Schlafzimmer der Mädchen alles eingeschlafen.

 

Bei den Jungs ging es etwas hektischer zu. Nicht alle wollten das ihnen zugewiesene Bett haben und so entstand bald ein wilder Hahnenkampf um eines der Betten, das scheinbar alle haben wollten. Alle außer Leon. Der lag schon auf seinem Bett, hatte eine Zigarette im Mund und spielte mit seinem silbernen Feuerzeug, dass er einmal von einem Juwelier hatte mitgehen lassen. Erst nach und nach wurden die anderen Jungen auf den Rauch aufmerksam und der kleine rundliche Junge mit der furchtbaren Akne, der sich den Anderen als Neil Andersson vorgestellt hatte, bekam Panik und wollte schon den Feueralarm auslösen. Da stand Leon ruhig von seinem Bett auf, ging zu Neil, packte ihn an seinem Kragen und raunte ihm in sein Ohr: „Ganz ruhig, Fetti. Ist nur ne harmlose Fluppe. Du gehst jetzt schön brav zu deinem Bett zurück und machst Heia, anders kann ich für nichts garantieren. Wenn du verstehst was ich meine.“ Neils Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, er nickte hektisch und als Leon ihn endlich losließ, stolperte er zu seinem Bett und kroch zitternd unter seine Decke. Leon zog an seiner Zigarette und blies den Rauch direkt in das Gesicht des kleinen blonden Jungen, der zu seinem Pech direkt hinter Neil gestanden hatte. Jetzt stand der Kleine völlig bedröppelt da und schien überhaupt nicht mehr zu wissen, was er eigentlich im Begriff gewesen war, zu tun. Leon beugte sich zu ihm herunter. „Buh“, flüsterte er und der Kleine verschwand mit einem ähnlich chaotischen Abgang, wie auch Neil vor ihm. Dann ging Leon langsam zu seinem Bett zurück und legte sich darauf. Er nahm die Zigarette aus seinem Mund und drückte sie am hölzernen Bettende des Bettes aus. Es zischte leise, Leon verstärkte den Druck, das Holz kokelte an und als Leon die Zigarette losließ, hatte sie ein daumengroßes Brandloch im Holz hinterlassen. Peter hatte das alles mitgekriegt und dachte nur bei sich: „Was für ein Arsch.“ Aber natürlich sagte er das nicht laut. Er zog seinen Pullover über seine Schultern und legte sich in sein Bett. Noch lange Zeit lag er wach und konnte nicht schlafen. Die Luft im Raum war stickig und verbraucht, aber niemand traute sich, eines der Fenster zu öffnen, vielleicht schliefen sie aber auch einfach nur schon. Peter drehte sich zur Seite und schlief schließlich doch ein.

 

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Der nächste Morgen begann mit einem ausgiebigen Frühstück, das, nach dem Gelächter und der Lautstärke zu schließen, einige in Vergessenheit hatte geraten lassen, warum sie überhaupt hier waren. Doch Doktor Whineheimer akzeptierte kein langwieriges Vergessen. Er räusperte sich und stand auf. Sofort trat an der Tafel absolute Stille ein. Doktor Whineheimer begann zu reden: „Guten Morgen, alle miteinander. Heute beginnen wir mit unserer Herausforderung, euch euren Fähigkeiten näher zu bringen und ich hoffe, am Ende eurer Ausbildung, werdet ihr euch eurer enormen Verantwortung bewusst sein. Ich werde euch nun in drei Gruppen teilen. Jede dieser drei Gruppen wird einem anderen Mentor folgen und wir werden uns zum Mittagessen wieder hier treffen.“ Dann rief er einzeln Namen aus und formierte so die drei Gruppen. Nana war in einer Gruppe mit Neil Andersson und Peter Brice. Enttäuscht schaute sie zu Jamie, welche auch aussah, als wäre sie lieber mit ihr, als mit Alice Jillen und Leon Farber in einer Gruppe. Alice sah Nana böse an. Nana dachte nur: „Meine Güte, ich werd dir Peter schon nicht wegschnappen.“ Und dann gingen die Gruppen auch schon getrennte Wege. Jamie schloss schnell zu Alice auf und meinte: „Hey, ich bin Jamie Kenny, und du?“ „Alice Jillen. Kennen wir uns?“ entgegnete Alice. „Nein, nicht wirklich, aber ich muss dir sagen, ich bewundere dich.“ sagte Jamie in einer unglaublichen Geschwindigkeit. „Warum bitteschön bewunderst du mich?“ fragte Alice und musste lachen. „Naja, wir sind gerade mal den ersten Tag hier, und du hast schon einen Typen an der Angel. Ich kann in zwei Wochen Kirchencamp nicht einmal ein richtiges Gespräch mit einem männlichen Wesen verbuchen.“ plapperte Jamie und sah mit beinah vergötternder Miene zu Alice auf. Alice war die ganze Sache etwas unangenehm, aber sie genoss es auch ein wenig, im Mittelpunkt zu stehen. „Also, pass auf. Ich werde versuchen, dir zu erklären, wie du am besten an die Sache rangehst…“ Und so starteten die beiden Mädchen ein angeregtes Gespräch über Flirttricks, während Professor Brandon einen schier unendlichen Monolog über die Gefahren des „Gestaltenwandelns“ hielt. Am Ende der Stunde hatte niemand auch nur den leisesten Anschein einer Ahnung, wie man seine Gestalt richtig verändert, doch das war auch nicht schlimm, schließlich war bei einer Gruppe von sechs die Chance auf auch nur einen Gestaltenwandler mehr als nur gering. Deshalb war Professor Brandon sichtlich zufrieden mit seiner Arbeit mit der ersten Gruppe. Nach und nach verließen die Schüler den Unterrichtsraum. Jamie und Alice noch immer in ihr Gespräch vertieft und auch der Rest der Gruppe sichtlich ausgelassen. Professor Brandon sammelte seine Bücher zusammen und war schon im Begriff zum Mittagessen zu gehen, als er aufgehalten wurde. „Professor, ich glaube ich weiß, was meine Fähigkeit ist.“ hörte er eine Stimme aus einer Ecke nahe der Tür sagen, und schon trat ein schlanker dunkelhaariger Junge an ihn heran.

Peter setzte sich neben Nana, die sich neben Neil gesetzt hatte, da sie gemerkt hatte, dass Neil nicht wirklich Freunde hatte und Nana schon immer eine sehr hilfsbereite Person gewesen war, die immer wollte, dass es möglichst allen gut ging. Und als sie Neil da so verloren in seiner Ecke sitzen sah, gab sie sich einen Ruck, setzte sich neben ihn und sprach ihn an: „Hey Neil. Neil stimmt doch, oder?“ Neil nickte, sagte aber nichts. „Ich bin Nana Crystal. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich neben dich setzte?“ Neil schüttelte seinen Kopf, blieb aber weiterhin stumm. Peter rutschte also rechts neben Nana, hielt ihr seine Hand hin und sagte: „Ich bin Peter Brice, ist der Platz hier noch frei?“ Nana schüttelte seine Hand. „Nana Crystal und ja, der Platz ist noch frei.“ Als die Türe aufging und Professor Hosb herein trat wurde es mit einem Schlag still. Das einzige, das man hörte, war das Rascheln ihrer Robe, die über den Boden schleifte. Dann begann sie zu reden: „Meine Fähigkeit, das Wetter zu beeinflussen, ist selten, schwer zu erlernen und noch schwerer zu beherrschen, vor allem aber ist sie nicht sonderlich beliebt in der Gesellschaft. So werden wir Aeroclyphen von den Menschen ohne Fähigkeiten herablassend „Wetterhexen“ genannt. Die Leute haben Angst vor uns, obwohl sie immer versuchen alles Überirdische, Unerklärliche zu verdrängen. Dabei gibt es nicht nur weibliche Aeroclyphen, was den Ausdruck „Wetterhexen“ gleich wieder ins Lächerliche zieht, und doch kann man als Aeroclyphe oder Aeroclyph nicht vorsichtig genug sein. Nur aus Spaß das Wetter zu verändern ist strengstens verboten, und wer es doch tut, kann mit ernsthaften Maßnahmen rechnen, die sogar bis zu einer Anhörung vor dem höchsten Gericht führen können.“ Ein zierliches Mädchen in der hintersten Reihe flüsterte angeregt mit einem anderen und als Professor Hosb das mitbekam, fragte sie sofort: „Wollen die Damen sich den anderen vielleicht mitteilen?“ Das zierliche, rothaarige Mädchen piepste mit nervöser Stimme: „Ist das, was wir hier lernen also wirklich Zauberei? Sind wir Hexen und Zauberer?“ Professor Hosbs Augen wurden groß wie Tischtennisbälle, dann fing sie an zu lachen. „Hexen und Zauberer? Also meine Liebe, ich denke doch, wir alle hier im Raum sind uns einig, dass es Hexen und Zauberer nicht gibt. Hexerei, Zauberei, sind beides Ausdrücke, die im Mittelalter entstanden, um Leute auf den Scheiterhaufen zu bringen. Ja, auch dort gab es schon Aeroclyphen und auch Gestaltwandler, und auch die, die so wie Doktor Whineheimer die Gedanken anderer Menschen mitverfolgen und nach Belieben ändern können. Im Volksmund auch als „Hellseher“ bekannt. Diese drei Typen Menschen wurden auf das übelste verfolgt, man hatte Angst vor ihnen. Natürlich wurden letztendlich nur harmlose Menschen verbrannt, denn die Elite arbeitete schon damals eng zusammen und so wurde nie auch nur ein Mitglied der Elite tatsächlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt, oder verendete in der Eisernen Jungfrau.“ Das rothaarige Mädchen wurde rot, nuschelte etwas und verstummte schließlich ganz. Professor Hosb schob ihre Brille zurecht und meinte dann lachend: „So, dann werden wir doch mal sehen, wer von euch das Zeug zur „Wetterhexe“ hat.“

Doktor Whineheimer sah seine Gruppe Schüler genau an und sagte dann: „Fangen wir mit etwas ganz einfachem an. Einer Taktik, mit der man ziemlich schnell herausfinden kann, ob es unter euch Sensoren gibt.“ Einige Schüler mussten bei dem Wort „Sensoren“ laut lachen, Doktor Whineheimers Blick brachte sie jedoch ziemlich schnell zum Schweigen. „Ich möchte dass sie nun alle aufstehen und mit geschlossenen Augen, schweigend, durch den Raum gehen. Und zwar langsam, gemächlich.“ So standen die Schüler also auf, und fingen an, sich wie Schlafwandler im Raum zu bewegen. Hätte jemand in diesem Moment durch das hohe Fenster geschaut, er hätte wahrscheinlich gedacht, er hätte Halluzinationen. Dann hallte Doktor Whineheimers Stimme durch den Raum. „Ist irgendjemandem von ihnen aufgefallen, dass es trotz Schweigen nicht still ist hier im Raum? Und ich rede jetzt nicht von Vogelgezwitscher oder ähnlichem.“ Ein schlaksiges Mädchen streckte zitternd ihren Zeigefinger in die Höhe und ein rundlicher Junge tat es ihr nach. Doktor Whineheimer raunte: „Gut, sehr, sehr gut. Gleich zwei in einer Gruppe.“ Dann lächelte er und sagte: „Sie können ihre Augen jetzt wieder öffnen und ihre Sachen packen. Dann werden wir gemeinsam zum Mittagessen gehen.“

Das Mittagessen fand wieder in dem großen, weitläufigen Saal statt. Die Stimmung war ausgelassen und es herrschte ein großer Lärm. Auf den Tischen standen Körbe mit frischem Brot und in großen Schüsseln dampften verschiedene Eintöpfe. Es gab Nudeln mit Oregano-Sahne-Sauce und Parmesan. Nana aß mit Bedacht und musterte die Runde. Es war seltsam, dass sie hier saßen und aßen und lachten und eigentlich dazu ausgebildet werden sollten, die Welt vor einem Wahnsinnigen zu beschützen, der in seinem stillen Kämmerlein eine Kampf-Elite formierte. Wie hatte es so weit kommen können? Wieso hatte niemand gemerkt, dass er vom rechten Weg abkam? Nana wusste die Antwort nicht, doch der Gedanke an diesen Mann ließ ihr eiskalte Schauer über den Rücken jagen. Sie bemerkte nicht, dass der Junge neben ihr sie seit Minuten ununterbrochen und durchdringend ansah. Leon konnte die Augen nicht von dem Mädchen wenden. Sie war total durchschnittlich. Nichts an ihr war auch nur auf irgendeine Art besonders und doch übte sie eine unglaubliche Anziehungskraft auf ihn aus, die er sich einfach nicht erklären konnte. Die Art und Weise, wie sie sich die einzelne Locke immer und immer wieder aus dem Gesicht pustete, die dauernd dorthin zurückrutschte, ihre wachsamen Augen, die scheinbar jeden im Raum zu durchleuchten schienen und ihre immens langen Wimpern ließen sein Herz in einem beunruhigenden Rhythmus schlagen. Leons Fingerspitzen bebten, als er sie in Richtung des Mädchens schob. Peter und Alice saßen direkt nebeneinander. Alice hatte ihre Knie über Peters Beine geknickt und säuselte ihm Dinge ins Ohr, die ihn erröten ließen. Er spielte an ihren Haaren und hielt sie fest an sich gedrückt. Für die beiden war die Welt um sie herum nur ein Wirbel aus bunten Farben, in dessen Mitte sie saßen. Unbeeindruckt vom Sturm draußen, in ihrer eigenen kleinen Luftblase, aufgefüllt mit knisternder Liebe. Jamie hatte ein leises Tischgebet gemurmelt und dann ein wenig schüchtern von dem großartigen Gemüseeintopf gekostet, der direkt vor ihr stand. Wer immer hier der Chefkoch war, er war ein Genie! Als sie ihre Mahlzeit beendet hatte, ließ sie sich durch den Kopf gehen, was Professor Brandon über das ‚Gestaltwandeln‘ erzählt hatte. Sie nahm einen Notizblock hervor und schrieb sich alles auf, an das sie sich noch erinnern konnte. Dann schaute sie zu Alice, die fast auf Peters Schoß saß und eine Welle von Neid durchzuckte sie. Nana bemerkte, dass etwas sie am Bein streifte und schaute hinunter. Ein Finger… gehörend zur Hand dieses unverschämten Typen, der im Bus neben ihr gesessen hatte und sie dauernd ‚Puppe‘ nannte! Sie starrte ihm in seine grünen Augen, wütend und gleichzeitig auch überrascht und verlegen. „Geht‘s noch?!“ presste sie dann aus ihren Lippen hervor und stieß seine Hand von ihrem Oberschenkel weg. Er sah sie nur an und ein Grinsen huschte über seine Lippen. „Na, Puppe. Kennst du mich noch?“ Nana holte empört Luft und wollte schon etwas wegen ‚sexueller Belästigung‘ sagen, doch im letzten Moment schluckte sie die Worte hinunter. Wahrscheinlich sah sie ganz schön dumm aus, wie sie so dasaß, mit vor Anstrengung rotem Kopf, und einem halb geöffneten Mund, der nach Luft schnappend die richtigen Worte suchte. Doch der Junge lachte nur leise und meinte dann: „Ich bin übrigens Leon. Und wie heißt du?“ Nana seufzte und sagte dann: „Ich bin Nana. Nana Crystall.“ „Du warst im Kurs von dieser Frau, oder?“ wollte Leon wissen. Nana nickte und antwortete: „Ja, es war wirklich interessant, aber ich wüsste nicht, dass ich die Fähigkeit besitze, das Wetter zu verändern.“ Nana runzelte die Stirn und stocherte nachdenklich in ihren Nudeln. Leon lachte wieder und zwinkerte ihr zu: „Wär' doch nett. Dann könntest du dafür sorgen, dass um uns rum immer Sonne wäre und ich würde dich schnappen, dich auf mein Motorrad setzen und mit dir in die Berge fahren.“ Nanas Haare auf den Armen stellten sich ein wenig auf, als Leon wieder lachte. Es war dieses Lachen, dass in ihrem Kopf nachhallte, süß wie Bienenhonig. Nana schüttelte ihren Lockenkopf und versuchte, nicht daran zu denken, wie sie, eng an Leon gepresst, auf dessen Motorrad saß. Eigentlich kannte sie ihn ja doch gar nicht! Und leiden konnte sie ihn erst recht nicht. Doch während sie kurz noch mal zu ihm rüber schaute, machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer und sein Lachen klingelte noch immer in ihrem Kopf nach.

 

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Als das Mittagessen beendet war, hatten die Schüler zwei freie Stunden. Einige erkundeten das Gelände, andere zogen sich in die Turmzimmer zurück, um zu lesen, oder ihr Gepäck zu verstauen. Auch Jamie gehörte zu der Gruppe, die die Treppen nach oben stieg. Sie hatte ihren Kopf in eine kleine Bibel für die Handtasche vergraben und las. Allerdings hielt sie damit den gesamten Verkehr auf der Haupttreppe auf und viele Schüler murrten. Jamie bemerkte das jedoch gar nicht und ging nur langsam weiter. „Wie kann sie überhaupt die Treppenstufen treffen?“ zischte ein Mädchen direkt hinter ihr. Jamie lies sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen und ignorierte die gemeinen Bemerkungen, die jetzt hinter ihrem Rücken gegen sie geschossen wurden. Als sie endlich im Turmzimmer angekommen war, setzte sie sich vor den Kamin und las weiter. Doch nachdem sich das Turmzimmer geleert hatte, und sie alleine dort zurückblieb, legte sie die Bibel neben sich und weinte stille Tränen, die niemand bemerkte.

Peter und Alice waren an den Teich gegangen, der jede Menge schillernder Keus enthielt. Dort ließen sie sich nieder und fingen an, sich zu küssen. Nana, die hinter ihnen gegangen war und nun in Richtung der großen Liegewiese weiterging, murmelte leise: „Nehmt euch ein Zimmer.“ Doch weder Alice noch Peter hörten das. In ihrer frischen Verliebtheit blendeten sie die Welt um sie herum komplett aus. Nana ging langsam weiter und sah sich auf ihrem Weg auf dem Gelände um. Es war riesig, beherbergte zwei Fußballplätze, einen Tennisplatz, einen Swimming- und einen Whirlpool, einen Wald und einen Teich mit Zierfischen. Und in der Mitte all dessen war der große, gepflegte Rasen, auf dem sich schon einige andere Schüler niedergelassen hatten. Hier legte Nana sich bauchwärts ins Gras, schloss die Augen und genoss die Sonne, die ihre nackten Füße kitzelte.

Leon stand am Waldrand, einen Fuß an eine alte Eiche gestützt und hatte sich eine Zigarette angezündet. Sein Blick schweifte über das Gelände, auf der Suche nach Nanas dunklen Locken. Endlich sah er sie. Sie lag auf der Liegewiese und schien zu schlafen. Leon zog zweimal tief an seiner Zigarette, schob sich einen Kaugummi zwischen die Zähne, drückte die Zigarette an der Eiche aus und lies den Stummel achtlos ins Gras fallen. Dann machte er sich zielstrebig auf den Weg zu Nana. Als er sie erreichte, setzte er sich neben sie und sah sie lange an. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Also pflückte er einen Grashalm und begann, sie an ihren Füßen zu kitzeln. Nana musste kichern, als das Gras ihre Füße berührte, doch sie öffnete ihre Augen nicht. Dann seufzte sie, drehte sich auf den Rücken und streckte die Arme über ihrem Kopf aus. Leon lies den Grashalm fallen und beugte sich über Nana. Während er ihr immer näher kam, sog er ihren Duft ein. Sie roch nach Tulpen und Minze. Leon schloss die Augen und presste seine Lippen auf ihre.

Entsetzt fuhr Nana hoch und knallte mit der Stirn gegen Leons Nase. „Au!“ rief der und rieb sich die Nase. Nanas Augen waren vor Schreck geweitet, als sie erkannte, wer sie da geküsst hatte. „Du bist ganz schön temperamentvoll, Nana Crystall.“ sagte Leon und lachte. Nana lief wieder rot an, erhob sich dann und lief schnell davon. Sie schaute nicht zurück, lief einfach immer weiter und wusste nicht, wieso ihr Herz so heftig schlug und zu Leon zurück wollte,  obwohl sie diesen eingebildeten Trottel doch eigentlich nur verabscheute.

Als die beiden freien Stunden beendet waren, fanden sich wieder alle Schüler in der Halle ein und warteten auf weitere Anweisungen. Doktor Whineheimer kam und teilte sie erneut in Gruppen ein, die wieder ihm, Professor Brandon und Professor Hosb folgen sollten. Nana war erleichtert, als sie sah, dass Leon nicht in ihrer Gruppe war. Doch die Freude sollte nicht lange währen. Leon trat zu Doktor Whineheimer vor und fragte ihn doch tatsächlich, ob er mit Peter Brice die Gruppen tauschen konnte! Nana wurde vor Entsetzen ganz bleich, als sie merkte, dass das bedeutete, dass Leon ab jetzt in ihrer Gruppe war. Peter war mit diesem Tausch natürlich sofort einverstanden, denn er wollte nur zu gern in einer Gruppe mit seiner Freundin sein. Als Doktor Whineheimer dem Tausch zustimmte, hob Nana ihre Stimme: „Aber Doktor…“ begann sie. „Ja, Miss Crystall? Was ist los?“ Nana senkte beschämt den Kopf und unterbrach ihren Protest. „Nichts…“ „Nun denn, lasst die Reise weitergehen!“ Und mit diesen Worten marschierte Doktor Whineheimer mit seiner neuen Gruppe los, gefolgt von Professor Hosb und Professor Brandon, in dessen Gruppe Nana und Leon nun waren. Nana begab sich zu Neil, neben dem sie auch schon in der vorigen Stunde gesessen hatte und hoffte, Leon würde sie nun in Ruhe lassen. Doch das Gegenteil war der Fall. Leon schloss zügig zu Neil und Nana auf, beugte sich dann über Neils Schulter und flüsterte leise: „Buh!“ In Panik stürzte Neil davon. Nana konnte sich nicht erklären, wieso Neil sich von einem einfachen ‚Buh‘ so erschrecken lies, doch viel schlimmer fand sie, dass Leon nun neben ihr ging. Sie starrte demonstrativ geradeaus, doch es schien, als würde Leon sie umso mehr bedrängen, je mehr sie versuchte, Abstand zu gewinnen. So schob er seine Hand in ihre hintere Hosentasche und pustete ihr die Strähne aus dem Gesicht, die immer wieder dorthin zurückfiel, egal was Nana tat. Dann flüsterte er ihr ein leises: „Na, Puppe“ in ihr rechtes Ohr. Nana befreite sich von Leons Arm und zischte: „Ich bin nicht deine Puppe, hast du das jetzt endlich kapiert?!“ Leon lachte sein leises, honigsüßes Lachen und sagte: „Wieso wehrst du dich so dagegen? Du willst mich doch Nana, das spüre ich.“ In diesem Moment drehte sich Professor Brandon um und rief: „Nun ist bitte Ruhe dahinten, dann können wir beginnen.“ Einige Stühle wurden zurechtgerückt und die Schüler nahmen Platz. Leon setzte sich wie selbstverständlich neben Nana und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Nana verzweifelte so langsam. Was sollte sie nur tun? Jede Berührung von Leon, ließ ihr Schauer über den Körper jagen, ließ sie sich nach mehr sehnen. Auf der anderen Seite wollte sie weg von ihm und seinen blöden Bemerkungen und hasste seine machomäßige Art, hasste es, wenn er sie ‚Puppe‘ nannte und sie behandelte, wie sein Eigentum. Doch nun begann der Unterricht und die Studenten mussten sich wieder konzentrieren. Professor Brandon spulte seine Geschichte über das Gestaltwandeln hinunter und einige zogen ihre Hefte heraus und schrieben alles auf. Während Nana angestrengt versuchte, sich auf Professor Brandons Geschichte zu konzentrieren, interessierte Leon sich einzig und alleine für sie und ließ auch nicht eine Sekunde von ihr ab. Seine Hände wanderten über ihren gesamten Körper und er lachte immer wieder leise, wenn er sah, wie sich ihre Armhaare aufstellten. „Würdest du endlich aufhören, mich zu befummeln und lieber mal zuhören?!“ Nana starrte Leon böse an. Der lachte nur wieder und meinte dann: „Ich war vorher schon in dieser Gruppe. Ich weiß, was meine Fähigkeit ist.“ Und er zwinkerte wieder mit seinen smaragdgrünen Augen. Nanas Kiefer klappte auf und sie flüsterte: „Du kannst deine Gestalt ändern? Weißt du schon, was für ein Tier du dann wirst?“ Leon war befriedigt. Endlich hatte er ihre volle Aufmerksamkeit. „Ein Wolf.“ sagte er dann gelassen. „Wow…“ Nana schien beeindruckt. Leon grinste und sagte leise: „Ein wilder Wolf.“

[...]

Fortsetzung folgt!

 

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Tag der Veröffentlichung: 26.01.2017

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