Da saß ich nun neben dem großen Eichenschrank, kauernd in einer Ecke. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder schreien soll, ich weiß nur: ich habe Angst.
Immer wieder brüllt er sie an, lauter, immer lauter. Sie schüttelt unentwegt den Kopf und schlingt sich die Arme um den Körper. Warum schreit sie nicht wenigstens auch? Aber aus ihrem Mund kommt kein Ton. Ich zucke zusammen. Es hat ihm anscheinend gereicht, denn mit voller Wucht schlägt er ihr ins Gesicht. Der Schlag muss heftig gewesen sein, denn sie verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Boden. Ich versuche, meinen Kopf zu drehen, aber ich kann meine Augen nicht von dem Blut abwenden, dass nun unaufhörlich aus ihrer Nase und ihrer aufgesprungenen Lippe läuft. Es ist nicht das erste Mal, dass er es tut. An manchen Tagen denke ich einfach, dass er Spaß daran hat, sie zu schlagen.
Mir hat er zum Glück noch nichts getan. Er sagt immer, ich wäre sein kleines Mädchen und zum fünften Geburtstag würde er mir die Puppe schenken, die ich mir so gewünscht habe. Heute ist mein Geburtstag, und ich habe nichts bekommen. Stattdessen kauere ich in der Ecke und versuche die Augen zu verschließen, vor dem, was ich sehe. Es macht mir immer wieder Angst. Ich habe Angst um sie. Ich sehe, wie sie sich an der Tischkante abzustützen versucht, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich würde am liebsten zu ihr hin laufen, meine kleinen Arme um ihren Körper schlingen und ihr helfen. Aber da passierte es auf einmal wieder. Er boxt ihr in den Bauch und brüllt sie an.
Warum wehrt sie sich nicht? Oder warum schreit sie nicht wenigstens? Ich hätte sofort geschrien. Aber aus ihrem Mund hört man nicht mal ein Wimmern. Stolz reckt sie das Kinn in die Höhe und schaut ihm direkt in die Augen. Sie weiß, dass ihn das noch wütender macht, und ich versuche, mich noch enger in meine Ecke zu drücken. Mit einem Auge sehe ich, wie er einen Baseballschläger in der Hand hält. Wo hat er ihn her? Ich zucke zusammen beim Brechen ihres Armes, als der Schläger mit voller Wucht dagegen knallt. Die Wucht des Schlags lässt sie taumeln und gegen den Schrank fallen, der neben meiner kleinen Schutzecke steht. Ich schaue ihr in die Augen und erwarte, Angst und Schmerz in ihnen zu finden.
Doch sie lächelt mich nur an. Ich sehe, wie sie eine Schublade aufzieht. Plötzlich höre ich einen ohrenbetäubenden Knall. Ich schaue zu ihm und sehe, wie er wie ein Stein zu Boden sackt, in seinem Kopf eine Schusswunde. Da er sich am Boden nicht mehr regt, glaube ich, er ist tot, auch wenn ich noch zu klein bin, dieses Wort in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen. Aber irgendwie weiß ich es. Ich schaue zu ihr hoch und greife nach ihrer ausgestreckten Hand, die sie mir entgegenstreckt. Ich stehe auf und schaue mich um. Um auf meine Augenhöhe zu kommen, kniet sie sich hin und schaut mich an. Ich falle ihr in den Arm, schreie „Mama, Mama!“ und höre sie sagen: „Komm mein Liebling, lass uns gehen. Es ist vorbei!“
Texte: Stefanie Lempe
Bildmaterialien: Stefanie Lempe
Tag der Veröffentlichung: 13.09.2012
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