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„Sonst Bist Du Dran“
Prolog

Es war Mittwoch, es war frühmorgens, ich war müde und saß in die Sofaecke gekuschelt, einen heißen Kaffee in der Hand und in eine Wolldecke gewickelt. Mein Vater verabschiedete sich von mir und mahnte mich noch, ich solle meinen Termin bei der Therapeutin nicht vergessen. Ich murmelte nur, das sei ja gerade der Grund, warum ich um diese Uhrzeit schon wach sei, doch da war er schon aus der Tür. Zwanzig Minuten später erhob ich mich, brachte meine Kaffeetasse in die Küche, zog meine Schuhe und meine Jacke an und begab mich auf den Weg zum Bahnhof. Während ich lief, warf ich immer wieder nervöse Blicke über meine Schultern. Nur um danach zu denken: „Das ist doch lächerlich, stell dich nicht so an!“ Als ich endlich auf meinem Platz im Bus saß, der außer mir, einer alten Dame mit Strickzeug in den Händen und den Busfahrer komplett leer war, konnte ich mich endlich entspannen. Ich lehnte meinen Kopf an das Fenster und schlummerte ein. Geweckt wurde ich vom Busfahrer persönlich, der sagte: „ Endstation, meine Liebe. Wollen sie nicht aussteigen?“ Ich nickte nur verschlafen und stieg aus. Zu meiner Therapeutin war es nur ein paar Häuser weiter und als ich klingelte, öffnete sich die Türe sofort und sie bat mich mit einem freundlichen Lächeln herein. Ich bekam die zweite Tasse Kaffee des Tages vor mich hingestellt. Dann schloss meine Therapeutin die Tür und setzte sich mir gegenüber in den großen Ledersessel hinter ihrem Schreibtisch. „Nun, dann lass uns anfangen“, sagte sie mit einer sanften, ungewöhnlich tiefen Stimme und bat mich, meine Geschichte zu erzählen. Doch schon nach den ersten paar Sätzen durchbohrte mich ein Schmerz, so tief, so zerstörend, dass ich am liebsten aufgehört hätte. Meine Erinnerungen, die ich so sorgfältig im hintersten Winkel meines Kopfes vergraben hatte, kamen in Sturzbächen zurück. Doch die Therapeutin unterbrach mich nicht, und so musste ich weiterreden, ob ich nun wollte oder nicht.



-1-

Ich saß auf meinem Platz im Klassenzimmer. Um mich herum der übliche Trubel. Meine Mitschüler lachten und scherzten herum. Nur Manuel saß in seiner Ecke und starrte auf seine Beine. Seine Hände lagen fein säuberlich, fast parallel zueinander, auf seinen Knien. Da kam Lukas und schlug ihm von hinten hart auf die Schulter. „Na, Manu. Machst du wieder einen auf eigene Welt?“ Manuels Hände verkrampften sich, ich sah wie seine Fingerkuppen weiß wurden, doch er antwortete nicht. Er antwortete nie. Lukas zog Manuel an seinem Pullover von dessen Sitzplatz, stieß ihn gegen den Tisch und zischte ihm ins Ohr: „Antworte gefälligst, wenn ich mit dir rede!“ Doch Manuel schwieg. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Yanis, Peer, Marius, Filip und die anderen dazukamen und anfingen, Manuel wie einen Spielball hin und her zu schubsen. Ich sah wie der Rest der Klasse sich von der Szenerie abwandte und mit rot angehauchten Wangen entweder die Tafel oder die Tische anstarrte, als wären diese das Interessanteste der Welt. Auch ich kehrte meinen Rücken, doch in mir fasste ich einen Entschluss; Ich würde zu Herrn Franz gehen, ich würde ihm endlich sagen, was ich schon seit Wochen mit ansah.
Als es nach Schulschluss läutete und alle ihre Sachen einpackten und Einer nach dem Anderen ins sowieso schon überfüllte Treppenhaus rannte, blieb ich nervös an meinem Platz zurück. Nachdem auch der Letzte aus der Türe gegangen war, ging ich zum Lehrerpult und wartete, bis Herr Franz mir seine Aufmerksamkeit zuwandte. „Na Lina, willst du nicht auch nach Hause?“ Ich wollte schon anfangen zu stottern, doch da festigte sich meine Stimme und ich sagte: „Herr Franz, ich weiß, sie merken es nicht, aber Manuel wird gemobbt.“ Herr Franz schaute überrascht aus. „Ist das so?“ „Ja, das ist so.“ sagte ich. „Nun gut, ich werde das mal im Auge behalten“, antwortete Herr Franz und wollte schon gehen, als ich noch hinzufügte: „Bitte, sagen sie niemandem, woher sie diese Info haben…“ Dann packte ich meine Schultasche und ging noch vor meinem Lehrer aus der Tür.

In dieser Nacht schlief ich unruhig. Ob ich böse Vorahnungen hatte? Ob ich wusste, was mir blühen würde? Ich weiß es nicht. Ich denke, es war einfach eine Art … nennen wir es mal, Aufflackern des sechsten Sinnes, der, irgendwie, ja doch in jedem Menschen vorhanden ist.

Als mein Vater mich am nächsten Morgen zum Frühstück weckte, wäre ich am liebsten liegen geblieben. Ich hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan und hatte riesige Ringe unter meinen Augen. Doch ich wusste, Schultag ist Schultag, da wird nicht liegengeblieben. Also kletterte ich aus meinem Bett, schnappte mir eine Jeans und ein T-Shirt aus meinem Schrank und begab mich zum Frühstück. Ich aß gemächlich und war immer wieder dem Einnicken nahe, doch mein Vater stupste mich an und sagte: „Du musst jetzt wirklich los, Lina.“ Also nahm ich meinen Schulranzen und trat aus der Haustüre.
Ich betrat das Klassenzimmer, schloss die Türe hinter mir und begab mich zu meinem Sitzplatz. Ich ließ meinen Ranzen auf den Boden plumpsen und setzte mich auf meinen Stuhl. Kurz bevor meine Augen wieder zufallen konnten, fiel mir ein Satz auf, der in dicken Buchstaben an die Tafel gepinselt war. Ich las ihn. Ich las ihn wieder. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und wieder überflog ich den Text. Nein, das konnte, das DURFTE nicht wahr sein!

Lina, du Petze!



Meinten sie vielleicht Lina Maler, die auch in meine Klasse ging? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Lina Maler gehörte zu denjenigen, die immer mit dem Strom schwammen. Was sollte die schon groß petzen? „Na ja, “ dachte ich, „dann sind die jetzt halt mal sauer. In zwei bis drei Tagen ist das eh alles vergessen.“ Wie hatte ich nur so dumm sein können, das zu glauben??

Die Schultage vergingen weiter wie immer, doch etwas, irgendetwas, war anders. Ich kann nicht wirklich beschreiben, was es war, doch es war da. Es war wie ein dunkler Schatten, der seine giftige Spur durch die Unterrichtsstunden zog. Von Tag zu Tag wurden die Gemeinheiten mehr, dann schlimmer, und erreichten schließlich das unterste Niveau. Tagtäglich saß ich an meinem Platz, voller Angst, es würde mich wieder erwischen. Meistens erhoben sich in den kleinen Pausen üble Sprechgesänge, die entweder nur mich, manchmal aber auch Manuel und mich betrafen. Ich wehrte mich! Vergebens. Und Manuel? Manuel wehrte sich nicht, sagte nichts. Denn Manuel sagte nie etwas. Nur seine Körperhaltung wurde steif, während seine Wangen sich mit tausenden von roten Nervositätsflecken bedeckten. Dann rückte er seine Brille zurecht, schluckte, und schwieg. Von Tag zu Tag fragte ich mich, wie Manuel das alles schon so lang einfach schweigend ertragen konnte. Als würden die Worte ihn nicht verletzen, als würde er die Handgreiflichkeiten der anderen nicht einmal wahrnehmen. Doch ich wusste, das stimmte so nicht. Ich wusste, dass Manuel eine Krankheit hatte, die es ihm unmöglich machte, mit Menschen zu kommunizieren. Und genauso wenig machten ihre Taten irgendeinen Sinn für ihn. Manuel sah Menschen als, nun, Gegenstände. Und wenn sie ihm zu nahe kamen, konnte man nie wissen, wie er reagieren würde. Wenn ich Glück hatte, kam ich an manchen Tagen ohne irgendeine gemeine Bemerkung meiner Mitschüler davon. Dafür wurde ich dann mit eiskalter Nichtbeachtung gestraft. Nun, das war mir lieber, als die Tage an denen ich am eigenen Leib spüren durfte, was es bedeutete, eine „verdammte Petze“ zu sein. Als ich an einem Mittwochmorgen in die Schule kam, wurde ich wieder einmal Zeuge der Handgreiflichkeiten gegen Manuel. Stumm und stocksteif stand er in der hintersten Ecke des Klassenzimmers, während eine Gruppe Schüler um ihn herumstand, ihn hämisch beschimpfte, ihn trat, schubste und schlug. Dann, ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung rastete er völlig aus. Er tritt, biss und brüllte, dass es mir fast das Trommelfell zerriss. Ausgerechnet in diesem Augenblick trat unsere Mathelehrerin, Frau Schütze durch die Tür. Sie konnte nur sehen, wie der völlig wild gewordene Manuel nach den anderen trat. Sie stapfte mit schnellen Schritten auf ihren kurzen Beinen auf ihn zu, packte ihn am Arm und sagte barsch: „Nochmal so eine Aktion und du bekommst Rektoratsarrest. Verstanden?!“ Manuel war immer noch total außer sich, aber er antwortete nicht. Die wahren Täter jedoch grinsten triumphierend und setzten sich auf ihre Plätze. Frau Schütze begann mit dem Matheunterricht und läutete damit meine K.O.-Runde ein. Sie schrieb eine Aufgabe an die Tafel und sofort war mir klar, dass ich nach vorne gehen musste, um sie zu lösen. Frau Schütze wusste genau, dass Mathe mein schwächstes Fach war, doch sie nahm darauf keine Rücksicht. Erbarmungslos nahm sie mich jede Stunde an die Tafel und ergötzte sich an meinem Martyrium. „Lina, kommst du bitte vor und löst die Aufgabe?“ Ihr breites Grinsen leuchtete wie eine Leuchtfackel durch das ganze Klassenzimmer, ihr knallroter Lippenstift klebte an ihren Zähnen. Mit zitternden Händen trat ich an die Tafel. Sie gab mir die Kreide in die Hand, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich die Aufgabe zu lösen hatte. Schon begannen meine Mitschüler zu lachen und die ersten schmissen mit Stiften nach mir. Frau Schütze stand nur daneben und grinste. „Wie dumm kann man bitte sein?!“ schrie einer meiner Mitschüler, worauf die anderen wieder loslachten. „Ey, mach doch endlich!!“ brüllte der nächste hinterher. Ich fühlte mich wie ein Tier im Käfig. Die nächste Ladung Stifte flog, begleitet von Papierschnipseln. Tränen rannen über meine Wangen, das Zittern wurde immer stärker. Als der nasse Schwamm an meinen Hinterkopf knallte, hatte ich für diese Stunde genug. Ich rannte aus dem Klassenzimmer, aus dem Gebäude, weg von den Anderen. So wie immer. Erst weit nach Schulschluss traute ich mich in das Gebäude zurück, holte meine Tasche beim Hausmeister ab und ging nach Hause. Es waren Aktionen wie diese, die die Mauern, die ich zu meinem Schutz, fast ohne es zu merken, erbaut hatte, zerbröckeln ließen, wie Eis, das in der Sonne schmolz. Ich konnte die Bemerkungen und gemeinen Witze nicht mehr einfach verdrängen. Ein jedes Wort stach mir ins Herz wie eine Welle aus schmiedeeisernen Schwertern. Und während der beschützende Wall in der Schule schwand, baute ich mir einen anderen. Einen, durch den die Blicke meiner Familie und Verwandtschaft nicht dringen konnten. Ja, richtig erkannt, ich erzählte zu Hause nichts. Gar nichts. Mein Vater lies meine ständigen „Krankheiten“ irgendwann dann auch nicht mehr zu, und so sehr ich mich auch wehrte, ich konnte nicht länger schwänzen. Doch immer wieder wurde mir alles zu viel und ich rannte einfach aus der Schule weg. Mitten in der Unterrichtsstunde packte ich mein Zeug, und ging. Dann irrte ich oft stundenlang durch die Gegend. So lang, bis es an der Zeit gewesen wäre, von der Schule heimzukommen. Dann trat ich lächelnd durch die Haustür, erzählte beim Essen dies und das von der Schule und meinen Freundinnen. Ja, ich hatte Freundinnen, oder besser solche, die behaupteten, sie wären es. Meine „Clique“ bestand aus mir und vier anderen Mädchen. Ihre Namen waren; Anne, ein dunkelhaariges Mädchen mit Brille, Sanja, ebenfalls eine Brillenträgerin, mit sandblondem Haar. Kathrin, dunkelhaarig und schlank und Janine, blond, groß, Zahnspange. Manches Mal gesellte sich auch Lina Maler zu uns. Ich mochte sie nicht wirklich, ertrug sie aber. Doch obwohl ich Freundinnen hatte, stand ich meiner brutalen Klasse tagtäglich alleine gegenüber. Denn Manuel wehrte sich ja nicht, nein Manuel war keine Hilfe. Warum mir meine Clique nicht half? Ganz einfach; Aus Angst. Angst die Nächsten zu sein. Kann ich ihnen das also verübeln? Ich weiß es nicht. Nächtelang lag ich wach, bestrafte mich selbst dafür, dass ich nicht die Klappe hatte halten können. Und doch… war das was ich gemacht hatte, das richtige gewesen. Oder nicht?

-2-

Die Attacken meiner Mitschüler wurden mit jeder vergangenen Woche niveauloser und erreichten irgendwann eine Stufe, die wohl kein normaler Mensch von zwölfjährigen Kindern erwarten würde. Ein Niveau, das an Grausamkeit nicht mehr zu überbieten war. Gegen Manuel wurde die Klasse immer öfter physisch gewalttätig. Einmal ließ er seine Trinkflasche in der kleinen Pause auf seinem Pult stehen. Kaum war er aus der Tür, griff Yanis schon danach, schüttete das Apfelschorle in den Abguss und urinierte in die Flasche. Die Jungen der Klasse johlten und feuerten ihn an, während er teuflisch grinste. Die meisten Mädchen sahen betreten zu Boden. Ich ging raus auf den Gang und fing Manuel ab. Ich warnte ihn vor dem Inhalt seiner Flasche. Er sah mich mit seinen unergründlichen Augen an und ging ins Zimmer. Tatsächlich warf er die Flasche in den Müll und ich atmete erleichtert auf. Doch dafür wurde er schon in der nächsten Pause bestraft. Die Jungen um Lukas zerrten ihn auf die Toilette, steckten seinen Kopf in eine Kloschüssel und spülten so lang, dass Manuel beinah ertrank. Als sie zurückkamen, prahlte Filip mit dieser furchtbaren Mobbingattacke, während Manuel vor der Klasse stand, die Haare klatschnass, die Brillengläser zersprungen. Nervöses Lachen erfüllte den Raum, doch ich spürte nur noch grenzenloses Entsetzen. Dass Manuel später versuchte, sich umzubringen, zeigte dass ihn die Angriffe nicht weniger zermürbten, wie mich. Doch ich konnte nichts für ihn tun, geschweige denn für mich - denn ich schwankte selbst auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, dem schwarzen Loch, dass nur darauf wartete, mich zu verschlingen.

 

Auf diese Art und Weise vergingen Wochen, schließlich Monate. Die Sticheleien wurden zur Gewohnheit, auch wenn sie mich dadurch nicht weniger verletzten. An einem eiskalten Herbsttag waren meine Freundinnen und ich dann in den kleinen Aufenthaltsraum im hässlichen Schulanbau, der Aufgrund von Überfüllung der Klassenzimmer gebaut worden war, geflüchtet, um die zwanzig minütige Pause unbeschadet von Schneeballschlachten zu überstehen. Wir redeten und lachten. Ich war an diesem Tag von den Mobbingattacken meiner Klassenkameraden relativ ausgenommen geblieben und freute mich einfach, dass ich, ohne dumm angeschaut zu werden, meinen Spaß haben konnte. Dann öffnete sich die Tür zum Aufenthaltsraum und ich sah aus den Augenwinkeln zwei Schatten. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, wofür ich sofort hart bestraft werden sollte. Ich spürte einen harten Schlag auf meinen Hinterkopf, alles drehte sich und ich verlor das Bewusstsein.
Als ich wieder erwachte sah ich Anne und Janine, die mich mit rot angehauchten Wangen ansahen. Ich erhob mich von dem dreckigen Steinboden und sah endlich den Grund für meinen „Schwächeanfall“. Neben mir auf dem Boden lag eine halb mit Wasser gefüllte Plastikflasche. Ich hob sie auf, musterte sie, brachte sie schweigend zum Mülleimer und verlor kein weiteres Wort über das, was mir widerfahren war. Doch als die Schulglocke zum Unterrichtsschluss klingelte, flüchtete ich in das Mädchenklo und alle Hemmungen lösten sich. Ich fing an zu weinen. Ich weinte und weinte, bis ich vor lauter Weinen nicht mehr wusste, warum ich eigentlich weinen musste. Ich suchte in meiner Schultasche nach einem Tempo, doch ich konnte keines finden. Stattdessen erspürte ich einen Papierschnipsel. Ich zog ihn aus meinem Ranzen, entfaltete ihn, und als ich las, was darauf geschrieben stand, begann ich wieder zu weinen; Wir warnen dich nur noch einmal. Kein Wort, an niemanden. Sonst bist du dran!

Ich sank an der Kabinenwand zu Boden und weinte immer weiter. Doch irgendwann hatte ich keine Tränen mehr und meine Augen brannten. Also nahm ich ein Stück Klopapier, wischte mir damit die Tränen aus dem Gesicht und stolperte aus dem Schulhaus.

Ich war noch keine fünfzig Meter gegangen, da bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Ich konnte es mir nicht wirklich erklären, doch ich hatte das Gefühl, dass ich verfolgt wurde. Ich beruhigte mich, indem ich mir sagte: „Es hat schon vor über zehn Minuten geklingelt, wer sollte sich also die Mühe machen, nur wegen dir länger zu warten?“ Doch trotzdem beschleunigte ich meine Schritte. Das Gefühl wurde stärker, während ich immer nervöser wurde. Meine Schritte hallten auf dem Boden wieder, die Straße war wie ausgestorben. Ich musste in eine belebtere Straße, in den Schutz meiner Mitmenschen. Ich fing an zu rennen. Da hörte ich endlich die Bestätigung meiner Befürchtung: Ungleichmäßige Schritte, direkt hinter mir. Wie Kriegstrommeln klangen die Tritte meiner Verfolger. Es mussten mehr als zwei sein, das hörte ich. Wieso war niemand unterwegs? Meine Nervosität schlug in echte Panik um. Ich schlug Haken wie ein Hase auf der Flucht vor dem Fuchs. Und auf der Flucht war ich wirklich. Es war ein Jäger- und Gejagte Spiel und ich war im Begriff zu verlieren. Als ich endlich mein Haus am Horizont erkennen konnte, beschleunigte ich noch einmal, schloss dann die Türe auf und schlupfte in den Schutz der heimischen vier Wände.
Keuchend schlug ich die Haustür zu. Meine Beine zitterten, mein Herz klopfte so schnell, dass es sich anfühlte, als würde es meine Brust zerreißen. Ich lief zum Küchenfenster. Durch den Schutz der Vorhänge spähte ich auf die Straße hinaus. Waren meine Verfolger noch dort draußen, waren sie jedenfalls gut versteckt.
Ich stellte mich unter die Dusche und kochend heißes Wasser strömte über mich. Meine Haut begann zu brennen und färbte sich langsam rötlich. Doch ich achtete überhaupt nicht darauf.

Nach einer halben Stunde beendete ich meine Dusche und begab mich in mein Zimmer. Ich stellte mich vor meinen Spiegel und musterte mich. Die blassen Wangen, die ausdruckslosen grauen Augen, die Sommersprossen um die Nase, und ich hasste was ich sah. Ich krallte mich in meinem Gesicht fest, meine Fingernägel bohrten sich tief in meine Haut. Mein Gesicht hatte ich zu einer hässlichen Fratze gezogen. Kleine Blutstropfen wurden sichtbar und ich lockerte meinen Griff, erschrocken über das, was ich mir da antat. Neue Tränen rannen mir über die Wangen, während ich mich zu meinem Bett schleppte und mich fallen ließ. Ich zog die Decke bis über die Nasenspitze und schlief vor Erschöpfung schließlich ein.
Eine Weile später hörte ich, wie sich meine Zimmertür öffnete. Ich spürte, dass sich jemand neben mich setzte und mir über die Stirn strich. Durch meine Wimpern konnte ich sehen, dass es mein Vater war. Er erhob sich, öffnete leise die Tür und verschwand.
Als ich wieder erwachte zitterte ich am ganzen Leib. Mir war heiß und kalt gleichzeitig und schlecht war mir auch. Ich begab mich auf die Treppe, um das Klo aufzusuchen, doch meine Knie waren weich wie Butter und bebten bei jedem Schritt, den ich tat. Als ich endlich die Tür zum Badezimmer erreicht hatte, wurde das schwindlige Gefühl in meinem Magen stärker und brach dann in einem Schwall heraus. Ich übergab mich direkt in die Badewanne und sank danach wie ein Häufchen Elend zu Boden. Ich legte meinen Kopf auf die kühlen Badezimmerfließen und atmete tief durch. Da hörte ich von draußen eine Stimme: „Lina, ist alles okay mit dir?“ Mein Vater klang besorgt. „Es geht mir gut, Pa.“ sagte ich. Da entfernten sich seine Schritte wieder. Sobald ich meinen Vater nicht mehr hören konnte, stand ich, noch immer schwankend, auf. Ich ging zum Badezimmerschrank und durchsuchte ihn. Endlich spürte ich das kalte Metall der Nagelschere zwischen meinen zitternden Fingern. Und dann tat ich es zum ersten Mal…
Ich stand keuchend über das Waschbecken gebeugt. Der Schmerz pulsierte durch meinen Arm bis in die Fingerspitzen, doch es fühlte sich, auf eine seltsame Art und Weise, gut an. Das Blut tropfte in das Waschbecken und zog Muster am Beckenrand. Wie Tränen auf einer Wange, oder Regentropfen an der Fensterscheibe. Die Tropfen wischten meinen inneren Schmerz fort. Bis ich nichts mehr spüren konnte, betäubt war. Ich schluckte noch drei Schmerztabletten und kroch zurück in mein Bett.
Am nächsten Morgen durfte ich zu Hause bleiben, denn ich war noch immer weiß wie ein Gespenst und konnte mich kaum auf den Beinen halten.
Doch leider währte dieser Anfall von Schwäche nicht länger, und da mein Vater mich sofort durchschaute, wenn ich schauspielerte, gelang es mir natürlich nicht, ihn zu überzeugen, mich noch länger krank zu schreiben.
Ich musste zurück in die Hölle.

-3-

Der nächste Tag begann mit dem täglichen Verfolgungswahn auf dem Schulweg, gefolgt von verbalen Angriffen, Beleidigungen, vor allem aber Hohn und Spott. Ich saß an meinem Platz und lies mir nichts anmerken, doch es kostete mich unglaublich viel Kraft, die Tränen zurückzuhalten. Was hatten diese Monster nur aus mir gemacht? Ich war immer so ein mutiges Mädchen gewesen, hatte nie ein Blatt vor den Mund genommen und hatte keine Angst vor irgendwelchen Folgen meines Redeflusses gehabt. Jetzt war ich verweichlicht, verängstigt, voller Wahnvorstellungen und sogar Angst davor, Nachts einzuschlafen, weil die schrecklichen Träume mich dann wieder verfolgten, die den Schulterror sogar noch schlimmer machten. Herr Franz kündigte der Klasse noch an, dass ab der folgenden Woche seine Stunden durch eine Referandarin geführt werden würden und mahnte die Klasse zum Anstand, dann entließ er uns. Als ich nach der Schule zu meinem Fahrrad ging, war ich schon wieder den Tränen nahe. Es war aus dem Fahrradständer gezerrt, zerkratzt und demoliert und dann einfach mitten auf dem Schulhof liegen gelassen worden. Die Wut kochte in mir und machte mich steif wie ein Brett. Reichte es denn nicht, dass sie mich innerlich zerfetzten? Mussten sie jetzt auch noch mein Fahrrad auseinandernehmen? Mit Tränenüberströmten Gesicht hob ich mein Fahrrad auf und begab mich auf den Heimweg. Ich schluchzte und schluchzte und konnte mich nicht bremsen. Dann bekam ich auch noch einen furchtbaren Schluckauf, der mich alle zwei Sekunden komplett durchschüttelte. Als ich zuhause ankam, öffnete ich die Garagentür, schob mein Fahrrad hinein und schloss die Garage dann ab, nicht aber, ohne einen letzten verängstigten Blick hinaus auf die Straße zu werfen, um sicherzugehen, dass mir niemand gefolgt war. Als ich niemanden entdecken konnte, atmete ich aus. Dann stürmte ich die Treppe hoch, riss die Badezimmertüre auf, griff nach der Nagelschere, setzte sie an und zerfetzte die Haut an meinem Unterarm aufs Neue.
Wieder und wieder. Tiefer und tiefer. Dabei starrte ich mein Spiegelbild mit Hassverzerrtem Gesicht an.

 

Die folgende Woche begann relativ unspektakulär. Die Deutsch Referendarin war eine zierliche, braunhaarige Frau mit einer großen Brille und einer leisen, lispelnden Stimme. Doch niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass meine Mitschüler noch nicht einmal vor einer erwachsenen Frau Halt machen würden. Sie redeten in ihrem Unterricht, oder spielten mit den Handys. Sie hörten nicht zu, sie schmissen mit Papierschnipseln. Und irgendwann begannen sie, das Kabel des Tageslichtprojektors zu manipulieren. Sie drehten so lange beständig an dem Kabel, bis sich die orangefarbene Isolierung gelöst hatte. Die junge Frau hatte keine Ahnung, was ihr blühte, als sie den Stecker in die Steckdose presste. Es passierte wie in Zeitlupe. Sie hatte ihre Hand an dem Kabel und ein Zucken fuhr durch ihren Körper, ihre Augen rollten in den Höhlen und sie brach zusammen. Der Krankenwagen kam und brachte sie ins Krankenhaus. Wir wurden informiert, dass sie im Koma läge.

 

In dieser Nacht hatte ich Alpträume. Alpträume von Kindern, mit riesengroßen, tiefschwarzen Augen, deren Münder seltsam verzerrt waren. Kinder, die die Seele fraßen, Kinder, die mich anstarrten und lachten, lachten, lachten...
Ich erwachte, schweißgebadet. Mein Bettlaken war klatschnass, ich zitterte am ganzen Körper. Die Tränen schossen mir wieder in die Augen und verschwammen mit dem kalten Schweiß in meinem Bettbezug. Ich begann, hysterisch zu schreien, griff mir in die Haare und riss sie mir büschelweise aus. Ich zerrte an ihnen, als wären sie meine Todfeinde und als könnte ich sie besiegen, als hätte ich eine Chance.


 
Der nächste Tag kam ziemlich schnell und ich freute mich sogar auf ihn, da es der letzte Schultag vor den großen Ferien war und ich wusste, dass ich dann erst einmal eine Pause von den Hänseleien meiner Mitschüler haben würde. So ging ich, so gut gelaunt wie ich schon lange nicht mehr gewesen war, in die Schule und überstand die ersten Stunden unversehrt. Doch die Doppelstunde Bildende Kunst sollte mir an diesem Tag den Garaus machen.

Wir hatten einen Vertretungslehrer, da unsere Lehrerin krank geworden war. Dieser Lehrer hatte uns erlaubt, eine DVD anzusehen, während er am Lehrerpult saß, einen Apfel aß, Kaffee trank und Zeitung las. Yanis hatte extra eine DVD gekauft, doch als ich den Titel las, konnte ich mir nichts darunter vorstellen; „Jackass the Movie“. Das einzige, was ich an dieser DVD allarmierend fand, war die Altersbeschränkung. In dicken roten Lettern prangte links unten in der Ecke ein „Freigegeben ab 18 Jahren!“- Zeichen. Ich schluckte. Wie war Yanis an diese DVD gekommen? Die ältesten in der Klasse waren gerade mal dreizehn. Doch ich dachte mir nichts dabei, legte meine Jacke auf den Tisch und bettete meinen Kopf darauf (Ich hatte fürchterliche Kopfschmerzen). Nachdem die Jungen der Klasse es nach mehreren Versuchen immer noch nicht geschafft hatten, die Spracheinstellung von Englisch auf Deutsch zu setzen, gaben sie auf und beschlossen, den Film könne man auch auf Englisch ansehen, er wäre so oder so lustig.


Ob Kinder von 12 Jahren es witzig finden sollten, wenn sich Erwachsene Männer mit Papier in die Hautfältchen zwischen den Fingern schneiden, oder Senf durch die Nase ziehen? Ich fand es auf alle Fälle alles andere als witzig. Mir wurde schlecht. Richtig schlecht. Ich schloss die Augen und versuchte, ruhig zu bleiben, doch ich konnte es nicht. Ich ging aus der Tür und auf den Schulhof hinaus, an die frische Luft. Ich hatte unseren Vertretungslehrer noch nicht einmal nach einer Erlaubnis gefragt, denn den schien es scheinbar überhaupt nicht zu interessieren, was die, von ihm zu beaufsichtigende, sechste Klasse tat. Da stand ich dann also auf dem Schulhof und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken, der sich aus meinem Magen nach oben quälte. Doch ich konnte es nicht. Das Gefühl war stärker, der Brechreiz übermannte mich und ich übergab mich auf den dreckigen Schulhofboden.

Ich stand, nach vorne übergebeugt, da und keuchte. Schon bahnte sich ein weiterer Schwall an und ich übergab mich wieder. Da, auf einmal, wurde ich von hinten mit brutaler Gewalt gepackt. Zwei Hände hielten meine Arme links und rechts im Klammergriff, eine andere Hand drückte mich am Hinterkopf nach vorne. Meine Knie gaben nach und ich stürzte. Dann hörte ich von über mir eine Stimme in mein Ohr zischen: „Was man dreckig gemacht hat, muss man auch wieder sauber machen. Los, leck auf!“ Der Druck gegen meinen Hinterkopf wurde stärker. Meine Haarspitzen hangen in meinem Erbrochenen. Ich war vor Angst wie gelähmt. Doch ich wollte nicht, ich konnte das nicht auflecken. Die Panik pulsierte durch meine Adern wie heiße Lava und gab mir, auf eine seltsame Art und Weise Kraft, mich gegen die mich Haltenden zu wehren. Ich kämpfte mich aus dem Klammergriff der neben mir stehenden Personen, riss meine Arme an meinen Oberkörper und rannte, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt war, davon. Ich hatte mich nicht einmal mehr umgedreht, um zu sehen, wer mir das angetan hatte, nein ich rannte einfach nur völlig blindlings immer weiter. Meine Schritte wurden unkoordiniert, ich wollte schneller rennen als ich konnte, stolperte und stürzte. Mit meinen Handflächen wehrte ich den Sturz ab, stand wieder auf und rannte weiter. Keuchend, die Augen weit aufgerissen, wie ein Reh in Todesangst. Ich spürte den pochenden Schmerz in meinen Handflächen nicht einmal. Sah nicht, dass ich mich aufgeschürft hatte. Spürte nur den Schmerz in mir drin, der mich zu zerreißen drohte.

Als ich endlich meine Haustüre erreichte, zitterten mir die Hände so stark, dass ich mit dem Schlüssel das Schlüsselloch nicht treffen konnte. Immer wieder zielte ich darauf, die Tränen in den Augen machten es mir schwer, das Loch zu erkennen und ich konnte meine Hände nicht ruhig halten.
So umschloss ich mit beiden Händen den kleinen Schlüssel und endlich bekam ich ihn in das Türschloss, drehte am Griff und die Tür ging auf.
Noch immer weinend stolperte ich in den Windfang, riss die Zwischentür zum Esszimmer auf, knallte sie hinter mir zu und beendete meine Irr Tour, mit einem letzten Krachen, auf dem Wohnzimmerteppich. Da lag ich nun, in Embryohaltung zusammengekauert, am ganzen Körper zitternd und schluchzend. Mein Hund Bobby kam langsam zu mir her, stupste mich mit seiner feuchten Nase an, und als ich nicht reagierte, legte er sich zu mir auf den Teppich. Ich griff mit beiden Händen in sein dickes, braunes Fell, noch immer schüttelten mich unregelmäßige Schluchzer durch. So lag ich da. Minute um Minute, Stunde um Stunde. Da endlich hörte ich die Haustüre aufgehen. Doch ich hatte nicht mehr die Kraft noch zu Schauspielern. Ich konnte mich nicht erheben und lächelnd auf die Person warten, die da in den Windfang trat. Es war mein älterer Bruder, Elias. Als er mich da so liegen und weinen sah, setzte er sich neben mich, streichelte mir sanft über die Haare und meinte dann: „Lina, ich seh mir das nicht mehr länger mit an. Ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Sag mir bitte endlich, was los ist.“ Und so erzählte ich es ihm. Alles. Ich bemerkte zwar, wie Elias Kopf immer röter wurde, während er seine Hände zu Fäusten ballte, doch er sagte nichts. Aber als ich ihm den übelsten Sprechgesang vorsagte, der sich je über mich und Manuel ergossen hatte, konnte es mein Bruder nicht mehr länger ertragen. „Diese Schweine!“ stieß er aus seinen Lippen hervor, und ich sah wie sich Tränen des Zorns in seinen Augenwinkeln bildeten.

Dann stand er auf, hielt mir seine Hand hin, wollte dass ich sie ergriff und mich an ihm hochzog. Doch ich wollte einfach nur dort liegen bleiben. Nie mehr aufstehen. Niemals wieder. Elias ging in die Küche und kam mit einem nassen Waschlappen zurück. Den legte er mir auf die Stirn und sagte: „Ich rufe Vater an. Deine Mitschüler werden dich und diesen Manuel nicht länger quälen. Das werde ich nicht zulassen.“ Und dann ging er.

©Lisa M. Kobelt, 2010


[Dies ist eine wahre Geschichte. Meine Geschichte. Die genannten Personen haben tatsächlich bestanden, die beschriebenen Aktionen wurden wirklich begangen. Alle Namen wurden aus Personenschutzgründen abgeändert! In manchen Fällen auch das Geschlecht.]

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch >All jenen, die denken, Mobbing sei nur ein harmloser Spaß. >Eltern, die ihre Kinder stets Verteidigen, ohne jemals deren Verhalten zu hinterfragen. >Lehrern, die nicht eingreifen, wenn ihre Schüler gehänselt werden. >Und meinen ehemaligen Mitschülern, denen ich es zu verdanken habe, dass ich selbst heute - Jahre später- nichts vergessen habe, obwohl Sie mich wahrscheinlich längst vergessen haben.

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