Eiskalte Jäger
„Eines Tages werden sie verstehen, dass wir nicht jagen, um Freude zu empfinden. Wir jagen nicht für Befriedigung oder Spaß. Wir jagen für Rache – und wir kriegen sie – immer.“
Amy lag in ihrem Bett. Doktor Laid hatte schon vor zwei Stunden das Licht ausgeschaltet, doch Amy war hellwach. Ihre Ohren waren gespitzt und ihre Augen weit aufgerissen. Sie huschten von einer Ecke des Zimmers zur anderen und schlossen sich nicht einmal, um kurz zu zwinkern. Stille Tränen rannen über ihre Wangen und sickerten in ihr steril weißes Kopfkissen. Doch es waren keine Tränen der Trauer oder Wut. Amy weinte, weil ihre Augen brannten. Aber sie durfte sie nicht schließen, nicht eine Sekunde lang, denn sie wartete auf Chase und die anderen.
Als sich die Türe öffnete, glitt Amy aus ihrem Bett und lief Barfuß zur Tür. „Ihr habt verdammt lang gebraucht!“ raunte sie, während sie das weiße Hemd über ihren Kopf zog.
„Tut mir leid, Ames, aber Laid stand noch ewig vor der Tür und hat mit einer Schwester diskutiert. Wir klettern bei dir durchs Fenster.“ flüsterte Chase zurück. Amy nickte kurz und verstaute das Hemd in ihrer schwarzen Tasche, die um ihre Hüften befestigt war. Sie trug einen hautengen schwarzen Lederanzug, der bis zum Hals reichte und schwarze Springerstiefel. Ihre Haare waren streng zurückgebunden, so wie auch die der anderen Mädchen. Chase lief bereits quer durch den Raum und öffnete das Zimmerfenster. Er winkte den Mädchen zu und eine nach der anderen zog eine schwarze Strumpfmaske aus dem Hüftbeutel, zog sie sich über und verschwand aus dem Fenster der Psychiatrischen Klinik in der Mainstreet.
Der junge Mann saß vor seinem Laptop und massierte seine Schläfen. Es war bereits kurz vor Mitternacht und er musste seine Hausarbeit noch am nächsten Tag abgeben. Sein Professor verstand keinen Spaß mit seinen Studenten, denn das Studium der Medizin war ein ernstzunehmendes und keines, bei dem lange Partys am Wochenende drin waren.
Der junge Mann hob sein Wasserglas an die Lippen und lehnte sich seufzend zurück. Er merkte nicht, dass sich sein Fenster öffnete, merkte nicht, wie fünf Schatten sich auf ihn zubewegten und merkte nicht einmal, wie sich diese um ihn gruppierten. Doch dann wurde eine Hand auf seinen Mund gepresst und eine weibliche Stimme zischte in sein Ohr: „Hallo Steve.“
Vor Schreck weiteten sich Steves Augen auf das Doppelte ihrer Größe, er wollte schreien, doch die Hand vor seinem Mund hinderte ihn.
Instinktiv biss er hinein, doch er hörte nur ein leises, spöttisches Lachen und die Stimme sagte: „Ach Steve, glaubst du deine Beißerchen können meinen Lederhandschuhen etwas anhaben?“ Bestätigendes Lachen erfüllte Steves Zimmer und er blickte panisch um sich.
Er konnte vier weitere Personen ausmachen, doch sie alle waren schwarz gekleidet und hatten vermummte Köpfe, so dass er ihre Gesichter nicht erkennen konnte. „Na, wie fühlt sich das an, Steve. Wenn man in der Gewalt eines anderen ist und sich nicht wehren kann? Wie fühlt sich das für dich an?“ Steve wusste, er kannte diese Stimme irgendwoher, doch er konnte sich nicht erklären wo er sie schon einmal vernommen hatte. „Soll ich dir zeigen, wie es sich anfühlt, Schmerzen zu haben, solche Schmerzen, dass man sich nur noch den Tod wünscht? Dass man darum bettelt, wie ein Hund nach einem Stück Fleisch?“ Und plötzlich wusste Steve, woher er diese Stimme kannte…
Fünf Jahre zuvor:
Das Mädchen lag auf seinem Bett. Die Augen vom Weinen rot und verquollen, das Make-Up verwischt. Sie zitterte am ganzen Körper und schluchzte. „Bitte…“ wimmerte sie. „Bitte, bitte tu mir nicht weh…bitte…“ Er schnaubte nur und riss ihre Bluse auf. Sie fing noch lauter an zu weinen und zu schreien. „Halt die Klappe!“ rief er und schlug ihr direkt in ihr Gesicht. Aus ihrer Nase floss das Blut und tropfte auf seine Bettdecke. Sie wimmerte. Er lief durch den Raum… Er wusste, irgendwo hier musste noch ein Taschentuch liegen… und Klebeband würde sich sicher in der Werkstatt des Vaters finden.
„Wenn du dich von der Stelle bewegst, dann wirst du das bereuen, hast du kapiert?“ zischte er in ihr Ohr. Er wusste nicht, ob das Zucken ihres Kopfes ein Nicken bedeutete, oder ob sie nur Angst vor neuen Schlägen hatte, doch es war ihm egal. Mit schnellen Schritten lief er durch das Zimmer und stieß die Tür auf. Licht strömte in vom Flur hinein und gab noch einmal den Blick auf das Mädchen frei. Selbst in dem erbärmlichen Zustand, in dem sie sich momentan befand, war sie noch unglaublich schön und attraktiv, was das Blut schneller durch seinen Körper pumpte. Ihre dunklen Locken waren von Tränen, Rotz und Blut verklebt, das Gesicht verquollen und voller schwarzer Striemen, doch ihre Bluse stand nun bis zum Bauchnabel offen und entblößte ihren schwarzen BH, der Rock war bis zum Höschen hochgerutscht, ihre Füße steckten noch in den schwarzen Lackschuhen der Schuluniform. Er schenkte ihr noch einen letzten, warnenden Blick und war dann aus der Tür verschwunden.
„Und? Kommt es dir wieder in den Sinn, Steve? Die Nacht vor fünf Jahren?“ Steve wollte antworten, doch konnte er es nicht. Er wollte sich erklären, wollte dem Mädchen irgendetwas sagen. Was – das war ihm in dem Moment egal, doch sie schien es auch nicht hören zu wollen. Dann merkte er nur noch, wie sein Körper von dem Stuhl gehievt wurde, spürte einen harten Schlag ins Gesicht und verlor das Bewusstsein.
Als Steve wieder erwachte, pochte sein Kopf schmerzhaft. Er blickte um sich, doch alles was er erkennen konnte, war weißes, gleißendes Licht. Steve blinzelte, doch das Licht wurde nicht schwächer. Vorsichtig tastete er mit seiner Hand an der Wand entlang, an welche er angelehnt saß. Er stand auf und zählte die Schritte, die er tat, bis er mit dem Fuß an der nächsten Wand anstieß. Er konnte vier Schritte tätigen. Von dieser Wand zur nächsten waren es wieder vier. Vier mal vier Meter maß der Raum also. Das war winzig! Und wo kam dieses verdammte Licht her? Dann vernahm er eine dröhnende männliche Stimme, die laut und durchdringend durch einen Lautsprecher knarrte. „Du fragst dich wahrscheinlich, warum du hier bist, Steve. Ganz einfach, nach all diesen Jahren wirst du endlich deine gerechte Strafe bekommen. Ein wenig musst du dich allerdings noch gedulden, denn es gibt noch mehr, die sich an Unschuldigen vergriffen haben, um ihre gestörten Triebe zu befriedigen… die wegen euch ein Leben lang leiden müssen, während ihr euer Leben weiter lebt, als wäre nie etwas gewesen. Aber das hat jetzt ein Ende, Steve. Nicht mehr lang, und du wirst für all das büßen, was du ihr angetan hast.“ Der Lautsprecher knarzte ein letztes Mal, dann war es wieder totenstill.
Als Amy am nächsten Mittag in die Kantine kam, warteten Chase, Eleonore, Samantha und Katy bereits auf sie. Sie schob ihr Tablett an ihren Platz und begann lustlos in ihren Maccheroni mit Käsesauce herumzustochern. „Der Fraß hier wird auch immer schlimmer!“ murrte Chase, die Augen auf Amy. Amy seufzte. „Ja, das auch…“ Katy wurde aufmerksam: „Was ist los, Ames?“ „Ach, keine Ahnung“, begann Amy und Eleonore unterbrach sie: „Du hast doch nicht etwa Schuldgefühle wegen diesem Arschloch, Steve?“ „Nein, natürlich nicht!“ empörte Amy sich und starrte sie böse an. Eleonore sah ebenfalls abwesend aus, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Sie hatte dunkle Augenringe und ihr Haar war wirr und ungepflegt. „Ich habe einfach schlecht geschlafen“ schloss Amy dann und legte Eleonore eine Hand auf die Schulter: „Eli, was ist mit dir?“ Eleonore zuckte unter Amys Berührung, sagte jedoch kein Wort. Sie war erst vor etwa drei Monaten in die Klinik gekommen und war noch sehr verschüchtert. Die anderen wussten noch nicht, was genau ihr passiert war, doch da sie zu ihrer Gesprächstherapie Gruppe gehörte, war klar, dass auch sie Opfer einer- oder mehrerer- Vergewaltigungen geworden war.
Am selben Abend suchten sie Samanthas Peiniger heim und verfuhren schnell und präzise, auf dieselbe Art und Weise, wie am Abend zuvor bei Steve. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie alle versammelt waren, in dem alten Lagerhaus, mitten im Wald, abgeschottet von aller Bevölkerung. Doch sie mussten die nächsten Aktionen immer öfter verschieben. Immer wieder wurden sie kurz vor Verlassen des Gebäudes von Ärzten oder Schwestern überrascht und mussten sich so schnell es ging wieder zurück in ihre Betten begeben. Die Laune in der Gruppe wurde zunehmend schlechter, nur Eleonore schien sich zu entspannen und konnte am Ende der Woche sogar wieder zaghaft lächeln. Das blieb den anderen natürlich nicht verborgen und irgendwann rief Chase alle zusammen. Sie saßen im Gemeinschaftsraum, in dem normalerweise die Gesprächstherapie stattfand. Chase’ Stimme war ruhig, als er Eleonore ansah und sie fragte: „Eli, hast du etwas damit zu tun, dass unsere Aktionen in letzter Zeit immer häufiger unterbrochen werden?“ Eleonore zuckte wieder, wie von einer unsichtbaren Peitsche getroffen und schüttelte hektisch ihren Kopf. Ihre roten Ringellocken schlackerten energisch um ihr Gesicht. Sie begann sich an den Unterarmen zu kratzen, durch den dicken grauen Baumwollpulli hindurch, der lose an ihren Schultern herunterhing. „Eli, du kannst es mir sagen. Du kannst es uns sagen, niemand wird hier sauer sein oder dich verurteilen. Aber wir wollen ehrlich miteinander umgehen und wir verfolgen doch alle dasselbe Ziel. Wir wollen doch alle, dass diese Monster endlich dafür büßen, was sie getan haben. Aber wir brauchen deine Hilfe, Eleonore.“ Endlich blickte Eleonore auf. Ihre Augen waren rot. „Ihr habt mich ja nicht mal richtig gefragt, ob ich bei euren Aktionen mitmachen will. Ihr habt es einfach so angenommen, mich in diesen Anzug gezwängt und mitgeschleift. Ich bin hier, um zu lernen, damit umzugehen, was passiert ist. Was hab ich schon von Rache? Glaubt ihr wirklich, dass es euch danach besser geht? Dass ihr die Therapie abbrechen und ein ganz normales Leben führen könnt? Dass ihr mit Freude und aus Liebe einen Menschen auf diese Art und Weise… dass ihr ES jemals wieder machen könnt?“ Eleonore weinte nicht, es schien, als hätte sie all ihre Tränen längst vergossen. „Du meinst, ob wir jemals mit einem Menschen schlafen können, weil wir ihn lieben? Ohne Angst? Ja, ich glaube, ich werde das irgendwann können. Ich habe nie behauptet, dass die Therapie dann überflüssig ist, wenn der Alptraum unserer schlaflosen Nächte beseitigt ist, doch wir werden endlich ohne Angst auf die Straße gehen können, ohne Verfolgungswahn und schlaflose Nächte. Zumindest ich glaube daran.“ Chase hatte die Stimme nicht eine Sekunde lang erhoben oder merklich verändert, doch Eleonore begann haltlos zu zittern und sagte dann: „Ich weiß, auf irgendeine Art und Weise haben wir alle dasselbe erlebt, aber… wie kann man sich an einem geliebten Menschen rächen? Einem Menschen, den man sein ganzes Leben lang kennt? Wie kann man seinen eigenen Vater umbringen?“
Es wurde totenstill im Raum. Keines der Mädchen sagte mehr ein Wort und auch Chase schwieg. Eleonore blickte von ihrem Schoß auf und sah von einem zum andern. „Kennen wir überhaupt die ganze Wahrheit über einander? Ich weiß, dass dieser Steve Amy vergewaltigt hat und der alte Mann in der Weststreet Samantha. Aber ich weiß nicht, warum, wie. Ich will euch kennen… mit eurer Vergangenheit und allem, was dazu gehört.“ Ihr Blick war unergründlich, doch nach und nach nickte jeder der Gruppe und sie beschlossen gemeinsam, außerhalb der Gesprächstherapie ihre unterschiedlichen- und doch gleichen- Vergangenheiten aufzuarbeiten.
So wurden die weiteren Entführungen in das Lagerhaus für unbestimmte Zeit unterbrochen. Alle zwei Tage ging eines der Gruppenmitglieder dorthin und versorgte die Gefangenen mit Wasser und Brot. Vermummt in den schwarzen Lederanzug und mit Handschuhen wurden dann den beiden Gefangenen eine Literflasche stilles Wasser und zwei Scheiben Brot in die kleine Kammer gebracht. Mit Elektroschocker und Pfefferspray bewaffnet, falls einer der beiden einen Fluchtversuch unternehmen sollte.
Humphrey Smith saß in seiner Zelle und zählte die Minuten. Jedes Mal, wenn er eine volle Stunde zusammen gezählt hatte, machte er mit seinem Kuli einen Strich auf die weiße Wand. So hatte er einen Überblick über die Zeit, in der er in der Zelle saß. Über zwei Wochen schon. Außer den Besuchen, bei denen es keine Erklärung, nur Brot und Wasser gab, und die nur alle zwei Tage stattfanden, passierte nichts. Und auch in dem kahlen weißen Raum gab es nichts. Kein Bett oder Klo. Nur eine Art modernen Nachttopf mit Deckel und eine raue Armeedecke, auf der er schlief. Er wusste, er wartete darauf, dass er für etwas bezahlte, das er vor vielen Jahren getan hatte und dessen er nie geahndet worden war. Der Vergewaltigung einer sieben Jährigen.
Die Truppe der Jäger fand sich in der Bibliothek ein. Es war ein Dienstag und der Himmel draußen hing voller schwarzer Gewitterwolken. Es war schwül. Chase blickte in ein kleines schwarzes Buch und machte sich Notizen. Irgendwann seufzte er und sagte: "Okay, wir haben inzwischen schon zehn Tage Verzug und ich sehe überhaupt nicht ein, mehr Geld als nötig in die Unterbringung dieser Monster zu investieren. Es wird wohl Zeit, dass ich euch meine Geschichte anvertraue. Es fällt mir verdammt schwer, das müsst ihr wissen, immerhin.. nunja, bin ich ein Mann und was mein Geschlecht angeht, werden Vergewaltigungen meist tot geschwiegen.. Trotzdem, ihr wart alle ehrlich, habt das von euch Preis gegeben, was euch am tiefsten verletzt und ich vertraue euch. Also gut. Wie ihr alle wisst, bin ich in einer streng gläubigen, römisch-katholischen Familie groß geworden. Von der Urgroßeltern Generation bis hin zu meiner, alle Erzkonservativ. Es war nicht immer einfach für mich und hat mich bei meinen Mitschülern zu einem totalen Aussenseiter werden lassen. Schließlich musste ich nicht nur jeden Sonntag in die Kirche, sondern auch noch der Jugendgruppe meiner Gemeinde, als auch dem Knabenchor angehören. Der Pfarrer meiner Kirche, Christopher Jameson, er war ein übler, ein ekelhafter Kerl - mit einer Vorliebe für kleine Jungs. Bei ihm zu beichten, war die Hölle. Erst recht, als ich in die Pubertät kam und begann, meinen Körper zu erfahren. Doch ich musste beichten, es führte kein Weg daran vorbei. Und während ich, stotternd und mit hochrotem Kopf berichtete, dass ich Nachts heimlich onanierte, holte sich Pfarrer Jameson in der Kabine neben mir einen runter."
Chase hielt inne und ließ das Erzählte auf die Mädchen wirken. Sie alle waren geschockt, und angewidert. Doch er spürte auch, dass keine ihn verurteilte. So fuhr er mit seiner Geschichte fort, die grauenhaft war. Wöchentliche Vergewaltigung durch den Pfarrer und Totschweigen durch die Familie, die Bescheid wusste. Chase hatte sieben Suizidversuche hinter sich und diese Spuren waren noch immer sichtbar. Für jeden.
[...] Fortsetzung folgt!
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2012
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