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Vorwort



Die ganze Welt glaubt an Engel, oder fast die ganze. Sie sind in zahlreichen Religionen und Glaubensgemeinschaften zu finden, auch wenn meist auf unterschiedliche Weise. Weihnachtsengel, Schutzengel, Erzengel, Liebesengel, Racheengel, Todesengel …
Kleinen Kindern wird von Geburt an eingetrichtert, Schutzengel würden sie im Schlafe bewachen. Sterbende würden von Todesengel sanft ins ewige Licht geleitet. Liebende finden nur ihr Glück mit Amors Hilfe.
Es gibt Bücher und Theaterstücke über Engel, Filme und unzählige Lieder, die ihre Taten rühmen und ihr Aussehen bewundern. Schon im alten Ägypten, Rom und auch bei den Griechen entdeckten Maler und Bildhauer die mächtige Kraft der Engel, verewigten sie auf Wänden und Decken von Kathedralen oder als menschengroße Skulpturen, mit und ohne Flügel.

Ich bin ein Engel. Ja.

Keiner mit Pickel oder Zahnklammer, dafür bin ich zu perfekt. Mein Gesicht ähnelt den Gesichtern auf Botticellis oder Bouchérs Gemälden, eine filigrane Nase, royalblaue Augen, volle Lippen und einen Körper, der … ich glaube, ich sehe gut aus … ich hoffe, ich sehe gut aus. Um das Klischee Engel zu unterstreichen, besitze ich hüftlanges, welliges Haar, das sich wie eine Mischung aus Mahagoniholz und Kastanie mit einer Spur von Honig über meinen Rücken ergießt. Und ich habe Kräfte, überirdische, besonders starke, manchmal. Eines habe ich mit einem Teenager gemein, ich treffe gern falsche Entscheidungen.


Dem Leben nah, dem Tod viel näher



Dieser Tag begann nicht viel anders, als all die anderen davor und mit Sicherheit wie all die anderen, die noch folgen werden. Doch dessen Verlauf veränderte meine Existenz grundlegend, schlagartig und mit derartiger Wucht und Dramatik, wie ich es mir nie vorgestellt hätte. Ich spreche bewusst nicht vom Leben, denn eigentlich gibt es für Engel keinen richtigen Anfang und kein Ende, wie es Menschen kennen. Wir existieren immer, nur in anderen Formen. Wenn wir auf die Erde kommen, wird unsere Energie in einen Körper transferiert und manche von uns, wie Lando und ich erleben sogar die Geburt eines menschlichen Wesens. Wozu? Es soll uns den Stärken und Schwächen der Menschen näherbringen.
Notiz an Gott: die Geburt kann getrost weggelassen werden, Nichts bereitet einen Engel besser auf die harte, trostlose und ungerechte Zukunft vor, wie die Schule, oder ein Ereignis wie das an diesem Tag.
Unser Haus unterscheidet sich in nichts von den Nachbarhäusern. Eine große Rasenfläche davor und ein Garten mit Terrasse dahinter, stellt es fast eine perfekte Kopie der anderen Häuser dar. Genau drei Stufen führen ins Innere und auf der Veranda hängt eine Hollywoodschaukel die leise Quietschgeräusche macht, sobald sich der Wind darin verfängt. Nur die Bewohner unterscheiden sich gravierend von denen der anderen Häuser. Manchen erscheinen wir seltsam, sie fühlen sich magisch von uns angezogen, ohne zu wissen weshalb und warum und genau das beunruhigt und ängstigt sie. Andere finden uns einfach nur bezaubernd, oder hinreißend. Ich weiss nicht, wer besser ist, die die vor uns wegrennen und uns verfluchen, oder die die uns verfolgen und uns anbeten.

Salomon, unser engelsgleicher Ziehvater, ist groß und weise und für mich ist er nach dem Schöpfer das mächtigste, gütigste und schönste Wesen dieser Welt. Vielleicht liegt es daran, dass er ein Ur-Engel ist, jener, der zu den Ersten gehört, die erschaffen wurden, die die volle Kraft des Schöpfers erhielten, um mit ihm zusammen Gutes zu vollbringen und ihn zu unterstützen. Er ist der einzige, den ich kenne, der alle übernatürlichen Fähigkeiten eines Engels in einer Person vereint. Salomon kann einfach alles, er heilt Menschen und Tiere durch bloßes Handauflegen, er bewegt sich schneller von einem Ort zum anderen als eine Concorde, ändert Gefühle und Gedanken anderer Menschen zum Guten und das innerhalb von überschaubaren drei Sekunden. Es gibt nichts, was Salomon nicht kann, oder weiss und trotzdem lässt er nie sein Gegenüber spüren, er sei intelligenter, gebildeter oder besser. Ich bewundere ihn für seine Bescheidenheit, seine Geduld, sein Verständnis, seine Güte, die Ausdauer mit der er Menschen hilft, auch wenn seine Hilfsbereitschaft manchmal nicht gewollt ist und seine grenzenlose Liebe, die in allem steckt, was er tut. Salomon ist der Inbegriff eines Engels, einer wie er im Buche steht.
Aber, er hat auch einen Fehler, er irrt sich nie. Wirklich nie! Für Lando und mich ist es nicht immer einfach damit zu leben, denn als Fünfzehnjährige treffen wir hin und wieder folgenschwere Fehlentscheidungen, die uns dann wie Feuer in der Kehle brennen und das tagelang. Seit unserer Geburt leben wir bei Salomon und obwohl wir nicht miteinander verwandt sind, nicht im herkömmlichen Sinne, so verbindet uns von Anfang an eine starke geschwisterliche Beziehung.

»Mann, Lioba! Wann bist du endlich fertig?« Das rhythmische Hämmern an der Badezimmertür wurde immer lauter. »Es gibt auch andere Menschen auf der Welt, die sich für die Schule fertig machen müssen.«
»Lando, du bist kein Mensch!«, giftete ich durch die Tür, ich wusste er streckte mir gerade die Zunge heraus.
»Du weißt ganz genau, wie ich es meine«, murrte er ungehalten. »Sal, kannst du sie nicht ein wenig … du weißt schon«, hörte ich ihn rufen.
Hinter der Badezimmertür ertönte ein tiefes, freundliches Lachen. »Was soll ich mit ihr anstellen, sie übers Knie legen, oder ihr ein Permanent-Make-up verpassen, damit das Bad morgens immer nur für dich reserviert ist?«
»Witzig«, rief ich den beiden zu, und riss die Badezimmerzimmer so heftig auf, dass sie fast aus den Scharnieren fiel, manchmal vergaß ich meine körperliche Kraft. »Du sagst doch selbst, wir sollen es auf die Menschenart tun und die braucht halt Zeit«, entgegnete ich trotzig.
Salomon seufzte theatralisch. »Das stimmt, ich möchte, dass ihr durch diese Lebensweise ein besseres Gefühl für die Menschen bekommt.« Unser Ziehvater grinste breit und entblößte dabei zwei Reihen seiner starken, weißen Zähne. »Aber diese Menge von Make-up auf deinem Gesicht ist nicht menschlich.«
»Hast du einen Job als Clown abgestaubt?«, prustete Lando und knallte die Tür des Badezimmers von innen zu.
»Ha, ha, zum Totlachen!« Ich schmollte.
»Er hat recht Schatz, wieso hast du dein schönes Gesicht so verschandelt?« Das war keine Kritik, das wusste ich, ich hatte das Resultat im Spiegel begutachtet und musste selbst erschrocken zugeben, dass es schauderhaft aussah, aber besser kriegte ich es einfach nicht hin.
Salomon voraus stiegen wir die schmale Treppe herunter direkt in die Küche. Es ist kein besonders großer Raum, aber erstaunlich modern eingerichtet und wirkt trotzdem ziemlich gemütlich, was dazu führt, dass unser Esszimmer so verweist ist, wie ein Hundeklo.
Wie jeden Morgen hatte Salomon auch an diesem das Frühstück vorbereitet, auch wenn wir gut ohne auskommen. Auf Lando zu warten machte keinen Sinn, meist brauchte er doppelt so lange im Bad wie alle Mädchen die ich kannte.
»Möchtest du mir vielleicht jetzt sagen, wieso du dich so … wie sage ich es richtig … rausgeputzt hast?« Salomon schob mir eine Schüssel Cornflakes vor die Nase.
»Keine Ahnung, ich wollte nur was ausprobieren«, murmelte ich verlegen und dachte an Chantal, ein Mädchen aus meinem Physikkurs, das aussah wie die Models aus den Hochglanzmagazinen, in denen ich manchmal schmökerte. Neidlos musste ich zugeben, dass sie für einen Mensch wirklich gut aussah. Es gab keinen Jungen an unserer Schule, der sich nicht nach Chantal umdrehte, oder nicht gern in ihrer Nähe war. Notiz an Gott: mach mich für einen Tag begehrenswert und sexy, dass sich die Jungs auch nach mir die Finger lecken.
Nein! Erschrocken sah ich Salomon nicken, offenbar hatte er wieder einmal meine Gedanken gelesen. Hoffentlich hatte er den Teil mit sexy und Jungs nicht mitbekommen. Ich wusste, dass er das mit dem Gedankenlesen nicht böse meinte und stets meine Privatsphäre respektierte, doch manchmal war es mir unangenehm, wenn er mich so schnell durchschaute und ich wünschte, diese Fähigkeit genauso zu beherrschen, wie er. In der Theorie wusste ich schon lange wie es funktionierte, ich musste mich konzentrieren, mir vorstellen in einen fremden Kopf zu sehen und Schicht für Schicht alles Unwichtige beiseite schieben bis ich in den Bereich vordrang, der für die Gedanken zuständig war und schon hatte ich die Worte meines Gegenüber im eigenen Kopf. In der Praxis sah ich leider nichts in den Köpfen anderer, gähnende Leere.
»Soll ich dein Clownsgesicht wieder in Ordnung bringen?«
Ich nickte resigniert, gleich darauf spürte ich einen leichten Luftzug, als Salomon mit seiner Hand sachte über mein Gesicht strich. Nur Millisekunden waren nötig um die Arbeit von fast fünfzehn Minuten wieder zu beseitigen.
»Du weißt, dass du wunderschön bist, nicht wahr?« Salomon fragte so unvermittelt, dass mir der Löffel aus der Hand fiel.
»Jaaaa«, antwortete ich vorsichtig, ahnend, dass da noch was kommen würde.
»Machst du dir Sorgen, dass dich die Jungen nicht hübsch genug finden? Oder dich nicht mögen würden?«
Oh, mein Gott! Ich stopfte mir einen Löffel voll Cornflakes in den Mund, so musste ich nicht antworten. Meine Cornflakes schmeckten wie immer, gut, aber wie immer, also fügte ich eine Handvoll von frischen Himbeeren hinein, die Salomon hingestellt hatte.
»Kleines, du siehst auch ohne Schminke wunderschön aus. Ist dir überhaupt bewusst, welche Wirkung du auf die anderen hast? Du siehst wie die Venus auf Botticellis Gemälde aus.«
Ich schwieg. Bisher hatte ich nicht das Gefühl, dass man mich übermächtig stark mögen würde, oder ein besonderes Interesse an mir hätte, meist gingen mir die Leute in der Schule einfach aus dem Weg. So war es seit dem ich mich erinnere, also seit meiner Geburt. Als Säugling bewunderten mich die Menschen aus einer sicheren Distanz, als wenn sie Angst vor mir hätten. Im Kindergarten wollten die Kinder nur selten mit mir spielen und nun in der Schule sieht es nicht viel anders aus.
»Möchtest du darüber reden?« Salomon blickte mich durchdringend an und ich hoffte dass er meine Gedanken jetzt nicht hören konnte. Auf keinen Fall wollte ich darüber reden! Ich schüttelte entschieden mit dem Kopf.
»Nun gut, soll ich dich zur Schule bringen?«
»Nein, nein, nicht nötig, ich nehme das Fahrrad«, rief ich während ich nach meinem Rucksack griff, die Haustür hinter mir ins Schloss fallen hörte und mich aufs Fahrrad schwang. Ich musste nachdenken, ohne dass Salomon gleich über alles bescheid wusste.

Nein, wie eine Venus kam ich mir wirklich nicht vor, nicht heute, besonders nicht, als mir Chantal in der Mittagspause einen aufrichtig bösen Blick zuwarf, einer ihrer Handlanger direkt neben meinem Tisch stolperte und der Inhalt seines Tabletts halb auf dem Fußboden, halb auf mir landete, oder als mir Chantals Freundin ein Pubskissen unbemerkt auf den Stuhl legten und ich mich natürlich darauf setzte. Das waren die Momente, wo ich aus tiefsten Herzen wünschte doch Gedanken der anderen hören zu können, oder einfach nur unsichtbar zu werden, so wie Salomon, wenn er ungesehen bleiben wollte. Doch ich konnte beides noch nicht. Die überlauten Lacher der anderen Schüler versuchte ich verzweifelt und erfolglos auszublenden.
Die Physikstunde hatte gerade angefangen, als ich Salomons Stimme in meinem Kopf laut rufen hörte: »Lioba, Lando, ich warte auf euch vor der Schule.«
Mit hochrotem Kopf erhob ich mich, dieses Mal sehr froh für diese Ablenkung und schmetterte im Vorbeigehen das Pubskissen auf Chantals Tisch, vermied aber die anderen in der Klasse direkt anzuschauen, ihre amüsierten Blicke konnte ich auch so in meinem Rücken spüren.
»Darf ich kurz raus?«, fragte ich Herrn Littmann, unseren stets verwirrt wirkenden Physiklehrer, schwor mir den Rachengel zur Rate zu ziehen um Chantal und den Rest der Bande fertig zu machen.
»Selbstverständlich, Darmprobleme sind eine üble Angelegenheit«, zwitscherte Littmann verständnisvoll. Klar, er war mal wieder der einziger, der das mit dem Pubskissen nicht mitbekam. »Nun gehen sie, meine Liebe, gehen sie.«

»Ich habe einen Auftrag für euch«, eröffnete Salomon, noch bevor Lando und ich ihn richtig erreichten. Etwas an seiner Körpersprache irritierte mich. Er wirkte nervös, nur ein klein wenig, aber das war untypisch für ihn.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Lando und ich Aufgaben zugesprochen bekamen. Manchmal fungierten wir als Schlichter bei einem Streit, manchmal halfen wir überforderten Eltern und Kindern. Oft bestand meine Aufgabe aber in der Heilung von Kindern, diese Gabe beherrsche ich richtig gut, deswegen helfe ich regelmäßig in einer Kinderklinik aus. Und ganz selten begleite ich sterbende Kinder auf ihrem letzten Weg, vielleicht dem wichtigsten und dem Angst einflößenden.
»Ihr wisst, dass ich eure Fähigkeiten sehr schätze«, begann Salomon und das schummrige Gefühl, das mich seit Verlassen des Klassenzimmers begleitete, flaute nicht ab.
»Sal, was ist los?«, fragte Lando ungeduldig, weil Salomon nicht sofort mit der Sprache herausrückte.
»Ich habe jemanden bei mir.« Salomon deutete auf einen nah gelegenen Baum und wir steuerten zu dritt darauf zu. Eine schwangere Frau lehnte am Stamm. Sie schien erschöpft. »Das ist Ava.«
Die Frau wirkte sehr jung und ihr Lächeln zurückhaltend und als sie den Mund öffnete mochte ich sie auf Anhieb. Ihre Stimme klang melodisch und weich, fast als wenn sie jede Silbe sang und nicht sprach. »Sal sagte, ihr beide würdet euch nun um mich kümmern?«
Ich wollte antworten, doch Sal kam mir zuvor, »Ava ist mit Zwillingen schwanger.«
Sofort fiel ihm Lando ins Wort. »Es sind keine normalen Kinder, oder?«
»Ja, das wollte ich euch gerade erklären, Ava erwartet zwei Engel.«
»Oh.«
»Tja »oh«, ist nicht der richtige Ausdruck.«
»Sal, Ava weiss, dass sie Engel erwartet?« Vermutlich klang meine Stimme viel zu hoch, vielleicht auch ein bisschen hysterisch, doch, dass ein Mensch über seine besondere Nachkommenschaft bescheid wusste, war nicht erlaubt, nicht gängig. Auch meine Menschenmutter wusste nicht bescheid, genauso wenig, wie Landos und all die anderen Mütter, die einen Engel austrugen. Auch wenn es sich für Menschen grausam anhört, sie erinnerten sich einfach nicht, weder an die Empfängnis, noch an die Schwangerschaft, geschweige an die Geburt ihrer Engelkinder. Manchmal machte es mich traurig, dass sie nichts von mir wusste, dass es mir nicht gestattet war sie kennen zu lernen, dass ich nicht bei ihr aufwachsen durfte. Salomon war super als …
»Lioba?« Ich spürte wie Salomon sachte an meinem Ärmel rüttelte.
»Ja?«
»Ich würde mich selbst um Ava kümmern, aber ich muss etwas Anderes erledigen und ich kann das nicht aufschieben.«
»Ja, ich verstehe.« Eigentlich verstand ich es nicht, denn Salomons Aufgaben für uns waren zwar von großer Wichtigkeit, wie er uns immer wieder versicherte, aber auf eine Mutter aufzupassen, die zwei Engel auf die Welt bringen sollte. Das … das war etwas ganz anderes. Notiz an Gott: bitte nächstes Mal vorwarnen, wenn mein Seelenheil auf dem Spiel steht, oder jemand Jagd auf mein unsterbliches Leben macht.
»Schatz«, Sal lächelte zweifelnd, »die Vereinte Bruderschaft ist hinter ihr her. Sie braucht euch.«
Stopp!, schrie es in mir, dass mir schwindelig wurde und ich einen Augenblick brauchte um Ordnung in meinem Hirn zu schaffen.
»Die Bruderschaft?« Meine Stimme ähnelte einem Flüstern.
»Ja.« Die pochende Ader an Salomons Stirn hatte ich noch nie gesehen, sie war riesig. Wieso war sie mir noch nie aufgefallen.
»Aber die töten die Mutter, bevor sie gebärt.«
»Etwas leiser Lando«, zischte Salomon und nickte freundlich in Avas Richtung, mittlerweile hatte sie sich ins Gras fallen lassen, die Hände sanft auf den Bauch gelegte, schien sie ein Schlaflied zu summen.
»Wir wissen alle, was die Bruderschaft mit Engel anstellt und genau deswegen versuche ich sie zu beschützen.«
Die Vereinte Bruderschaft, sie existiert seit der Schöpfer den Menschen das Leben schenkte. Nasir, ein Gesandter Gottes, rebellierte gegen seinen Herrn, weil er sich durch die Schöpfung der Menschen bedroht fühlte. Seine Anhänger wurden ausgelöscht und Nasir verkriecht sich fortan auf der Erde, wo er die Menschen entweder für einen neuen Aufstand gegen den Herren rekrutiert oder dafür Sorge trägt, dass keine weiteren Engel das Licht der Welt erblicken. Salomons Aufgabe und die vieler anderer Engel ist es Nasirs Taten zu verhindern und seine Anhänger zu bekehren.
»Aber, wir können sie doch nicht aufhalten, nicht allein«, protestierte ich im Flüsterton, Ava sollte von unserer Angst nichts mitbekommen.
»Das weiß ich«, Salomon lächelte aufmunternd, »ihr sollt nur auf Ava aufpassen, sie nicht aus den Augen lassen. Ich sorge für den Rest.«
»Gut«, hörte ich mich und Lando sagen.
»Was sollen wir also tun?«
»Ihr bringt sie zu Baptist in die Geburtsklinik und ich sehe zu, dass euch niemand folgt.« Salomon entfernte sich schwebenden Schrittes.
Das Nächste, was wir vernahmen war ein gewaltiges Krachen, verursacht von zwei ineinander fahrenden Autos. Instinktiv wusste ich, dass es Salomons Werk war, die Bruderschaft musste uns näher auf den Fersen sein, als uns allen lieb war.
Lando zur Avas Linken und ich zu ihrer Rechten humpelten wir zur nächsten Bushaltestelle.
»Ich glaube, es sind die Wehen«, ächzte Ava und ich spürte eine Welle von tief sitzendem Mitgefühl meinen Körper durchfluten. Landos erschrocken Gesichtsausdruck ignorierte ich, versuchte mich nur darauf zu konzentrieren mögliche Feinde um uns herum auszumachen. Misstrauisch spähte ich die Straße entlang, beäugte die Leute an der Bushaltestelle und die in den vorbeifahrenden Autos.
»Hast du Schmerzen?«, fragte Lando Ava.
»Es geht schon«, entgegnete sie gequält.
Ich sah sie an und überlegte, wie viel Wahrheit in ihrer Äußerung stecken mochte, als der Bus dicht vor unseren Nasen hielt. Nur drei weitere Personen außer uns stiegen ein und im nach hinein wünschte ich, ich wäre aufmerksamer und misstrauischer gewesen, dann hätte ich vielleicht das, was kurz danach geschah, verhindert.
Den Mann in der roten Jacke mit dem Gesicht wie eine eingequetschte Birne bemerkte ich erst, als er dreckig grinsend vor mir zum Stehen blieb. Ich war so vertieft in Avas Ausführungen über ihr Leben nach der Geburt, die Ärmste wusste wohl nichts davon, dass ihre Erinnerung an die vergangenen neun Monate vollständig ausgelöscht werden würde, dass ich gar nicht mitbekam, dass es im Bus immer leerer wurde. Mit jeder Bushaltestelle, die wir Baptists Klinik näher kamen, stiegen mehr und mehr Passagiere aus, aber keine ein. Dass sie von Birnengesichts Komplizen hinausgeprügelt wurden, fiel mir gar nicht auf, zu sehr beschäftigte mich der Gedanke an meine menschliche Mutter und ihre Gefühle an die Zeit nach meiner Geburt.
»Na, ihr Süßen«, erklang es auf einmal honigsüß und widerlich neben mir. Birnengesicht war ganz nah an meinem und sein Atem stank nach verfaulten Eiern.
»Gibt mir, was ich will und ihr seid frei«, zischte er.
Ich schüttelte mich, um den Kopf frei zu bekommen und um den Gestank um mich herum zu vertreiben. Das mit dem Gestank funktionierte leider nicht, doch mein Hirn arbeitete nun auf Hochtouren.
»Vergiss es«, giftete Lando, postierte sich in ritterlicher Pose zwischen Ava und Birnengesicht.
»Kleiner, auch wenn du ein Engel bist, du hast keine Chance, ich weiss, dass deine Kräfte noch unausgegoren sind und wenn ich wollte, würde ich dir das Leben aussaugen, jetzt auf der Stelle.« Birnengesicht fletschte die Zähne und mich durchfuhr ein Gefühl des Ekels beim Anblick seiner verfaulten Zahnstummel.
Wir waren noch zwei Stationen von Baptists Klinik entfernt und ich schwor mir, dass wir es bis dorthin schaffen würden. Doch es kam anders.
»Gib ihm, was er will, sofort!«, schrie eine erboste Stimme hinter mir. Blitzartig drehte ich mich um, der Mann in meinem Rücken war deutlich kleiner, als Birnengesicht. Das aschfahle, fettige Haar fiel ihm strähnig auf die Schultern und die ausdrucklosen Augen lagen wie zwei glühende Kohlestücke in den Höhlen. Brennende Wut durchfuhr meinen Körper, als mein Blick auf das kleine vor Angst zitternde Mädchen vor ihm fiel, er hatte eine Geisel. Er hielt es an den Schultern fest und ich sah, wie viel Schmerzen er dem Kind zufügte.
»Bitte gib ihm, was er will«, flehte die Mutter des Kindes, dicke Tränen rollten unaufhörlich ihre Wangen herunter und mein engelsgleiches Herz zerriss es förmlich vor Mitgefühl für die beiden. Wie sollte ich mich entscheiden, wen sollten wir zuerst retten? Eine unschuldige Mutter und ihre Tochter, oder eine schwangere Frau mit Engeln in ihrem Bauch. Die Optionen ratterten durch mein Hirn und keine von ihnen schien gut genug oder sicher genug. Wessen Leben war wichtiger? Mensch oder Engel? Die nächste Bushaltestelle nahm mir die Entscheidung ab. Sobald sich die Bustür öffnete und eine Gruppe von fröhlich gackernden Schulkindern einstieg, drängte Birnengesichts Komplize samt Kind und Mutter nach draußen und zwang mir eine Entscheidung ab. Mit allen guten Vorsätzen eines Engels voller menschlicher Emotionen, die mich hin und wieder unüberlegt handeln ließen, hechtete ich den drei nach, hoffte dabei inständig, Lando würde allein mit Birnengesicht fertig werden. Das hätte er womöglich auch geschafft, wenn sich der dritte Mann nicht eingemischt hätte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich Lando auf dem Rücken seines Gegners festkrallte und wie auf einem Karussell durch die Luft gewirbelt wurde. Trotz aller Tapferkeit und des vollen Körpereinsatzes konnte auch Lando nicht verhindern, dass sich der dritte Mann mit katzenhaften Sprüngen Ava nährte, sie an den Armen packte und wie ein Stück Fleisch hinter sich zerrte. Ich konnte nichts machen, sah, wie er Ava in einen schwarzen Geländewagen schubste, der wie aus dem Nichts angerast kam und direkt vor dem Bus stoppte. Im Nu ließ der zweite Komplize von Birnengesicht das kleine Mädchen aus seiner Umklammerung zu Boden gleiten, während die Mutter sich schluchzend über das Kind beugte und der Verbrecher zum Auto lief. So einfach sollte er uns nicht davon komme. Mein Verstand setzte plötzlich aus, ich funktionierte, warf einen Blick in den Bus, wo Lando immer noch mit Birnengesicht kämpfte und rannte schließlich Richtung Geländewagen, wo mein Gegner neben Ava auf der Rückbank Platz nahm. Von weit her hörte ich Polizeisirenen näher kommen, die Mutter des kleinen Mädchens laut schluchzen und Ava nicht minder leise aufschreien. Offensichtlich hatte sie eine weitere Wehe gepackt. Ich musste den Wagen erreichen! Nicht einmal drei Meter trennten mich vom Fahrzeug der Entführer, als mir ein heftiger Schlag in den Nacken völlige Schwärze vor die Augen trieb und mich in die Knie zwang. Birnengesicht muss mir einen Schlag auf den Kopf verpasst haben, war das Letzte, was ich dachte, während ich unsanft zu Boden knallte.
Avas vor Schmerz verzerrtes Gesicht wollte nicht aus meinem Kopf, auch während meiner Bewusstlosigkeit sah ich ihren erschrockenen und angsterfüllten Blick vor mir, so als wenn sie direkt vor meiner Nase stünde. Ich hatte sie im Stich gelassen und als wenn das nicht schlimm genug wäre, hörte ich das grausame Lachen der drei Männer der Bruderschaft in meinem Kopf klingen. Sie hatten Ava und … die Engel.
»Wach auf, die Bullen sind gleich hier.« Lando rüttelte heftig an meiner Schulter und half mir beim Aufstehen.
»Wie lange …«
»Du warst nur kurz weggetreten.« Lando grinste mir aufmunternd zu, doch wir hatten versagt und es gab nichts was mich jetzt trösten konnte.
»Lass uns von hier verschwinden«, drängte er, gerade hatte ein Polizeiwagen neben dem Bus gestoppt und wir sahen, wie die Mutter des kleinen Mädchens eifrig auf die Beamten einredete und in unsere Richtung deutete. Auch wenn mir das Laufen noch etwas schwer fiel, zwang ich mich dazu ein Bein vor das andere zu stellen. Wie wir es schafften den Polizisten zu entkommen, war uns unklar, zehn Minuten später sackten wir erschöpft auf einer Bank zusammen.
»Und nun?«, fragte ich entmutigt. »Was sagen wir Salomon?«
Lando zuckte mit den Schultern. »Die Wahrheit?«
»Hey, ihr Anfänger!«, hörte ich Darius fröhlich hinter uns brüllen. Dass er von Salomon geschickt wurde, um uns zu helfen war mir in dem Moment klar, als er uns breit anlächelte.
»Hat dich Sal geschickt?«, fragte Lando unnötigerweise. Eine Spur von Erleichterung gemischt mit einer Prise von Enttäuschung schwang in seiner Stimme. »Traut er uns nicht zu, dass wir mit den Menschen fertig werden, weil wir noch keine ausgewachsenen Engel sind?«, kam es erbost.
»Doch, das tut er«, Darius klopfte auf Landos Schulter, »er fand aber, dass drei gegen zwei unfair ist.«
»Ach so.« Lando lief vor Scham rot an.
»So kommt jetzt, ich weiss, wo die Bruderschaft Ava bringen wird.« Für weitere Erklärungen blieb keine Zeit. Wir hörte, wie immer mehr Polizeiautos zur Unglücksstelle eilten. Etliche davon fuhren durch die Straßen Streife, offenbar waren sie auf der Suche nach uns. Ich nahm buchstäblich die Beine in meine Hände und folgte den anderen. Die Königsallee entlang, bei Elbstraße nach rechts und dann in die Schillergasse.
Ein großes modernes Gebäude erhob sich zwischen all den gepflegten Bauten aus dem neunzehnten Jahrhundert. Auf den ersten Blick wollte es gar nicht zu seiner Umgebung passen, auf den zweiten jedoch schien es perfekt in diese alte Architektur eingebetet zu sein. Wir hielten direkt davor.
»Das ist der Sitz der Bruderschaft«, verkündete Darius, er deutete auf zwei Männer, die zur Linken und rechten des Eingangs postiert waren. »Um die kümmere ich mich und ihr sucht währenddessen nach Ava.«
Die zwei massiven Eichenschränke mit kahl geschorenen Köpfen waren dann doch nicht so leicht abzulenken, wie sich das Darius vorgestellt hatte. Was Darius zu ihnen sagte, hörte ich nicht, doch fünf Minuten später und seinem verzweifelten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, waren es wohl die falschen Fragen, die er ihnen stellte. Und obwohl Engel ihre überirdischen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit nur selten gebrauchten, sah sich Darius wohl gezwungen diese Regel zu brechen. Einen nach dem anderen berührte er sanft am Arm und sie klatschten auf den Asphalt wie zwei schwere Grizzlybären auf.
»Ging doch nicht ohne?«, neckte Lando.
»Oh, ach das, nun ja, man muss sich ja zu helfen wissen.«
In der Eingangshalle waren so viele Gäste, dass ich mir unweigerlich die Frage stellte, ob es die Zimmer im Sonderangebot gab. Allein an der Rezeption war eine Schlange von sieben Metern und alle Stühle und Sofas in der Lobby waren besetzt. Eine Gruppe von Fünf- bis Sechsjährigen spielte Fußball und eine Horde ungehobelter Teenager hopste aufgeregt vor einem unanständig großen Fernseher herum.
»Das ist ja wie auf einem Jahrmarkt.« Lando sprach meine Gedanken aus.
»Wie sollen wir in diesem Chaos Ava finden?« Resigniert stierte ich in alle Richtungen und erblickte prompt eine Schwangere, aber es war nicht Ava.
»Wir bekommen Ärger«, murrte Darius und unterbrach meine finsteren Gedanken. Vier diabolisch dreinblickende Typen näherten sich unserer Position und es sah nicht so aus, als wenn es das Empfangskomitee des Hotels war.
»Ich mach das schon, ihr nehmt den Fahrstuhl, sie ist im Stockwerk über uns, ihr müsst euch beeilen.«
Das musste man uns nicht zweimal sagen. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte was das Zeug hielt. Lando zu meiner Rechten und Angelo zu meiner Linken. Angelo? Um ein Haar wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert.
»Was machst du denn hier?«, rief ich Angelo verwirrt entgegen.
Der kleine Junge neben mir, der nichts gemein mit einem staatlichen, unbesiegbaren Engel hatte, außer seinem unvergleichbar schönen Gesicht, kicherte spitzbübisch. »Na das gleiche wie du.«
»Hat auch dich Sal geschickt?«, wollte ich wissen, obwohl mir auch so klar war, dass Angelo nicht ohne Grund in diesem Hotel auf uns wartete. Seine langen blonden Locken wippten lustig in der Luft und die blauen Augen strahlten mich fröhlich an. Angelo antwortete nicht, er nickte bestätigend. Kurz vor dem Fahrstuhl machten wir eine scharfe Kurve nach rechts, gerade noch rechtzeitig, bevor uns Birnengesicht und Komplizen entdecken konnten.
»Das werden ja immer mehr Helfershelfer«, brummte Lando ungemütlich und musterte beleidigt Angelo von der Seite.
»Das war knapp!«, japste ich währenddessen. Wir versteckten uns hinter einer gewaltigen Marmorsäule und spähten einer nach dem anderen dahinter hervor. Birnengesicht bewachte nun den Fahrstuhl, seine Komplizen streiften schnüffelnd wie Bullterrier in einem Radius von fünf Metern in der Lobby umher, als wenn sie Witterung aufnahmen.
»Den Fahrstuhl können wir nicht nehmen«, flüsterte Angelo zerknirscht.
»Ach, was du nicht sagst«, wetterte Lando. »Darauf wären wir nicht gekommen.«
»Angelo, benutze deine Kraft, du kannst doch durch Wände gehen.« Ich hatte da so eine Idee und plötzlich war ich froh, dass Salomon uns Angelo geschickt hatte, obwohl mir der Zwölfjährige manchmal ziemlich auf den Wecker fiel.
»Jaaaa«, stotterte Angelo. »Eees, eees klappt nicht immer so, wie es sollte.«
»Egal«, ich winkte mit der Hand ab, »Lando und ich heben dich an die Decke und du siehst dich im oberen Stockwerk um.« Gesagt getan, noch bevor Angelo protestieren konnte bildeten Lando und ich eine Räuberleiter und hievten den zerbrechlich wirkenden Angelo darauf. Wir schoben unsere Arme so weit nach oben, dass Angelos Haare die Decke berührte.
»Noch ein Stück«, flüsterte Angelo.
Ich drehte mich kurz um, vergewisserte mich, dass uns die Anhänger der Bruderschaft nicht sehen konnten und auf drei nahmen Lando und ich so viel Schwung, dass wir bei unserem Sprung in die Luft fast flogen. Angelo steckte drin, in der Decke, leider nicht so wie er sollte. Eigentlich dachten wir, dass er vollständig in ihr eintauchen würde und im ersten Stock wieder zum Vorschein käme. Stattdessen steckten nun sein Kopf und seine Schultern im Beton fest, während der Rest von ihm lustig herausbaumelte. Seine Beine zappelten, als wenn er nach einem festen Untergrund tastete, oder irgendwohin rennen wollte. Mit ganzer Kraft stemmte Angelo seine Arme gegen die Decke. Es war nicht eindeutig auszumachen was er damit beabsichtigte.
»Mist, er steckt fest, wir hätten das nicht tun sollen.« Londos vorwurfsvoller Blick genügte und ich fühlte mich elender, als vorhin erst, als wir Ava verloren.
»Vielleicht müssen wir noch mal nachschieben, damit auch der Rest von ihm durch die Decke passt«, bemerkte ich hoffnungsvoll, streckte sogleich meine Hände nach Angelos Füßen und drückte, was das Zeug hielt nach oben. Nichts. Angelo rührte sich keinen Millimeter. Bedrückt spähte ich erst zu Lando, dann um die Ecke zu Birnengesicht und Komplizen, früher oder später würden sie uns entdecken. Und genau in diesem Moment klatschte Angelo zu Boden, direkt vor meine Füße. Geschockt starte ich ihn an.
»Es hat geklappt, ich hab sie gesehen«, japste er nach Luft, dabei rieb er sich seinen offensichtlich schmerzenden Hintern. »Sie ist im ersten Stock, sie halten sie in einem der Zimmer gefangen.«
Ich spähte erneut um die Ecke, die eichenen Schränke und Birnengesicht waren mit der Durchforstung der Vorhalle beschäftigt, die Treppe ließen sie unbewacht. Lando voran, dicht gefolgt von mir und Angelo schlichen wir an der Wand entlang Richtung Treppe. Wie durch ein Wunder gelang es uns unbemerkt in den ersten Stock zu kommen. Ich konnte kaum glauben, dass wir so viel Glück gehabt haben. Und genau da geschah es, ich spürte jemanden hinter mir und als ich mich umdrehte, erblickte ich Birnengesichts Komplizen vor uns mit zwei weiteren Grimmmienen im Schlepptau, ihre Augen leer und dunkel, erinnerten sie mich an dämonische Gestalten. Ich wollte den Mund öffnen, mich ihnen entgegenstellen, als Birnengesicht seine rechte Faust gegen die Wand wuchtete, die Erschütterung zerrte mir den Boden unter den Füßen weg. Er schlug einmal, dreimal, fünfmal und mit jedem weiteren Hämmern, entstanden größere Risse in der Wand, bis plötzlich ein Loch von der Größe eines Buckelwals aufklaffte und ein Wasserschwall hervor schoss, der alle umhaute. Zum Glück war das Wasser lauwarm und insgeheim dankte ich Birnengesicht, dass er die Wand zum Pool durchbrochen hatte und nicht die Kaltwasserleitung.
Sogar ein Fisch auf dem Trockenen hätte sich besser im Wasser gemacht, als ich. Verzweifelt ruderte ich mit den Armen, versuchte gegen den Wasserstrom anzukommen und nicht unterzugehen. Bisher hatte ich noch nie von einem Engel gehört, der ertrunken wäre, auf keinen Fall wollte ich der Erste sein. Lando, der direkt neben mir paddelte, schoss giftige Blicke unseren Angreifern entgegen, die ebenso wie wir in die Vorhalle gespült wurden. Kaum, dass wir uns aufrappelten, strömte eine neue Wasserwelle uns entgegen, offenbar war das Loch im ersten Stockwerk wieder Erwarten größer geworden. Chlorhaltiges Wasser peitschte mir heftig ins Gesicht und ich musste husten. Irgendwann musste der Pool von neben an doch leer sein, überlegte ich hoffnungsvoll, doch das Wasser strömte immer weiter in die Vorhalle. Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen nicht mehr und warf einen Blick zum Eingang, der Wasserspiegel stieg mit atemberaubender Geschwindigkeit, er durfte bei zwei Metern liegen. Jetzt erst vernahm ich die Schreie der Menschen um uns herum. Weinende Kinder, kreischende Mütter und brüllende Väter, die vor Schimpfwörtern nur noch so strotzten.
»Mami«, fiepte ein kleines Mädchen neben mir, ich griff nach ihrem Arm, zog sie ganz dich an mich heran. Ihr kleines Herz hämmerte ganz dicht an meiner Brust, sie lag wie eine leblose Puppe in meinen Armen.
»Halte durch, Kleine«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
»Was tun wir jetzt?«, rief mir Lando zu, er schwamm einige Meter von mir entfernt. In seinen Hals krallte eine ältere Frau ihre Fingernägel und es sah nicht danach aus, dass es ihm Spaß machte. Sein Gesicht zu einer Fratze verzerrt, stierte er mir Hilfe schreiend entgegen.
»Ich weiss nicht!«, brüllte ich zurück. Das Mädchen in meinem Arm wurde auf einmal ganz schwer und meine Beine schmerzten vom vielen Strampeln, vermutlich waren die Muskeln mittlerweile übersäuert.
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, kreischte Angelo unnötigerweise. Zum einen, weil ich es ohnehin selbst wusste und zum anderen, weil er gleich neben mir schwamm und seine Stimme zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen mutierte, das mein Hörorgan zum Vibrieren brachte.
»Gott Angelo, schrei doch nicht so!«
»’tschuldigung.«
Das Wasser stieg unaufhaltsam. Unbarmherzig klatschte mir eine Welle nach der anderen ins Gesicht. Ich verschluckte mich. Gerade als ich den Rest des Poolwassers aus meiner Lunge herauswürgte, fühlte ich, wie mir das kleine Mädchen aus den Armen glitt. Voller Panik tauchte ich ins Wasser. Tauchen gehörte noch nie zu meinen Stärken, fast wäre ich selbst bei dieser Aktion ersoffen. Miese Schwimmkünste. Ein Neugeborenes konnte besser paddeln als ich. Notiz an mich: unbedingt schwimmen und tauchen lernen. In allerletzter Sekunde erwischte ich den Arm des Kindes, zog und zerrte daran bis wir wieder prustend und hustend die Oberfläche erreichten. Ich war erschöpft, meine Kräfte unbrauchbar. Als wenn sie mir jemand buchstäblich aus dem Leib gerissen hätte. Panisch blickte ich mich um, das Wasser floss mir das Gesicht herunter, benetzte meine Augen und ich strich mir abermals darüber.
»Leute, wir brauchen einen Plan«, murmelte Lando, mit kräftigen Schwimmzügen kam er auf Angelo und mich zu, die verängstigte Dame immer noch an seinem Hals gekrallt.
»Hör auf Lando, keiner von uns weiss, was zu tun ist.«
»Aber wir können doch nicht einfach zuschauen? … Diese Menschen werden alle ertrinken!«
»Ertrinken?!«, piepste die ältere Dame, sie lugte hinter Landos Rücken hervor.
Lando hatte recht. Die Menschen um uns herum hatten panische Angst und uns fiel nichts ein um sie zu retten.
Sal was soll ich tun?, überlegte ich fieberhaft und drückte das kleine Mädchen so fest ich konnte an mich, vermutlich bekam das arme Dinge kaum Luft, aber das war mir im Moment egal, noch einmal würde sie mir nicht aus den Armen gleiten. Und dann war er da, genau in dem Moment als der Frust in mir über die eigene Hilflosigkeit am größten war: Salomon. Mitten in diesem Chaos schwebte er überirdisch groß und wunderschön über der Wasseroberfläche, warf mir einen beruhigenden Blick zu, breitete seine weißen riesigen Flügel aus und schien die Menschen mit ihnen zu umarmen. Sofort hörte das Gekreische auf, staunend und murmelnd drehten sich alle Köpfe zu Salomon. Er sprach kein Wort, er lächelte gütig und ich wusste, dass dieses Lächeln eine hypnotische Wirkung auf Menschen hatte. Es brauchte keiner Worte, um sie zu beruhigen und ihnen gedanklich aufmunternde Wärme zu schicken. Goldener Regen prasselte nieder, als wenn gerade der Himmel seine Pforten öffnete. Die Menschen blickten erwartungsvoll zur Decke.
Das Nächste was ich sah, war wie Salomon seine Arme ausstreckte und einen breiten Lichtstrahl auf den Eingang richtete. Mit gewaltigem Donner fiel die vordere Wand um, das Wasser strömte nach draußen, schneller als es zuvor in die Lobby einbrach und die Menschen blieben regungslos und verblüfft auf dem noch feuchten Boden hocken. Etliche Sekunden dauerte es bis sie glaubten zu begreifen, was geschehen war. Sie murmelten, blickten bewundernd zu Salomon hoch, der nach wie vor über ihren Köpfen schwebte und aussah, als wenn er fünf Meter groß wäre. Dabei lächelte er sie warmherzig an.
»Beeilt euch, die Zwillinge sind schon geboren«, raunte mir Salomons Stimme im Kopf.
Fast gleichzeitig rissen Lando und ich Angelo an den Schultern hoch. Wir rannten zur Treppe, übersprangen die verdutzt dreinblickenden Menschen und nahmen gleich zwei Stufen auf einmal. Der Korridor war wie leer gefegt, das Loch in der Wand klaffte wie eine überdimensionale Wunde und offenbarte die Sicht auf drei nebeneinander angeordnete leere Pools. Jetzt verstand ich, wo die Menge an Nassem herkam. Von weit her hörte ich leises Fiepen, wie von einem Welpen und zwei männliche zornige Stimmen sich streiten.
»Was bist du bloß für ein Scharlatan!«, schrie eine davon.
»Das ist nicht meine Schuld!«, entgegnete die andere nicht minder laut, aber mit einer Spur von Demut.
»Idiot! Wir hätten sie noch gebraucht!«, brüllte der Erste ganz außer sich.
»Tut mir leid, ich konnte doch nicht ahnen …«
»Ach nein? Ich denke, du bist Arzt«, zischte wieder die Erste zynisch. »Du hast es vermasselt, das wird ihm nicht gefallen.«
Ich ahnte Schlimmes, beschleunigte meinen Schritt und spürte, dass auch Lando unruhig neben mir lief. Mit einem Ruck riss Lando die Tür auf, die Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben, als wir den Grund des Streits erfassten. Auf einem großen Bett lag Avas lebloser Körper, zur ihrer Rechten und Linken lag je ein Baby. Ihre kleinen rosigen Gesichter sahen so wunderschön und zugleich traurig aus, dass es mir fast den Atem raubte. Unbändiger Hass türmte sich in mir auf und bevor ich mich versah richtete ich meine Arme auf einen der Männer und wie zuvor Salomon die Wand zum Einsturz brachte, riss auch ich ein Loch in die Wand vor mir und der Mann wurde nach draußen geschleudert. Ich hörte ihn schreien, nicht lange, denn schon bald klatschte er auf dem Betonboden vor dem Hotel auf.
»Nein, lasst mich leben«, bettelte währenddessen der Andere. Zu spät. Im Nu stand Lando bei ihm, umfasste seine Schultern und obwohl er nur halb so breit war, wie sein Gegenüber, sah ich dass dieser Angst vor Lando hatte. Der Mann zerfiel zur Asche.
»Ist Ava wirklich tot?«, flüsterte Angelo. Er hockte zu ihrer Rechten, streichelte vorsichtig die zerbrechlich wirkende Hand, die so durchsichtig war, dass man jede Vene erkennen konnte.
Für einen Augenblick schloss ich die Augen, rief mir Avas Stimme erneut ins Gedächtnis. Ich konnte nicht antworten, ein heftiger Stich in meiner Brust machte es unmöglich. Dicke Tränen kullerten mir die Wangen hinunter. Wir waren zu spät gekommen. Ich nahm eines der Babys auf den Arm und drückte ihm mein nasses Gesicht an seine Wange, das andere nahm Lando an sich.
»Schick sie heim«, forderte Lando traurig.
Mit der freien Hand berührte ich sachte Avas Brust. Ich spürte, wie ein gleißender Lichtstrahl meinen Körper durchfuhr und schließlich aus Avas Innerem schoss und in wenigen Sekunden löste sie sich in eine silbrig schimmernde Staubwolke auf, die einen kurzen Moment über den Babys schweben blieb, sie zu streicheln schien und letztendlich durch die Decke verschwand.
»Das hast du gut gemacht«, lobte mich Lando, seinen Lippen entwich ein schwaches, mutloses Lächeln.
»Nein«, widersprach ich zitternd. »Du weißt selbst, dass wir versagt haben.«
»Zumindest haben wir die Babys«, entgegnete Lando und drückte seinen Zwilling derart stark an sich, dass dieser zu wimmern begann. Lando murmelte eine Entschuldigung.
Die Babys im Arm, schlichen wir entmutigt in die Lobby zurück. Ich sah, wie Salomon die Menschen immer noch mit seinen goldenen Funken beeindruckte, die eigentlich einen völlig anderen Zweck hatten. Sie ließen die Menschen das Erlebte wie einen Traum erscheinen. Würden sie später zu den Ereignissen befragte werden, würde jeder von ihnen eine vollkommen andere Geschichte schildern, nur eines würden ihre Geschichten gemein haben, in keiner kämen Salomon, Lando, Angelo oder ich vor. Die Funken waren eine Art Vergessenszauber, so nannte es Lando immer, ein Zauber der dem Schutz der Menschen diente, denn noch wären die Menschen nicht so weit von uns zu erfahren.
»Sternschnuppen!«, hörte ich einen älteren Mann begeistert ausrufen und sah Salomon grinsen. »Lauter Sternschnuppen.«
»Aber Albert, das stimmt doch gar nicht«, protestierte eine Frau neben dem Mann. »Das waren doch keine Sternschnuppen.«
»Na was denn sonst?«, fragte der Mann verstimmt.
»Weiss nicht.« Ich sah sie mit den Schultern zucken.
»Das war nur ein grelles Licht«, mischte sich plötzlich ein junger Mann unweit von mir ein.
»Nein, auf keinen Fall, das war ein Blitz, ganz in der Nähe, ein Gewitter zieht auf«, behauptete jemand.
»Meine Liebe, ich glaube sie wissen nicht, wie ein Blitz aussieht«, entgegnete eine kratzige Stimme. »Das waren Funken.«
Ich hielt die Luft an, wusste etwa die kratzige Stimme, was wirklich vorgefallen war?
»Funken?«, fragte jemand.
»Natürlich Funken, ein Hauptstromkabel ist durchgeschmort und das, was wir gesehen haben, waren Funken aus dem Kabel.«
»Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Für mich sah es jedenfalls nach Sternschnuppen aus«, mischte sich wieder der ältere Mann ein.
Und wieder hörten wir Polizeisirenen näher kommen.
Wir gingen, unbeachtet von den Anwesenden. Und obwohl Ava nicht gerettet werden konnte und ich eigentlich traurig und deprimiert sein müsste, so verspürte ich eine unbekannte Erleichterung in mir. Ich schämte mich für mein Gefühl ein wenig. Doch ich fand, dass ein Leben im Paradies viel schöner für sie sein würde, als ein Leben auf der Erde, ohne das Wissen zwei Kinder, auch wenn es Engel waren, geboren zu haben. Und trotzdem wünschte ich mir genau jetzt, in diesem Moment, irgendwann meine eigene Mutter kennen lernen zu dürfen.

»Das war ein Test, nicht war?«, fragte ich, den Blick stur auf Salamon gerichtet.
Er blickte mir direkt in die Augen und ich konnte in ihnen lesen, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.
»Was meinst du mit Test?«, fragte Lando verdutzt. Er kaute gerade an seinem fünften Brötchen herum.
»Man wollte wissen, wie weit wir sind«, sagte ich mit trauriger Stimme.
»Du meinst, die da oben haben uns einer Prüfung unterzogen?« Lando verschlug es offenbar die Sprache, für einige Sekunden hörte er auf zu kauen, schaute irritiert erst zu mir, dann zu Salomon und wieder zurück und wieder zu Salomon.
»Wir haben nicht bestanden«, schloss ich missmutig. »Wie auch, wir haben Ava verloren.« Unweigerlich schossen mir Tränen in die Augen, ich konnte gar nichts dagegen tun.
Dass Salomon leicht lächelte, sah ich nicht, hörte es aber an seiner samtweichen Stimme. »Hier geht es nicht um gewinnen oder verlieren …«
»Aber genau so fühle ich mich, als wenn ich einen Teil von mir verloren hätte«, widersprach ich. Avas melodische Stimme steckte in meinem Schädel wie ein penetranter Ohrwurm.
»Es war nie vorbestimmt, dass Ava überlebt«, fuhr Salomon ruhig fort.
»Du meinst …?« Mir fehlten die Worte.
»Ja, wir wussten, dass Ava die Geburt nicht überleben würde. Ihr solltet nur die Kleinen retten.«
»Wie schrecklich?«, rief ich und fühlte mich nun, trotz der neuen Informationen nicht besser. Ich spähte zu Lando, er glotzte nach wie vor verwirrt zwischen Salomon und mir hin und her.
»Das ist nicht fair«, flüsterte Lando.
»Das ist es nie«, antwortete Salomon.

Seit Millionen von Jahren halten wir nun unser Dasein im Verborgenen. Nur wenige Menschen auf der Welt kennen uns persönlich, sie sind ergebene Helfer und Vertraute. Nie werden wir sie ausnutzen oder enttäuschen.

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Tag der Veröffentlichung: 01.09.2011

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