Der Regen peitschte mir ins Gesicht, als ich gestern am Strand von Norddeich spazieren ging. Das Meer war grau und unruhig. Plötzlich sah ich eine grüne Flasche, die von den Wellen an den Strand geworfen wurde. Diese Flasche war nicht leer. In ihr steckte etwas Helles. Meine Neugier war geweckt und - obwohl der Boden matschig war - näherte ich mich der Flasche und hob sie auf. Sie zu öffnen war nicht schwer, aber das Blatt konnte ich erst zuhause mit einer langen Pinzette herausziehen. Die Mühe hat sich gelohnt, denn ich fand den folgenden Brief:
Sehr geehrte Marienhafener, sehr geehrte Bürger des Brookmerlandes, sehr geehrter Rat der Gemeinde Brookmerland!
Wir haben erfahren, dass Sie vor vielen Jahren Piraten aufgenommen haben. Sie erlaubten Ihnen auf dem Marktplatz in Marienhafe Waren zu verkaufen, gaben ihnen Unterkunft und für einige Jahre gaben Sie ihnen auch Beschäftigung beim Bau Ihrer Kirche in Marienhafe. Auch heute noch bekennen Sie sich zu Ihrer Vergangenheit. Auf Ihrem Marktplatz haben Sie Störtebeker, einem Anführer der Piraten, sogar ein Denkmal aufgestellt. Alle drei Jahre veranstalten Sie Störtebeker-Freilichtspiele, ein Hotel ist nach ihm benannt, ebenso eine Teestube und in diesem Jahr veranstalteten Sie in seinem Namen einen Wettlauf und ein Straßenfest. Wir schließen aus diesen zahlreichen Aktivitäten, dass Sie Ihrer freundliche Haltung zu Piraten treu geblieben sind.
Sicher haben Sie schon gehört, dass auch wir zu Piraten werden mussten. Unser Land ist so arm wie Friesland vor 600 Jahren. Der Diktator Siad Barre ist vertrieben. Aber seitdem kämpfen verschiedene Kriegsherren gegeneinander. Das einfache Volk muss es erleiden. Wir sind unseres Lebens nicht sicher. Immer wieder werden Unschuldige erschossen, die Ernte und die Häuser zerstört. Früher konnten wir vor unserer Küste fischen und uns so etwas zu essen beschaffen. Aber inzwischen haben große Schiffe das Meer leergefischt, so das uns auch diese Möglichkeit verwehrt ist. Hinzu kommt, dass im Meer Giftfässer versenkt wurden. Wir können also nicht mehr Fische aus dem Meer essen.
In dieser Situation sehen wir uns gezwungen, die reichen Handelsschiffe, die täglich an unserer Küste entlang fahren zu kapern. Dabei sind wir auch ganz erfolgreich. Die Kaper-fahrten haben uns einen gewissen Wohlstand gebracht. Aber das Leben eines Piraten ist nicht nur abenteuerlich. Es ist auch in höchstem Maße gefährdet. Ihr Held Störtebeker wurde auf grausame Weise umgebracht. Das gleiche Schicksal erlitten unsere Kameraden, als sie ein russisches Schiff kapern wollten. Wir möchten gerne in Frieden leben.
Daher bitten wir Sie um Hilfe. Berichten Sie in Ihrem Land über uns und unsere Not. Wie schon die Hanse, so haben die Hamburger auch heute Piraten gefangen. Setzen Sie sich dafür ein, dass sie freigelassen werden. Bitten Sie ihre Regierung, dass Sie uns Asyl gewähren dürfen. Sollten Sie Erfolg haben, würden wir uns gerne mit unseren Familien bei Ihnen niederlassen. Wir können Ihnen versprechen, dass wir Ihre wirtschaftliche Entwicklung positiv beeinflussen werden. Gerne sind wir auch bereit, anderen Gästen Ihrer Stadt unsere Erlebnisse als Piraten zu schildern und so der historischen Sicht eine aktuelle beizufügen. Für die Freilichtspiele könnten wir ein modernes Stück voller Spannung und Dramatik über die Probleme unserer Welt schreiben und dieses mit Ihren Bürgern gemeinsam aufführen.
Sehr geehrte Marienhafener, sehr geehrte Bürger des Brookmerlandes, sehr geehrter Rat der Gemeinde Brookmerland!
Wir haben das Vertrauen, dass Sie wahre Piratenfreunde sind. Wir können uns nicht vorstellen, dass Sie etwa nur Piratenfreundlichkeit heucheln, um sich interessant zu machen oder Gäste anzulocken. Daher sind wir guten Mutes und erwarten, dass Sie sich für unsere Sache einsetzen. Ihrer Antwort und der weiteren Entwicklung sehen wir mit Spannung entgegen.
Freundliche Grüße aus Somalia
Ibrahim Issa Naar, Boosaaso, Puntland, Somalia
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2010
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