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In memorandum angelos ramuel!
Es ist die alte finstre Mähr
Von zwei Vermaledeiten,
Die ohne Rast und ohne Ruh
Fort durch die Hölle schreiten.
Von Zweien, die voll Hochmut einst
Verschmäht des Himmels Frieden,
Und eine Seligkeit hindurch
Sich fremd und stolz gemieden;
Von zwei Vermaledeiten, die
So fern nun allem Reinen,
Sich suchen, finden, halten, ach!
Und weinen - weinen - weinen! *1

Ich, Omael*2 , Engel der 2. Hierarchie, des 1. Chores, Schreiber dieses Memorandums, verkünde euch die Gedanken meines Bruders Ramuel, der gefallen und doch erhoben wurde. Sein Schicksal soll euch zur Mahnung gereichen, sein Trachten Warnung gebieten, sowie das meine euch Hoffnung geben mag und kommenden Zweifel an dem Wort des Herrn Eintracht schenken lässt. Lasst die folgenden bitteren Silben euch nicht die Hingabe auf das irdische Leben vergällen, denn sie dienen dem Herrn bis zum Tage des jüngsten Gerichts, wenn die Siegel gebrochen und das Himmelreich sich euch eröffnet. So lasst mich, selber von Trauer und Scham erfüllt, mit den Worten des Herrn und unserer Geburt beginnen:

Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen,
ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes.
Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden,
das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften,
Mächte und Gewalten...*3
So bilden in diesem Memorial die Düsternis und Hoffnungslosigkeit zuweil undurchdringliche Mauern, Quader um Quader aufgeschichtet in einer Endlichkeit die die Menschen die Ewigkeit nennen wollen. Die Menschen, deretwegen Ramuel, Arameel, Akibeel, Tamiel, Ezeqeel, Asael, Samsaveel, Sartael, Tumael, Turel, Jomjael, Arasjel und Hunderte anderer Gefallener die Herrlichkeit Gottes nicht mehr erfahren dürfen. Verloren bis Sariel und Raguel das Schicksal jener Lichtgeister entschieden haben, die im finstren Engelssturz gen Erde geschmettert wurden, schluchzend und voll der Trauer ob ihrer Laster und der verwirkten Liebe ihres Herrn.
Nun wohnt mein Bruder in dem zehnten Chor, unter dem Führer Luzifer, der einst Luzifel war, erleuchtet und verbannt, denn durch seine Betrachtung der eigenen Schönheit ist mein Bruder in die Sünde gestürzt und die erste Sünde dieses Engels nannte sich Hochmut, alsbald ihr folgte der Neid, grausam und durchtrieben, ach, wie sehr krampft mir mein Herz...
Schmerzvoll bin ich mir des Werkes des Luzifers bewusst, der eure Gedanken und Leiber missbraucht, euren Glauben zu vernichten trachtet und doch seid ihr zu ungewiss in euch selbst um die göttliche Fügung zu erkennen...es sei euch verziehen, schließlich wurdet ihr so geschaffen und ich will euch ein wenig Wissen geben zu verstehen, zu verstehen was eure Ahnen in den Herzen trugen und wo doch der Wandel eurer Zeit dazu führte den göttlichen Funken zu verschütten.
Luzifel, der höchste Unseresgleichen, war euch einst sehr misstrauisch gegenüber eingestellt, er erkannte eure Schwächen und missachtete eure Stärken. Damals, als eurer Vater und eure Mutter, die ihr Adam und Eva nennt, durch Gabriels Garten lustwandelten. Er beschwor unseren heiligen Vater, bat um seine Erkenntnis mit all des ihm eigenen Temperaments und doch war euer Hirte voll des Stolzes und ließ sich nicht beirren. Einzig der Wunsch nach Friede war es, dass unser Gott ihn als den obersten Engel ersuchte nach Eden zu gehen, die Menschen in Versuchung zu führen und zu erfahren das seine Geschöpfe durchaus der Rechenschaft und des Guten fähig waren. Fragte doch der Prinz der Seraphim: „Herr, bist du sicher, dass der Mensch dir immer treu sein wird?“ und sagte nicht unser Vater: „Gehe und teste sie Luzifel, und die die versagen, die sollen durch dich die Strafe erhalten, welche sie verdienen.“?
Oh, der arme Luzifel, verteufelt wurde er durch das Bewusstsein der Menschen, infiziert von ihrer Schwäche und so, nur so legte er das –el ab und wurde Luzifer. Ihr kennt die bittere Sage um Adam und Eva, ihr kennt das Versagen in euch selbst, ihr erkennt das wirken des Luzifer und ihr erkennt, wenn ihr fromm versteht, was euch unser Herr an Nachsicht und Güte gelten ließ.
Der Zwiespalt begann zu sein, der Todessturz, einer Kaskade an Lichtgeistern gleich, erschütterte das Himmelreich. Michael und seine Engel schlugen die Entarteten, doch seid euch versichert, sie weinten bitterlich dabei. Die Menschen wurden verbannt, die Engel auf Erden gefangen. Ihr wisst um die Trauer nur aus eurer kleinlichen Sicht, doch wie wär, und seid ehrlich zu euch selbst, wie wär euch zahllose Brüder und Schwestern fallen zu sehen? Welch Jammer, welch Unglück, lasst mich an dieser Stelle verzagen und gedenkt jener die besser waren als ihr...
Nun, es sollen die Gedanken meines Bruders sein und nicht die meinen, daher lasst mich beginnen. Ich traf Ramuel unlängst auf eurer Welt, als ihr wiedereinmal bewiesen hattet, wie unbesonnen ihr wütet unter euresgleichen. Es waren die, die ihr Inka nennt, ihr erinnert euch hoffentlich, ihr erschlugt sie in grausamen Massakern, in wildem Hass und verteufelter Gier. Das Blut tausender Männer, Frauen und Kinder färbte die Flüsse in ein grausiges Scharlachrot und selbst der Natur stockte der Atem hinsichtlich einer solchen Tragödie. Könnt ihr die Verstümmelungen spüren, den Schmerz empfinden, Leid tragen und Qualen dulden? Wir können es, wir müssen es, doch wollen wir es? Unser Herr trug es uns auf und wir dienen ihm in seiner Güte und seinem Allwissen, doch ihr versteht uns nicht, ihr, denen er soviel opfert, da er euch liebt, doch ich schweife ab und mein Bruder harrt seiner Begegnung mit euch in diesem Buche…
Ich traf Ramuel dort über einem brennenden Dorf, unweit Cuzcos, donnernd war das bersten der brennenden Ziegeln, grauenvoll die Schreie der Gemarterten, hysterisch die Jubel der Spanier zu hören, doch still und ruhig lächelnd mein Bruder. Ich flog an seine Seite, gegrämt über die Bilder die ich bereits zu oft hatte sehen müssen, doch er blickte weiter herab und fragte mich mit scheinbaren Desinteresse: „Warum sagte Jesus, unser vom Himmel herabgestiegene Vater; Wer die Welt erkannt hat, hat einen Leichnam erkannt, aber wer den Leib gefunden hat, dessen ist die Welt nicht würdig?“*4
Er erwartete keine Antwort, sondern deutete stattdessen mit einem feinen Lächeln auf einen schmächtigen Holländer, der in Spaniens Farben gekleidet mit seinem Säbel ein Jungen niederstach, gleichwohl uninteressiert über ihn hinwegstieg, ein entsetzt schreiendes Mädchen bei den Haaren packte und ihr inmitten des Blutes und der Flammen begann die Kleider vom Leib zu reißen.
„Es war nicht schwer ihn zu verführen, Omael, ich fragte ihn in seinem verängstigten Geiste, warum er nicht mit seinen Kameraden gleichzöge und ihnen feige das morden, brandschatzen und huren überließ? Der Narr, er antwortete mir, das er Christ sei, das dies Mord sei und er als Bauer diese neuen Lande betreten wolle. Mein Bruder, wie herzlich musste ich lachen, so einfach war es ihn in die Irre zu führen, so schwach sein Glaube, das jene welche sie bekämpften keine Christen seien, das es des Luzifers Dämonen seien, das die Frauen ihre Trophäen im Kampf gegen das Böse stellen und ihre Kinder mit Stumpf und Stiel vernichtet gehören. Ich gaukelte ihm Bilder von Reichtum, Macht und Sklaven vor. Ha, welch trostlose Natur, nach diesem Ebenbild der menschlichen Entwicklung werde ich zu ihm herabfahren, ihn foltern mit seinem Gewissen, ihn härmen und letztendlich zusehen wie er begreift. Sich mit verquollenen Augen um sein Schicksal beweint und letztendlich den Trost in seinem Schwert sucht, was sich unversehens durch eigene Hand in seine Eingeweide bohrt. Süß wird ihn Azazel empfangen, den der Vater im Himmel verbot sich ja das selber entleiben und verdammte solche in die Hölle, oh ja, Azazel wird ihn gebührend empfangen. Vergiss auch nicht, mein Bruder, die Frau und die beiden Söhne dieses Mannes, nicht weit von hier in der Befestigung Pizarros, welch Kummer werden sie haben, wie verblendet vor Hass werden die Söhne auf die Ketschua sein, ich werde sie nicht mehr zu lenken brauchen, noch unschuldig gehören ihre Seelen bereits dem Lichtbringer“ er lachte „dem Lichtbringer den sie Satan nennen. Mein Bruder, höre meine Worte, der Himmel wird sich nicht füllen und bald werden die Schreie der Verdammten die neun Chöre unseres Vaters übertönen.“
So sprach er zu mir und lachte noch als Sariel*5 herabstieg und donnernd: „Hypage ramuel!“*6 rief. Seltsam fauchend und sich krümmend gehorchte mein Bruder diesem Willen und selbst meine Augen konnten seiner Flucht, vor dem Zorn unseres Vater, nicht folgen. Schwermütig war auch das Gesicht meines Freundes, als er denn neben mir schwebte und schwer seine Hand auf meine Schulter legte, angespannt zeigte er hinab auf den Holländer und das Inkamädchen, wo derweil ein weiterer Engel, seinem Namen nach Darel*7, in jenes Geiste sprach. Für euch Menschen mögen es nur Sekunden sein, für unsereins sind es Ewigkeiten, Ewigkeiten in denen Darel der Versuchung in dem Verwirrten Abhilfe versprach und die Tugenden dieses Mannes wieder an seine bewusste Oberfläche brachte. Mal ist der Mensch stark genug des Bösen zu entsagen, mal nicht. Doch wie groß war unsere Freude, als die Augen des Mannes sich öffneten, er voller Scham auf die Toten und die Kleider in seinen Händen schaute und er das angstvoll zitternde Mädchen, mit Tränen in den Augen, ergriff, es schützte und es voller Schuld und Sühne mit sich zu der Siedlung nahm, der Siedlung, von wo aus später Pizarro mit seinen Mannen aufbrechen würde um den Inka – Herrscher Atahualpa selbst vom Antlitz dieser Welt zu tilgen. Ja, wir konnten das Übel nicht verhindern, doch einen konnten wir retten, wie einst der Hirte es mit seinen Schafen hielt, denn müsst nicht auch ihr sagen:„Ein bekehrter Sünder ist mehr wert als hundert falsche Gläubige?“ Das Leid dieser Welt steckt in euch, doch auch das Gute um es zu bekämpfen; versteht euch in euch selbst! Lasst euch die Zeilen aus der Bibel noch einmal Wissen schenken, ich sagte einst: „Wie groß ist die Würde der Seelen, dass eine jede von Geburt an zu ihrem Schutz einen Engel zugewiesen hat"*8. Und wieder schweife ich ab, denn Ramuel lebt bei euch, in euch, und ihr sollt wissen das er nicht schlecht ist, er hat nur die eure Schlechtigkeit erkannt und im einzigen Gegensatz zu mir, vertraut er nicht unserem Vater. Gebt dem euch geschenkten Engel die Macht euch auf dem rechten Weg zu helfen, denn wir obliegen dem Wunsch Gottes, und dieser hilft nur jenen, die bereit sind sich selbst zu helfen. Und auch wenn es für euch wie ein Widerspruch klingen mag, das Schlechte vermag sich nicht gänzlichst dem Guten zu verwehren. Denn knapp ein Jahrtausend vorher, wohnten Ramuel und ich im alten Ägypten einem Geschehen bei, es mag mein Beweis und eure Hoffnung sein. Damals nannten die wenigen Gott noch Jahwe, wie es heut auch noch die Juden und in abgewandelter Form die Mohammedaner sagen. Das blühende Reich am Nil und der ihm unterworfene Zauber luden uns dereinst ein und wir sahen, was ihr nur aus den Büchern der Gelehrten entnehmen könnt.
Damals war es bereits stockfinster wo ich Ramuel an jenem Brunnen traf, die Lehmhäuser standen dunkel und ruhig da, sie luden ein sich eine Schlaffstatt zu suchen, denn reichlich kalt war es den Menschen in dieser sternenklaren Nacht. Einzig der volle Mond ließ seine silbrigen Lichtfinger durch das Dunkel tasten und die einzigen Laute waren die eines dumpf grollenden Löwen hinter den Palastmauern des Prälaten. Mich erfreute es, als ich Ramuel dort alleine stehen sah, umgarnt im Spiel des Lichtes und der Schatten und seinem feinem Lächeln, was mich ein jedes Mal zu beglücken weiß. Eigentlich wollten wir die Nacht zu dem gigantischen Panthenon, doch ein wohlmeinender Engel, mit Namen Azrael*9, flüsterte mir von einem erhabenem Schauspiel. So verriet ich trotz seiner Neugier nichts und führte ihn durch die dunklen Gassen, geschickt dem einen oder anderen Karren ausweichend der sich uns herausfordernd in den Weg stellte. Nur zu schnell erkannte er in meinem Bündel das Geheimnis und seine Mutmaßungen trieben mir von mal zu mal ein Lächeln ins Gesicht, während ich mich leicht auf den vor uns liegenden Weg konzentrierte. Scherzende Posten wachten zu dieser Zeit an den Stadttoren, trutzig und mit Bronze beschlagen, doch wir hörten kaum auf sie, kannten wir doch des Menschen Seite an schönen Wünschen. Wir verblieben für einen Augenblick am Rande der Wüste, denn es ist ein wahrhaft wundersamer Anblick der sich hier einem zu bieten vermag. Schwarz und grau wirkt sie, wie ein erstarrtes Meer mit ihren Dünen und Tälern. Der Wind frischte auf und wir richteten uns nach den Sternen. Lächelnd zeigte ich ihm den Stern denn unser Herr als Markierung auserkoren hatte und zu dem manch einsamer Pilger in einsamen Nächten emporschauen mag. Doch allzu bald nahmen wir die Wanderung wieder auf, denn der Wind hatte aufgefrischt und die Kälte begann die Wärme zu beißen. Dort draußen waren die Geräusche für Unbedarfte schon schaudernder, ein heulen und scharren, fiepen und zirpen, man mochte
meinen die Seelen der Verdammten hausten hier ihr karges Dasein. Doch nur den Wagemutigen gehört die Welt und uns ist sie untertan. Endlich kamen wir zu einem aus
dem Boden ragenden Felstor, reich geschmückt, mit Intarsien, goldenen, grünen, roten und blauen Farben, doch es eilte mich und so zog ich meinen Bruder, nach dem gestaltlosen Durchschreiten des Siegels, schnell in die Schwärze des Raumes. Befriedigt sah ich seinen
interessierten Blick als er über die zahlreichen, kunstvollen Reliefe streifte, die eine lange und sich wieder kehrende Geschichte erzählten. Still trat ich zu ihm und wir erblickten die geschriebene Weise dieses Ortes. Schnell übersetzte Ramuel die Hieroglyphen und doch stockend sprach er laut von gequälten Frauen, die in Schmerz und Glück hierher gebracht wurden, begleitet von glücklich aussehenden Priestern und Weibern. Die Frauen sich windend und schreiend auf Bahren gebunden wollten ihm nicht so recht zu den Geschenken passen, die andere in stolzer Prozession ihr nachtrugen und sein Blick wirkte etwas entfremdet als er mich traf, doch noch ehe ich zu einer Erklärung ansetzen konnte drang von draußen ein Schrei tiefster Pein durch die Ritzen der Tür. Schnell packte ich Ramuel und flüsterte ihm zu mir zu vertrauen. Mit angemessener Hast führte ich ihn tiefer in die Katakomben und nur schemenhaft sah er die zahlreichen Bildnisse an sich vorüberziehen. Doch schließlich erreichten wir einen seltsamen Raum, Ramuel war verwirrt und ließ sich so gut hinter eine Statur der Isis führen, die Götzte, die breit und schutzgebietend sich am Ende des Raumes in ihrer Pracht erhob. In der Mitte des Raumes sahen wir einen hohen Tisch mit Fesseln, Schüsseln und Tücher, Zangen und Messer. An den Wänden prangten die stilisierten Blüten der Papyrusstauden in zahlreichen Farben und das Deckengewölbe verlieh einem den gekünstelten Eindruck unter dem Himmelszelte zu stehen. Da hörten wir hastige Schritte im dunkeln, ein poltern an der Pforte und flugs stürzten zwei in weiße Gewänder und Kappen gehüllte Akoluthen in den Raum, eine ganze Anzahl brennender, tropfender Fackeln in den Händen haltend musste man schon fürchten das sie sich Schaden zufügten, doch geschickt steckten sie schnell eine nach der anderen in die Halterungen an den Wänden. Unbeeindruckt durch die plötzliche Helligkeit sahen wir wie die beiden Männer an den Pfosten auf die Knie sinken und voller Inbrunst ihre Stirnen auf den Boden schlagen.
Wir zuckten beide zusammen als wir wieder den gequälten Schrei hörten, diesmal aus den Gängen, näher, viel näher. Gespannt warteten wir auf das was mir Azrael zugeflüstert hatte. Endlich war es soweit, eine reich verzierte Bahre wurde von vier Sklaven in den Raum getragen, doch schnell wandten wir uns dem Anblick auf der Trage zu, dort lag sie, die Königin des oberen und unteren Reiches, prachtvoll in ihren Gewändern, reich geschmückt und sich mit beiden Händen den gewölbten Leib haltend. Ihr sonst so hübsches, gesundes Gesicht war verzerrt von den Wehen, die das kommen des Thronfolgers ankündigten.
Nur am Rande erkannte man den Pharao, der in seiner Aufregung vergeblich versuchte die Würde als Gott darzustellen, der er ja zu sein wähnte. Nur allzu menschlich wirkten die kleinen Tränen in den Winkeln seiner geschminkten Augen. Aufgeregte Frauen und Männer schwärmten aus und mit aller gebotenen Vorsicht hoben sie die erste Frau unter den Weibern auf den Tisch, dampfendes Wasser wurde in Schüsseln gefüllt, frische Tücher
ausgelegt, Priester begannen ihre Litaneien zu brabbeln und verängstige Sklaven verließen fliegenden Fußes die Hallen. Wie viel Zeit mochte vergangen sein, wir konnten es beide nicht sagen, zu schnell und zu langsam, ungestüm und doch eingespielt war jenes Schauspiel was sich uns hier bot. Die Wehen kamen häufiger und angespannt waren die Gesichter der Medikusse; Frauen hielten der Königin ihre Hände, redeten bestimmend auf sie ein, während jene ihren Schmerz hinausschrie. Nur der Pharao war bleich geworden und lehnt überwältigt von diesem Wunder an der kalten Mauer. Vielleicht waren es Stunden oder nur Minuten, als ein befreites Hochrufen einsetzte und ein glücklicher Priester die Nabelschnur durchtrennte, das Kind zur Decke streckte und kurz darauf das kleine, recht kräftige Schreien des jungen Prinzen zu hören war. Welch wilde Aufregung herrschte, Frauen und Männer weinten vor Glück, der König stürzte zu seiner Frau und ließ sich nicht mehr halten und das Kind, gewaschen und gesalbt, öffnete seine Seelentore.
War man sonst nur die stillen, heidnischen Zeremonien dieser Menschen gewöhnt so war dies Spektakel trotzdem wohl das Schönste überhaupt. Bald legte man das Kind der Mutter an die Brust und liebevoll sahen sich der Vater, wie die Mutter an. Nur ein einziges Mal war sein Gesicht ernst als er sich erhob, einen Priester zu sich winkte und ihm auftrug die Kunde von der Geburt des jungen Menschen zu verbreiten. Ich bemerkte wohl auch den Taumel meines Bruders Gefühle, versprach ich mir doch auch seine Heilung von solchem Glück, und leise wies ich Ramuel auf die Gestalt des heiligen Geistes hin, der seltsam unbeachtet in der Ecke eines Raumes stand. Erstaunt blickte Ramuel unseren Vater an, der nebelhaft und kaum greifbar in dieser Halle weilte.
Ja, auch ihr begreift jetzt wohl das Schicksal des jungen ägyptischen Monarchen, es war kein anderer als jener spätere Pharao der durch Moses und das Volk Israels seine endgültige Niederlage fand, während sie der Freiheit entgegenzogen. Weise lächelnd und ohne Groll nickte ihm der Herr zu, versprechend auch bei seiner Aburteilung, am Tage des jüngsten Gerichts, seine gerechte Hand über ihn zu halten.
Ramuel ward hier sehr nachdenklich und zog sich alsbald zurück, so wie auch ich diesen Ort verließ und schwermütig geradezu Uriel in die Arme flog. Er, der der Wächter der Unterwelt ist, er, der euer vierter Erzengel ist, er, der über den dunklen Fluss der Seelen wacht. Lächelnd trat er an mich heran, und sprach, wohl meine Gedanken kennend:
„Verzage nicht, Freund, jeder gefallene Bruder wird einmal aus der Verbannung der Materie befreit, als Mensch wieder inkarniert und erst dann wird sich zeigen ob er erneut gedenkt die göttliche Ordnung zu übertreten.“ Ja, so sprach Uriel tröstend und bestimmt und euch sollte ein jenes klar sein, wird Ramuel wieder zu Fleisch werden, und noch immer nicht unseres Herrn Wort vernehmen, so wird er zu jenen Wesen die ihr Dämonen nennt, unrettbar und endgültig, ebenso wie es den Menschen ergeht die sich der himmlischen Gnade durch ihre Laster zu entziehen suchen. Bedenkt, es fließt der Himmel auch in den Teufel wie in die Engel Gottes ein; aber jeder von den beiden verwendet ihn anders!*10
So wird unser Kampf um die Rettung des Anderen wohl noch viele Jahrhunderte weiterbestehen, Jahrhunderte in denen er mir die Ausrottung zahlloser Gemeinden, die Schauplätze aller Kriege auf Erden, die Konzentrationslager auf allen Kontinenten, in allen Zeiten zeigte, wobei ich ihn zu wahren Liebenden, herzvollen Menschen mit guten Taten brachte, um das Grauen im Grossen mit der Liebe im kleinen zu bekämpfen. Es ist an euch zu entscheiden, was in euren Herzen und Seelen eine Heimat finden soll. Ich werde es langsam müde, eurer Unvernunft beizuwohnen, eurem ziellosen rennen in die Verdammnis zu zusehen. Wie ich im vornherein schrieb: In euch wohnt das Gute, ihr müsst es nur zu nutzen wissen…
Geschrieben im Jahr des Herrn 2004, Omael


Erläuterung:
*1: Gedicht eines unbekannten Schreibers
*2: Omael, ein Engel, der die Arten vermehrt und Rassen verewigt. Es wird bisweilen diskutiert, ob Omael ein gefallener oder ein aufrechter Engel ist. Die verfügbaren Unterlagen lassen den Schluss zu, dass er wohl beides ist.
*3: Bibelzitat zur Schaffung der Engel
*4: Apokryphen 56,80
*5: Sariel : Dieser Seraphim arbeitet zusammen mit Raguel, und hat dem Befehl Gottes dabei die Aufgabe, das weitere Schicksal derjenigen Engel zu entscheiden, die von Gottes Wegen abgekommen sind. Zudem wird angenommen, dass er ein Engel des Wissens und ein Todesengel ist, aber auch einer der Führer in den himmlischen Armeen. Denn sein Name steht auf den Schildern bei einer der kämpfenden Garnisonen.
*6: lat.: Hebe dich hinweg, Ramuel!
*7: Darel : Er ist zuständig für das Licht, und verantwortlich dafür, dass all jenen Männern und Frauen, die Gefahr laufen, Hoffnung und Glauben zu verlieren, das Licht gegeben wird. *8: Matthäus III 18,10
*9: Azrael : Der Todesengel, der " ewig in ein dickes Buch schreibt und ewig ausstreicht, was er schreibt: was er schreibt, ist die Geburt des Menschen, was er ausstreicht, ist der Name des gestorbenen Menschen.
*10: jl.ev 12


Impressum

Texte: Illustration von Gustave Doré
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2010

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