Meine Augen hielt ich geschlossen, mein Kopf war auf meinen Armen gebettet, am Fenster sitzend lauschte ich dem Gesang der Vögel, die in kleinen Nestern auf hohen Bäumen im Wald lebten. Es war ein beruhigendes Lied, die einzige Musik in der Luft, wenn Wind und Wetter sich nicht regten und ich meine Stimme nicht erhob, obwohl ich für immer hätte verstummen können, wozu waren meine Worte auch gut? Ich konnte mich nicht an einen Grund erinnern, um genau zu sein, erinnerte ich mich generell nicht an viel, doch irgendetwas, ein Gefühl oder Ähnliches, sagte mir, dass wenn ich nicht sprach und so all die Worte vergaß, ich etwas verlieren würde, etwas was schon so lange ein Teil von mir war.Die Vögel verstummen, der Gesang erlosch. Verwundert öffnete ich die Augen und blickte hinaus aus dem Fenster. Der Himmel war dunkel, die Sonne verdeckt von schweren schwarzen Wolken. Es würde regnen, vielleicht sogar stürmen. Gut, dass ich heute im Haus geblieben und nicht in den Wald gegangen war, so wie ich es geplant hatte. Dank meiner eigenen Trägheit blieb ich dieses Mal trocken.
Ich stand auf und wandte mich vom Fenster ab, suchte mir Decken aus den Schänken, entzündete den Kamin während die ersten Regentropfen zu Boden und mir meine Augen zufielen.
Ein lauter Knall ließ mich aufschrecken. Erschrocken sprang ich auf, stolperte über die Decken und fiel der Länge nach hin. Doch glücklicherweise tat ich mir nicht weh, es war ein mehr oder weniger sanfter Aufprall. Plötzlich wurde es in dem Zimmer ganz hell, kurz darauf erneut ein lauter Knall. Blitze und Donner, es gewitterte.
Ich setzte mich auf und schälte mich aus den Decken, während ich zum Fenster stolperte. Es war dunkel geworden, Nacht, die Sonne schon längst untergegangen. Noch immer verdeckten dicke Wolken den Himmel, weder Mond noch Sterne waren zu sehen. Laut prasselten tausende von Regentropfen gegen das Fenster und auf den Boden. Ein weiterer Blitz, ein weiterer Donner, irgendwie unheimlich, wie tief der Wald Schatten warf. Ich wandte mich ab und verdeckte das Fenster, doch das Licht der Blitze trat noch immer in den Raum, nur schwächer als zuvor.
Eine tiefe Angst kroch in mein Bewusstsein und umschloss mein Herz. Ich fürchtete mich davor, dass jemand oder etwas aus den Schatten treten, in das Haus eindringen und mir etwas antun könnte, nur warum? Es gab kein Tier, dass so etwas tun würde. Also, woher kam diese unbegründete Angst. Ich war sicher, bestimmt. Schnell schnappte ich mir die Decken und wickelte mich wieder darin ein, doch dieses Mal schlief ich nicht ein, mein Körper blieb wachsam.
Meine Hand fand den Weg zu der Kette um meinen Hals, meine Finger umschlossen den Anhänger, auf dem in schwungvoller Schrift Eve stand. Das war, das erste an das ich mich erinnerte, diese Kette. Ich hatte mich gefragt, was Eve bedeutete, war es ein Name, ein Begriff? Da ich mir keinen Reim darauf machen konnte, hatte ich es einfach um meinen Hals gelassen und nicht weiter beachtet. Doch von Anfang an hatte ich das Bedürfnis herauszufinden, wer ich war. Etwas sagte mir, das ich meinen Namen herausfinden musste, dass er ein Teil meiner Identität war. Also berührte ich den Anhänger mit dem Wunsch meinen Namen zu finden, da kam eine Erinnerung in mir hoch, verzerrt und recht kurz, aber es war ein Teil von mir, den ich vergessen hatte und daher kostbarer war als alles andere.
Es war hell, Licht wie von einer Lampe, und eine Gestalt stand vor mir, dunkel, da sich die Lichtquelle hinter ihr befand. Sie beugte sich zu mir herunter, entweder war sie riesig oder ich viel kleiner als jetzt, und sie legte mir diese Kette an.
Das war´s, an mehr erinnerte ich mich nicht, doch ich entschied mich dazu, mich seit diesem Tag Eve zu nennen. Auch wenn es nicht mein Name sein sollte, war er es nun solange bis mir mein eigener wieder einfiel. Ich ließ die Kette wieder los und seufzte. „So langsam könnte ruhig wieder eine Erinnerung kommen.“ Diese Erinnerung war nicht nur die erste, sondern auch die Einzige, die je zurückgekehrt war. Das konnte doch nicht so schwer sein?
Frustriert zog ich ein Büchlein an mich heran, das auf einem kleinen Tisch neben mir stand. Es war braun und schlicht. Ich zog den Stift hervor, der darin klemmte, und öffnete die erste Seite. Seit ich mein Gedächtnis verloren hatte, schrieb ich alles auf, was ich sah, fühlte, dachte und erlebte, damit ich, falls ich es erneut verlieren würde, dieses Buch finden und alles Nachlesen konnte, was ich vergessen hatte. Ich hoffte noch ein weiteres zu finden, da es ja sein konnte, dass ich so etwas ja auch schon vorher getan hatte, es würde mir zumindest weiterhelfen, doch bisher hatte ich keinen großen Erfolg darin.
Auf demselben Tisch stand noch eine Kerze, die ich mit Streichhölzern anzündete, ich hatte eine ganze Schublade von den Holzstöckchen gefunden. Die Kerze spendete ein wenig Licht, da der Kamin abgebrannt war. Ich überflog jede Seite und rief mir so Dinge in mein Gedächtnis zurück die schon dabei waren zu verblassen, das durfte ich nicht zulassen. Auf der letzten beschrifteten Seite klappte ich das Buch zu und drehte es um und betrachtete eine weiße Katze, die dort abgebildet war.
„Und, wie geht es dir heute so?“, fragte ich, obwohl ich wusste, dass ich die Einzige war, die sprechen konnte. Ich hatte zumindest noch nie jemand anderes gesehen, der Worte von sich gab. „Mein Tag war wie jeder andere.“ Dennoch redete ich einfach weiter. Es fühlte sich besser an, mit einem Gesicht zu sprechen, statt mit dem Nichts. „Mal wieder nichts Neues von meiner Vergangenheit.“ Ich seufzte. „Vielleicht sollte ich es einfach aufgeben, aber was ist daran falsch wissen zu wollen, wer man ist, wie seine eigene Geschichte lautet?“ Erneut seufzte ich. Verzweifelt suchte ich nach Antworten, aber nichts in meiner Umgebung konnte mir diese liefern.
Etwas schreckte mich auf. Ich blickte zu dem verdeckten Fenster, aber es war kein Donner, ganz sicher war es kein Donner. Langsam stand ich auf, nahm die Kerze und blickte mich vorsichtig um. Mein Herz hämmerte, raste, ich dachte schon, es könnte mir jedem Moment aus der Brust springen. Wider das Geräusch, ein poltern, direkt hinter mir. Ich wirbelte herum, nicht das nun doch etwas ins Haus gedrungen war das mir, was antun wollte. Doch ich sah nichts, nichts als Schatten die durch das Kerzenlicht an die Wand geworfen wurden. „Wer ist da?“, rief ich. Direkt danach kam es mir dumm vor. Was wenn ich den Eindringling so auf mich aufmerksam gemacht hatte, wenn ich meinem Leben somit ein Ende gesetzt hatte? Ich atmete tief doch, damit ich ein wenig zur Ruhe kam, Panik wäre nun gar nicht gut. Mein Verstand musste klar bleiben, damit ich im Notfall richtig handeln konnte. Langsam trat etwas auf mich zu.
Ich schrie, stolperte nach hinten, rutschte weg und wäre fast erneut hingefallen, doch ich schaffte es, mich mit meiner freien Hand irgendwo festzuhalten. Ich traute mich nicht den Blick abzuwenden, um zu schauen, was es war, doch wahrscheinlich war es ein Schrank. Im Dunkeln konnte ich das schlecht einschätzen. Die Gestalt kam näher, zwei leuchtend gelbe Augen starrten mich von der Dunkelheit aus an. Was war das? Was wollte es von mir? Vorsichtig hielt ich das Kerzenlicht in die Richtung und ein schwarzer Pelz kam zum Vorschein.
Verdutzt legte ich meinen Kopf schief, es war eine schwarze Katze. Wie kam die bloß ins Haus, hatte ich ein Fenster offen gelassen? Die Katze trat näher, setzte sich vor mich hin, legte ihren Schwanz über ihre Vorderpfoten und miaute: „Na da sieh mal einer an.“
Erschrocken stolperte ich rückwärts, knallte mit meinem Bein irgendwo gegen und lag kurz darauf auf meinem Hinterteil. Geistesgegenwärtig schaffte ich es, gerade noch die brennende Kerze festzuhalten. Dennoch tropfte heißer Wachs auf den Boden und meine Finger. Mit mühe unterdrückte ich einen Aufschrei, zwang mich die Kerze nicht fallen zu lassen und stellte sie weg, sodass nichts passieren konnte. Ich schüttelte meine Hand, das Wachs flog davon. Ich sprang auf, lief in die Küche, hielt meine brennende Hand unter den Wasserhahn, während ich ihn mit der anderen aufdrehte, damit kaltes Wasser den Schmerz lindern konnte.
Die Katze hatte sich kein Stück bewegt, ich konnte sie sehen, es gab keine Tür zwischen den Räumen. Sie gähnte, schien gelangweilt und machte es sich gemütlich. Ich schluckte Schmerz und Schrecken hinunter. „Du... du sprichst.“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Auch wenn ich mich nicht an mein Leben erinnerte oder Begriffe und Namen mir nur plötzlich wieder einfielen, die vorher jedoch vergessen waren, gehörte dies jedoch zu den Dingen, die ich wusste, ich war in der Umgebung, die einzige die Worte formen konnte, Katzen waren dazu nicht in der Lage... oder?
Die Katze blickte mich an, musterte mich aufmerksam und schien meine Worte verstanden zu haben. „Natürlich kann ich sprechen.“ Es donnerte, während sie sprach und trotz das sie die Stimme nicht erhob, konnte ich sie ohne Probleme verstehen. „Aber...“, begann ich zu widersprechen, da schnippte die Katze mit ihrer Schwanzspitze und schnaubte genervt. Die Situation wurde immer absurder. „Wir wollten nicht das deine hochintelligente Spezies je erfährt das wir zu etwas in der Lage sind von dem sie dachte das es sie einzigartig macht. Wäre doch eine Schande gewesen sie von ihrem hohen Ross zu stoßen.“ Ihre Stimme triefte nur so vor Spot und irgendwie hatte ich das Gefühl, ich sollte beleidigt sein, aber das war ich nicht. Wahrscheinlich war ich noch viel zu schockiert.
„Wer bist du?“, formte ich mit meinen Lippen, da meine Stimme nun endgültig versagte. „Man stellt sich zu erst selbst vor bevor man andere Fragt, eine Frage der guten Erziehung und Höflichkeit.“ Ihre Augen blitzten und war das ein amüsiertes Lächeln oder bildete ich mir das nur ein? „Aber wollen wir heute einmal darüber hinweg sehen. Man hat mir den Namen Nacht gegeben.“ Ich schluckte und hoffte das meine Stimme zurück gekehrt war, war sie. „Tut mir leid, ich weiß nicht, wer ich bin, aber du kannst mich Eve nennen.“
Nacht sprang auf und kam zu mir in die Küche. „Eve, also“, murmelte sie vor sich hin, dann hob sie den Kopf und wies mit ihrem Schwanz auf das Becken. „Ich denke, du kannst das Wasser wieder abstellen.“ Das hatte ich glatt vergessen. Ich zog meine Hand aus dem Wasserstrahl und drehte ihn mit der anderen ab, danach trocknete ich sie ab. Nacht lief zurück und machte es sich auf meiner Decke bequem. Ich folgte ihr und setzte mich auf das Sofa, auf dem ich geschlafen hatte. „Wie kommst du hier rein und warum bist du überhaupt hier drinnen?“, fragte ich sie.
Nacht verdrehte die Augen. „Natürlich, weil ich einen guten Unterschlupf gesucht habe, ich werde nämlich nicht gerne nass, weißt du. Und das Reinkommen war auch nicht schwer. Du hast ein Fenster ein wenig zu weit offen gelassen, in den Raum über uns. Durch einen Baum konnte ich hineinklettern. Übrigens ist der Raum Klatsch nass.“ Der Raum über uns? Das war mein Schlafzimmer. Verdammt! Ich sprang auf, flitze aus dem Raum, rannte die Treppe hinauf und riss die Tür meines Schlafzimmers auf. Nacht hatte recht, das Zimmer war nass. Auf dem Boden hatten sich Pfützen gebildet, Regen lief an den Wänden hinunter und weichten die Tapete ein. Ich fuhr mit meinen Fingern über die weiche Decke, nass. Mein Bett stand leider direkt neben dem Fenster. Seufzend schloss ich das Fenster, holte einen Lappen einen Mopp und einen Eimer. Schnell wischte ich den Boden auf, versuchte die Wände so gut ich konnte zu trocknen und zog mein Bett ab.
Nun konnte ich mich endlich wieder auf das Sofa plumpsen lassen. „Wäre nett gewesen, wenn du mir früher Bescheid gegeben hättest“, murmelte ich. Nacht, die sich gerade mit der Zunge über eine ihrer Pfoten strich, hielt in der Bewegung inne. „Du hast nicht gefragt.“ Dann putze sie sich weiter. Seufzend saß ich da und beobachtete sie dabei. Stille breitet sich aus, unangenehme Stimme. Ich räusperte mich. „Du hast meine Spezies erwähnt“, begann ich. Nacht blickte mich an, wohl gespannt darauf, was ich zu sagen hatte. „Kannst du mir von ihr erzählen?“ Eben war ich zu geschockt gewesen um daran zu denken sie zu fragen.
Die Katze blickte mich verständnislos an, also erklärte ich es ihr. „Ich habe mein Gedächtnis verloren, ich weiß weder wer ich bin, wo ich herkomme und schon gar nicht, was ich bin. Wenn du mir von meiner Spezies berichten könntest, würde es mir vielleicht helfen.“ Nacht blickte mich eine gefühlte Ewigkeit schweigend an. „Ihr habt euch selbst Menschen genannt oder auch Menschheit“, antwortete sie endlich.
Menschheit... Nun wo sie es ausgesprochen hatte, kam es mir bekannt vor, doch wichtiger war, ich war ein Mensch. Endlich ein Stück meiner Identität, welches zu mir zurückgekehrt war. Ich spürte, wie sich meine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je so glücklich wie jetzt gewesen zu sein. „Geht es dir gut?“, fragte mich Nacht. Mein Lächeln wurde breiter. „Mir könnte es nicht besser gehen.“ Außer natürlich, dass mein gesamtes Gedächtnis zurückkehrte, aber ich wollte ja nicht zu viel verlangen. Nacht musterte mich einen Moment lang kritisch. „Nun gut, die Menschheit ist die egoistischste, arroganteste, selbstsüchtigste und selbstzerstörerischste Spezies, die es je gegeben hatte, die nicht nur ihr eigenes, Sondern auch alle anderen Leben gefährdet hatten, jede andere Art musste unter ihnen leiden und unter sich selbst haben sie sich ebenfalls gequält.“
Schockiert riss ich meine Augen auf. War die Menschheit wirklich so... abscheulich? „Ihr habt auch eure guten Seiten“, miaute Nacht. „Es gab genug die sich um ihre Umgebung gesorgt, sich um sie gekümmert hatten.“
„Also sind wir doch nicht so schlecht.“ Ein amüsiertes Schnurren war von der Katze zu hören. „Nein, wohl nicht.“ Ich wurde aus ihr nicht schlau. Ich war noch nie solch einem Tier begegnet. „Ich bin überrascht dich hier zu sehen“, miaute sie dann, was mich verwirrte. „Wie meinst du das?“ Nacht blickte mich an, ihre gelben Augen fixierten mich. „Hast du, seit du dein Gedächtnis verloren hast, jemals den Wald verlassen?“
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nie daran gedacht. Mich nie gefragt, was sich außerhalb des Waldes befand. Das Einzige, was ich wollte, war herauszufinden, wer ich war, dies hatte meine Gedanken eingenommen, mein bisheriges Leben bestimmt. „Lange war es so, dass sich die Menschheit immer weiter ausbreitete, sich vermehrte wie Unkraut“, erklärte Nacht. „Dann haben sich die Zeiten geändert und sie wurden weniger, bis keiner mehr von ihnen übrig war, so hieß es zumindest. Aber da ich dir begegnet bin, sind wohl doch noch welche da draußen.“
„Was meinst du damit, sie wurden weniger?“ Nachts Blick wurde Intensiver, ihre Augen schienen zu glühen. Sie sprach kein Wort, ich dachte schon, ich würde keine Antwort mehr bekommen, da wandte sie sich ab und miaute: „Sie sind einfach verschwunden und nicht mehr aufgetaucht.“ Ich schluckte. Man konnte doch nicht plötzlich verschwinden und schon gar nicht eine ganze Spezies, oder? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. „Weißt du wie oder warum?“
„Nein“, schoss es aus ihr heraus, zu schnell kam die Antwort. Ich glaubte ihr nicht. Sie wusste etwas, da war ich mir sicher, aber sie würde mir wohl nichts weiter verraten. Ich seufzte leise.
„Du bist eine schlechte Gastgeberin“, miaute Nacht plötzlich, ihr Schwanz peitschte hin und her. Ja, sie würde mir definitiv nichts mehr verraten. „Warum?“ „Na, weil du mir bisher weder etwas zu essen noch zu trinken angeboten hast.“ Wäre da nicht wieder dieses amüsierte Grinsen in ihrem Gesicht, hätte ich sie wohl zurechtgewiesen, dass sie sich ja unerlaubt Zugang zu dem Haus verschafft hatte, stattdessen stand ich auf und lief in die Küche. „Ich denke mal, Katzen trinken Wasser.“ Ich holte eine Schüssel aus einem Regal und hielt sie unter dem Wasserhahn. Während ich das Wasser erneut aufdrehte, fragte ich sie was Katzen denn essen würden, sie war die erste lebendige Katze, an die ich mich erinnerte, je begegnet zu sein. „Na Fleisch, natürlich“, war ihre Antwort, „Mäuse, Eichhörnchen, Kaninchen halt.“ Ich hatte heute Morgen einen Truthahn gefangen und sie gefragt, ob er ihr recht wäre. Sie nickte. „Solange du damit noch nichts angestellt hast wie Kochen, Braten oder was euch Menschen sonst immer mit eurem Essen einfällt, um es zu verderben.“
Aha, Katzen fraßen ihre Nahrung also roh. Ich schüttelte mich vor ekel. Einmal hatte ich Fleisch roh gegessen, gebraten war mir um einiges lieber. Ich holte ihr den Truthahn, den ich bisher nur gerupft hatte, und stellte ihn mitsamt der Schüssel neben Nacht ab, die genüsslich hineinbiss. Während sie den Truthahn verspeiste sprachen wir kein Wort, sie war damit beschäftigt zu essen und ich wollte sie nicht stören.
Ich lehnte mich zurück und blickte hinauf auf die weiße Decke. Auch wenn die Menschheit verschwunden war, könnte es sein, dass da draußen noch welche waren, ich war ja auch noch da oder galt ich womöglich auch als verschwunden? Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht verschwunden, ich war ja hier.
Langsam rutschte ich zur Seite und meine Augen wurden schwer. Ich spürte, wie ich erneut in den Schlaf glitt.
Als ich erwachte, brauchte ich ein paar Momente, um zu verstehen, warum ich auf dem Sofa geschlafen hatte. Mitten in der Nacht hatte ich Besuch bekommen, von einer sprechenden Katze, die durch das Fenster in meinem Schlafzimmer hereingekommen war. Gähnend rieb ich mir die Augen und setzte mich auf. Verschlafen blickte ich zum Fenster, es war noch immer verdeckt, doch schwaches Licht konnte ins Innere treten, es war Tag geworden. Der Sturm schien sich verzogen zu haben, es waren keine Blitze zu sehen, kein Donner zu hören, nur ein leises Plätschern verriet mir, dass es noch regnete.
Meine Augen wanderten zum Boden, er war leer. Die Katze war verschwunden, die Schüssel mit dem Wasser ebenfalls und erst jetzt bemerkte ich die Decke, die mich bedeckte. Nacht hatte es sich auf ihr bequem gemacht, und zwar auf dem Boden. Wie kam die Decke hier auf das Sofa?
Verwirrt stand ich auf und suchte den Raum ab. „Nacht.“ Keine Antwort. Ich blickte in jede Ecke, sah unter allen Möbeln. Dann streifte ich durch die anderen Räume. „Nacht!“ Nichts. Ich lief die Treppe hinauf, betrat mein Schlafzimmer. Etwas stimmte nicht, etwas war anders. Das Bett? Nein. Die Schränke? Nein. Der Nachttisch? Nein. Das Fenster... Das war es, das Fenster stand offen. Wie konnte das sein? Ich hatte es geschlossen, da war ich mir sicher. Nacht musste es wieder geöffnet haben, um das Haus zu verlassen.
Ein Seufzer stahl sich an die Oberfläche. Sie war gegangen, ohne sich zu verabschieden, diese Erkenntnis schnürte mir die Kehle zu. Nur warum? Ein weiterer Seufzer rutschte mir heraus. Dann schloss ich das Fenster wieder, verließ mein Schlafzimmer und stieg die Treppe hinab. Seltsamerweise viel mir jeder Schritt schwerer und schwerer. Mein Hals fühlte sich irgendwie trocken an und mein Herz krampfte sich zusammen.
Verwundert über mich selbst, blieb ich stehen. „Was ist nur mit mir los?“ Aus irgendeinem Grund störte es mich, dass Nacht einfach so gegangen war. „Unhöfliche Katze!“ Ich sank auf die Stufen und stütze meinen Kopf auf meine Hände ab. Es war so still. Normalerweise machte es mir nicht all zu viel aus, und wenn es dann doch ein wenig zu ruhig war, lauschte ich der Natur oder redete mit mir selbst. Aber... es war schön gewesen mal eine andere Stimme zu hören, als die meine, dass jemand auf das antwortete, was ich sagte. Dieses Haus fühlte sich plötzlich so... leer an. Es wirkte so groß, so kalt. War ich etwa... „Einsam?“
Ich lehnte mich an das Geländer und schloss die Augen, lauschte meinem Atem, das half mir immer beim denken. Was sollte ich tun? Ich mochte dieses Gefühl nicht, ich mochte es ganz und gar nicht. Irgendetwas musste ich dagegen unternehmen, nur was? Nacht war verschwunden, ich hatte keine Ahnung wohin und einer weiteren Katze zu begegnen würde wohl nicht so einfach werden, immerhin war sie die erste Katze gewesen, die ich seit meinem Gedächtnisverlust gesehen hatte, außer dem Bild auf meinem Buch, aber diese war ja nicht real. Doch, was war mit anderen Menschen? Ich konnte doch nicht die letzte meiner Art sein.
Ein Impuls, der durch meinen ganzen Körper fuhr, öffnete meine Augen und setzte mich in Bewegung, sodass ich aufstand und aus dem Haus stürmte. Erst als ein Windhauch mir Regentropfen ins Gesicht blies, blieb ich stehen. Meine Augen erblickten das Übliche, Bäume, Sträucher, Gras. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass sich dort draußen Lebewesen befanden, die genau so waren wie ich selbst. Ich kannte nichts anderes als diesen Wald und das Haus. Mein Herz begann wie wild zu hämmern, mein Atem wurde schneller und meine Mundwinkel schoben sich nach oben. Ja, irgendwo jenseits des Waldes mussten noch andere Menschen sein und ich würde sie finden, egal wie. Sie könnten mir helfen herauszufinden, wer ich war und ich könnte dieses schreckliche Gefühl loswerden.
Ich wirbelte herum und lief zurück ins Haus. Ich würde sie suchen und dafür würde ich mich vorbereiten müssen. Was brauchte ich alles? Ich tippte mir mit dem Finger gegen mein Kinn. Das Wichtigste wäre wohl... Ich lief in die Küche. Auf der Suche nach Nahrung durchwühlte ich die Schänke und Schubladen. Viel hatte ich nicht mehr, wie ich leider feststellen musste. Ich fand Pflanzen, Früchte und Pilze aus dem Wald. Fleisch hatte ich keines mehr, Nacht hatte den ganzen Truthahn verputzt, seltsamerweise fand ich keine Knochen. Ich seufzte, ich musste wohl jagen gehen, wenn ich was Richtiges zwischen die Zähne bekommen wollte. Schnell suchte ich mir einige kleine verschließbare Dosen zusammen, in denen ich das Magere verstaute, dass ich gefunden hatte.
Dann lief ich in mein Schlafzimmer, denn ein paar Sachen zum Wechseln wären wohl nicht schlecht. Es fühlte sich nicht gut an, tagelang in denselben Klamotten durch die Gegend zu laufen, schon gar nicht, wenn man damit in Schlammpfützen fiel oder durch den Dreck kroch, um etwas Essbares zu finden. Da musste ich schon durch, dann hatte ich glücklicherweise gelernt zu jagen. Ich holte eine Hose und zwei T-Shirts aus den Schubladen, und noch ein wenig frische Unterwäsche. Es war nicht viel, aber es musste reichen. Das und die Nahrung packte ich in eine Tasche, die ich irgendwann einmal unter dem Bett gefunden und die ich bis heute dort gelassen hatte.
Dann stolperte ich die Treppe wieder hinunter, griff mir das Buch mit der weißen Katze und einen Stift. Ich zögerte, dann nahm ich mir noch zwei unbeschriftete Bücher und einige Stifte mit, ich wusste ja nicht, wann oder ob ich je wieder kehren würde. Nun brauchte ich nur noch eine Flasche mit frischem Wasser, nur für alle Fälle, ein großes und ein kleines, leichtes Messer, eines zum Schneiden und eines zum Werfen, dann noch einige Seile für Fallen, ein Feuerzeug und die Decke auf dem Sofa.
Ich atmete tief durch und hoffte alles zu haben, was ich brauchte, denn ehe ich mich versah, trugen meine Beine mich schon aus dem Haus und hinein in den Wald.
Ich streifte durch den Wald, immer geradeaus, bis die Sonne ihren Höhepunkt erreichte. Ich fröstelte. Meine Kleidung war feucht, da es noch immer nieselte und der Regen schien wieder stärker zu werden. Während ich weiter lief, meiner Arme um mich schlang, um mich zu wärmen, kam langsam ein seltsam aussehender Felsen in Sicht. Er besaß Zacken ähnliche Auswüchse die ihn, wie ein riesiger deformierter Igel aussehen ließ. Bis zu diesem Felsen kannte ich mich aus, weiter war ich noch nie gegangen, warum auch? Von meinem Haus aus bis hier hin war das Gebiet mehr als groß genug für mich um Nahrung zu beschaffen.
Meine Schritte wurden langsamer, bis ich dann beim Felsen stehen blieb. Ein Schritt weiter und ich würde das mir bekannte Gebiet verlassen, nur ein Schritt. Doch irgendwie viel es mir schwer meinen Fuß zu heben. Das Häuschen war alles, was ich kannte, es war mir vertraut, war meine Welt. Ich schloss meine Augen und horchte auf meinen Atem. Was wäre, wenn alles um sonst wäre? Wenn ich weder einen anderen Menschen begegnen noch meine Vergangenheit entdecken würde? Nacht war überrascht gewesen mich zu sehen, einen Menschen zu sehen, und diese bewegte sich außerhalb meiner Welt. Vielleicht wäre es besser einfach wieder umzukehren... Ich seufzte. Ich musste eine Entscheidung treffen, ich musste sie jetzt treffen, denn sonst, das war mir nur zu gut bewusst, würde ich hier noch bei Einbruch der Nacht stehen. Ich atmete tief ein, während ich einen Schritt machte. Dann öffnete ich wieder die Augen. Der Fels lag hinter mir. Meine Entscheidung war getroffen, ich würde weiter gehen. Besser ich würde eine Reise antreten und herausfinden, dass sie umsonst war, statt aufzugeben und mit der Ungewissheit leben zu müssen. „Ein Versuch ist es wert.“
Die nächsten Schritte fielen mir leichter. Dann wurde ich schneller, bis ich nur so über den Waldboden hinweg flog und mein bisheriges Leben hinter mir ließ.
Schwer atmend lehnte ich mich an einen Baum. Streckenweise war ich gerannt, dann schnell gelaufen und wieder gerannt. Ich wusste nicht, wie lange ich das getan hatte, doch die Sonne war schon weit über den Himmel gewandert, dem Horizont entgegen. Es würde bald dunkel werden. Ich musste eine Höhle oder Ähnliches für die Nacht finden, wo ich mich von dem noch immer anhaltenden Regen schützen und mich ein wenig aufwärmen konnte. Nur wo sollte ich eine finden? „Denk nach.“
Ich würde in der Umgebung suchen, doch ich durfte mich nicht verlaufen. Meine Augen wanderten von links nach rechts, auf der Suche nach etwas Markantem an dem ich mich Orientieren konnte. Nichts... Was nun? Musste ich womöglich die Nacht unter freiem Sternenhimmel verbringen? Da meldete sich auch noch mein Margen.
Seufzend stellte ich die Tasche ab, machte sie auf und kramte darin herum, bis ich eine Dose mit Früchten herausfischte. Während ich in den grauen Himmel blickte, rutschte ich an den Baum hinab auf den Boden und steckte mir eine Erdbeere in den Mund. Die Wolkendecke bedeckte den Himmel bis zum Horizont, sie würden sich nicht so bald verziehen. Wenn ich Pech hatte, würde es die ganze Nacht weiter regnen. Ich seufzte.
Dann sah ich mir den Baum genauer an. Eine Menge Äste, die eng aneinander lagen, was dazu führte, dass das Blätterkleid so dicht war, dass nur wenige Regentropfen durchkamen. Einen besseren Ort würde ich wohl nicht finden, nicht wenn ich mich nicht verlaufen wollte. Also nahm ich mir die Decke aus der Tasche, wickelte mich darin ein und aß die restlichen Erdbeeren, während ich das Buch mit der weißen Katze hervorzog. Ich hatte für heute so viel zu berichten doch, da ich nicht wollte, dass das Papier durchweichte, schrieb ich nur wenige Zeilen auf. Es war schwierig meine Begegnung mit Nacht, unser Gespräch und meinen Aufbruch auf diese Reise in nur ein paar Sätzen zusammenzufassen. Als ich fertig war, klappte ich es wieder zu und vergrub es tief in der Tasche, sodass der Regen nicht herankam. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte durch einzelne Löcher im Blätterkleid hinauf in den Himmel, bis selbst die letzten Sonnenstrahlen erloschen.
Es war stockdunkel im Wald, so ganz ohne Lichtquelle, viel zu dunkel für meinen Geschmack. Ein Schauer jagte mir den Rücken herunter, was nicht nur allein an der Kälte lag. Während des Sturms schien der Wald schon unheimlich, doch hier allein in der Dunkelheit ohne die sicheren Wände des Häuschens, jagte mir eine tierische Angst ein. Die Tatsache das ich bis auf wenige Umrisse, absolut nichts erkennen konnte, machte die Sache nicht besser. Außerdem, ich konnte zwar nichts sehen, aber dafür... hören. Regen tropfte auf Blätter und Boden, Bäume raschelten im Wind und Äste knackten um mich herum, was mich jedes Mal zusammenfahren ließ.
Ich spürte, wie mein Herz anfing zu rasen und mein Atem wurde schneller. Automatisch vergrub ich mich tiefer in die Decke, versuchte eine Barriere zwischen mir und der Außenwelt zu schaffen. „Das ist doch lächerlich“, murmelte ich und zwang mich ruhig zu atmen. „Hier ist nichts, wovor ich Angst haben muss, rein gar nichts.“ Ich atmete einige Male tief ein und aus. Dann schloss ich mit großer Mühe meine Augen. „Es ist nicht gefährlicher als tagsüber“, redete ich mir ein und versuchte einzuschlafen.
Träge öffnete ich meine Augen. Sonnenlicht blendete mich, sodass ich blinzeln musst und meine Hand hob, um das Licht von meinen Augen abzuschirmen. War ich etwa doch noch eingeschlafen? Damit hatte ich gar nicht mehr gerechnet. Stöhnend setzte ich mich aufrecht hin. Mein ganzer Körper schmerzte, jede einzelne Bewegung tat mir weh. Ein Niesen durchzuckte mich. „Aua...“, murmelte ich. Definitiv die schlimmste Nacht meines Lebens. Langsam streckte ich Arme und Beine. Ein schmerzhaftes Knacken war zu hören. Dann versuchte ich aufzustehen, es brauchte zwei drei Anläufe, bis es dann endlich klappte.
Träge nahm ich die Decke, die vom Regen ganz feucht war, und stopfte sie zurück in die Tasche. Die Dose, in der vorher die Erdbeeren waren, hatte sich mit Wasser gefühlt. Ich schüttete es aus und packte auch diese wieder ein. Es hatte wohl wirklich die gesamte Nacht geregnet. Meine Kleider fühlten sich auch noch nass an und meine Haare klebten in meinem Gesicht. Ich schüttelte mich, mir war eiskalt. Noch so eine Nacht und ich würde erfrieren, ganz sicher. Egal wie, ich musste noch heute aus dem Wald gelangen.
Mit steifen Beinen machte ich mich wieder auf den Weg. Ich war nicht lange unterwegs, bis ich bemerkte, dass sich der Wald lichtete. Mein Herz begann wie wild zu hämmern, ein Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus, dann sprintete ich los. Alle Gedanken, daran dass es sich dabei nur um eine größere Lichtung handeln könnte verdrängte ich. Es würde der Ausgang sein, es musste der Ausgang sein. Dann, endlich, stürzte ich aus dem Wald, genau in dem Moment, wo die Sonne aus der Wolkendecke hervor brach. Mit weit aufgerissenen Augen blieb ich stehen.
Jenseits einer großen Wiese ragten riesige Häuser bis in den Himmel hinein. Es waren so viele, das ich gar nicht versuchte sie zu zählen. „Eine... eine... Stadt?“ Die Sonne strahlte auf die nassen Gebäude. Das Licht wurde von Regen und Glas zurückgeworfen. Es schien, als würde die Stadt von sich aus strahlen. Ich konnte es nicht fassen, denn so unglaublich es auch war, es kam mir vertraut vor. Konnte es sein, dass ich einst in solch einer Stadt gelebt hatte, womöglich sogar in dieser? Es gab nur einen Weg um dies herauszufinden. Ich machte einen Schritt auf die Wiese zu, einen Schritt in Richtung Stadt.
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2015
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