Cover

Die Entscheidung

Nanna Avalon war keine besonders große Frau und wegen ihrer schmächtigen Figur wurde ihre Stärke meist unterschätzt. Sie besaß eine Kraft, um die sie von vielen eines auserwählten Kreises beneidet wurde. Doch nur wenige Menschen auf der Erde kannten sie und das war auch gut so, denn sie hatte ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das irgendwann gelüftet werden würde, nicht heute und auch nicht morgen, aber bald.
Nanna Avalon war eine ehrenvolle Frau, mit festen moralischen Grundsätzen und einem stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Und genau diese anerzogenen Grundsätze standen ihr seit Wochen schon im Weg. Dass sie die Umstände zwangen gegen ihre Überzeugung zu handeln, brachte sie schier um den Verstand. Zum ersten Mal in ihrem Leben half ihr ihre ganze Kraft nicht.
Sie wünschte sich jemanden an ihrer Seite, der ihr bestätigte, ihr beipflichtete wie immens wichtig und unausweichlich ihr Vorhaben war. Der ihr sagte, dass es keinen anderen Weg, außer diesem einen, den sie jetzt zu gehen hatte, gab. In ihrem Inneren wusste sie es schon längst, sie spürte sie, trotzdem war da diese innere Zerrissenheit, dass sie es auch anders hätte regeln können, dass sie es womöglich hätte verhindern können. Nacht für Nacht brütete sie über mögliche Lösungen, suchte nach einem passenden Ausweg, doch jedes Mal kam sie zum selben Entschluss: sie musste die Kinder gehen lassen. Sie musste loslassen lernen und darauf vertrauen, dass alles gut werden würde.
Die beiden einer Gefahr auszusetzen, noch dazu einer derartigen, war in ihren Augen hochgradig verantwortungslos, unethisch, kriminell! Lieber hätte sie sich selbst geopfert, als ihre Enkel schutzlos der bevorstehenden trostlosen Zukunft auszuliefern, deren Ausgang so ungewiss war, wie nichts Vergleichbares in diesem Universum. Doch sie wusste, ihr Tod hätte nichts geändert und ihr Opfer wäre umsonst. Wie eine Verräterin, eine Heuchlerin und Lügnerin kam sie sich trotzdem vor.
Wenn Nanna Avalon an Erason dachte, stockte ihr der Atem und die Furcht kroch ihr elendig langsam von den Füßen, über den Bauch direkt ins Herzen hinein und hinterließ dabei eine Schneise brennender Angst. Für gewöhnlich schüttelte sie dann den Kopf, als wenn sie die bösen Gedanken und Gefühle abwerfen, oder vertreiben könnte, nur um festzustellen, dass sie immer noch da waren, kräftiger und mächtiger, als das Mal zuvor.
„Behalte sie immer gut im Auge! Wir wissen noch nicht, was in ihnen steckt“, hatte er mit warnender Stimme gesagt.
„Sie sind zum Großen bestimmt, davon bin ich überzeugt“, hatte er voller Stolz und zugleich besorgt hinzugefügt.
Fast zwölf Jahre war es her, als er auf ihrer Türschwelle erschien, kurz nach der Geburt der Zwillinge. Groß wie ein Hüne, die leicht ergrauten Haare unter einem schwarzen Hut versteckt, alt war er geworden seit ihrer letzten Begegnung, und die Augen hinter einer Sonnebrille verborgen. Nur die unverkennbaren, buschigen Brauen lugten wie immer noch lustig über der randlosen Brille hervor. Er nahm sie ab und seine eisblauen Augen schienen sie zu durchbohren, nicht unangenehm aber so durchdringend, dass sie das Gefühl bekam, ihm all ihre Gedanken ohne es zu wollen preis zu geben. So erging es jedem, der sich in seine Nähe traute.
„Es wird die Zeit kommen, da werden sie so weit sein.“ Beschützend hatte er Nanna die Hand auf die Schulter gelegt.
„Du darfst sie auf keinen Fall darauf vorbereiten! Hörst du? Sie sollten völlig unbedacht aufwachsen, von dem fern, was auf sie, wenn es so weit ist, einstürzen wird.“ Besorgt hatte er in die Bettchen der Zwillinge geschaut, die gerade zehn Tage alt geworden waren und außer Milchtrinken und Schlafen keine weiteren Bedürfnisse kund taten, dann aus Höflichkeit eine Tasse Cappuccino getrunken und bevor er ging ein Stück des köstlichsten Käsekuchens mitgenommen, für den sie so berühmt war. Nur auf den Weg, sollte er Hunger bekommen.
„Denk immer daran, meine Liebe“, hatte er ihr beim Abschied zugeflüstert. „Wenn du dich bedeckt hältst, wird ihnen nichts zustoßen und wenn die Zeit reif ist, bring die beiden zu mir.“ Er war verschwunden in die dunkle Nacht hinein, während Nanna Avalon sich den Kopf zermarterte, ob sie die vorhergesehene Zukunft der Kinder nicht umkehren oder in eine andere Bahn lenken könnte. Es musste doch einen Weg geben sie davor zu bewahren, das Schicksal, das man ihnen mit der Geburt in die Wiege gelegt hatte, zu ändern.
Seit Jahren hütetet sie nun dieses grauenhafte Geheimnis, schleppte es mit sich, wie tonnenschwere Eisenketten und es fiel ihr immer schwerer nicht darüber zu reden, darüber nachzudenken, davon zu träumen, es vor den Kindern zu verheimlichen, ihren bohrenden Fragen nach der Mutter auszuweichen. Sie lebte von einem Tag auf den anderen, zählte die Minuten, die Stunden, die Tage, Monate und Jahre bis es so weit war.
Und nun war es so weit. Und die Zweifel und Bedenken, die sie mit der Zeit gut in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verbahnt hatte, überwältigten sie mit voller Wucht, fast hätte sie die Kontrolle über ihr Auto verloren.
Nanna seufzte tief, holte kräftig Luft und umklammerte fester das Lenkrad. Sie blickte besorgt auf den Rücksitz, offensichtlich hatten weder Lia noch Nico etwas gemerkt. Nanna war es nicht mehr gewohnt einen so weiten Weg mit dem Auto zurückzulegen. Die fremdartige Umgebung (es war lange her, dass sie diesen Weg genommen hatte), das Grummeln in ihrem Bauch (vermutlich wurde es nicht allein von dem Mittagessen verursacht, das sich gerade in ihrem Magen austobte) und nicht zuletzt der wolkenverhangene Himmel, der auf sie herab zu stürzen drohte, nährten und schürten ihre Angst und das schlechte Gewissen mit jedem Kilometer, den sie näher ihrem Ziel kamen. Gefühlte achtzehn Stunden waren sie schon unterwegs und der sonst so weiche Autositz entpuppte sich allmählich zu einem Brett mit Nägeln, die sich unaufhaltsam in ihr Fleisch bohrten.
Nur dunkel erinnerte sich Nanna an ihr erstes Mal, als sie, gerade dreizehn geworden, von ihrer Mutter nach Erason gebracht wurde. Wie eine peinigende Ewigkeit war es ihr damals vorgekommen, bis sie endlich ihr Ziel erreichten. Der Weg, schier endlos, hatte sich wie ein durchgekauter, zäher, mittlerweile geschmacklos gewordener Kaugummi, den man loswerden wollte, der aber an den Zähnen kleben blieb, gedehnt. X-Mal hatte sie seit dem diesen Weg hin- und zurückgelegt und jedes Mal war sie aufs Neue froh endlich wieder Daheim zu sein, weg von diesem Angst einflößenden Ort. Mit der Zeit schob sie die zwiespältigen Gedanken beiseite, die quälenden Erinnerungen und die verwirrenden Gefühle verblassten fast vollständig. Erst als sie die eigene Tochter das erste Mal nach Erason bringen musste, kam allmählich alles Vergessene und Verhasste wieder hoch.
Lange Zeit hatte sie dagegen angekämpft Lia und Nico nach Erason zu bringen, das Gefühl bekämpft einen großen Fehler zu begehen, und sich schließlich eingeredet keine andere Wahl gehabt zu haben, wo doch alles einem höheren Ziel diente, damit die anderen gerettet werden konnten. Verflucht hatte sie ihr eigenes Leben, ihr Schicksal und das der Kinder. Nanna seufzte erneut.
Nichts schien sich verändert zu haben. Die Umgebung wirkte wie seit Jahren eingefroren. Die Felsen zu beiden Seite des Weges waren dieselben, die Bäumen am Straßenrand ließen wie früher schon ihre blattlosen Ästen traurig herunterhängen und die Sonne versuchte wie damals die dichte Wolkendecke zu durchdringen. Sie hatte denselben kupferschimmernden Ton, den man nur hier zu sehen bekam.
Nanna wunderte sich wie leicht es ihr fiel sich wieder zurecht zu finden, ohne die Karte zu benutzen (keine gewöhnliche Karte, Erason war nicht gewöhnlich, deswegen konnte man keine im Geschäft erwerben, oder welche an einer Tankstelle besorgen, geschweige eine aus dem Internet herunterladen, oder jemanden nach dem Weg fragen. Erason existierte einfach nicht, zumindest nicht für normale Menschen. Nicht, weil es von einem sichtbaren Zaun umgeben war mit einem Tor davor, eher von einem unsichtbaren und wie das Tor aussah, wusste auch keiner), wo es doch schon über zwanzig Jahre her war, als sie den Weg das letzte Mal genommen hatte.
Nur die Auserwählten schafften es nach Erason. Mit der Geburt erhielten sie dieses Recht und die besagte Karte mit der Wegbeschreibung. Die meisten jedoch kannten den Weg auswendig.
Mitten in den Alpen, irgendwo im Nirgendwo, lag das geheime Tal, das niemand Unbefugtes betreten oder sehen konnte, dorthin verirrte sich keiner. Und obwohl nur ein einziger Weg nach Erason führte, so begegneten sich die Familien auf ihren Reisen dorthin nur selten.
Zahlreiche Schluchten ließ Nanna hinter sich, zig Bergketten hatte sie passiert, mindestens einen duzend Brücken überquert, ganz zu schweigen von den kilometerlangen Tunneln. Seit Stunden hatte sie kein anderes Auto mehr auf der schmalen Straße gesehen, weder ein entgegenkommendes, noch eins, dass hinter oder vor ihnen fuhr, nur sie und diese nackten Felswände links und rechts. Offenbar hatte sie die Pforte nach Erason übertreten, an welcher Stelle dies geschehen war, hatte sie nicht bemerkt. Der schmale Pfad zwischen den Bergketten schlängelte sich bergauf und ab, der Magen fuhr Achterbahn mit Nanna und gelegentlich verspürte sie die Lasagne, die sie zu Mittag gegessen hatte, ihre Speiseröhre hoch kriechen.
„Nanna, sind wir bald da?“ In der letzten halben Stunde zählte Lia Avalon im Stillen alle Sternbilder auf, die sie kannte, ordnete sie im Geist in alphabetischer Reihenfolge, versuchte sogar einige von hinten zu lesen. Zwei kurze Nickerchen hatte sie während der Fahrt gemacht und die drei neuen Musik-CD`s, die sie extra für die Reise eingepackt hatte, kannte sie schon auswendig.
„Nein Liebes, es dauert noch ein wenig.“
Seit ihrer frühesten Kindheit nannten Lia und Nico ihre Großmutter beim Vornamen und keiner von ihnen wusste, wie es überhaupt dazu gekommen war. Aufmerksam studierte Nanna die Straße, nicht wegen der nichtvorhandenen Fahrzeuge, vielmehr wegen der Schlucht zu ihrer Linken, die mindestens einhundert Meter steil in die Tiefe führte und die ihr einen Heidenrespekt einjagte, die fehlenden Leitplanken ließen sie übermäßig vorsichtig fahren.
Es war schon spät am Nachmittag und die Sonne versank langsam hinter einem Bergkamm. Kräftig orange und rot zeigte sie sich, wie ein Feuerball, der sich auf einer der Bergspitzen bequem gemacht hatte und ihn nun wie einen Leuchtturm in der Dunkelheit erscheinen ließ, nur für wenige Minuten, gleich einem Wegweiser. Nun wusste Nanna, dass sie auf dem richtigen Weg war.
„Da müssen wir hin“, murmelte sie und steuerte etwas zügiger den alten Wagen über die enge Bergstraße, in der Hoffnung noch vor Einbruch der Nacht ihr Ziel zu erreichen.
Nur wenige Kilometer weiter verschwand die tiefe Schlucht genauso plötzlich, wie sie kam und die Berge zur Rechten und Linken gaben nur einen engen ungepflasterten Weg frei, der früher ein Flussbett gewesen war und von Erasons Gefolgsleuten trockengelegt wurde. Über ihnen thronten meterhohe Felswände, die sich hinter ihnen, wie ein gigantisches Tor zu schließen drohten. Der zehn Kilometer lange Engpass, deren Breite an manchen Stellen lediglich drei Meter betrug, glich einem Tunnel aus dem im Notfall kein Entrinnen war und im Augenblick wurde er nur durch die Scheinwerfer von Nannas Auto beleuchtet.
„Wir sind da.“ Erleichtert schaute Nanna ihre Enkel im Rückspiegel an. Das schlechte Gewissen nagte unaufhörlich an ihr und hätte Nico sein Computerspiel, in das er seit Beginn ihrer Reise vertieft war, nicht unterbrochen, einen Blick nach draußen geworfen und schließlich erwartungsvoll und mit einer deutlichen Spur von Abenteuergeist seine Großmutter angestarrt, so wäre sie gewillt gewesen den Wagen zu wenden und nach Hause zu fahren.
„Wo sind wir?“ blaffte Lia uninteressiert, sie ließ ihre Augen zu allen Seiten schweifen. Dabei stierte sie wenig gespannt in die Dunkelheit und sah außer dem Gestein links, rechts, oben und unten nichts.
Und weil Nanna sich mit ihrer Antwort ziemlich viel Zeit ließ und stattdessen nach etwas, was keines der Kinder mit bloßem Auge erspähen konnte, Ausschau hielt, wurde auch Nico ungeduldig. Eine tiefe Furche bildete sich augenblicklich über seinem Nasenrücken und der grimmige Blick deutete jedem an, dass man ihn lieber nicht noch länger auf die Folter spannen sollte. Seit dem gestrigen Abend schon, da hatten sie von Nannas spontaner Entscheidung über den Schulwechsel erfahren, lag diese seltsame Stimmung in der Luft. So hatte Nico seine Großmutter noch nie erlebt. Richtig geheimnistuerisch stellte sie sich an, reagierte gereizt auf Fragen und beleidigt bei Kommentaren. Dabei wollte er doch nur mehr über Erason erfahren. Seine Nachforschungen im Internet, Zeitungen und auf dem Dachboden, wo Nanna all ihren alten Krempel aufbewahrte, blieben erfolglos. Es war so, als wenn Erason nur Nannas Fantasie entsprungen wäre.
„Ich will wieder nach Hause“, japste Lia. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie auf einmal. Dasselbe Gefühl, das sie seit ein paar Wochen jede Nacht in ihren Träumen heimsuchte.
Sie konnte und wollte nicht verstehen, weshalb sich Nanna ausgerechnet einen Tag vor Schulbeginn plötzlich für eine andere Schule entschied und Nico und sie an einen fremden Ort weit weg von Zuhause verfrachtete.
Siebte Klasse, Lia fand, dass sie eigentlich außergewöhnlich sein musste. Die fünfte war den Anfänger, den Kleinen, vorbehalten. In der sechsten war man schon ein alter Hase, aber die siebte musste einfach etwas Besonderes sein. Sechs Wochen lang, die ganzen Sommerferien, überlegte Lia, was sie alles in der siebten Klasse anders machen konnte. Eine Freundin wollte sie finden und besser in Latein werden, denn dieses Fach gehörte zu ihren verhassten und sich mehr beim Sport anstrengen, damit die dumme Frau Hübsch sie nicht ständig ausschimpfte, weil sie wieder einmal zu langsam gelaufen wäre oder den Ball nicht weit genug geworfen hätte. Und gerade, als ihr Plan fast perfekt schien, eröffnete ihnen Nanna, sie in der großartigsten Schule angemeldet zu haben, die es in Europa gab. Allein Nannas Wortwahl „großartigste“ kam ihr sehr verdächtig vor, denn Lias Großmutter benutzte dieses Wort höchstens im Zusammenhang mit einer neuen Kuchenkreation. Gut, richtig glücklich war Lia in ihrer alten Schule nicht, aber immerhin war sie nur zwei Straßen von ihrem Zuhause entfernt.
Je näher sie ihrem offenkundigen Ziel kamen, desto stärker machte sich ein Gefühl von Panik breit, gepaart mit etwas das Lia nicht näher beschreiben konnte. Kein Hass, vielmehr wilde Entschlossenheit dem Neuen und Unbekannten um jeden Preis trotzen zu müssen.
Nanna lächelte, während sie den Blick wieder der Straße zuwandte und sich die Umgebung und das Gebäude genau ins Gedächtnis zu rufen versuchte. Es klappte nicht so recht, die Bilder in ihrem Kopf waren wohl verschwommen wie hinter einem Nebelschleier, denn sie stricht heftig über die Augen, immer und immer wieder.
Endlich wichen die Felswände zur Rechten und Linken wie zwei gigantische Steintore zurück und ließen sie einen gewaltigen, dunklen, düster wirkenden Bergsee erblicken. Vor Schreck hielt Lia die Luft an, sie spähte zaghaft zu Nico hinüber, der vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen schien.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.04.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /