Cover

Hello, my reader ღ

Hey du! :)

Viel Spaß bei dieser Story, ich hoffe sie gefällt dir und du fieberst mit.
Egal, ob's Grammatik oder Rechtschreibung ist, einen Buchstabendreher kennen wir ja alle, deshalb würde es mich wahnsinnig freuen, wenn ihr mir die kleinsten Fehlerchen mitteilen könntet.

Ich werde leider nicht jeden Tag ein Kapitel hochladen, deshalb dauert das noch eine Weile, bis ich die Story abschließen kann. Durch die momentane Lage (*hust*hust*) sind wir ja gezwungen, meistens zu Hause zu sitzen. Diese Zeit werde ich für die Story nutzen, bevor es irgendwann wieder zur Arbeit geht :)

Ach ja, genau:

Have fun and enjoy! <3

 

1 - Grüne Augen

 

Der warme Sommerregen prasselte gegen das Fenster, hinter dem Evelyn ihren Kopf auf ihr kuscheliges Kissen gelegt hatte. Ihr Blick klebte förmlich an den vorbeisausenden Bäumen und Feldern. Die Geräusche des Zuges ermöglichten ihr keine Sekunde des Schlafes, den sie bitter nötig hatte.
Mit rasender Geschwindigkeit näherte Evelyn sich ihrem neuen Leben. Ihre Vergangenheit hinter sich gelassen steuerte sie Richtung Süden.
Sie war ein ganz normales Mädchen im Alter von 23 Jahren, charmant und mit einer nervtötenden positiven Ader. Nach dem Tod ihres Bruders war sie wie ausgewechselt – es fühlte sich immer mehr an wie eine Hülle, die sie umschloss. Mit Mühe und Not versuchte sie sich zu verstellen, vorzugeben glücklich zu sein. Es raubte ihr jeglichen Spaß am Leben. Innerlich war sie gebrochen. Sie konnte ihn nie wiedersehen.
Die städtischen Nachrichten und Zeitungen waren voller Verschwörungstheorien, wieso sich die Welt plötzlich gegen die Familie Jones wendete. Nach dem Tod ihres Bruders, ereilte auch der Tod ihre Mutter. Evelyns Vater hingegen zog aus, er konnte den Schmerz nicht ertragen.

Die Vorhersage einer alten Dame auf einem altertümlichen Flohmarkt hatte sich bestätigt. 
Die Dame erzählte von dem Grauen, das über der Familie Jones lag, doch Evelyn konnte schwören, sie hatte unter dem klapprigen Holztisch die Zeitung offen liegen sehen. Sie schenkte der Frau keinen Glauben und dachte, sie erlaubte sich einen Scherz mit dem Tod ihrer Familie.
Entrüstet kehrte Evelyn zurück nach Hause und ein Jahr später saß sie im Zug auf dem Weg nach Camborne. Ein Dorf in Südengland.

Nur wieso fuhr sie genau dort hin? Seit einigen Wochen hatte sich etwas in ihrem Inneren verändert. Ihr Vater war seit zwei Monaten verschwunden, hatte sich auch nicht mehr gemeldet oder angerufen.
Seitdem träumte sie ein und denselben Traum. Sie fiel tief in ein Loch, lachte sich den Morgen danach immer wieder aus, dass sie nicht Alice war. Um sie herum schwebten graue Wolken, aus denen gewaltige Blitze schossen. Es schwebte immer das Gefühl von Vertrauen und Wohlempfinden neben ihr. Als würde sie jemand behüten. Schon allein der Gedanke daran jemanden zu haben, der sich um einen sorgt und kümmert, war eigenartig. Sie war wie verschlungen in diesem Gewitter, doch hinter dem Donner und den grellen Blitzen schauten sie vertrauensvolle grüne Augen an. Ihre Hände griffen immer wieder nach vorne in den Dunst, der um sie herumtanzte. Sie rief nach diesen fremden Augen, die sie aus dem Unwetter ziehen sollten.

An dem Abend ihrer Entscheidung, das trübe Leben hinter sich zu lassen, träumte sie geradewegs von dunkelblondem Haar, das in ihrem Traum fast golden schimmerte. Seine Lippen waren verführerisch, die auf eine unerklärliche Weise reizend wirkten. Ein Blick auf ihn und sie konnte es nicht verbergen, seine Augen sahen ihre Sucht. Die Magie zwischen ihnen brachte Evelyn durcheinander und dieses fremde Gefühl von Gewogenheit machte sich in ihrer Brust breit.
Tief in ihrer Seele fühlte sie sich einsam. Sehnte sie sich nach Schutz, vor allem wegen dem, was sie erwarten würde? Existierten diese glänzenden grünen Augen tatsächlich?

Er war von einer gnadenlosen Wildheit und wusste ganz genau, wie man sogar die Abgebrühtesten vor Verlegenheit erröten ließ. Es war für jeden eine Herausforderung gewesen, Evelyn von der Liebe zu überzeugen. Die Jungs glaubten, sie sei eine Art Liebesverweigerin gewesen.

Doch der Traum veränderte ihr Schicksal. Ihren Weg, den sie im Leben gehen wollte.

Nach einiger Zeit hielt der Zug mit quietschenden Bremsen an und Evelyn wachte aus ihrem Tagtraum auf. Sie betrat den Bahnsteig und die Küstenluft stieg in ihre Nase. Das Salzwasser umgab ihren schmalen Körper und lockte ihre blonden Haare. Es roch nach Frieden und Ruhe. Sie stieß entkräftet Luft aus und schnappte sich ihr Gepäck. 
In ihrem Ferienhaus angekommen, nicht weit von der Innenstadt entfernt, begann ihr Leben in Südengland. Innenstadt war jedoch das falsche Wort, als Evelyn sich mittags vor die Tür begab und die Straßen entlang ging. 
Der Gehweg führte sie an einem beschaulichen Café vorbei zu einem großen gepflasterten Marktplatz. In der Weite erblickte Evelyn ein kleines Geschäft für kulinarische Köstlichkeiten aus der mediterranen Küche, eine alte Apotheke und viele weitere kleine Läden, die Tür an Tür rund um den Markplatz gereiht waren. Als sie gerade die rustikale Bibliothek passierte, stieg ihr der Geruch von frisch gebratenen Hähnchen in die Nase. Ihr Blick folgte dem Duft, woraufhin ihre Augen zum Markt wanderten.

Die idyllische Landschaft hinter dem Marktplatz war weit und breit malerisch. Als auf einmal ein leichter Nebel auftauchte, Evelyns Füße in Wolken standen, wurde ihr alles klar.
Unter den Menschen, die sich versammelten, um frischen Käse oder Blumen zu kaufen, verbarg sich Evelyns Schicksal. Seine dunkelblonden Haare hochgekämmt, dennoch strubbelig. Seine grünen Augen stachen in ihre, als ihre kastanienbraunen Augen wie Magnete in seine schossen. Evelyns Blick wanderte zu seinen vollen Lippen, seinem stoppeligen Bart. Er schien älter zu sein als sie. Doch seine Ausstrahlung war die pure Anziehungskraft. Evelyns Augen glänzten förmlich.

Er trug eine dunkelgrüne Jeansjacke, soweit sie beim Vorbeigehen etwas anderes als seine wunderschönen Augen erkennen konnte. Ihre blonden lockigen Haare warf sie gekonnt über ihre Schulter zurück, bevor sie ihm ein zartes Lächeln schenkte. Sein Blick blieb kalt und ausdruckslos, doch sie hatte seine Aufmerksamkeit gewonnen.
Evelyn lief weiter und entfernte sich von ihrer Begegnung. Sie schreckte aus ihrem Schlaf und sah den Zugführer über sie lehnend. „Miss? Sie müssen aussteigen“, bat er sie. Evelyn nickte verschlafen mit ihrem Kopf, nahm sich ihr Gepäck und entschuldigte sich öfter, als es nötig war. Eine weitere Charaktereigenschaft ihrerseits, die einige als anstrengend empfanden.

Einmal in deinem Leben wirst du jemanden finden der wird deine Welt verändern, dich aufmuntern, wenn du am Boden bist. Deine Freude aber wird nicht anhalten, Blut wird vergossen und dein Schicksal bindet dich für die Ewigkeit.

Ein Taxi fuhr sie über die ländlichen Straßen, vorbei an Wäldern und Bächen zu ihrer Ferienhütte. Als sie ausstieg, sah sie hinauf zu den Baumkronen, die hinter dem Bungalowpark zu einem Wald verwuchsen. Evelyn folgte dem sandigen Pfad, der durch Poller zur Straße abgegrenzt waren. Sie folgte der Reihung von Hecken und Vorgärten. Neugierig fuhr sie mit ihren Augen durch ihre Nachbarschaft, in der sie von nun an ein ganzes Jahr lang wohnen würde.
Hinter der hohen Hecke, die sie von einem weiteren Vorgarten abschirmte, sah sie das kleine hölzerne Schild über dem Fenster. Oak Tree Cabin. Ein schmales Lächeln formte ihre Lippen, als sie dem Ferienhaus näherkam und ihre Füße den Kiesweg zu ihrem neuen Zuhause betraten. Es war eine kleine, kuschelig eingerichtete Holzhütte mit Terrasse. Evelyn schaute durch die gläserne Schiebetür ins Wohnzimmer.
„Sie müssen Evelyn-Grace Jones sein, oder?“, hörte sie hinter sich eine weibliche Stimme. Evelyn drehte sich um und nickte freundlich. „Ja – und sie sind Camilla Brown?“
Die schwarzhaarige Frau mit dunkler Hautfarbe nickte bestätigend und führte Evelyn in ihr neues Heim. Sie übergab ihr den Schlüssel, bevor sie sich dann bedankte und Evelyn allein zurücklies.

Nun stand sie dort, inmitten von Fremdheit. Doch es gefiel ihr mehr, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie atmete entspannt aus und packte ihr Gepäck aus. Das kleine Schlafzimmer verfügte bloß über ein Doppelbett und eine Kommode. Perfekt, schwärmte Evelyn gedanklich.
Innerlich wusste sie aber, dass wenn sie nun vor die Tür trat, sie genau das vorfinden würde, was sie im Zug wieder einmal geträumt hatte.

Es war Montag, 17 Uhr, als Evelyn sich auf die Terrasse setzte und ihren ersten Kaffee in Camborne, Südengland genoss. Nach einem Schluck schon war ihr klar, dass sie diese Kaffeemaschine behalten musste.
Sie fühlte sich nach langer Zeit wieder willkommen im Leben. Jedoch an einem komplett anderen Ort, den sie nicht ihr Zuhause nennen konnte. Noch nicht.

Am nächsten Morgen weckten Evelyn die warmen Sonnenstrahlen, die durch das Zimmer ihrer Ferienhütte schienen. Es war Mitte August und der Park hinter dem Markplatz, den Evelyn gestern Nachmittag noch aufgefunden hatte, war dicht gefüllt von Grüppchen, die auf ihren Decken die Sonnenstrahlen aufsogen. Ein eigenartiges Wetter für England, doch es war möglich.
Evelyn genoss die Wärme des Sommers in vollen Zügen. Sie lief über den Schotterweg an einem großen See entlang. Umgeben von einer Reihe Bäumen und weiten Wiesen. 
Dort sah sie ihn plötzlich wieder. Auf einer Decke neben ihm lagen wohl seine Freunde. Sie unterhielten sich ausgiebig und musterten nebenbei die Mädchengruppe, die einige Decken von ihnen entfernt lag. Man sah das dreckige Grinsen in ihren Gesichtern, als sie sich den Jungs zuwendeten, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen.

Evelyn beobachtete dieses Schauspiel aus sicherer Entfernung. Früher hätte sie sich ohne Schwierigkeiten ebenfalls so verhalten. Doch sie war ein anderer Mensch. Nun war sie eine stille Einzelgängerin und genoss die Ruhe um sich herum. Sie hatte keine Lust mehr auf Partys und tobenden Menschenmengen, sie konnte gut darauf verzichten, sozialen Kontakt aufzubauen.

Evelyn war in ihren Gedanken vertieft, sodass sie gar nicht merkte, dass sie jemand beobachtete. Sein Blick haftete an ihren Schritten, er visierte sie regelrecht.
Sie bog um die nächste Ecke und verschwand hinter eine große Lavendel-Heide. Die Bäume standen immer enger, die Kronen blockten die warmen Sonnenstrahlen ab und es wurde mit jedem Meter dunkler um sie herum.
Evelyn spürte einen Windhauch an sich vorbeiziehen, hinter den Hecken hatte sich etwas an ihr vorbeigeschlichen. Ihre neugierigen Augen zogen sich wissbegierig zusammen, bevor sie sich der Hecke näherte. Auf der anderen Seite des Schotterweges erschienen seine grünen Augen aus dem dichten Busch, fixiert auf ihrem makellosen Gesicht.
Evelyn spürte seine Anwesenheit, sie bemerkte seine Augen, die auf ihr klebten. Sie drehte sich blitzartig um und stand plötzlich vor seinem muskulösen Körper. Seine weichen Lippen waren nur Zentimeter von ihren entfernt und sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. 
Seine Augen schauten in ihre, als er sich ihren Lippen näherte. Sein Geruch benebelte ihre Gedanken.

Evelyn schreckte auf. Schweißgebadet in ihrem Bett. In ihrer Hütte. Ihr Herz pochte streng gegen ihre Brust und ihre Augen wussten nicht, wohin sie als erstes schauen sollten. Whoah.
Ihr Traum fühlte sich real an, realer als das Leben. Sie hatte buchstäblich seinen Atem auf ihrer Haut gespürt. Der Duft, der von ihm ausging, schwebte immer noch um ihre Nase. Bin ich verrückt geworden?
Auf der anderen Seite der Stadt starrten sanfte grüne Augen durch das Dunkel der Nacht. Seine Atmung verlangsamte sich erst nach einiger Zeit. Erst, als er wieder klar denken konnte und er seine Finger wieder spürte. Dean schluckte nervös. Was ist los mit mir?

Er starrte sein Spiegelbild an, als er aus seinem Bett aufstand und sein Badezimmer betrat.
Wer ist dieses Mädchen?
Es verwirrte ihn maßlos, denn er war keine Person, die dem Schicksal oder gar Zuneigung Vertrauen schenkte. Seine trostlose Seele existierte zwischen zwei Welten – Die Lebenden und die Toten schienen sich ähnlicher zu sein, als man glauben mochte.
Was bedeutete das Träumen von fremden Personen, die einem unter die Haut gingen? Auf alles gab es für Dean eine Antwort, doch dieses Mal war er überfordert. Seit Wochen träumte er inmitten von dunklen Wolken von einem Mädchen ohne Gesicht. Er stand im Nebel und konnte sich nicht zu ihr hinbewegen. Er stand fest an Ort und Stelle, neben dem Blitzlichtgewitter.

Allerdings war der Traum dieser Nacht ein komplett anderer. Ihr Gesicht formte sich deutlich zu einer schönen Blondine. Es machte ihn verrückt, ständig ein und denselben Traum zu träumen, ohne zu wissen, was es bedeutete. Und nun weckte ihn die Klarheit ihres Gesichtes. Ihre Präsenz in dieser Stadt, dass die beiden sich nun näher waren als sonst je zuvor, machte die Sache umso komplizierter für ihn.
Was sollte er mit dem Traum anfangen?

Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, schauten Evelyns müde Augen unter der Bettdecke hervor. Mit einem tiefen Seufzer raffte sie sich aus den kuscheligen Laken und ging ins kleine Bad, welches sich direkt eine Tür weiter befand.
Evelyn begutachtete sich im Spiegel. Ihre braunen Augen verschwanden plötzlich wieder in einer anderen Dimension und sie befand sich inmitten einer Menschenmenge auf einer Party. In seinem weißen, engen T-Shirt, welches jeden Zug seines Körpers durchschimmern ließ, stand er einige Meter von ihr entfernt im Garten.
Ihre blonden Haare wehten im Wind, ihr Blick fixiert auf seinem Gesicht. Evelyn kniff ihre Augen zusammen. Sie verweilte an diesem Platz, auf der Stelle, an der sie stand. Sie versuchte, sich zu bewegen, so wie es die anderen Menschen um sie herum auch taten. Ihre Füße jedoch bewegten sich keinen Millimeter.

Auf einmal wurde ihre Sicht wieder schwammig und Nebel trat um sie herum auf. Sie starrte wieder ihr Spiegelbild an. Mit großen Augen schaute sie sich um und musste feststellen, dass sie verrückt geworden war. Mit einem Kopfschütteln band sie ihre Haare zu einem Zopf zusammen, bevor sie ihre Zähne putze. Sie stellte das Wasser an und schaute sich dabei auf ihren rechten Zeigefinger, an dem ein dezenter Silberring steckte. Sie zog ihn ab und musterte ihn mit engen Augen. Damit er nicht nass wurde, legte sie ihn auf das Waschbecken.
Dieser Ring war das Einzige, was ihr Vater ihr zurückgelassen hatte. Er hatte ihn ihr zu ihrem 18. Geburtstag geschenkt. Seine Bitte war es, den Ring zu tragen, egal was kommen mochte. Evelyn war wütend auf ihren Vater, doch irgendetwas sagte ihr, dass sie diesen Ring dennoch nie weglegen solle.

Mit ihren Gedanken bei den grünen Augen, die sie nicht in Ruhe lassen wollten, beschloss sie, ihn ausfindig zu machen. Ich bin so irre
Es fühlte sich an, als wäre es ihre Bestimmung, ihn zu finden. 
Als sie sich auf den Weg zum Marktplatz machte, wurde ihr klar, dass diese Idee verrückt war und dass sie ihn sowieso nicht sehen würde. 
Allerdings hatte Evelyn keine Vorstellung von dem, was sie eigentlich erwarten würde, wenn sie ihn tatsächlich finden würde.
Wie ein unsichtbares Seil spürte sie seine Anwesenheit inmitten der Menschen, die sich auf dem großen Marktplatz verteilten. Das ist unsinnig, als ob er sich genau hier aufhält...

Mit unruhigen Augen flog sie über die Gesichter um sie herum. Sie fühlte sich affig. Mit schüttelndem Kopf versuchte sie sich zur Vernunft zu bringen. 
Ihr eigentliches Ziel war ursprünglich Erholung und Seelenfrieden in dieser Stadt zu finden. Und nun suchte sie nach einem unbekannten jungen Mann, der sie nachts vom Schlafen abhielt. 
Das Bild seiner zutraulichen Augen war in ihr Gedächtnis gebrannt, sodass sie sich nicht irren würde, sobald er vor ihr stünde. 
Grüne Augen beobachteten ihre unsicheren Versuche, ihn irgendwo zu erkennen. Das Gefühl einer Bindung war ihm fremd und schien ihn zu irritieren. Sein Wesen ermöglichte es ihm nicht, dieser Art Emotionen zu empfinden. Niemals, spuckte er tief in Gedanken und schnaubte entnervt. An einen Baum gelehnt, der am Eingang des Parks stand, drehte er ihr den Rücken zu und folgte dem Schotterweg, der sich am See vorbei bahnte und ihn in den Wald führte.

Evelyn seufzte und biss sich auf die Unterlippe, als sie bemerkte, wie schwachsinnig sie sich verhielt. Sie verdrehte ihre Augen und lief in der Mittagssonne zum Park. Sie erwischte sich dabei, wie sie dennoch Ausschau hielt und nach seiner Statur suchte. Ohne zu wissen, dass sie ihm folgte. Als sei es eine unsichtbare Leine, die sie zu ihm zog, folgte sie dem Schotterweg in den Wald hinein. 
Die Laubblätter raschelten, als sie sich ihren Weg durch den Wald bahnte. Die Sonne verschwand hinter den dichten Baumkronen, als Evelyn den Trampelpfad entlanglief. Die Natur war atemberaubend schön. Es wurde allmählich dunkler, als sie immer tiefer hineinlief und um sie herum die Bäume immer dichter wuchsen. Als sie die Augen schloss und der Wildnis horchte, ließ sie ein Geräusch hinterrücks zusammenzucken. Ein Zweig brach unter seiner Schuhsohle.
Augenblicklich drehte sie sich um und zog in derselben Bewegung ihr Klappmesser hervor. Mit einem scharfen Schliff sprang das Messer aus seiner Fassung und befand sich bloß einige Zentimeter vor Deans attraktiven Gesicht.
„Whoa“, zog er scharf die Luft ein und hob abwehrend seine Hände. Evelyn war wie erstarrt.
Fuck das habe ich nicht getan!
„Ich dachte – ähm – nicht so wichtig“, verhaspelte sie sich und ließ ihre Hand zu Boden sinken. Gekonnt klappte sie das Messer wieder zusammen und steckte es zurück in ihre Hosentasche.
Dean hob misstrauisch seine Augenbrauen. So habe ich mir sie nicht vorgestellt. Neugierig starrte er Evelyn an, wie sie das Messer zurücksteckte und sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht zog.
„Wer... bist du?“, fragte Evelyn voller Neugier gefüllt. „Du – Du weißt nicht, wer ich bin?“, fragte er mit einem Stirnrunzeln. „Nein“, lachte Evelyn unsicher. „Ich bin nicht von hier, woher sollte ich dich kennen?“ Ihre Augen funkelten ihn förmlich an, weshalb Dean auf einmal ein unwohles Gefühl in der Magengrube empfand.
Sollte ich ihm von den komischen Träumen erzählen? Oh Gott, nein! Dann denkt er, ich hab ‘nen Lattenschuss! Er starrt mich an, was mache ich jetzt?
Evelyn atmete tief ein, bevor sie anfangen wollte, ihm diese vermeintlich psychotischste Frage überhaupt zu stellen. Doch bevor sie überhaupt ansatzweise fragen konnte, unterbrach er sie. „Ich weiß das klingt komisch. Aber irgendwoher kenne ich dich.“ Evelyn schluckte. Aha, woher? Sprich weiter, damit ich dich nicht so dumm fragen muss.
Er stammelte zuerst. „Ich bin übrigens Dean.“ Seine Augen starrten unentwegt in ihre dunkelbraunen. „Evelyn“, sagte sie bloß monoton. Das klang nicht nett.

Er nickte leicht und schaute rechts und links, als würde er am liebsten verschwinden wollen.
„Komisch, ich kenne ein Mädchen, sie heißt auch Evelyn“, seine Stimme wurde zum Ende hin langsamer, als war ihm etwas in den Sinn gekommen. „Ich glaub, ich muss gehen“, beendete er die Unterhaltung, bevor Evelyn überhaupt irgendetwas sagen konnte. Er lief ohne einen weiteren Blick an ihr vorbei tiefer in den Wald. Mit faltiger Stirn schaute sie Dean hinterher, doch als sie hinter sich blickte, war keine Spur mehr von ihm zu sehen.

Das war unheimlich.

Auf dem Weg zurück kickte Evelyn Kieselsteine vor sich her, unwissend, weshalb Dean wirklich gegangen war. Sie hatte das Gefühl, ein ganz anderer Mensch in dieser Stadt sein zu können. Sie war befreit von Vorurteilen und den ständigen Hintergedanken, dass die Leute wussten, wer sie war und was ihrer Familie geschehen war. In ihrer Brust machte sich ein Gefühl von Freiheit breit. Doch diese eine bestimmte Emotion machte ihr zu schaffen – Glück.

Dean kam am Ende der Stadt an, völlig verwirrt und verunsichert, was dieses Mädchen bedeutete und vor allem, was die Illusionen von Evelyn ihm sagen wollten. Was war der Sinn dahinter? Dieser Zufall kann nicht real sein. Sie darf es nicht sein.

2 - Zwischen Träumen und Realität

 

Auf einmal häuften sich diese ungewöhnlichen Gedanken in ihrem Kopf. Sie empfand das unsinnige Gefühl von Leidenschaft in ihrer Brust. Ihr Inneres sträubte sich stets vor körperlicher und insbesondere vor seelischer Nähe, doch nun war alles anders. Sie schenkte sich ein, zwei Blicke, als sie vor ihrem Badezimmerspiegel stand, bevor sie bemerkte, dass sie auf einmal eine ganz andere Person war. Evelyn schaute in das Gesicht einer Fremden. In ihrer Magengrube kribbelte irgendwas, in ihrer Brust breitete sich wieder das Gefühl von Freude aus. Es war ihr fremd, so zu empfinden, doch es fühlte sich fantastisch an.

Als sei ein Stück ihrer Seele mit ihm verbunden.
Was ist, wenn ich einfach nur wie bescheuert hoffe, dass er ein netter Kerl ist und wir uns anfreunden, weil ich sonst niemanden hier kenne? Ich bin komplett auf mich alleingestellt.
Aber warum mache ich mir darum Gedanken? Sonst hat mich das auch nicht gestört, und plötzlich träume ich von ihm, obwohl ich ihn noch nie zuvor gesehen habe?

Evelyn schaute auf und erblickte seine wunderschönen, tiefen grünen Augen vor sich. Sein sanftes Lächeln kroch ihr unter die Haut. Um sie herum zog sich ein bekannter Nebel auf und zerstörte noch einmal ihre Hoffnung, ihm wirklich begegnet zu sein. Ihr entging ein leiser Seufzer. „Es ist wieder nur ein Traum?“
Dean sagte nichts. „Was bedeutet das?“ Ihre Frage klang enttäuscht. Du gehörst zu mir, raunte seine Stimme durch ihren Kopf, als die Wolken sich um sie herum langsam auflösten und das Licht hineinließen. Das ungemütliche Gewitter zog davon und erweckte ein rätselhaftes Wohlbefinden um sie herum. Der Nebel schien weiß, er schwebte nicht mehr in seinem tristen anthrazit um ihren Körper.

Evelyn erwachte außerhalb ihrer sicheren vier Wände. Sie saß in der hintersten Ecke des Cafés, welches sie an ihrem ersten Tag schon entdeckt hatte. Zitternd schaute sie auf ihre Armbanduhr. Trotz dieser wunderschönen Illusion war sie bei vollem Bewusstsein gewesen.
Bei dem Versuch nachzudenken, wie sie tatsächlich dort hingefunden hatte, ohne am Leben teilgenommen zu haben, ließ sie wie versteinert auf ihrem gemütlichen Rattan-Sessel hocken. Ihr Blackout war ihr ein Rätsel. Dennoch war sie wohl in der Lage gewesen, sich Rührei zu bestellen, wie sie bei ihrem Blick auf den Tisch vor sich feststellte.
Ihre großen Augen schreiten förmlich nach Wahnsinn. 
Als sei ihre Situation nicht anstrengend genug gewesen, stellte sich ein junger Mann vor ihren Tisch und hielt einen kleinen Notizblock in seiner Hand, während er mit seiner anderen Hand den Kugelschreiber umher wirbelte.
„Möchten Sie noch etwas bestellen?“, fragte er freundlich. Evelyn war vollkommen aus dem Leben getreten und reagierte nicht.
„Hallo?“, riss er sie aus ihrer Leblosigkeit.
Es ist wie ein Loch, es gibt kein Ende und keinen Anfang. Ich weiß nicht, was ich denken soll, ob das echt ist oder nur ein Traum. Aber du wirst in meinen Gedanken bleiben und ich werde warten, bis wir uns wieder treffen.

Der Kellner gab seine Fragerei auf und ging zurück zum Tresen. 
Evelyn starrte immer noch in die Leere. Nach einigen Momenten, der Abwesenheit, fasste sie sich einen klaren Gedanken. Ich bin völlig übergeschnappt. 
Wie ein Roboter legte sie das passende Geld vor sich auf den Tisch, trank ihren Kaffee leer und verschwand dann durch die Tür hinaus an die frische Sommerluft. Der Himmel war strahlend blau und die Sonne schenkte der Landschaft ihr schönstes Lächeln.
Evelyn bog unachtsam, ohne nach vorne zu schauen, um die Ecke und prallte seinen harten Brustkorb.
Deans Herz blieb für einen Moment lang stehen, als er in ihre kastanienbraunen Augen schaute. War das schon wieder nur ein Traum?
„Hey“, sagte er aus seinen Gedanken gerissen und setzte sich ein Grinsen auf. Evelyn blinzelte einige Male, um zu realisieren, dass sie in der Realität angekommen war. Seine grünen Augen ließen nicht von ihr ab, als er sich über seine vollen Lippen leckte und ihr Unsicherheit musterte. „Hi“, flüsterte Evelyn und kratzte sich am Hinterkopf. „Tut mir leid, ich war gerade – “
„Mit deinen Gedanken woanders?“, ergänzte er ihre Entschuldigung. Die Hoffnung in ihrer Brust stieg an. Er hob seine Augenbrauen und verschränkte seine Arme.
„Ich – ähm – “, stammelte Evelyn und kratzte sich an ihrem Ellenbogen. Sie suchte die Worte, die ihre Gesamtsituation annähernd erklären könnten.
„Geht’s dir gut?“, fragte er grinsend, als Evelyn es nicht schaffte, die richtige Formulierung zu finden. „Ja – ich bin nur verwirrt.“ Dean nickte wieder langsam und steckte daraufhin seine Hände in seine Hosentasche.
„Geht mir auch so“, gab er mit einem Schulterzucken zu und wandte seinen Blick nicht von ihr ab. Ohne zu zögern schüttelte er seine Nervosität von sich. Sein Kopf setzte sich durch, denn es war ihm unmöglich, sich von diesen neuen Emotionen leiten zu lassen. „Wir sehen uns.“
Er schenkte ihr ein gezwungenes Lächeln und überquerte, ohne einen weiteren Blick an sie zu verschwenden, die Straße. Wäre sie die Evelyn, die er brauchte, um sich endlich seinen Frieden zu beschaffen, dann würde er einiges riskieren, wenn er diesen Träumen nachginge. Doch dieses Mal ließ Evelyn sich nicht abwimmeln. Sie brauchte eine Bestätigung, dass sie nicht verrückt war.

Mit geballten Fäusten biss sie sich auf die Unterlippe und lief ihm nach. Unvorsichtig, wie sie immer war, passierte sie die befahrene Straße. Eine hysterische Hupe hallte durch ihren Kopf und sie erschrak, als sie im nächsten Moment starke Hände an ihren Seiten spürte, die sie zurückzogen und mit einer immensen Kraft nach hinten schleuderten. Ohne sich umzudrehen wusste Evelyn, wem diese Hände gehörten. Ein Blitz zog durch ihre Adern direkt zu ihrem Herzen.
Seine Luft schnürte sich ab und seine Hände verkrampften, je länger er sie festhielt. Evelyn drehte sich um und erblickte seine grünen, vertrauten Augen. 
„Danke", flüsterte sie unter Adrenalinschüben und schaute mit rot angelaufenen Wangen auf seine Brust. Sie traute sich nicht, ihm in die Augen zu sehen. Das war ihr erster Körperkontakt mit ihm. Ihr erster Körperkontakt nach einigen Jahren Abschottung zu einem Jungen, der sie von den Socken haute.

„Kein Ding“, antwortete er genauso fassungslos, doch sein Staunen galt seiner Rettung. Wozu war das gut gewesen? Wäre sie überfahren worden, hätte ich keine Probleme mehr am Hals. Ich wäre frei.
Er ließ plötzlich von ihr ab. Ohne Weiteres zu sagen, drehte er sich um und wollte sich aus dieser unangenehmen Situation retten. Das war zu viel auf einmal. Eine Person, die zuvor noch nie geliebt hatte, noch nie Zuneigung oder gar Wohlwollen erfahren hatte, wurde ins kalte Wasser geschmissen – auf einmal sollte er damit klarkommen und sich damit auseinandersetzen.
Evelyn reagierte jedoch zeitig und packte seinen Oberarm. Ein weiterer Blitz schoss durch ihren Arm hinein in ihre Brust. Sie zuckte zurück und erhaschte einen Blick in sein Gesicht, das ihr versicherte, er habe dasselbe gespürt.
„Hast du das gespürt?“, platzte es aus Evelyn heraus. 
Er schloss seine Augen und atmete seufzend aus.
„Ja“, gab er zu, doch wollte sich für die Wahrheit eine reinhauen. „Was bedeutet das?“, fragte Evelyn aufgewühlt. „Ich dachte, ich bin verrückt geworden.“ Deans Augen zogen sich unglaubwürdig zusammen. „Wieso denkst du, du seist verrückt?“ – „Ich...“, Evelyn wusste nicht, ob sie einem Fremden ihre Hintergrundgeschichte erzählen sollte und das mitten auf einem Bürgersteig, wo sie jeder hören konnte. Doch irgendetwas an ihm verriet ihr, sie konnte ihm auf unerklärliche Weise vertrauen.

„Ich träume seit dem Tod meiner Mutter von Wolken und Nebel. Ich stehe mittendrin und finde nichts um mich herum, außer dich. Wir haben uns noch nie gesehen und trotzdem habe ich von dir geträumt, bevor ich dich überhaupt getroffen hab‘. Macht das Sinn? ... Plötzlich tauchst du in meinem Leben auf und alles ist anders. Vielleicht bin ich wirklich durchgeknallt und habe mich in die Situation reingesteigert... Aber das hier – das – fühlt sich... richtig an.“
Innerlich bereute sie ihren Gefühlsausbruch, sobald sie die letzte Silbe über ihre Lippen gebracht hatte. Wie konnte ich mich so emotional äußern? Zu einem Menschen, den ich gar nicht kenne! Scheiße... Jetzt denkt er sowieso, dass ich nicht bei klarem Verstand bin.
„Ich weiß“, sagte Dean und machte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Ich sehe dich tagtäglich, egal was ich mache.“
Und was jetzt?
„Und was bedeutet das?“, fragte Evelyn direkt. Dean zuckte mit seinen Schultern.
„Das hast du mich heute schonmal gefragt“, sagte er schmunzelnd. „Und ich habe dir schon eine Antwort gegeben.“
Evelyn fiel aus allen Wolken. Sie hatte ihn in ihren Träumen getroffen, ihn wirklich gesehen und zu selben Zeit war auch er in diesen Illusionen gefangen gewesen. Doch seine Antwort war abschreckend. In ihrem Kopf ratterten die Zahnräder und sie kniff ihre Augen misstrauisch zusammen. Evelyn war in Sachen Liebe nicht die Aufgeweckteste, sie verstand nicht sein Empfinden hinter dieser Antwort. Das Einzige, was ihr Gehirn herausfilterte war sein besitzergreifendes Wesen.
Du gehörst zu mir.

„Meintest du das ernst?“ Ihre Stirn runzelte sich. „Ich kenne dich nicht mal“, schnaubte sie und ging einen Schritt zurück. Dean verschränkte wieder seine Arme. „Was sollte es sonst bedeuten?“, fragte er unsensibel und schenkte ihr einen giftigen Blick. „Ich gehöre dir nicht“, sagte Evelyn fest entschlossen. Dean zuckte wieder mit seinen Schultern. „Okay, wie du willst, es wird dir sowieso nichts bringen.“
Zwei Menschen – zwei Seelen, die mit solchen Gefühlen nicht zu tun hatten und nicht wussten, wie man sich am besten artikulierte. Unterbewusst war es ihnen beiden klar: Sie gehörten zueinander.
Evelyn blieb verdutzt zurück und konnte nicht glauben, dass sie sich so zum Affen gemacht hatte und ihm ihre Unsicherheit mitgeteilt hatte.

Evelyn glaubte ohnehin nicht an die wahre Liebe. Nur der Gedanke an dieses stressige Gefühl ließ sie ihr Frühstück hochwürgen. Sentimentalität galt bloß ihrer Familie, denn zuvor hatte sie nie den richtigen Partner an ihrer Seite gefunden. Wenn der eine ein eingebildeter Snob war, war der andere das komplette Gegenteil. Anhänglichkeit war das Schlimmste für sie. Sie liebte es, bei ihrer Familie zu sein, doch genoss ebenso gern allein zu sein. Ihr Gedanke war immer, dass sie ihre Mutter, ihren Vater und ihren Bruder bei sich hatte. Doch nach diesem Verlust, war auch sämtliches Glück überflüssig geworden. 
Sauer steuerte Evelyn wieder Richtung Café, dessen Türglocke hell ertönte. Wenn ich ein normales Leben führen will und unabhängig sein möchte, muss ich auch mein Geld verdienen und anfangen, zu leben.

Der junge Mann, der sie zuvor bedient hatte, sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. 
„Willst du jetzt was essen?“, scherzte er und lehnte sich mit einem Handtuch über seiner Schulter an den Tresen. „Ähm – nein“, lachte Evelyn peinlich berührt und fuhr sich ihr Haar hinter ihr Ohr. „Ich würde gerne hier aushelfen, wenn das ginge.“ 
„Ja klar", lächelte er zuvorkommend. „Ich muss nur noch mit meinem Chef sprechen.“
Evelyn nickte und näherte sich dem Tresen, an dem er lehnte. „Wie heißt du?“, fragte er neugierig und musterte ihr Gesicht. Er schaute sie genauso wissbegierig an, wie Dean es getan hatte, bevor ihm klar wurde, um welche Evelyn es sich handelte.
„Evelyn...?“ sagte sie leicht fragend und schaute ihn interessiert an. „Und weiter?“, grinste er und nahm sich das Handtuch von der Schulter. „Jones.“ – „Okay, Evelyn Jones. Ich schau mal, was sich machen lässt“, zwinkerte er ihr zu, bevor er quer durch den Laden ging und an der Tür zum Büro klopfte.
Das Café war gemütlich klein gehalten. Es war ländlich gestaltet und mehr wie eine Bar aufgebaut. Die Holzoptik passte zur Landschaft sowie die Tische, die ebenfalls aus rustikalem Holz bestanden. Die Stühle waren bequeme Rattan Sessel. Am Tresen standen einige Barhocker in einer Reihe, auf welchen Evelyn sich jetzt hinsetzte.

„Komm rein“, klang seine tiefe Stimme durch die Bürotür, die daraufhin geöffnet wurde. „Evelyn Grace Jones ist hier im Laden“, sagte der Kellner namens Josh zu seinem Chef und gleichzeitigen Blutskollegen Liam, der vor teuflischem Grinsen gar nicht mehr reden konnte. „Endlich“, lächelte er nach ein paar Sekunden entspannt und faltete seine Hände ineinander. „Dann können wir Dean ja kontaktieren“, sagte Josh voreilig und wollte nach seinem Handy greifen. Doch Liam unterbrach ihn direkt. „Nein, nein. Lass ihn noch ein wenig im Dunklen tappen – Lass uns unseren Spaß haben, bevor wir es ihm sagen und sie aushändigen.“ Sein Schmunzeln war das dunkelste, was er jemals von sich gegeben hatte.

Es kam ein Mann mit schwarzen Haaren um die Ecke zu Evelyns Platz. Seine blauen Augen leuchteten förmlich in ihre Richtung. Er hatte ebenfalls einen leichten Bart, der ihn reifer aussehen ließ.
Er schien bloß einige Jahre älter zu sein als sie. Liam’s Blick musterte sie, als er auf sie zu ging. Sobald er vor ihr stand, war Evelyn gezwungen ihren Nacken zu überspannen, er war ziemlich groß.

„Ich bin Liam. Wir können uns Duzen, wenn's recht ist?“, fragte er zuvorkommend und schaute Evelyn tief in die Augen. 
„Ja, sicher“, sagte sie professionell, ohne zu blinzeln und voller Konzentration.
„Du interessierst dich also für einen Job bei uns? Was hast du dir denn vorgestellt?“
„Ich bin neu hier, also ich dachte eher an eine Art Aushilfskraft. Putzen oder Kellnern.“
Er schaute sie mit faszinierten Augen an, als würde er ihr nicht glauben, dass jemand freiwillig putzen würde. Doch es war noch etwas anderes, was ihn entzückte. Liam blickte rückwärts über seine Schulter und warf Josh hinter dem Tresen einen vielsagenden Blick zu. Dieser lachte nur und schüttelte den Kopf. Dass Evelyn-Grace Jones dort einfach so auftauchen würde und in seine Arme rannte, war fast schon eigenartig.
„Na schön. Ich mach den Vertrag fertig und du könntest ab morgen schon hier anfangen“, sagte er zufrieden und umklammerte das Klemmbrett in seinen kräftigen Händen.
„Das wars? Kein intensiveres Gespräch?“, fragte Evelyn verdutzt. „Was meinst du mit intensiv?“ Seine Stimme klang tiefer und fester, woraufhin ihr eine dicke Gänsehaut über den Rücken fuhr. 
„Ähm – schon gut.“ Evelyn errötete und rutschte vom Barhocker, während sie ihm in seine eisblauen Augen schaute. 
„Okay, dann sehen wir uns morgen“, nickte Liam ihr zu und lief nach hinten zu einer Tür, an der ein Metallschild hing mit der Aufschrift Kein Zutritt.

Als Evelyn das Café verlassen wollte, schaute sie noch einmal zurück und erhaschte einen weiteren Blick auf ihren zukünftigen Chef. Es war eigenartig, dass es kein ausgiebigeres Gespräch gab. Doch andererseits war es umso entspannter, morgen schon anzufangen, Geld zu verdienen.

3 - Begierde

 

Seine nackten Füße rannten so schnell wie es sein menschlicher Körper ihm erlaubte, durch den dunklen Wald. Dean spürte die trockenen Laubblätter unter seinen Füßen knirschen und knacken, die Bucheckern bohrten sich förmlich in seine Haut, als er durch dunkles Gestrüpp preschte. Deans Herzschlag hämmerte gegen seine Brust, bevor er erstmals ein Stechen der Luftnot verspürte. Lange konnte er dieses Tempo nicht mehr beibehalten, dann hätte sie ihn mit ihrer übernatürlichen Geschwindigkeit eingeholt, von ihrem starken Geruchssinn abgesehen. Seine grünen Augen trauten sich kein einziges Mal hinter seinen Schultern nach zu schauen, wie weit diese Kreatur von ihm entfernt war. Das Einzige, woran er denken konnte, war seine tierische Angst vor dem Tod, der ihn durch die kalte Dunkelheit jagte.
Die Kälte peitschte ihm bei jedem Schritt, den er in den tiefen Wald tat, gegen Gesicht und Brust.

Seine Hoffnung verließ ihn, als er auf einmal an einer kleinen Hütte ankam, hektisch gegen die Tür klopfte, doch niemand zu seiner Rettung kam. Verängstigt und kraftlos verschmälerten sich seine Augen und ihm wurde klar, dass seine Zeit abgelaufen war. Er rang nach Luft, als existierte kaum mehr Sauerstoff auf der Welt. Er ließ sich gegen die Tür fallen und rutschte an ihr hinunter auf den mit Laub bedeckten Boden.

Schnelle Schritte jagten durch den Wald, die ihn zu dieser Hütte gescheucht hatten. Deans Körper füllte sich mit der eisigen Kälte der Nacht, die ihn umgab.
Plötzlich erschien hinter einem Baum eine schwarze Gestalt, die ihn einfühlsam anschaute. „Ich kann nicht ohne dich dieses Leben leben.“

Deans Herz pochte zum allerletzten Mal mit voller Kraft und er hatte das Gefühl, sein Blut höre plötzlich auf, durch seine Adern zu fließen. Panisch presste er seinen Körper gegen die hölzerne Tür und schaute die Frau an, die langsam auf ihn zukam. Als ein schmales Mondlicht ihr Gesicht traf, erblickte Dean ihre roten, gefährlichen Augen.

„Bitte nicht“, flüsterte er Rauch in die Eiseskälte. Sie schüttelte ihren Kopf und legte ihre Stirn mitleidig in Falten.
„Tu mir das nicht an.“ Seine letzten Worte kratzten wie Schleifpapier in seinem trockenen Hals. Keine Sekunde später hockte seine Mutter mit ihrem blutverschmierten Gesicht vor ihm. Mit glänzenden roten Augen stieß sie ihre scharfen Zähne in ihre Pulsader, ehe das Blut aus ihrem Fleisch suppte. Prompt krallte sie sich Deans Nacken und presste ihr Handgelenk an seine trockenen, rissigen Lippen. Dickflüssiges, kaltes Blut lief seine Speiseröhre hinunter und gelang auf direktem Wege in seine Adern. Keinen Moment später brach sie ihm im Handumdrehen das Genick, woraufhin Dean leblos auf den frostigen Boden fiel.

Mit rasendem Herzen sprang Deans Oberkörper in die Höhe. Grüne Augen stachen durch die Dunkelheit seines Zimmers und klebten geradezu an seinem Spiegelbild gegenüber. Dean strich sich entnervter denn je über sein Gesicht und rieb sich mit seinen Handballen seine müden Augen. 
Wie er sein Wesen verabscheute. Wie er seine Mutter verabscheute, die ihm dieses unheilvolle Leben geschenkt hatte. Nachdem er sie der Einsamkeit überlassen hatte, wollte er sein Leben normal weiterleben – Doch es lief anders als in seinen perfekt durchgeplanten Gedanken.

Sein Hunger war widerlich. Doch er musste ihn stillen. Nur durch Evelyn war er in dieser Stadt geblieben, es war der Plan seiner Mutter sie zu finden und zu ihr zu bringen – das wollte er auf gar keinen Fall tun. Er musste gehen, er musste sich von ihr abwenden und sie ihr Leben leben lassen. In seinem Hinterkopf tauchte dennoch die Ungewissheit auf, vor der er seit seinem ersten Traum gebangt hatte: Wusste Liam, dass Evelyn hier war?

Zur selben Zeit wälzte sich Evelyn in ihren Bettlaken umher und hatte denselben Albtraum durchlebt, den Dean damals durchmachen musste. Jedoch war sie es, die gejagt und schlussendlich mit gebrochenem Genick auf dem kalten Laubboden lag. Evelyn setzte sich mit nervösem Puls auf ihre Bettkante und schaute aus ihrem Fenster, das Richtung Wald ragte. Die restliche Nacht lag sie wach unter ihrer Bettdecke und schaute immer wieder hinaus aus dem Fenster. Diese roten Augen waren furchteinflößend gewesen. Diese Hütte war ihr bekannt – sie hatte vor ein paar Augenblicken noch entspannt darin geschlafen.

Die Herbstmonate hatten begonnen und schon bald fiel das ein oder andere orangene Blatt auf den asphaltierten Bürgersteig, auf dem Evelyn gerade zum Café lief und Kastanien vor sich her kickte.

Es waren nun zwei Monate vergangen, in denen sie so langsam in diesem Leben ankam. Sie hatte einen gutbezahlten Job, wenn auch ein wenig zu gut bezahlt. Doch wieso sollte man sich darüber beschweren. Ihr huschte bei diesem Gedanken ein Schmunzeln über die Lippen.
Dennoch fehlte irgendwas. Als sei sie nicht vollkommen. Nachts lag sie oft wach und dachte an die verschwommenen Szenen, in denen sie endlich mit Dean gesprochen hatte. Wenn auch nur kurz. Sie sah seine grünen Augen, sobald sie ihre Augen schloss. Als sei er nie wieder zu erreichen, ihr Herz fühlte sich schwer an.
Evelyn schüttelte die Gedanken von sich, es war ihr unangenehm, so zu empfinden. Er war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.
Wie konnte ein Mensch, von dem sie bloß den Namen kannte, so eine Präsenz in ihrem Leben einnehmen. Deans Stimme hallte in ihrem Kopf, wenn sie mal nicht an ihre Arbeit dachte – so gut wie jede halbe Stunde.

Als Evelyn um die Ecke bog, fiel ihr Blick auf einen bestimmten Fleck von dunkelblonden Haaren. Träumte sie oder war es wirklich Dean, den sie nach zwei Monaten endlich wiedergesehen hatte?
Den ganzen Tag über ließen sie ihre Gedanken nicht in Ruhe. Seine Stimme drang durch ihren Kopf und jedes Mal spürte sie diese Besessenheit, ihn wieder zu treffen.

Schon seit einigen Stunden spürte sie blaue, intensive Augen auf ihrem Rücken.

In den letzten zwei Monaten hatte sich Liam zurückgehalten, sie beobachtet und sich vergewissert, dass es die Evelyn-Grace war, die er brauchte. Dennoch hatte er sich nicht einmal getraut, ihr näher zu kommen. Was würde der Drahtzieher davon halten, wenn er wüsste, dass Liam der beliebtesten Beute ein Haar gekrümmt hatte.
Bei ihrer kleinsten Bewegung merkte Evelyn, wie sie von ihm beobachtet wurde.
Liams Augen folgten ihr, als sie nun einen Tisch bediente, an denen zwei Männer saßen, die ihren Hunger kaum verstecken konnten.

„Wie heißt du?“, fragte einer von ihnen verlangend und schaute hungrig auf ihr Dekolleté, als Evelyn sich vorlehnte, um den Tisch für sie frisch abzuwischen. Seine Blicke waren ihr unangenehm. Ihr angeekelter Blick blieb ihm nicht verborgen.
„Wollt ihr was bestellen?“, fragte Evelyn monoton und starrte auf ihren Notizblock. Genervt klickte sie ihren Kugelschreiber und wartete auf eine vernünftige Antwort.
„Wann hast du Feierabend?“, grinste der andere dreckig und leckte sich seine Lippen. Angewidert starrte Evelyn ihn an. Voller Entsetzen fand sie keine Worte für dieses Verhalten. Diese Männer waren höchstens in ihren Endzwanzigern und belästigten eine 23-jährige. Wo bin ich hier gelandet? Sie verdrehte ihre Augen.

„Also, was wollt ihr bestellen?“, stöhnte sie genervt.
„Dein Stöhnen gefällt mir“, flüsterte der erste und seine braunen Augen schienen plötzlich rötlich. Diese Augen waren Evelyn schonmal begegnet, sie erinnerte sich plötzlich an ihren Traum. Ihre Finger wurden nervöser und sie verengte verwirrt ihre Augen. Was bedeutete das?
Ein ungewöhnliches Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus, es war nicht dasselbe Gefühl wie letzte Nacht. Es war anders – sie fühlte sich mutiger als in ihrem Traum.

Seine roten Augen trafen ihre unschuldigen braunen Rehaugen und Evelyn wollte ihm für seine widerlichen Worte und sein Verhalten einen Denkzettel verpassen.
Noch bevor Evelyn etwas machen konnte, stand Liam plötzlich neben ihr und unterbrach Evelyn in ihrem Vorhaben, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. „Wenn du das machst, muss ich dich feuern“, flüsterte er in Evelyns Ohr und verbreitete eine dicke Gänsehaut auf ihrem Nacken, als er zudem noch ihre Hand festhielt.

Sie presste ihre Lippen zusammen. „Übernimm du den Tisch“, spuckte sie zwischen ihren Zähnen hervor und stieß ihm den Notizblock und den Stift gegen seine muskulöse Brust.
Er schaute ihr noch schmunzelnd hinterher und drehte sich zu seinen Gästen. „Wenn ich euch noch einmal hier sehe, werdet ihr diesen Laden nie wieder verlassen“, flüsterte er bedrohlich. „Dann stell keine heißen Blondinen ein“, knurrten sie zurück.
Daraufhin antwortete Liam nichts mehr, doch schenkte ihnen noch einen warnenden Blick, bevor er zurück zum Tresen lief.
„Tut mir leid“, sagte Liam mit kühler Stimme und legte Evelyn ihren Notizblock auf die Arbeitsplatte. 
Wenn ich die noch einmal sehe... spielten ihre Gedanken verrückt und Liam starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Egal was du denkst – ich würde es dir nicht empfehlen“, zwinkerte er. „Du hättest sie zumindest rausschmeißen können. Das war ekelig“, flüsterte Evelyn augenverdrehend.
Liam fing an zu grinsen und wandte seinen Blick von ihr ab. „Du siehst halt gut aus“, zwinkerte er ihr zu, bevor er sich wieder auf den Weg in sein Büro machte. 
War das ein ungebetenes Kompliment?

Evelyn atmete tief aus, sie hatte sich nicht mal bedankt, dass er sie aus dieser Situation befreit hatte.
„Kannst du kurz übernehmen?“, fragte sie Josh, ihren Arbeitskollegen hinter dem Tresen, und lief durch das Café bis zu Liams Bürotür, doch klopfte, bevor sie eintrat. 
Der Türknauf drehte sich und Evelyn streckte ihren Kopf durch den Spalt. „Hallöle“, versuchte sie die Stimmung zu lockern – sie hasste es, mit einer Person alleine in einem Raum zu sein.
Gott, war das peinlich.

„Ich wollte mich nur bedanken für gerade“, sagte Evelyn schnell und begutachtete sein von Licht erstrahltes Büro. Die kühle Herbstsonne schien durch die großen Fenster, durch die man sogar den Ausblick auf die Felder genießen konnte. Ihre Augen wanderten durch den Raum und versuchten, Liams strahlendblaue Augen nicht anzuschauen.

„Kein Problem“, lächelte er und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Wie alt war er wohl? So erfolgreich in seinem Job und trotzdem keine zehn Jahre älter als sie.
„Kann ich dich mal was fragen?“, riss er sie aus ihren Gedanken. Evelyn zuckte lächelnd mit ihren Schultern. Sie stand immer noch an der geschlossenen Tür und musterte seine Einrichtung.
„Ich habe heute Geburtstag“, sagte er. „Und ich feiere heute bei mir zu Hause.“
Evelyn schluckte und ihre Augen vergrößerten sich vor Scham. „Dann... Herzlichen Glückwunsch“, grinste sie unangenehm und verschränkte ihre Hände vor ihren Hüften. „Danke – Du bist gerne eingeladen“, raunte er mit einem gewissen Unterton und einem inneren Hunger, der ihn innerlich bald zerriss.

Evelyn kaute auf ihrer Unterlippe, als seine stechend blauen Augen ihre trafen. Er räusperte sich, lehnte sich wieder vor und musterte sie von oben bis unten. 
„Nein, lieber nicht, ich kenne da niemanden“, platzte es aus ihr heraus und Evelyn runzelte verunsichert die Stirn. „Du kennst mich“, zuckte er mit seinen Schultern und ließ es sich nicht entgehen, eine hübsche Frau zu sich einzuladen. Womöglich seine beste Chance, ihr vielleicht doch ein paar Haare zu krümmen.

„Ich weiß nicht, wo du wohnst“, entgegnete sie ihm weiterhin. „Kann man ändern“, sagte er und stand nun auf. Seine Schritte näherten sich ihrem schlanken Körper und seine schwarzen Locken lagen wild auf seinem Kopf. Schlecht sah er gar nicht aus, er war ziemlich attraktiv. 
Sie hielt die Luft an, als er kurz vor ihr stehen blieb und ihr Gesicht beäugte. „Also?“, flüsterte er leicht und schaute ihr tief in ihre kastanienbraunen Augen, die von den Sonnenstrahlen hell erleuchtet waren.
„Na schön“, seufzte sie schwach und konnte ihren Blick nicht abwenden.

„Gut. Mount Whistle Road, am Ende der Straße“, beendete er ihr Gespräch und ging zurück zu seinem Schreibtisch, nachdem er Evelyn mit einer dicken Gänsehaut stehen gelassen hatte.
Evelyn verließ mit einem tiefen Seufzen das Büro und schloss hinter sich die Tür, an der sie ihren Hinterkopf anlehnte. Scheiße...

Gegen 18 Uhr schloss Liam das Café ab, Evelyn bekam so langsam das Gefühl, dringend auf Toilette zu müssen. Sie war so aufgeregt gewesen, wie schon lange nicht mehr.
„Dann bis gleich“, sagte Josh zu Evelyn, als sie gerade aus der Tür ging. „Du kommst auch?“, fragte sie erleichtert und ihre Angst, niemanden zu kennen, nahm zu einem Prozent ab. Evelyn – allein unter Menschen – unsozial und unsicher.
„Natürlich – Alle kommen“, grinste er. „Alle?“ Evelyns Stimme zitterte plötzlich wieder.
„Jeden, den Liam halt kennt“, sagte Josh noch, bevor er sich dann auch auf den Weg nach Hause machte.

Evelyn nickte leicht. Hoffentlich ist es kein Menschenauflauf. Sie hasste es, aus ihrer Comfortzone rausgezogen zu werden.

Zu Hause angekommen und durchgefroren, da die Temperaturen stark gesunken waren und Evelyn bloß eine dünne Jeansjacke getragen hatte, wärmte sie sich schleunigst unter ihrer Dusche auf.

Nach dieser entspannten heißen Dusche trocknete sie sich ab und öffnete das kleine Fenster, damit der heiße Dampf entziehen konnte. Mit einem Handtuch auf ihrem Kopf stellte sie sich vor den beschlagenen Spiegel ihres Wandschrankes. Ihre Hand wischte den feuchten Wasserdampf zur Seite und sie erblickte seine wunderschönen grünen Pupillen. Erschrocken drehte sie sich um, doch er stand nicht hinter ihr. Sein Gesicht war perfekter denn je gewesen. Langsam drehte sie sich wieder zu ihrem Spiegelbild um und schaute noch einmal schräg hinter sich, doch natürlich war er nicht zu sehen. Sie war verrückt. Ganz klar.

Was zog man zu einer Geburtstagsparty an, wo man kaum jemanden kannte und niemand ihr das Thema genannt hatte? Sexy oder casual? Evelyn stand komplett überfordert vor ihren Anziehsachen, die im Schrank hingen. Sie hatte für jeden Stil etwas Passendes, doch für was sollte sie sich entscheiden? Würde sie sich zu sexy anziehen, würde sie sofort auffallen und an den Lästereien ersticken. Würde sie zu casual auftreten: Genau dasselbe. Ihr entging ein Frustrationsseufzer und sie schlug die Hände in ihrem Nacken zusammen. Dafür, dass ihr scheinbar immer alles egal war, war ihr jetzt nichts egal. Sie schmiss sich ins kalte Wasser, auf eine PARTY.

Sie griff mit zugekniffenen Augen in ihren Schrank und entschied sich, die Stile zu kombinieren. Schwarz-weiß ging immer. 
Nachdem sie sich angezogen hatte, hatte sie wohl keine andere Wahl, sich nach langer Zeit mal wieder zu schminken. Wenn es auch bloß Wimperntusche und Lidschatten war, sah Evelyn prompt schicker und erwachsener aus. Mit einem Seufzer zog sie sich ihre fellbesetzte Lederjacke an und rief sich ein Taxi zu Liams Adresse. Mit zittrigen Händen saß sie den gesamten Weg auf dem Beifahrersitz und schaute aus dem Fenster.

Was würde sie tun, wenn sie ankam? Liam suchen? Das wäre dämlich. Das Taxi bog in die Straße ein und Evelyn schluckte nervös. Sie war doch eigentlich kein Mensch für Menschenaufläufe. 
HELP!
Sie musste mit Schrecken feststellen, dass es sich hier um eine riesige Hausparty handelte. Das Taxi hielt an und Evelyn schaute kribbelig auf ihr Handy, das ihr 21 Uhr anzeigte. Sie schluckte. Sie war wenigstens nicht zu früh. Fingen Partys nicht immer erst um diese Uhrzeit an? Jedenfalls konnte sie beruhigt sein, es taumelten schon einige Gäste auf der Auffahrt umher. Mit Gleichgewichtsstörungen hielten sie ihre Becher in den Händen. Niemand würde sich um sie scheren.

Sie bezahlte den Fahrer und stieg wohl oder übel aus dem Wagen. Als sie die Autotür schloss, hörte sie schon ihren Namen. 
„Evelyn!“, rief jemand leicht betrunken. Sie kniff ihre Augen zusammen und stöhnte.
Das wird mein Abend, ich spür's. 
Ihr Sarkasmus triefte nur so auf den Vorhof. Nicht, dass sie noch ausrutschte.

Evelyn drehte sich um und erblickte Liam, wie er mit zwei Bechern auf sie zu gelaufen kam. 
„Hey“, lächelte sie leicht und klammerte sich an ihre Umhängetasche. Das war das erste Mal, dass sie sich unter Menschen traute, nachdem ihr Bruder gestorben war. 
Mit ihm war auch ihr Selbstbewusstsein umgekommen.

Liam reichte ihr plötzlich einen der vollen Becher und grinste sie strahlend an. „Hier, nimm“, lud er sie ein. Er bemerkte jedoch, dass er ihr in seinem Rausch den falschen Becher gereicht hatte. „Warte!“, ließ er Evelyn plötzlich zusammenschrecken. Liam schnappte sich blitzschnell seinen leckeren, saftig gefüllten Becher und gab ihr den anderen mit Alkohol. Verwirrt von seinem Auftreten runzelte Evelyn leicht grinsend ihre Stirn und nickte ihm zu, als sie anstießen und die Becher ihre Kehlen runterkippten.
Er lachte nur und legte seinen Arm um ihre Schulter, als sie sich seiner Haustür näherten. Ein Schauer durchzog Evelyns Körper von der Stelle aus, wo er sie berührt hatte. Es war eisigkalt. Evelyn drehte sich weg, wodurch er seinen Arm runterfallen ließ. Sie schaute ihn mit einem unmissverständlichen Blick an. Dieses dunkle Gefühl hatte sie noch nie zuvor gespürt. Als habe sie der Tod berührt.
„Lass das lieber“, sagte Evelyn etwas unfreundlicher und musterte Liam. Er zuckte mit seinen Schultern und tat so, als sei nichts passiert. Evelyns Augen fixierten seine Gesichtszüge. Sie hatte sich dieses Gefühl bloß eingebildet, dachte – nein – hoffte sie.
Liams Haus war ein Amerikanischer Traum in Südengland. Evelyn staunte nicht schlecht, als sie das Wohnzimmer betraten, in welchem die laute Musik nur so dröhnte. Die weißen Marmorfliesen und die Ausstattung ließen darauf schließen, dass Liam zu viel Geld für sein Alter besaß. Als könne er ihre Gedanken lesen, fragte er sie: „Wie alt bist du nochmal?“

„Dreiundzwanzig“, schrie sie gegen die Lautstärke an und erntete nur ein verwirrtes Kopfschütteln seinerseits. Evelyn stöhnte innerlich gequält. Liam konnte sein schelmisches Grinsen so gut es ging unterbinden, denn er liebte es, mit seiner Beute zu spielen. Selbst ihren Herzschlag konnte er aus hundert Kilometern Entfernung gegen ihre menschliche Brust schlagen hören.
Sie näherte sich seinem Körper und seinen blauen Augen, die sie erwartungsvoll anschauten, die jedoch durch seine Begierde ihren Glanz erhielten. Ihre Hand, die den leeren Becher festhielt, berührte ungewollt seinen strammen Oberkörper, wodurch abermals ein kalter Schauer durch ihre Finger zog und ihre Augen prompt in seine schauten.
„Dreiundzwanzig!“, wiederholte Evelyn sich schnell und wich seinem Blick aus. Sein Parfüm stieg ihr dabei in die Nase und benebelte sogleich ihr Gehirn. Er roch ziemlich anziehend, jedoch hatte dieser Geruch nicht dieselben Auswirkungen auf Evelyn, wie auf so viele andere Mädchen, die seine Beute spielten.
„Und du?“, fragte sie automatisch, als er sie von seinem guten Drink benommen anschaute, anstatt zu antworten. 
„Achtundzwanzig“, raunte er verständlich in ihr Ohr und grinste leicht, sobald er sich ihrem duftenden Gesicht genähert hatte. Selbstbewusst und durstig näherte sich auch seine Hand plötzlich ihrer Hüfte. „Was soll das werden?“, fragte Evelyn ihn misstrauisch. Liam zog beeindruckt seine Augenbrauen hoch. „Soll ich dir das Haus zeigen?“, wechselte er mit einem Schmunzeln einfach so das Thema.

„Bekomme ich noch einen?“, fragte Evelyn erhitzt, um erst einmal Abstand zu erlangen. Sie hob unschuldig ihren leeren Becher in die Höhe. „Natürlich“ sagte er. „Warte hier“, raunte er ihr dann wieder ins Ohr. Evelyn schluckte und lächelte ihm zu. Hauptsache Alkohol.
Evelyn beobachtete an eine Wand gedrängt die tanzende Menge an Frauen und Männern, wie sie sich lustvoll aneinander rieben. Mit 23 konnte sie mit sowas dennoch nichts anfangen. „Hier, bitte“, zog Liam sie aus ihren Gedanken und überreichte ihr Barcadi Sprite.
„Lecker“, hauchte sie, als sie ihn runtergekippt hatte. „Wow, der Abend soll wohl schnell enden“, lachte Liam leicht verstört. 
„Komm mit“, sagte er bloß und nahm sich ihre Hand. Es fühlte sich unglaublich merkwürdig an, ihn anzufassen. Liam schleifte sie gerade die Treppe hinauf in die erste Etage, wo sich ein riesiger Balkon mit Whirlpool an der Hauswand erstreckte.
Als sie die Treppe hinaufliefen und an einer Gruppe junger Männer vorbei gingen, spürte sie die beiden Becher in ihrem Organismus kreisen, denn auf einmal standen vor ihr grüne bekannte Augen.
„Was geht“, begrüßte Liam seine Kollegen und umarmte sie brüderlich. Ebenso Dean.
Evelyn wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie hatte ihn seit zwei Monaten nicht gesehen. Kein Meter entfernt stand sie von ihm weg und war in einer Schockstarre gefangen. Seine dunkelblonden Haare waren an den Seiten kürzer, lagen aber perfekt hochfrisiert, sodass man sein tadelloses Gesicht begutachten konnte. Er stand dort in sich gekehrt, immer noch fluchend, wieso er doch wieder zurückgekommen war. Zwei Monate waren vergangen, in denen er gegen sein Inneres gekämpft hatte, bis er letzten Endes nachgegeben hatte. Dieser Drang, sie vor den ganzen Monstern zu beschützen war mit jedem Kilometer, den er mehr von ihr entfernt war, gewachsen.
Deans Becher war schon zum fünften Mal gefüllt worden. Mit dem Drang, ihr näher zu kommen, nahm auch sein Hunger zu. War das seine persönliche Hölle?

Bis einer seiner Freunde Liam anstupste, hatte er nicht einmal bemerkt, dass sie bei ihm stand. Sein Körper war in einem unglaublichen Rauschgefühl gefangen.
„Ey, wer ist die Kleine, teilst du?“, fragte einer der Blutsauger.
Sein dreckiges Grinsen war nicht zu übersehen gewesen. Evelyns Augen zuckten argwöhnisch zusammen und sie entfernte sich einige Zentimeter von der Gruppe. Ihre Augen klebten an Deans, als er hochschaute und Evelyn vor sich stehen sah. Seine Lippen trockneten augenblicklich aus und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Sie war hier. In den Händen eines rachsüchtigen Vampirs.
„Niemals“ lachte Liam nur und legte wieder seinen Arm locker über Evelyns Schulter, die leicht zusammenzuckte. Evelyn entging bloß ein unangenehmes Lächeln. Innerhalb nur einiger Sekunden spürte Evelyn Deans intensiven Augenkontakt. Es fühlte sich wie die Ewigkeit an, als er sie anschaute. Sein Blick war ausdruckslos, er war nicht zu beschreiben. Es war keine Freude, es war keine Betrübtheit, nichts dergleichen. 
Er schluckte seinen Becher hinunter, doch es brachte alles nichts. Seine Kehle war staubtrocken.
„Bis später dann“, sagte Liam entspannt und zwinkerte den Jungs zu, was sie zum Lachen brachte, doch Dean stieg nicht mit ein. Speziell Dean hatte Liam angegrinst, er wusste, dass es die richtige Evelyn war.
Sie schluckte unsicher und runzelte hilflos ihre Stirn, als Liam sie wegzog, indem er mit seinem Arm ihren Körper steuerte. 
Er schaute Liam gereizt hinterher, seine Augen färbten sich langsam rötlich.

„Ich komm gleich wieder“, sagte er dunkel zu seinen Kollegen und trank den letzten Schluck, als er durch den Flur lief. 
„Dean“, rief ein Mädchen seinen Namen und lehnte lüstern an der Wand. „Nicht jetzt, Lia“, wies er sie ab und schaute sie angewidert an. Seine Hand ließ den Becher auf den Boden fallen, als er plötzlich gierig gegen die Wand gedrückt wurde. 
„Jules“, stöhnte er genervt und verdrehte seine Augen. „Lass mich los“, grummelte er genervt und schaute immer wieder in Liams Richtung. „Du hast noch etwas gut bei mir“, stöhnte sie in sein Ohr und leckte verführerisch über seinen Hals. Wütend stieß er sie von sich. 
„Achso – sie darf dich anfassen?“, fragte auf einmal Lia, völlig entrüstet mit verschränkten Armen. Dean seufzte auf und drehte ihnen den Rücken zu.

Evelyn stand mit Liam bei Josh und einem weiteren Kollegen namens Sam. In ihrem Gesicht sah man das Unbehagen, sie würde alles eintauschen für einen ruhigen Abend in ihrem Bett mit einem Glas Wein und einem guten Buch.
Seine wutentbrannten Augen fixierten ihre sanften Gesichtszüge, als sie sich mit Josh unterhielt. Auf einmal wanderte Liams Hand über ihren Rücken hinunter zu ihrer Hüfte. Liams Gedanken waren zu laut, um sie zu überhören.  
„Liam!“, rief Dean laut und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Evelyns Herz stolperte, es wollte verdammt nochmal aus ihrer Brust springen. Dean stand unmittelbar neben ihr, doch er schaute nur Liam an. Sie bekam nicht einmal mit, worüber sie sich unterhielten. Sie war wie in Trance.

„Wie geht’s dir?“, grinste Dean spielerisch und schaute mit seinen charmanten grünen Augen auf seine Hand, die er verdammt nochmal von Evelyn fernhalten sollte. „Gut...“, sagte Liam in einem gefährlichen Ton. „Was willst du hier?“, fragte er misstrauisch. „Wer ist deine Begleitung?“, fragte Dean mit rauer Stimme und steckte seine Hände in seine vorderen Hosentaschen.
Evelyn runzelte verwirrt ihre Stirn und wollte am liebsten etwas sagen, doch sie hatte das Gefühl, dass es hier um etwas anderes ging. „Evelyn“, grummelte Liam, versuchend, freundlich zu klingen.
Evelyns bemerkte, wie Dean plötzlich seinen Kiefer anspannte. Könnten Blicke töten, dann wäre Liam nun langsam erwürgt worden. „Wo warst du eigentlich?“, fragte Liam ihn scheinheilig und lächelte ihn falsch an. Josh und Sam schauten sich vielsagend an und verließen diese unangenehme Situation nur gerne. 
„Das geht dich nichts an“, knurrte Dean und seine Augen verdunkelten sich plötzlich. Evelyn empfand sein Äußeres alles andere als angsteinflößend, als sie bemerkte, wie er langsam auf Liam zuging und ihn von ihr drängte. Liams Hand ließ ihre Seite los und er konzentrierte sich auf Dean, der sich zu ihm vorbeugte und etwas in sein Ohr flüsterte. Liams Augen funkelten gefährlich, als Dean sich wieder zurücknahm und seine Arme verschränkte. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab.
„Komm mit“, sagte Dean zu Evelyn und lief trocken an ihr vorbei.
 Wenn du das verbockst, bring‘ ich dich um. Liams Gedanken ließen Dean in sich hineingrinsen.

Dean lief den gesamten Weg die Treppen hinunter ins Wohnzimmer, in dem alkoholisierte Menschen sich gegenseitig aufheizten. Evelyn wusste nicht, ob es der Alkohol war oder die ohrenbetäubende Musik, die ihren Körper mit Adrenalin fütterte, doch sie wollte ihm viel näher sein, als sie es gerade war. Der Bass dröhnte durch ihre Venen, weshalb ihr Inneres nur so nach ihm schrie.
Unten im Erdgeschoss roch es nach Genuss und Leidenschaft. Der Bass wummerte in Evelyns Ohren und ließ den Alkohol in ihrem Blut wie eine Trance wirken.
Dean bemerkte, wie Evelyn sich an ihn drückte, als die Tanzwütigen sie immer mehr zu sich in die Mitte zogen. Dean spürte ihre heiße Haut durch sein T-Shirt und er zog sie sicherheitshalber zu sich. Evelyns Körper presste sich automatisch an seine Brust und ihr Puls stieg in die Höhe. Nie hätte sie es für möglich gehalten, ihm nochmal so nah zu sein.

Sein seelenloser Körper füllte sich auf einmal mit einem bekannten Empfinden. Hunger. Sein Kopf brüllte nach außen, sodass er schon beinahe das Gefühl hatte, jeder andere Vampir in diesem Haus könnte ihn hören. Die Lust in ihm stieg an, die Bässe und die fünf Becher voll frischem Blut hatten ihn zu sehr gepackt.
„Wollen wir lieber raus gehen?“, fragte Evelyn ihn laut genug, sodass sie ihn verstand. Dean nickte schleunigst, das kam ihm zugute.
Seine Lippen waren ihr unfassbar nahe, als sie ihn diese rettende Frage gestellt hatte. Sein Atem strich über ihren Nacken und ihre Haare sträubten sich auf. Wie ein Elektroschlag fuhr es durch ihren Körper. Dean nickte und schnappte sich beim Vorbeigehen einen weiteren Becher von der Bar, die in Liams Wohnzimmer stand. Vor Evelyn bahnte sich Dean seinen Weg durch die tanzende Menge an Mädchen, die sich um seine Aufmerksamkeit bemühten. Unwohler konnte er sich nicht fühlen vor Evelyn. Die herumtanzenden Bluttransporter fehlten ihm noch.
Evelyns Blick verriet schon alles: Sie verstand, dass er ein Frauenheld war. Mit hochgezogenen Augenbraunen beäugte sie die Scharr an Frauen, die seine Interesse wecken wollten.

Als sie durch eine große Terrassentür traten, erschlug die kalte Luft förmlich Evelyns unbedeckte Haut. 
„Dean!“, kreischte eine weibliche Stimme, doch er verdrehte bloß seine Augen, ohne zu antworten. Evelyn beobachtete dieses Spektakel mit großen Augen. 
„Du hast dich gar nicht mehr gemeldet“, zickte die Brünette und strich mit ihren Fingern eine Strähne aus ihrem Gesicht. 
„Ich hatte keinen Grund dafür“, blockte er kühl ab. Sein Blick galt Evelyn, die mit hochgezogenen Augenbrauen ihren Becher exte. 
„Wieso denn nicht? War ich nicht gut genug für dich?“ Ihre Stimme wurde allmählich nervig.
Unerwartet starrte Dean in ihre enttäuschten, durch Alkohol schielenden Augen. „Verschwinde endlich und vergiss mich“, murmelte er konzentriert und nahm sich einen Schluck aus seinem Becher. Evelyns Augen sahen zum aller ersten Mal die Vorteile eines Vampirs. Das Mädchen machte auf ihrem Absatz kehrt und schien ihn nicht weiter zu belästigen.
„Wow, das war ja leicht“, kicherte Evelyn leicht verdutzt. Dean schaute ihr noch einige Sekunden hinterher und hatte nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, es nicht zu offensichtlich zu machen. Doch sie hatte nur genervt, alle nervten ihn. Er hatte es satt, ständig anwesend zu sein. Er wollte doch nur sterben.

„Wie hast du das denn gemacht?“, grinste Evelyn begeistert und schaute ihn erwartungsvoll an.
„Das brauch dich nicht zu interessieren“, antwortete er scharf. Evelyns Augen weiteten sich. „Oh-kay? Hast du Aggressionsprobleme?“, fragte sie geradewegs. Evelyns Augen rissen sich wieder einmal auf und sie wünschte sich, im Erdboden zu versinken. Sowas fragt man nicht du dummes Stück Schei... „Lass uns einfach nur reden“, unterbrach er ihre Gedanken. Er kratzte sich am Hinterkopf und dabei fielen Evelyn seine Accessoires auf. Er trug an seinem rechten Ringfinger einen dicken silbernen Ring und ein tibetanisches Armband um sein Handgelenk.
„Sieht gut aus.“ Evelyn zeigte mit ihrem rechten Zeigefinger auf sein Armband. „Danke“, lächelte er freundlich zurück. Stille. Das ist mir unheimlich.
„Evelyn“, sagte er gefasst, jetzt aber mit einem etwas dunkleren Ton, ohne sein Lächeln auf den Lippen. 
„Hast du auch nen Zweitnamen?“, fragte er hinterher und musterte sie angespannt. „Ja, den mag ich aber nicht“, lachte sie mit starkem Alkohol in ihren Venen und Evelyn hatte das Gefühl, dass er nicht so einen Spaß an ihrem Smalltalk hatte, wie sie.
„Und wie heißt der?“, fragte er dringlich. Evelyn legte ihre Stirn in Falten. „Warum fragst du mich das?“, fragte Evelyn kichernd und schluckte kurz auf. Dean näherte sich ihr prompt und schaute ihr tief in die Augen. Seine grünen Pupillen waren betäubend. Evelyn ließ sich fallen und genoss seine Nähe und seinen Duft um sie herum.
„Wie lautet dein Zweitname?“, fragte er in derselben monotonen Stimmlage, wie er auch das Mädchen zuvor weggeschickt hatte. Evelyn kicherte wieder nur. „Du bist komisch“, sagte sie ernst. Dean reagierte, als sei es nicht die richtige Reaktion ihrerseits. Irgendetwas an ihr beschützte sie vor seiner Gedankenmanipulation.
Evelyn atmete ihren Barcadi aus.
„Grace“, sagte Evelyn leise und schaute ihn weiterhin an. Er wollte gerade etwas sagen, da hörte Evelyn ihren Namen von der Verandatür. 
„Grace!“ Liam näherte sich und trug sein schönstes Lächeln im Gesicht. Seine strahlend weißen Zähne schienen wie der Mond. 
„Was?“, fragte Dean in einem unfreundlichen Ton und unterbrach diesen traumatisierenden Augenkontakt.
„Heißt du jetzt Grace?“, lachte er. Er kam zu den beiden hinaus in den Garten.
„Was willst du hier?“, sagte Dean scharf und drehte sich ihm zu, sodass Evelyn hinter ihm stand. 
„Geht dich nichts an“, leckte Liam sich über die Lippen. „Verschwinde“, knurrte Dean schlau genug, um zu wissen, was er von ihr wollte.
„Willst du das wirklich hier ausdiskutieren?“, grinste Liam ihn berauscht vom Blut einer Brünetten an. „Wenn's sein muss“, zuckte Dean gleichgültig mit den Schultern. 
„Heute ist mein Geburtstag“, lächelte Liam provokant. „Nicht an meinem Geburtstag“, schüttelte er seinen Kopf und wandte sich dann an Evelyn. Er kam näher, doch Dean stellte sich einen Schritt weiter vor sie.
„Wir sehen uns auf der Arbeit“, flüsterte er ihr zu und lief so nah an ihr vorbei, dass er ihren Geruch mitnehmen konnte. Seine Nase verarbeitete diesen leckeren Gedanken im Handumdrehen. Wie ein Blitz schlug er seine Fangzähne in Evelyns Hals. Evelyns Schrei erfüllt die ganze Nachbarschaft. Deans Puls tobte, als er Liam genauso schnell von Evelyns zitterndem Körper riss und ihn quer durch den Garten geschmissen hatte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank Evelyn auf ihre Knie. Dean schluckte, als er die rote Flüssigkeit an ihrem Hals hinunterlaufen sah. Unter Schock legte sie ihre Handfläche auf die betroffene Stelle, hob ihre rechte Hand vor ihr Gesicht und lenkte die Aufmerksamkeit auf den in Blut getränkten Ring um ihren Zeigefinger.

Auf einmal färbten sich Deans Augen gefährlich rot. Seine Augenschatten nahmen eine eigenartige dunkle Kontur an, die sich bis in die Augenhaut zog, wodurch sein schimmerndes rot in den Mittelpunkt geriet. Evelyns Ausdruck in ihrem blassen Gesicht war der Grund, weshalb Dean die Stadt verlassen hatte. Er sah in ihrem Gesicht die unschuldige Welt, die gerade in Stücke zerbrach.
Bevor Liam Evelyn noch einmal anfassen konnte, stürmte Josh auf die Terrasse. „Du kommst jetzt erst?!“, brüllte Liam ihn an und seine Venen flossen gefährlich in seine roten Augen. Ehe eine Antwort kam, lagen sein Kopf und sein Körper getrennt voneinander auf dem steinernen Boden. Als Liams einziger Verbündeter zu Boden fiel, sah man Dean hinter ihm stehen. Blut floss aus seinen Mundwinkeln und seine Hände waren verschmiert durch die Trennung von Joshs Kopf und seinem Körper.

„Du bist zu weit gegangen“, knurrte Liam leise. Er griff sich rasch die Axt, die auf einem Baumstumpf lag und stieß sie Dean in die Brust. Dean prustete aggressiv seine verbleibende Luft aus seinen Lungen und riss sich ohne großen Schmerz die Axt aus seiner Brust. Ein dumpfer Ton erklang, als sie zu Boden fiel und er Liam mit hasserfülltem Blick ansah. Als würden sie in Lichtgeschwindigkeit agieren, ergriff Dean Liams Kehle und drückte sie voller Wut in seinen Händen zusammen.
Evelyn saß zusammen gekauert in einer Ecke und verstand die Welt nicht mehr. Sie verfolgte mit ihren schockierten Augen Deans Taten. Wie er sich jetzt einen dreckigen Ast aus seiner Seite zog und ihn in Liams Schulter rammte.
Evelyns Augen glaubten nicht an das, was sie sahen. Der Horror um sie herum stoppte jedoch nicht ihre Hoffnung, noch flüchten zu können. Sie kroch aus ihrer Ecke und schlich los, doch als Evelyns Fuß gerade über den Kopf von Josh treten wollte, schnappten zwei kräftige Arme nach ihr, die ihren schmalen Körper festhielten. „Fass mich nicht an!“, schrie Evelyn in Blickrichtung zu Liam und schlug ihm mit ihrer rechten Handfläche ins Gesicht. Ohne jegliche Gesichtszüge sanken seine Zähne in ihren weichen Nacken, die ihr das Leben aussogen. Bloß unerklärliche Millisekunden nach ihrem Schlag.
„Dean!“, schrie Evelyn angsterfüllt und sie spürte, wie ihre Muskeln erschlafften. Ihr Körper gab nach und legte sich geschmeidig in Liams Arme.
Dean zog sich mit letzter Kraft die mit Blut beschmutzte Axt aus seinem Bein.

Endlich... Evelyn löste sich von ihren Gedanken und ein leichtes Lächeln wich über ihre trockenen Lippen.

Natürlich gönnte das Schicksal Evelyn nicht ihren Tod, der sie von allem freistellte und sie vollends erlösen würde. Evelyns schlaffer Körper spürte Deans fürsorglichen Hände um ihrer Mitte, die sie wegtrugen. Was war passiert?
Dean spannte seinen Kiefer unangenehm an. „In was für Schwierigkeiten wir uns jetzt befinden ist dir sicherlich nicht klar“, murmelte Dean zu ihrem blassen Gesicht in seinen Armen, als er die Straßen entlang zu ihrer Hütte lief.
Sie war etwas Besonderes, das würde selbst der empathieloseste Mensch auf der Welt empfinden. Doch wie konnte er sich jemandem nähern, der auf seiner Liste stand? Sie war Evelyn-Grace, die letzte der Jones Familie. Er hatte ihr Leben gerettet, nur um sie wieder auszuliefern?

Wäre Sam nicht zur Hilfe gekommen, um Liams Genick zu brechen und somit die Flucht für Dean und Evelyn zu ermöglichen, dann wäre sie vermutlich nun tot.
„Ich hoffe du kündigst.“

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Tag der Veröffentlichung: 27.01.2021

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