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Tschüss mein Baby

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Ich hasste diese verfluchten Dreimonatskoliken. Im Gegensatz zu Marco war Johann ein Schreibaby. Nachdem ich Johanns Bauch massierte und mit ihm das Wohnzimmer auf und ab tigerte, schlief er endlich ein. Ich seufzte. Mein Rücken und meine Beine schmerzten. Ich schlich mit ihm zu dem Sofa aus rotem Stoff. Langsam schlängelte ich mich an dem dunkelbraunen Wohnzimmertisch vorbei. Und setzte mich in meiner Kuschelecke. Ich blickte auf Johann herab. Er schmiegte seinen Kopf an meiner Brust. Fürsorglich strich ich ihm über seinen dunkelblonden Flaum. Unwillkürlich stach mir wieder diese blaue Bisswunde an seiner Wange ins Auge, die zum Glück wieder verblasst. Ein kalter Schauer lief mir über meinen Rücken. Unter seinem Schlafanzug an seinem Oberschenkel und seiner Wade hatte Frau Rutsch heute Morgen zwei Strichförmige Hämatome entdeckt. Diese hatte ich vorher nicht wahrgenommen und konnte mir nicht erklären woher diese wiederkamen. Ich konnte nur Vermutungen anstellen. Vielleicht hatte der Reißverschluss vom Schlafanzug gedrückt oder die Gurte vom Maxi Cosi. Meine Hebamme riet mir mit Johann zum Kinderarzt zu gehen. Jedoch hatte ich Angst und eine Vorahnung was mich dann wider Erwarten würde. Johann war mittlerweile schon zweimal im Krankenhaus gewesen wegen unerklärlicher Hämatome und Bisswunden. Daher holte ich mir noch Ratschläge von meinen Eltern und meiner Familienhilfe. Diese meinten, ich solle es erst mal beobachten. Diese Entscheidungen gefielen mir viel besser.

„Marco schläft“, erklang Stefans Stimme. Ich sah auf und nickte nur. Schleichend kam er zu uns und setzte sich. Er sah kurz zu Johann. Während er die Fernbedienung nahme und den Flachbildfernseher anstellte, gab er mir einen Kuss. Auf R TL liefen die letzten Minuten von „Gute Zeiten schlechte Zeiten“. Ich sah wieder zu Johann hinab und drückte ihn an mich. Er nuckelte genüsslich an seinen Nuckel. Über meine Lippen spürte ich ein kleines Lächeln. Von der Serie nahm ich kaum etwas wahr. Ich hörte jemand erzählen, konnte aber keine Zusammenhänge daraus bilden. Ein starkes vibrieren erklang auf dem Wohnzimmertisch. Es war mein Handy, das neben den Fernbedienungen lag. Unbekannte Nummer. Es fiel mir sehr schwer zu telefonieren und eine unbekannte Nummer machte es mir nicht grade leichter ran zu gehen. Ich spürte eine Anspannung in meinen Schultern. Starr fiel mein Blick auf das vibrierende Handy. Ich war wie gelähmt.

Stefan schien dies zu bemerken. Er nahm mein Handy und drückte den Anruf weg. Dann legte er ist zurück. „Das war bestimmt die scheiß Hebamme oder Frau Rausch.“

Doch der Anrufer ließ nicht locker. Das Handy vibrierte nochmals unaufhörlich. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Johann übergab ich Stefan. Der Säugling erschrak bei dieser schnellen Bewegung und begann lautstark an zu weinen. Ich stand auf, nahm mein Handy in der Hand und schlängelte mich an dem Wohnzimmertisch vorbei. In der Eile stieß ich mein Knie gegen die Tischkante. Ich unterdrückte ein Schmerzensschrei. Mit der Hand die schmerzende Stelle reibend ging ich ans Telefon.

„Hallo“, fragte ich nervös. Aus dem Augenwinkel sah Stefan wie er mit dem weinenden Johann im Schlafzimmer ging. An der anderen Leitung meldete sich Frau Müller vom Jugendamt. Ich fuhr zusammen. Mein Herz raste. Ich konnte das Handy kaum noch festhalten, so sehr zitterten meine Hände. Sie erzählte unaufhörlich. Die Worte klangen rauschend in meinem Kopf wieder. Ich nahm nur das wichtigste wahr. Ich sollte mit Johann in einer halben Stunde im Krankenhaus sein, sonst passiert etwas Schlimmes. Ich brachte immer nur ein eingeschüchtertes „Ja“ über die Lippen. Als sie auflegte, kämpfte ich gegen Tränen an. Ich biss mir auf die Unterlippe. Mit zitternder Hand fuhr ich mir durch meine langen braunen Haare. Dann hörte ich wie sich hinter mir die Tür öffnete. Ich drehte mich um, Stefan kam mit Johann aus dem Schlafzimmer, der wieder eingeschlafen war.

„Wer war dran?“

„Das Jugendamt“, brachte ich hervor. „Wir sollen in einer halben Stunde mit Johann im Krankenhaus sein sonst passiert etwas schlimmes.“

„Dein Ernst?“, fragte Stefan bissig. „Die Kinder schlafen und es ist stockdunkel. Wenn gehen wir morgen früh mit ihm zum Arzt.“

Ich trat ein paar Schritte zurück und schlang meine Arme um mich. „Dann schaltet die wahrscheinlich die Polizei ein.“

„Dann hier!“ Stefan drückte mir Johann in die Arme, wodurch er wieder wach wurde und erneut begann zu weinen.

„Kannst alleine gehen. Ich bleib hier und pass auf Marco auf“, fuhr Stefan mich an. Setzte sich auf dem Sofa und sah zum Fernseher. Seine Arme verschränkt er vor der Brust. Wippend presste ich Johann an mich, in der Hoffnung er würde sich beruhigen lassen. Aber dies half nicht mehr. Der kleine Körper strampelte wie verrückt und verkrampfte sich. Auch sein Weinen hörte nicht mehr auf. Womöglich spürte Johann meine Angst und Anspannung. Ich sah aus der Balkontür. Stefan hatte Recht. Es war Stockdunkel, kalt und sehr windig. Ich seufzte verzweifelt und wusste nicht was ich machen sollte. Ich musste mit Johann zum Krankenhaus, aber diese Dunkelheit bereitete mir genauso viel Angst wie das Jugendamt. Ich konnte doch nicht allein mit einem ein Monat alten Säugling fast zwei Kilometer bis zum Krankenhaus alleine laufen. Ich fasste kurz einen klaren Gedanken. Mir kam eine Idee wie ich Stefan dazu bekam mitzukommen.

„Okay“, sagte ich und legte Johann auf die Wickelunterlage auf dem beigen Esstisch. „Dann nehme ich mein Vater mit.“

Stefan lachte. „Als ob der um diese Uhrzeit mitkommen würde.“

Ich sah zur Wanduhr über dem Fernseher. Es war 20:28 Uhr.

„Er wird uns garantiert nicht alleine gehen lassen im Dunkeln.“

 Mit hochrotem Kopf sprang Stefan auf. „Dann muss ich wohl mitkommen.“

Er ging an mir vorbei, bevor er aus der Tür verschwand, sah er mich mit einem finsteren Blick an. Die Pupillen wurden immer kleiner und seine Iris färbte sich fast schwarz. „Du ziehst Johann an!“ Daraufhin knallte er die Tür zu. Johann zuckte zusammen, ich ebenfalls. Schnell zog ich ihn sein Schlafsack aus. Dann hörte ich eine Tür aufreißen. „Aufstehen! Wir müssen ins Krankenhaus. Das Drecksjugendamt hat angerufen“, hörte ich Stefan wütend brüllen. Als ich Johann fertig angezogen hatte, legte ich ihn in sein Laufgitter neben dem Sofa. Ich zog mir meine schwarze Strickjacke über mein grünes T-Shirt und zog mir meine Winterstiefel an. Dann ging die Tür auf. Marco kam schwankend in das Wohnzimmer.

„Papa bringt schon mal den Kinderwagen raus“, sagte er mit halb geöffneten Augen. Ich drückte Marco an mich und gab ihn ein Kuss auf seine roten Haare.

„Wir müssen zum Krankenhaus“, erklärte ich ihm. Da wir nur eine halbe Stunde Zeit hatten, musste Marco wohl oder übel mit.

„Ich weiß.“ Marco gähnte und streckte sich. „Wegen dem scheiß Jugendamt.“

Das waren nicht die Worte von meinem Marco. Er plapperte das von Stefan nach, womöglich um ihm zu gefallen. Ich half Marco beim Anziehen. Danach warf ich mir meinen Mantel über und nahm Johann in die Arme. Marco schaltete den Fernseher aus und ich das Licht. Mit Bauchschmerzen gingen wir den dunklen Flur entlang und schlossen von außen die Haustür zu.

 

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Pünktlich um 21 Uhr kamen wir am Krankenhaus an. Johann schlief während der Fahrt in seinem Kinderwagen erneut ein. Und gleich musste er wieder geweckt werden, sobald wir ankamen. Stefan fluchte auf dem Weg immer weiter über das Jugendamt. Marco schimpfte albern mit und lachte höhnisch. In solchen Situationen verstand sich Stefan mit ihm super. Marco spürte dies, daher auch solche Reaktionen von ihm. Trotz der Kälte war mir heiß. Ich konnte es nicht richtig zuordnen. Lag es an unserem Sprint oder war es Angstschweiß? Den ganzen Weg über befürchtete ich, dass uns am Krankenhaus das Jugendamt oder die Polizei empfangen würde. Ich kam mir vor wie eine Kriminelle und dieses Gefühl würde mit Sicherheit noch schlimmer werden. Doch im Krankenhaus war keiner von beiden anwesend. Wir meldeten Johann an. Doktor Mikovic hatte heute Dienst. Vermutlich eine Rumänin mit gebrochenem Deutsch. Wir konnten sie kaum verstehen. Jedoch waren ihre skeptischen und verachtende Blicke unverwechselbar. Dachte sie etwa ich hätte Johann etwas angetan? Meine Schulter versteiften sich und ich verschränkte die Arme vor meiner Brust. Ich hatte Marco alleine großgezogen und es war nie etwas vorgefallen. Wieso sollte ich dann Johann etwas antun?  Bei dieser Ärztin läuft doch was falsch. Kann nicht die Chefärztin Frau Schmidt Dienst haben? Sie kennt mich seit dem Marco geboren wurde und würde es mir wahrscheinlich nicht zu trauen. Wie vermutet nahm Doktor Mikovic Johann stationär auf. Sie hatte den Verdacht auf Kindesmisshandlung. Mit gemischten Gefühlen musste ich mich um die Formalitäten kümmern, da ich das alleinige Sorgerecht hatte.

Nach jeder Frage der Anamnese verzog Frau Doktor Mikovic verächtlich die Mundwinkel und konnte sich ein schnauben nicht verkneifen? Sie zog ihre Stirn kraus. Ihre braunen Augen verengten sich immer weiter zu Schlitzen. Dieser durchdringende Blick beobachtet für mich ganz genau. Ihre Reaktionen verunsicherten mich noch mehr. Ich konnte mich kaum noch auf die Fragen konzentrieren und verstand die Ärztin mit ihrem Akzent noch weniger. Hilfesuchend sah ich mich immer wieder zu einer Krankenschwester um, die mir das gebrochene Deutsch übersetzte. Nach der Anamnese lehnte sich die Ärztin zurück und überkreuzte die Arme vor der Brust.

„Johann ist genau gegenüber. Zimmer 5“, sagte mir die Schwester. Sie deutete mit dem Zeigefinger durch das große Glasfenster auf einer weißen Tür mit einem kleinen Fenster oben. Ich nickte, stand auf und verließ den Empfang der Kinderstation. Ich war erleichtert darüber, dass es Johann soweit gut ging und dass Frau Doktor Mikovic mich mit ihren angsteinflößenden Blicken endlich entließ. Seufzend wusch ich mir den Schweiß von der Stirn und betrat das orange gestrichene Krankenzimmer. Eine andere Krankenschwester befestigte eine Sonde mit einem Haftpflaster an Johanns Hacken. Er lag auf einer trüben braunen Wickelunterlage. Daneben war eine Babywanne in der langen weißen Theke eingesetzt, welche mich wie ein offenes Maul an blitzte. Die Kinderschwester drehte sich freudestrahlend um.

„Sie sind sicher die Mama. Ich bin Schwester Heidi.“ Dann drehte sie sich wieder Johann zu und kitzelte ihn leicht unter den Achseln. „Den Papa und dein großen Bruder haben wir schon auf einen Stuhl verfranzt“, witzelte sie. Lächelnd sah ich zu Stefan und Marco. Marco saß auf seinem Schoß und Stefan auf dem kleinen Kinderstuhl an den gelben kleinen Tisch. Ich setzte mich dazu. Schwester Heidi war das komplette Gegenteil von den anderen in der Klinik. Sie schien immer gute Laune zu haben. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie die Lieblingsschwester der Kinder war. Sie zog Johann ein weißes Hemdchen an und einem weiß gepunkteten Strampler.

„Fertig“, quietscht die Schwester erfreut und streckte eine Faust triumphierend in die Luft. Sie hob Johann hoch und übergab ihn mir. Dann schloss sie ihn an einem Gerät an, welches seine Herztöne und seinen Blutdruck überwachte. Schwester Heidi zog die pastellfarbenen roten Vorhänge zu und verließ leise vor sich hin summend das Zimmer. Ich drückte Johann an mich und streichelte ihm über die Stirn. An seinem Kopf war ein Pflaster, dort hatten sie ihm wurde Blut abgenommen.

„Ich hatte schon Panik, dass die Polizei auftaucht“, durchbrach Stefan die Stille. Er ließ Marco runter und stand auf.

„Ich dachte sie würden uns gleich am Anfang empfangen“, erwiderte ich. Marco kam zu mir und schmiegte sein Kopf an meiner Schulter.

„Kindesmisshandlung“, schnaubte Stefan. „Als ob ich mein eigenes Fleisch und Blut so etwas antun würde.“ Mit zornrotem Gesicht wanderte er auf und ab. Dann sah er mich finster an. „Du glaubst den scheiß doch nicht oder?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß doch selbst nicht woher die Hämatome ständig kommen.“

„Hier!“ Stefan zeigte auf Marco. „Da steht der Täter. Johann hatte die Hämatome und die Bisswunden immer nachdem er länger bei ihm war.“

„Häh? Ich war das nicht.“

Ich selbst wusste nicht wem ich glauben sollte. Beide schoben sich immer gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Ich hatte nie jemanden live dabei gesehen, daher konnte ich auch niemanden beschuldigen. Doktor Mikovic beobachtete uns durch das kleine Fenster an der Tür. Als sie sich ertappt fühlte ging sie weiter.

„Die olle Fotze ging mir bei der Untersuchung auf den Sack. Die steckt doch mit dem Drecksjugendamt unter einer Decke“, fluchte Stefan weiter.

„Mich hatte sie bei der Anamnese auch behandelt wie eine Schwerverbrecherin.

Nachdem Johann in meinen Armen einschlief, stand ich auf und legte ihn behutsam in das hohe Gitterbett mit den blau gelben Metallstäben. Kurz vor 23 Uhr zogen wir unsere Jacken an. Ich schaltete das Licht im Zimmer aus und flüsterte „Schlaf schön mein Baby.“

 

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Freudestrahlend kam ich ins Wohnzimmer. Ich hatte mir noch ein dezentes Tages Make-up aufgetragen. Jetzt konnte es endgültig losgehen.

„Und hast du nochmal angerufen?“, frag ich Stefan. Er saß mit Marco auf dem Sofa und sah sich mit ihm eine Zeichentrickserie auf Super RTL an.

Stefan nickte. „Die Ärztin ist grade bei ihm und will gleich zurückrufe.“

Ich ging lächelnd zu dem Sofa und setzte mich neben Stefan. Zärtlich gab ich ihm einen Kuss auf den Mund. Dann lehnte ich mich grinsend zurück und ergriff Stefans Hand. Heute sollte Johann aufgrund von Bettenmangel entlassen werden. Dies konnte ich kaum glauben. Als Johann das erste Mal eine Bisswunde an der Wange hatte, dauerte es tagelang bis wir ihn wieder mitnehmen konnten. Die Ärzte mussten erst beim Jugendamt nachfragen, ob diese es befürworteten. Eine Woche später hatte er an derselben Wange wieder die gleiche Bisswunde und ein S förmiges Hämatom am Bauch. Es dauerte länger als zuvor. Vor der Entlassung mussten wir zum Jugendamt und ein Schutzvertrag unterschreiben, darin war enthalten das Marco nicht mehr mit Johann alleine gelassen wird, das ich eingreifen sollte, wenn Stefan überfordert ist und die Familienhilfe sollte jeden zweiten Tag kommen. Frau Rausch, die Familienhelferin hielt sich nicht daran und dennoch entstanden wieder zwei Hämatome an Johanns Bein. Gestern Abend schrieb Stefans Pflegemutter, dass er an einer Blutgerinnungsstörung leidet. Sie wollte uns das Attest zu schicken. Vielleicht hat er es an Johann vererbt und bekommt daher so schnell unerklärlicher Hämatome. Was würde wohl das Jugendamt dazu sagen? Garantiert bekamen wir morgen einen Anruf von denen und sollten dort auftauchen. Denn sie hatten uns das letzte Mal schon gewarnt, das sonst etwas anderes passieren müsste.

Das Läuten meines Handys brachte mich aus den Gedanken. Bestimmt das Krankenhaus. Ich atmete durch und ging ran. Fehlanzeige. Es war das Jugendamt. Frau Müller wollte eine Entscheidung von mir. Entweder geht Johann in einer Pflegefamilie oder es läuft alles über das Gericht. Unsicher scharrte ich mit meinem Fuß auf dem Linoleum herum. Meine Hände zitterten und ich rutschte unruhig auf meinem roten Sofa hin und her. Was sollte ich sagen? Was war schlimmer Pflegefamilie oder Gericht? Ich konnte mich nicht entscheiden. Es fiel mir schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Die Pflegeeltern würden mit Johann zum Gerichtsmediziner fahren, wenn Misshandlungen ausgeschlossen werden, bekommen Sie Johann zurück, fügte Frau Müller hinzu. Da ich mir sicher war dass wir ihn nicht misshandelt hatten, willigte ich mit der Pflegefamilie ein und legte auf. Mit Tränen in den Augen berichtete ich Stefan davon.

„Das ist doch ein Scherz?“, fragt er verdutzt. Ich schüttelte den Kopf und rieb mir mit meinem Handrücken meine brennenden braunen Augen.

„Sobald das Jugendamt ein in den Fängen hat geben sie ein nicht mehr her. Das habe ich als Kind live miterlebt. Ich wollte immer zu meinen Eltern dürfte es aber nicht.“ Stefan knurrte wütend und stand bleich vor Zorn auf. Er nahm ruckartig sein Handy und ging ins Schlafzimmer. Die Tür fiel mit einem Knall im Schloss. Aus dem Augenwinkel sah ich wie Marco ebenfalls zusammenzuckte. Ich wusch mir die Tränen aus dem Gesicht und schrieb meiner Mutter per WhatsApp was passiert war. Dann setzte ich mich in meine Kuschelecke auf dem Sofa. Gedämpft hörte ich Stefan verärgert reden. Vermutlich telefonierte er. Auf einmal wurde mir bewusst was ich getan hatte. Ich hatte zugestimmt, dass ich meinem Baby erstmal nicht wieder sehen werde. Lautlos liefen mir die Tränen über die Wangen. Ein Schatten huschte über mein Gesicht. Das orange gelb gestrichene Wohnzimmer kam mir viel dunkler vor.

„Warum weinst du?“, fragte Marco.

„Weil Johann wegen den Hämatomen in einer Pflegefamilie muss.“ Ich sah zu ihm und wusch mir erneut die Tränen fort. Marcos braune Augen waren weit aufgerissen und seine Nasenflügel bebten. „Also holen wir Johann nicht ab?“ Ich nickte.

„Muss ich auch in einer Pflegefamilie?“, fragte er mit zitternder Stimme.

„Davon haben sie nichts gesagt.“

„Wir müssen die Polizei anrufen!“ Marcos Stimme überschlug sich fast. „Das Jugendamt kann doch nicht einfach Johann wegnehmen.“ Mit seinen fünf Jahren konnte er es gar nicht richtig begreifen. Ich spürte seine Angst. Als Mutter hatte ich dafür einen siebten Sinn.

„Die bekommen eins in die Fresse das Drecksjugendamt“, brüllte Stefan. Er warf das Handy auf die Couch. „Hab die Hebamme Bescheid gesagt das sie nicht mehr kommen brauch.“

„Ich hau die auch eine auf die Fresse“, versicherte Marco.

Ich schüttelte den Kopf und musste ich mich zusammenreißen. Ich musste um Johann kämpfen. Entschlossen nahm ich meinen Laptop. Zusammen mit Stefan recherchierte ich im Internet was wir jetzt am besten machen müssen. Nebenbei antwortete ich immer wieder meiner Mutter. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde die ich sogleich an den Landrat schrieb. Ich schrieb auch hunderte von E-Mails an Zeitungen und Fernsehsender. Gleich morgen würden wir einen Anwalt einschalten. Dazu las ich einige Foren. Es stand alles drin was Stefan sagte. Wenn das Jugendamt ein Kind wegnimmt dauerte es Jahrelang bis man es wiederbekommt. Einige sahen ihre Kinder nie wieder. Auch ich schilderte unsere Erfahrungen auf einige Seiten. Dann sah ich auf YouTube viele Videos in denen das Jugendamt mit der Polizei Kinder aus Familien holten. Die Kinder schrien und weinten, dass sie nicht mitwollten. Sie klammerten sich an ihre Eltern und dennoch zog die Polizei auf Gebot des Jugendamtes und das Familiengerichts die Kinder raus. Viele Polizisten hassten solche Einsätze. Sie führten nur die Befehle aus, aber bei den Schaulustigen waren die Polizisten dann die Bösen. Ich stellte mir Marco dabei vor. Er würde die ganze Nachbarschaft zusammen schreien, wenn sie ihn rausholen würden. Diesen Tatsachen spornte mein Kampfgeist noch mehr an. Erst recht als sich Gundula Braumann von der Volksstimme meldete. Sie wollte einen Termin mit uns und darüber berichten. Mit neuem Mut sah ich nun die kommenden Tage entgegen. Der Kampf kann beginnen.  

Auch das noch

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Seufzend setzte ich mich auf dem Sofa. Der Tag war anstrengend und das merkte ich sehr deutlich in den Beinen. Sicherlich würde ich morgen einen Muskelkater bekommen. Erst hatten wir Marco in den Kindergarten gebracht. Dann bekam ich einen Anruf von meiner Sachbearbeiterin vom Jugendamt. Frau Rudditz brauchte für die Pflegefamilie Johanns U-Heft, seine Krankenkarte und eine Vollmacht, damit sie mit ihm nach Magdeburg zum Gerichtsmediziner fahren konnten. Wir wohnten in Gardelegen in dem Neubaublock gegenüber vom Johanniter Heim und die Bruchbude vom Jugendamt war vorrübergehend beim Jugendförderungszentrum. Das war ein halber Weltmarsch. Nur weil die unbedingt ihre alten Räume neu renovieren ließen. Bis dahin wäre es ein Weg von höchstens zehn Minuten gewesen. Dennoch stellte ich mir bildlich vor, wenn RTL sich auch zurückmeldete und das Jugendamt auch befragen möchte - wie die sich mit den Abstiegen blamieren würden. Dann würde ganz Deutschland sehen, wie sie dort arbeiteten. So miserabel wie sie arbeiteten, so sehen auch die Büros aus, würde der Slogan heißen. Für diese Behörde verspürte ich nur noch abgrundtiefen Hass.

Als wir endlich zurück waren, suchte ich meine Papiere zusammen. Beim Amtsgericht musste ich mein ganzes Einkommen preisgeben, um ein Beratungsschein für ein Anwalt zu bekommen. Nachdem wir den Schein hatten, bekamen wir auch gleich ein Termin bei meinem Anwalt Torsten Vogel. Ich war sehr zufrieden mit ihm. Zweimal hatte er mich schon vertreten. Einmal als meine Unterschrift gefälscht wurde und ich vom Video Ring ständig Hefte zugeschickt bekam. Obendrein sollte ich diese dann auch noch bezahlen. Und einmal als ich Stress mit der fetten Nachbarin über mir hatte. Beide Male hatten wir gewonnen. Jetzt wollte er an das Jugendamt eine Forderung schreiben, dass sie Johann herausgaben. Auch riet er uns keine Unterschriften mehr beim Jugendamt zu leisten. Zudem wies er das Jugendamt auch das Umgangsrecht hin.

Stefan kam mit zwei Tassen Kaffee in der Stube und setzte sich zu mir. Ich nippte an dem heißen Getränk. Für meine Nerven wäre wohl ein Kamillentee besser gewesen. In einer halben Stunde würde Frau Braumann von der Volksstimme kommen. Ich war sehr nervös und aufgeregt. Was wäre, wenn sie uns nicht glaubt oder eher auf die Seite des Jugendamtes wäre? Auch Stefan war skeptisch. Was wenn die Öffentlichkeit glaubte, dass wir wirklich Kindesmisshandler waren?

Plötzlich läutete die Haustürklingel. Mein Herz raste in der Brust. War es schon Frau Braumann. Ich wollte gerade aufstehen, aber Stefan war schneller. Er ging in den Flur. Gedämpft hörte ich den Summer und die Haustür öffnete sich. Eilig fuhr ich mir mit meiner Hand durch meine langen braunen Haare. Der Wind hatte sie draußen sicherlich durcheinandergebracht.

"Mama!", hörte ich Marcos Stimme. Erleichtert atmete ich auf. Er kam freudestrahlend mit einer Tüte Gummibärchen in das Wohnzimmer gerannt und umarmte mich. Mein Vater, Richard hatte ihn wegen dem Termin heute vom Kindergarten abgeholt. Kurz danach kamen Stefan und mein Vater hinein.

"Ich war vorhin beim Jugendamt. Mit dieser Frau Rudditz kann man gar nicht reden. Die hört nicht richtig zu und lässt einen nicht ausreden", donnerte mein Vater los und setzte sich auf dem Stuhl am Esstisch, welcher direkt neben meinem Sideboard stand.

"Genauso behandelt sie uns auch immer", bestätigte Stefan. Er setzte sich neben mich und streichelte zärtlich meinen Rücken. Während mein Vater uns von seinem Besuch erzählte, schmiegte ich mein Kopf an Stefans Schulter. Mein Vater sagte zu der Rudditz, dass wir ihm und seine Frau immer Johann gezeigt hatten und hatte nie Spuren von Misshandlungen gesehen. Ansonsten hätte er schon eingegriffen. Doch das interessierte sie nicht. Er fragte, wie sie so eiskalt sein kann und ein Neugeborenes seine Mutter wegnehmen kann? Warum nicht vorher eine andere Hilfe angeboten wird? Darauf gab sie keine Antworten. Aber zum Schluss bestand mein Vater darauf, dass er und meine Mutter Marco zusammen großziehen, wenn sie ihn auch wegnehmen wollen.

"Was willst du erwarten? Die ist höchstens 30 Jahre alt. Wahrscheinlich hat sie gerade erst ausgelernt", sagte ich und konnte mir ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen.

Mein Vater holte sein Handy aus der Jackentasche und schaute darauf. Erschreckt stand er auf. "Mensch, ich muss los zum Fitnesscenter." Er verabschiedete sich und verließ die Wohnung. Ich schmunzelte. Mein Vater machte sich immer Stress. Entweder ging er seine Nebenjobs nach oder machte Kraftsport im Studio. Aber so hielt er sich Fit. Viele Leute wollten es nicht glauben, dass er bereits 66 Jahre alt war. Er versteckte auch seine grauen Haare, indem er sich einmal die Woche seine Glatze rasierte. Nur an seinem Schnurrbart erkannte man einzelne graue Strähnchen.

Es dauerte nicht lange und es klingelte erneut an der Tür. Das müsste jetzt garantiert Frau Braumann sein. Stefan stand auf und ging in den Flur zur Tür. Marco lief ihm hinter her. Mein Herz raste erneut. Nochmals fuhr ich mir mit der Hand durch mein braunes Haar. Steh ich auf oder bleib ich sitzen? Wieso muss ich immer so nervös sein? Ich wünschte mir schon immer, dass ich mir nicht so viel Gedanken machte. Aber bisher blieb dieser Wunsch unerfüllt.

"Guten Tag, ich bin Frau Braumann von der Volksstimme", vernahm ich gedämpft eine Frauenstimme.

Automatisch stand ich jetzt doch auf und zupfte mein schwarzer Kapuzenpullover zurecht. Kurz darauf kamen Stefan und Marco mit Frau Braumann ins Wohnzimmer. Sie war komplett in schwarz gekleidet. Ihre braunen Haare trug sie zu einem Dutt hochgesteckt.

"Guten Tag! Frau Braumann von der Volksstimme", stellte sie sich erneut vor und schüttelte lächelnd meine Hand.

"Lisa Stern", entgegnete ich. Ihre freundliche Ausstrahlung erleichterte mich etwas. Aber ich spürte dennoch meine Anspannung.

"Den Bericht haben Sie richtig gutgeschrieben", sagte sie als sie ihre Kamera auf den Tisch legte und ihre Tasche öffnete. "Das hörte sich schon nach einem fertigen Artikel an."

"Dankeschön." Ich spürte wie mein Kopf warm wurde. Vermutlich lief ich bei diesem Kompliment rot an. Ich träumte schon lange davon Schriftstellerin zu werden. Aber die letzten fünf Jahre habe ich es nur als Hausfrau und Mutter geschafft. Frau Braumann kramte in ihrer schwarzen Umhängetasche und holte ein Notizbuch und ein Kugelschreiber heraus. Wir setzten uns auf dem Sofa. Marco nahm auf meinen Schoss Platz.

"Dann erzählen Sie mir mal von Anfang an, was alles nach Ihrer Meinung passiert ist." Sie legte das Buch auf den dunkelbraunen Wohnzimmertisch und nahm ihren Kuli schreibbereit in ihrer rechten Hand. Wir erzählten von den Hämatomen und das wir uns nicht erklären konnten woher diese kamen. Wir vermuteten, dass Johann wahrscheinlich die Blutgerinnungsstörung von Stefan geerbt hat oder das Marco vielleicht aus Eifersucht gebissen hatte. Viele Kinder wehren sich ja mit beißen, kneifen oder kratzen. Zudem hatte ich Marco fünf Jahre alleine großgezogen und es ist nie etwas vorgefallen. Wir wollten Johann am 03. April taufen lassen und die Taufe gleich mit unserer Hochzeit verbinden, da wir schon über ein Jahr verlobt waren. Auch wir haben nichts zu verbergen. Ansonsten hätte ich es mit dem Gerichtsmediziner wohl kaum zugestimmt. Geschweige denn mich an der Presse zu wenden, in der Gefahr zu laufen das die Wahrheit rauskommt und die Öffentlichkeit davon erfährt. Frau Braumann schien sehr neugierig und zugleich erstaunt zu sein. Sie wollte alles wissen und stellte interessiert ihre Fragen. Als wir erzählten, dass wir mehrfach erpresst worden sind "Sonst passiert was schlimmes" oder "Sonst läuft es übers Gericht", schüttelte sie fassungslos den Kopf. Vor allem als wir berichteten, dass wir mit den Kindern nachts zum Krankenhaus hochmussten. Es verschlug ihr den Atem.

"Wenn Ihnen Kindeswohlgefährdung vorgeworfen wird, warum nehmen sie den Großen dann nicht auch raus? Er ist doch dann eigentlich auch in Gefahr. Das begreife ich nicht", fragte Frau Braumann verdutzt.

Ich zuckte mit den Schultern. "Genau das habe ich mich auch schon gefragt."

"Okay." Sie klappte ihr Notizbuch zu. "Dann habe ich das Wichtigste. Ich muss das Jugendamt jedoch auch noch befragen, damit die sich dazu rechtfertigen können."

"Geht in Ordnung", sagte Stefan.

"Gut. Kann ich noch ein Foto von euch machen?"

Ich war erst etwas unschlüssig, doch dann willigte ich ein. Frau Braumann positionierte uns beim Laufgitter. Ich setzte mich links auf dem Holzgitter neben meinen großen dunkelbraunen Bücherregal Stefan saß rechts daneben auf der Sofakante und Marco vor ihm. In der Mitte des Laufgitters legte sie Johanns weiß-braunen Schlafsack und drum herum Kuscheltiere. Wir machten alle ein trauriges Gesicht. Nachdem das Foto fertig war, verabschiedete sie sich. Sie versicherte mir weiterhin mit mir per E-Mail in Kontakt zu bleiben.

 

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Stefan und ich warteten vor der Tür von Frau Rudditz. Mein Anwalt hatte es geschafft Umgangsrecht für Johann zu bekommen. So dass wir ihn einmal die Woche für eine halbe Stunde beim Jugendamt besuchen durften. Ich war schon sehr aufgeregt und freut mich riesig Johann endlich wieder zu sehen. Ob er uns noch kennt? Heute Morgen hatte ich eine Entdeckung gemacht. Ich nehme schon seit über ein Jahr Antidepressiva. Und bei den Nebenwirkungen steht in der Schwangerschaft und Stillzeit kann es bei den Neugeborenen zu einer Blaufärbung der Haut führen. Ich setze große Hoffnung daran, dass dies bei Johann der Fall war. Und die Pflegemutter von Stefan hatte uns in der Zeit das Attest von der Blutgerinnungsstörung zugeschickt. Beides wollten wir nun bei Frau Rudditz vorlegen. Meinem Anwalt hatten wir es schon morgens gegeben.

Einige Minuten später öffnete sich die Bürotür. Frau Rudditz erschienen und ließ uns eintreten. Das Büro war hell und weiß gestrichen. Ich kam mir vor wie in einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis. Vor uns befand sich ein großer Schreibtisch mit lauter Papierkram, ein Computer, Telefon und Drucker. Da waren riesige Schränke in denen viele Aktenordner gestapelt sind. Einige grüne Pflanzen gaben den Raum eine freundliche Atmosphäre. Frau Rudditz schloss hinter uns die Tür und führte uns nach rechts. An einem langen Tisch saß eine ältere Frau auf einen der Stühle. Im Arm hatte sie Johann.

„Das ist die Pflegemutter Frau Leuschner und das sind die Eltern Frau Stern und Herr Kurz“, stellte uns Frau Rudditz miteinander vor.

„Jetzt wo deine Mama da ist, bist du eingeschlafen“, wandte sich Frau Leuschner an Johann.

Ich wusste nicht was ich machen oder sagen sollte. Wie sollte ich mich am besten verhalten? Nervös blickte ich von einem zum anderen. Ich fühlte mich wie ein scheues Reh vor einem Jäger. Stefan nahm beruhigend meine Hand und wir setzten uns mit an den Tisch.

„Sie dürfen Johann ruhig nehmen. Die halbe Stunde gehört nun Ihnen und Ihr Baby“, versicherte Frau Rudditz.

Ich nickte zaghaft, Frau Leuschner gab mir Johann rüber und ich nahm ihn vorsichtig in meinem Arm. Jede Faser meines Körpers verspannte sich und ich spürte wie mir Röte in das Gesicht schoss. Ich spürte deutlich die Blicke der anderen auf mich. Ich hasste es beobachtet zu werden. Dabei konnte ich meine Anspannung nicht mehr verlieren, denn ich hatte zu sehr Angst, dass ich etwas falsch machen würde. Hoffentlich begann Johann nicht an zu weinen. Nicht sein Weinen würde mich überfordern, sondern dieser forschende Blick von Frau Rudditz. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß.

„Ich habe jetzt mein Attest“, durchbrach Stefan die Stille. Er zog den Zettel aus der Jackentasche und gab es Frau Rudditz. Ich schloss mich gleich mit an und berichtete von den Nebenwirkungen von meinen Antidepressiva. Da ich Johann auf dem Arm hatte, ging Stefan an meiner Handtasche und überreichte Frau Rudditz auch den Beipackzettel. Doch ihr skeptischer Blick blieb unveränderte. Sie zog die Stirn kraus und las die Zettel mit einem prüfenden Blick. Dann gab sie uns diese wieder.

„Ich werde mich über das Medikament informieren“, sagte sie argwöhnisch. Dann wandte sie sich lächelnd an die Pflegemutter. „Sie müssten dann mal mit Johann zu einem Hämatologen fahren und ihn darauf testen lassen.“

Sie nickte. „Ich glaube in Magdeburg ist einer.“

„Ich werde nachher mal googeln und gebe Ihnen dann die Telefonnummer durch.“ Daraufhin stand sie auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Sie kramte in ihrem Papierhaufen herum und kam mit einem Zettel wieder. „Der Bericht vom Gerichtsmediziner ist auch angekommen.“ Sie gab ihn mir und stand mit den Händen in der Hüfte gestemmt neben mir.

Ich las ihn mir aufmerksam durch. Es waren eindeutig Bisswunden zu erkennen, aber er konnte nicht feststellen ob es sich um ein Kinder- oder Erwachsenenbiss handelte. Die Hämatome worden durch stumpfe Gewalt verursacht. Kindesmisshandlung konnte er nicht ausschließen. Ich musste den Brief zweimal lesen, damit ich es wirklich glauben konnte. Aber dennoch fiel es mir schwer. Die Bisswunde okay. Das habe selbst ich gesehen. Ich konnte ebenfalls nicht erkennen, ob es von Marco oder Stefan verursacht wurde. Aber stumpfe Gewalt? Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Als ich fertig war gab ich Stefan den Brief.

„Ich habe davon nichts mitbekommen“, beteuerte ich. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Es verschlug mir regelrecht die Sprache.

„Aus diesem Grund muss Johann weiterhin in der Pflegefamilie bleiben. Eine Kindeswohlgefährdung können wir nicht ausschließen.“ Frau Rudditz sah mich forschend mit ihren eisigen blauen Augen an. Ihre blonden Haare ließen sie noch kälter erscheinen. Sie wäre die perfekte Besetzung für die Schneekönigin.

„Es sei denn sie begeben sich mit den Kindern nach Polvitz in einem Mutter-Kind-Heim“, fuhr sie fort und setzte sich wieder. „Von einer Anzeige werden wir absehen, da sie so kooperativ waren und einer Pflegefamilie zugestimmt haben.“

Spinnt die jetzt vollkommen? Was sollte dann aus meiner Wohnung werden? Stefan bekam auch nur Hartz 4. Alleine könnte er die Wohnung nicht halten. Ich übergab Stefan Johann, damit er auch noch etwas von ihm hatte, obwohl er die ganze Zeit überschlief.

„Ich weiß nicht“, wimmerte ich. Ich biss mir auf die bebende Unterlippe, um mir die Tränen zu unterdrücken.

„Lassen Sie sich Zeit.“

Nun wurde Johann doch wach. Er rekelte sich und begann zu weinen.

„Jetzt ist Zeit für die Flasche“, sagte Frau Leuschner. Sie holte sie aus dem Flaschenwärmer, testete die Temperatur auf ihrer Haut und gab sie dann Stefan. Johann saugte genüsslich daran und war wieder zufrieden. Er hob die Händchen und versuchte die Flasche mit fest zuhalten.

„Was wäre wenn ich da nicht hin möchte?“, fragte ich Frau Rudditz.

„Dann bleibt Johann in der Pflegefamilie und es läuft alles übers Gericht.“

Also war das Gericht meine letzte Hoffnung. Freiwillig bekommt mich niemand in solcher Anstalt.

„Dann so. Ich gehe auf keinen Fall in einem Mutter-Kind-Heim.“

Wieso auch ich? Ich hatte Marco alleine großgezogen. Wenn müsste Stefan dort mit Johann hin. Als ich das aussprach, redete Frau Rudditz kein Wort mehr. Stefan fütterte Johann noch zu ende. Wir kuschelten mit ihm noch eine Weile und mussten uns dann von ihm verabschieden.

 

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Am 10. April hatten wir den Termin zur Anhörung vor dem Familiengericht bekommen. Es fand zum Glück in Gardelegen im Amtsgericht statt. Frau Rudditz holte sich Rat bei einem Psychiater wegen meinem Sertralin. Mit Blaufärbung waren keine Hämatome gemeint, sondern dass sich die komplette Haut des Säuglings bläulich färben kann. Der Artikel erschien bereits in der Volksstimme. Es war eine große Annonce „Das Drama um den kleinen Johann“ mit unserem Bild darunter und ein einzelnes kleines Foto von Johann. Es wurde alles so geschildert wie wir es berichtet hatten. Das Jugendamt erzählte das was wir bereits wussten. Sie bräuchten Sicherheit. Da eine Kindesmisshandlung nicht ausgeschlossen werden kann, können sie Johann nicht rausgeben und der Vorschlag vom Mutter-Kind-Heim, welchen ich ablehnte. Sofort las ich bei Facebook die Kommentare unter den Artikel. Natürlich gab es auch einige negative Kritiken, aber auch sehr viel Positive. Andere Menschen, die genauso ein Ärger mit dem Jugendamt haben oder hatten. Viele wünschten uns Mut und Kraft zum durchhalten und eine Menge schimpften über die Vorgehensweisen des Amtes. Auch auf der Straße in Gardelegen wurden wir öfter angesprochen, die sich das gar nicht vorstellen konnten, dass wir Kinder misshandelten. Es wurde mehrfach das Jugendamt kritisiert. Es hatten sich sogar andere betroffene Eltern bei uns gemeldet, die sich mit uns treffen wollten und gaben uns noch zahlreiche Tipps. Wie Unterschriften sammeln. Wir zogen gleich los und ließen Familienmitglieder, Bekannte, Nachbarn und unseren katholischen Pfarrer unterschreiben. Das war schon mal ein sehr kleiner Erfolg. Die Schadenfreude war mir direkt ins Gesicht geschrieben. Es war ein sehr angenehmes Gefühl, dass das Jugendamt wieder so negativ in der Öffentlichkeit stand. Tja, mit einer Mutter sollte man sich lieber nicht anlegen und ich konnte einen zweiten Schlag schon gar nicht mehr abwarten. Die würden noch sehen, was es heißt sich mit mir anlegen zu wollen. Nur weil ich unter Depressionen und Panikstörungen litt, ich schüchtern war und nicht viel sagte, dachten sie wohl sie könnten alles mit mir machen. Aber stille Wasser sind bekanntlich tief und dreckig. Vielleicht schafften sie es andere junge Mütter einzuschüchtern, bei mir waren sie da jedoch an die falsche Adresse. Nur die Dienstaufsichtsbeschwerde brachte kein Erfolg. Kein Wunder, die arbeiteten zusammen. Es fällt alles unter dem Landkreis Salzwedel.

Doch heute hatte ich ein anderes Problem. Meine Monatsblutungen waren eine Woche überfällig. Ich hatte mir sogleich ein Schwangerschaftstest besorgt und verwendet. Jetzt saß ich auf der Couch und Stefan mit dem Test auf einem Stuhl am Esszimmertisch. Ich war viel zu nervös und wollte das Ergebnis gar nicht wissen. Eine Schwangerschaft würde mir jetzt gerade noch fehlen.

„Positiv! Wir sind wieder Schwanger.“ Freudestrahlend kam Stefan auf mich zu und zog mich zu ihm. „Dieses Mal wird es garantiert ein Mädchen.“ Er küsste mich leidenschaftlich, aber ich konnte es nicht und stieß ihn von mir weg.

„Was ist? Freust du dich gar nicht?“, fragte er mich verdutzt.

„Wie soll ich mich freuen? Die haben unser Baby weggenommen und nun bin ich gleich wieder Schwanger“, fuhr ich ihn an. „Wie soll ich das dem Jugendamt erklären?“

Stefan zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wer weiß ob wir Johann wiederbekommen.“

Das war zu viel für mich. Ich wollte unser Baby zurück und ihm ist das mittlerweile völlig egal? Stattdessen produzierte er einfach ein neues Kind. Ich visierte mein Schlüsselbund auf dem Esstisch an. Aber Stefan war schneller. Ich rannte ihm im Flur hinter her, doch er schloss bereits die Haustür ab.

„Gib mir den Schlüssel“, brüllte ich ihn an. „Ich will hier raus!“

„Damit du wieder zu deinen Eltern rennen kannst?“, fragte er mit einem verächtlichen Schnauben. Ja, genau das hatte ich vor. Zum Glück war Marco dort und bekam von dem allen nichts mit. Ich hielt es nicht mehr aus bei ihm. Wie konnte er nur so denken und Johann einfach aufgeben?

„Das geht dir überhaupt nichts an.“ Entschlossen griff ich nach seiner Faust und versuchte ihm den Schlüsselbund abzunehmen.

„Jetzt reiß dich zusammen!“ Ohne Vorwarnung griff er mir mit der freien Hand an die Kehle und drückte zu. Automatisch ließ ich sofort von ihm ab. Ich bekam kein Wort mehr raus und spürte wie sein Druck immer fester wurde. Mein Atem blieb weg und ich bekam keine Luft mehr. Er bringt mich um, wenn jetzt nicht irgendwas passiert. Plötzlich ließ er von mir ab und schubste mich hustend richtig Stube. Gerade so konnte ich mich noch halten. Stefan kam auf mich, öffnete die Schlafzimmertür und schubste mich erneut. Diesmal konnte ich mich nicht mehr halten und fiel rückwärts auf dem Doppelbett. Rittlings setzte sich Stefan auf mich und hielt meine Hände über meinem Kopf fest.

„Ich hole mir jetzt, was mir gehört“, sagte er durchdringend. Seine braunen Augen funkelten vor Zorn, während sich sein Gesicht immer mehr verfinsterte. Ich war wie gelähmt vor Angst. Mein Hals tat höllisch weh und ich spürte wie mir Tränen über die Wangen liefen. Will er mich jetzt erst vergewaltigen und dann umbringen, schoss es mir durch den Kopf. Ich zitterte am ganzen Körper und mein Herz hämmerte in meiner Brust.

„Wenn du nicht so hässlich aussehen würdest.“ Er ließ erneut von mir ab, stand auf und verließ das Schlafzimmer. Hinter sich knallte er die Tür zu.

Schluchzend kauerte ich mich in die hinteren Ecke. Das zittern hörte nicht auf. Ich weinte unaufhörlich und japste nach Luft, was jedoch noch immer in meiner Kehle und meiner Lunge brannte. Wie sollte ich hier nur rauskommen? Mein Handy lag im Wohnzimmer auf den Stubentisch. Jeder andere würde mich vielleicht für wahnsinnig halten, aber ich musste noch ein Versuch unternehmen hier heraus zu kommen.

Ich krabbelte vom Bett herunter und ging in die Stube. Stefan saß mit einem großen Küchenmesser in der Hand auf dem Sofa. Erschrocken trat ich ein paar Schlucke zurück und erstarrte dann.

„Wenn du mich verlässt, bringe ich mich um und lasse es dann nach Mord aussehen“, sagte er bedrohend und setzte die Messerspitze an seinen Herzen an. „Hier sind auch einige Fingerabdrücke von dir drauf.“

Ich schluckte mühsam, selbst das tat weh. Jetzt half wohl nur noch Ruhe bewahren und machen was er sagte, damit er sich beruhigte.

„Ich habe nicht vor dich zu verlassen“, entgegnete ich mit heiserer Stimme. Stefan hob fragend eine Augenbraue. „Ich liebe dich doch. Wir sind verlobt, erwarten unser gemeinsames zweites Kind und wollen heiraten“, fuhr ich fort, obwohl das reden auch schmerzte. „Alles was ich mir schon immer gewünscht habe. Meine eigene Familie.“

Stefan schien mir zu glauben. Seine Gesichtszüge entspannten sich und er legte das Messer zurück auf den Tisch. Langsam wagte ich mich vor und setzte mich auf die Couch.

„Es tut mir leid“, sagte er mit brechender Stimme. Seine Augen waren rot und angeschwollen. „Ich werde so was nie wieder tun. Du bist doch meine Traumfrau“, wimmerte er. Nun liefen ihm Tränen über den Wangen. „Ich hatte nur Angst, dass du das Baby nicht bekommen willst, dass du mich verlässt und mir nicht glaubst.“

Stefan legte sich auf dem Sofa und zog mich an sich. Behutsam strich er mir eine braune Strähne aus dem Gesicht. „Ich hoffe du kannst mir verzeihen.“

Konnte ich das? Zu der Zeit war ich noch so dämlich und konnte es. Ich war blind vor Liebe. Oder hatte ich unbewusst einfach nur Angst? Ich nickte und schmiegte mein Kopf an seiner Wange.

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 03.04.2019

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Widmung:
Ich widme diesem Buch meiner Mama Silvia Staschok und meiner besten Freundin Swantje Siegmund, da sie schon immer an mich geglaubt haben. Sowie meiner besten Leserin und beste Helferin Sabine Markewitz. Vielen Dank für euer Glauben und eure Hilfe. Ich habe euch so mega lieb.

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