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Vorspiel

Vorspiel

 

Doris hatte eigentlich schon frühzeitig gelernt die einfachen Dinge des Lebens zu schätzen.

Deswegen hatte sie sich auch immer mit eben diesen zufrieden gegeben und nie wirklich nach mehr gestrebt.

Nichts ging, ihrer Meinung nach, nämlich über ein Marmeladenbrot mit Kaffee am Morgen und einen schöne warme Dusche am Abend.

Danach vielleicht noch einen Tasse Kakao oder Tee und sich dann im Bademantel aufs Sofa lümmeln.

Diese einfachen Dinge konnte jeder haben. Dafür musste man weder bekannt, noch reich, noch sonderlich sportlich oder sonst wie begabt sein.

Wozu sich also abrackern, dachte sich Doris und so lebte sie ihr Leben in zunehmender Bequemlichkeit und nie über den Rand ihrer Komfortzone hinaus schauend.

Durch diese Leichtigkeit, welche Doris Lebenseinstellung mit sich brachte, schien sie aber trotz ihrer Bodenständigkeit den Blick für die Realität verloren zu haben.

Und vergaß somit, das man auch einfach Dinge wie Marmeladentoast und Filterkaffee von Aldi nicht als selbstverständlich ansehen sollte.

Den Satz „Kind, iss auf, andere Menschen haben gar nichts zu essen“, den ihre Oma stets predigte, wenn sie als Grundschülerin den Teller Gemüseeintopf, mit angewidertem Gesichtsausdruck, von sich schob, schien sie erst reflektieren zu können, als es schon viel zu spät war.

Das manche Menschen für jede Scheibe Brot dankbar waren und für einen halbwegs trockenen, warmen und sicheren Schlafplatz nachts, unter welche Brücke auch immer, schien dermaßen weit entfernt, das Doris keinen einzigen Gedanken daran verschwendete. An keinem Tag.

Jeden Morgen stieg sie in die Bahn, fuhr ihre drei Stationen zur Arbeit, stieg aus, überquerte den Alexanderplatz und machte sich auf einen weiteren, ewig gleichen Arbeitstag in der Bäckerei zu erleben.

Die Arbeit war stumpf und forderte nicht gerade die grauen Zellen.

Doch wie mit allem in ihrem Leben gab sich Doris durchaus damit zufrieden, denn es hätte sie schlimmer treffen können, nachdem sie mit 17 die Schule geschmissen und somit keinen Abschluss vor zu weisen hatte.

Demnach begab es sich sogar so, dass Doris durchaus dankbar für ihr einfältiges Leben, mit diesem einfältigen Beruf, war.

Denn als junge Mutter von 20 Jahren war es schwer eine anständige Stelle zu finden und die Scham Hartz4 zu beantragen, war schon immer zu groß gewesen. Auch wenn es voraussichtlich nur vorübergehend gewesen wäre.

Aber den Trumpf wollte sie vor allem ihrer Mutter nicht gönnen, der alten Schreckschraube.

Denn diese hatte Doris schon immer gemahnt, sie hinge mit dem Kopf nur in den Wolken und würde irgendwann auf der Straße enden, wenn es denn so weiter ginge.

Das bei der alten Hexe scheinbar eine Glaskugel zu Hause lag , damit hatte ja keiner rechnen können.

Und doch war Doris traurig gewesen, nach dem sie starb und sie auf einmal mit ihrem Babybündel alleine da stand, verlassen vom Freund, mit einer aus Verzweiflung angefangene Ausbildung als Verkäuferin und ohne irgendeine Anlaufstelle.

Eigentlich hatte sie Sängerin werden wollen.

Das hatte dann aber doch nicht alles so funktioniert wie sie es gerne gehabt hätte und manchmal, während sie die Windeln ihres Säuglings wechselte hörte sie die Worte ihrer verstorbenen Mutter in ihrem Kopf hallen: „Ich habs dir ja gesagt!“

 

Trotz alle dem hielt sich Doris mit aller Kraft über Wasser, brachte ihr Tochter durch die Pubertät, Schule, Uni und machte aus ihr einen wunderbaren Menschen.

Zumindest bis auch diese irgendwann von Doris Tagträumereien genug hatte und sich dermaßen mit ihr verkrachte und Doris sie seit dem nicht mehr gesehen hatte. Das ganze war jetzt bereits fünf Jahre her, doch Doris genügte der Gedanke das ihre Kleine ein wunderbares Leben als Anwaltsgehilfin mit einem freundlichen Ehemann und ihrem inzwischen schon 12 Jahre altem Enkelkind führte.

Auch wenn der Gedanke daran manchmal schmerzte und es in der Magengegend zwickte.

Trotzdem führte Doris ihr kleines Einsiedlerleben weiter, ungeachtet von den Meisten, jeden Tag dem selben Rhythmus folgend.

 

Richtige Probleme bekam Doris erst, als ihr eine Kündigung ins Haus flatterte.

Das war sogar ein großes Problem, denn sie hatte schon die letzte Monatsmiete zu spät gezahlt und ihr Vermieter, der nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen war, wie eigentlich auf jeden Menschen, wurde von Tag zu Tag grummeliger.

Es dauerte also nicht lange, da trafen genau wie die Kündigung die ersten gelben Briefe ins Haus ein und egal wie sehr sich Doris auch bemühte, keiner wollte eine über 50 jährige, leicht übergewichtige Verkäuferin, ohne Schulabschluss und sonstige Referenzen.

Und so begab es sich das Doris Prioritäten setzten musste und diese hießen: Schlafen und Essen.

Somit verbrachte sie zwei Monate ihres Lebens im dunklen, frühstückte und duschte im Kerzenlicht und schrieb fleißig Bewerbungen. Nur Antworten bekam sie nie.

Den nächsten Monat verbrachte sie ohne Heizung und warmes Wasser, doch das war nicht so schlimm denn es war Sommer und kalt duschen war gut für den Kreislauf, sagte sie sich.

Nur ihren abendlichen Tee vermisste sie manchmal.

Noch schlimmer aber als den Tee, vermisste sie ihren Kaffee, denn nachdem sie die erste Monatsmiete nicht zahlen konnte, nahm der freundlich Gerichtsvollzieher, der sich ihr als Simon vorgestellt hatte, unter anderem ihre Kaffeemaschine mit.

Ein Auto hatte sie nie besessen, ja nicht einmal einen Führerschein, genau so wenig wie ein neumodisches Handy oder einen Computer, denn mit diesen Dingern konnte sie nicht umgehen.

Auch ihren alten Röhrenfernseher hatte er nur belächelt und gefragt ob dieser denn überhaupt farbig wäre.

Somit hielt sich die Zahl ihrer Wertsachen, die man hätte zu Geld machen können, ziemlich gering womit es klar war, welchen Brief sie als nächstes in ihrem Postfach finden würde.

An dem Morgen an dem sie, mit einem Marmeladentoast zwischen den Zähnen, hinunter ging um die Post zu holen, hatte sie es schon im Gefühl gehabt.

Sie hatte den unfreundlich wirkenden Umschlag ein paar Mal in ihrer Hand hin und her gedreht, den Absender hatte sie gar nicht lesen müssen, denn sie wusste von wem er stammte.

Bis heute blieb der Brief mit der Räumungsklage ungeöffnet, denn es hätte ihr nicht weiter geholfen ihn zu lesen.

Sie hatte kein Geld, keinen Job und zu viel Stolz um Hartz4 zu beantragen, geschweige denn sich arbeitslos zu melden.

Und während Doris sich ihr eigenes Grab schaufelte klingelte es eines frühen Morgens und unten stand ein Haufen sportlich, durchtrainierter Menschen, ihr Vermieter und Simon.

Doris hatte nur mit den Schultern gezuckt und ihnen zu gesehen wie sie ihr restliches Hab und Gut runter schleppten und in einem Sprinter verfrachteten.

Ein paar Klamotten und Anziehsachen hatte sie in der Hektik noch in einer alten Sporttasche verstauen können, doch so gern sie auch ihr Sofa und ihre olivfarbenen Vorhänge behalten hätte, in die Sporttasche hätten sie nicht mehr mit rein gepasst.

Und während sie unten zwischen ihrem Vermieter und Simon stand und zu sah wie die Männer die restlichen Möbelstücke hinaus trugen, fielen ihr die Worte ihrer Mutter wieder ein:“ Ich habs dir ja gesagt!“

 

 

„Ich weiß“, zischte Doris genervt und warf einen flüchtigen Blick gen Himmel, „Bist du jetzt zufrieden?“

 

Kapitel 1

 

Kapitel 1

 

„Wie bitte?“ Simon war der Erste der das Schweigen brach, denn während die Männer all Doris Sachen nach unten trugen, hatte sich ein grausames Schweigen unter ihnen breit gemacht.

„Nichts, nichts!“ Doris schüttelte beschämt den Kopf und spürte wie ihre Wangen heiß wurden, „Ich habe nur mit mir selbst gesprochen.“

Aus der Richtung ihres Vermieters war ein hämisches Lachen zu hören, auch wenn es eher dem Grunzen eines psychisch benachteiligtem Schweines glich.

Simon warf ihm einen schnellen Blick zu, dann schaute er wieder zu Doris:“Komm, wir gehen ein Stück“, entschied er dann.

Doris nickte.

Während sie sich von dem Sprinter und dem Vermieter entfernte, spürte Doris ganz deutlich dessen kalte, fiese Blicke auf ihrem Rücken.

Er musste froh sein, sie endlich los zu sein, wahrscheinlich hatte er diesen Tag herbei gesehnt und machte daheim drei Kreuze im Kalender.

Sogar ein paar Passanten waren stehen geblieben um das Spektakel von der gegenüber liegenden Straßenseite aus mit an zu sehen.

„Was ist mit denen? Haben die noch nie eine Zwangsräumung gesehen?“, raunte Simon, als hätte er Doris ihre Gedanken gelesen.

„Sowas passiert ja auch nicht alle Tage.“, entgegente Doris und vergrub ihre Hände tief in den Taschen ihres Mantels.

Sie schaute zu Boden, während sie gingen.

Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich schuldig gegenüber Simon und das er jetzt so einen Stress wegen ihr hatte.

Was wieder mal typisch für sie war, denn eigentlich hatte sie ja den ganzen Stress.

Aber auf Simon konnte sie einfach nicht böse sein, er hatte versucht ihr so viele Chancen zu geben, doch letztendlich war auch er an ihr gescheitert. Außerdem tat er nur seinen Job.

„Sie wissen gar nicht wie oft ich Vollstreckungsklagen bekomme und in die Wege leiten muss.“, riss dieser sie aus ihren Gedanken.

„Wirklich?“ Doris schaute auf.

„Klar.“, er lachte, „Meinen Sie, Sie wären die Einzige, die…“

Er verstummte. Doris zog eine Augenbraue hoch.

„Na, wie dem auch sei, Doris, was haben Sie jetzt vor? Ich hatte Ihnen doch angeboten ein passendes Lager für die Sachen zu finden, warum haben Sie mich nicht angerufen?“

„Wenn ich kein Geld für die Miete, oder für sonst was habe, wo soll ich dann auf einmal Geld für ein Lager auftreiben?“, entgegnete Doris.

Simon schaute sie verzweifelt an, doch das schien auch für ihn Sinn zu machen.

Sie hatten inzwischen die Kreuzung erreicht und obwohl es noch früh war wimmelten schon hunderte von Menschen durch die Straßen von Berlin.

Pendler, Männer im Anzug die gestresst Telefonate führten, während sie sich eine Backwerktüte in die Aktentasche stopften und Mütter die genervt ihre Kinder zur Schule brachten und dabei noch ein wenig lauter fluchten.

Doris Blick blieb an einer jungen Mutter, um die 30, haften, welche ihre kleine Tochter an der Hand hinter sich her zog und irgendwelche nicht freundlich klingenden Wörter auf polnisch oder russisch oder so sprach.

Sie schien sehr gehetzt zu sein, doch ihre Tochter schien sich davon nicht beirren zu lassen und versuchte sich bei jeder Gelegenheit von der Hand ihrer Mutter los zu reißen um jeden Ast, Mülleimer oder Stein den ihren Weg kreuzte unter die Lupe zu nehmen.

Wunderbar, wie Kinder so viel Interesse für die kleinen Dinge des Alltags aufbringen können, dachte Doris sich im Stillen und ein Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht, Und das zwischen all dem Stress.

Simon seufzte:“Trotzdem, das hätte man alles irgendwie klären können.“

Er schaute zu Doris, doch diese war immer noch auf das Kind fixiert, welches mit seiner Mutter rangelte, da es gerade eine interessante Stelle am Zaun entdeckt hatte und nicht umhin konnte stehen zu bleiben.

„Sagen Sie, hören Sie mir eigentlich zu?“, sprach Simon nun etwas lauter und riss Doris somit aus ihren Gedanken.

„Was?!“, erschrocken blickte Doris auf.

„Haben Sie mir zugehört?“, wiederholte Simon.

„Jaja,“, stotterte Doris und ihre Wangen wurden wieder warm.

Es erinnerte sie an das Gefühl, welches sie in der Schule früher immer gehabt hatte, wenn der Lehrer sie aus einem ihrer Tagträume riss, „Das hätte man klären können.“

Doris schaute Simon an. Erst jetzt waren seine Worte zu ihr durch gedrungen.

„Hätte man aber nicht.“ Sie blieb abrupt stehen.“Ich zumindest nicht.“

„Wie meinen Sie das?“

Doris blickte beschämt zu Boden und ihr viel ein Cola – Kronkroken auf.

Das Design von Cola hatte sich auch seit dem Release nicht geändert.

Ob das eine Form von Marketing ist?

Doris geriet ins Schmunzeln.

„Doris?“

„Ja!“, entgegnete sie etwas zu laut.

Simon zog eine Augenbraue hoch:“Was soll das heißen, Sie nicht?“

„Ach...“ Doris ließ den Blick schweifen, zwang sich aber dann zur Konzentration:“Ich bin halt nicht der Typ für sowas.“

Simons fragender Blick sprach für sich.

„Ist ja jetzt auch egal.“ Doris blickte zurück und beobachtete wie am Ende der Straße die Männer in den Sprinter kletterten, die Ladung sicherten und wie der Vermieter winkte.

Mit einer ausladenden Bewegung seines rechten Arms antwortete Simon auf dessen Zeichen.

Doris zuckte kurz zurück. Um ein Haare hätte ihre Stirn Bekanntschaft mit Simons Hand gemacht.

Die zu einer Faust geballt war. Und in der ein Schlüssel steckte.

„Upps, sorry.“ Simon sah sie entschuldigend an.

„Ach, kein Thema.“

Beide schauten sich kurz an, dann blickten sie stumm zum Ende der Straße wo Doris ihre Sachen ein sicheres Plätzchen in dem Transporter gefunden zu haben schienen.

Simon seufzte erneut:“Kein guter Tag, was?“

„Nicht wirklich.“, entgegnete Doris knapp.

Simon drehte sich zu ihr. Sein kurzes, blondes Haare wurde vom kalten Wind zerzaust und Doris drückte Nase und Mund in ihren roten Schal.

„Wissen Sie, ich meine...“ Er schien sich nicht ganz sicher über die passenden Worte zu sein „Haben Sie einen Platz wo sie jetzt hinkönnen?“

Er schaute sie durch seine blauen Augen besorgt an.

„Was? Ich, ach jaja...“ Doris lachte nervös.“Ich gehe zu meiner Freundin.“ Sie lächelte.

Simon schien ihr das nicht ganz ab zu kaufen.

Am anderen Ende der Straße rief einer der Männer nach ihm.

„Ich komme gleich!“, brüllte Simon zurück, dann wandte er sich wieder an Doris und fuhr etwas leiser fort, als wollte er nicht, das einer der Männer oder der vorbei gehenden Passanten mitbekam, was die zwei da sprachen:“ Ich mein es ernst, Doris. Habe Sie einen Schlafplatz? Es gibt Obdachlosenheime, ich weiß viele halten nichts von sowas, aber für die erste Nacht, bis sie Arbeitslosengeld beantragt haben und bis...“

„Nein.“, Doris schloss die Augen und biss sich kurz auf die Unterlippe, ehe sie sich zu einem Lächeln zwang:“Nein, ich komme super klar, danke! Denise ist meine beste Freundin, wir sind immer für einander da, schon seit der Schulzeit.“

Simon schien immer noch unsicher.

„Wirklich, ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl, aber bei mir ist alles in bester Ordnung.“

Das Rufen der Männer wurde lauter.

Simon warf ihnen einen nervösen Blick zu.

„Naja, wie Sie meinen.“, stammelte er, dann schien er sich zusammen zu raufen,“ Dann wünsch' ich alles Gute für die Zukunft.“

Lächelnd streckte er ihr die Hand entgegen.

„Ich danke Ihnen.“, sagte Doris während sie einschlug.

 

Doris winkte dem weißen Sprinter hinter her, während er die Straße entlang fuhr und dann an der Ecke, an welcher sie stand, nach rechts abbog.

Sie schaute ihm nach, bis er in der Ferne irgendwann nur noch ein kleiner, weißer Punkt am Horizont war und kurz darauf komplett verschwand.

Deprimiert ließ sie die Hand sinken und vergrub sie wieder in den ausgebeulten Taschen ihres Zwei Nummern zu großen Mantels.

Sie trug ihn gerne, denn er war der Beweis, dass sie in den letzten Jahren, die zehn Kilo geschafft hatte, trotzdem sah es doof aus, ein zu großes Kleidungsstück zu tragen. Da machte ihr keiner was vor.

Wehmütig schaute sie zurück auf das alte Backsteingemäuer, welches sie so lange ihr zu Hause genannt hatte.

Ihr Blick wanderte zu den Fenstern im dritten Stockwerk.

Ihr Küchenfenster, ihr Badezimmerfenster mit dem dreckigen Sims, welcher so voller Vogelkacke war, das sie ihn hätte mit den teuflischsten Chemikalien nicht gesäubert bekommen und ihr Schlafzimmerfenster, welches auf der rechten Seite von Efeu ummantelt war.

So von außen, sah es tatsächlich äußerst nett aus, vor allem passte das grün zu dem braunroten Backstein des Hauses, doch die ganzen Krabbenviecher die dadurch den Weg in ihr Bett gefunden hatten waren die Ästhetik nicht wert.

Einmal auf Durchzug zu lüften war undenkbar gewesen.

„Na, vielleicht ist es besser so.“, murmelte sie, während sie kehrt machte und die Straße erneut hinunter ging.

Einer der vorbei laufenden Passanten blieb verdutzt stehen:“Entschuldigung, haben Sie mit mir gesprochen?“

„Oh, nein!“ Doris lief rot an „Ich habe nur...“

Sie überlegte.

Der Mann trug unter seinem schweren, grauen Mantel mit schwarzen Knöpfen ein weißes Gewandt.

Vielleicht war er Arzt?

Ja, sag ihm das du mit dir selbst geredet hast, vielleicht liefert er dich ein und du musst nicht im Park unter der Brücke schlafen.

Doris schüttelte den Kopf und vertrieb ihre, wie üblich abschweifenden Gedanken:“ Nein, alles gut, entschuldigen Sie bitte.“

Sie lächelte kurz, dann machte sie einfach kehrt und ließ den Mann verdattert auf der Gehweg stehen.

„Ich sollte damit aufhören.“, murmelte Sie in ihren Schal, schulterte ihre Sporttasche, vergrub die Hände tief in ihren Manteltaschen und machte sich auf planlos in Berlin herum zu irren.

Denn es gab keine Denise oder sonst wen, an wen sie sich hätte wenden können.

Sie war auf sich gestellt.

Also eigentlich ist alles wie immer. Dachte sie bei sich und beobachtete, wie die Sonne langsam in der Ferne über der Spee aufging. Alles gut. Kein Grund zur Panik.

 

 

 

 

Es war der Montag der letzten Oktoberwoche diesen Jahres und langsam wurde es kälter in Berlin.

Der Winter stand unmittelbar vor der Tür, den Wetterfröschen nach zu urteilen einer der frühsten und kältesten Winter der letzten zehn Jahre.

Die beste Zeit zum auf der Straße leben , dachte Doris bei sich, während sie auf einer Parkbank im Tiergarten saß und an einer Geflügelrolle knabberte.

Von dort aus hatte sie einen herrlichen Ausblick auf die Siegessäule die im Zentrum des Sterns thronte und in der kalten Sonne funkelte.

Doris überlegte.

Wer ist das eigentlich, die da auf der Säule hockt?

„Goldelse“ hatte ihre Ome sie immer genannt aber das konnte ja wohl kaum die politisch korrekte Bezeichnung sein.

War es Nike? Die Siegesgöttin.

Es würde zumindest immerhin Sinn machen, weil wen auf eine Siegessäule setzten wenn nicht eine Siegesgöttin?

Doris anstrengendes Nachdenken wurde von panischem Rufen unterbrochen, welches sie in sich zusammen fahren ließ.

„Felix!“

Doris wirbelte herum und stand automatisch auf den Beinen.

Aus ihrem Augenwinkel sah sie etwas kleines, rotes blitzschnell an ihr vorbei flitzen.

Sie sah sich um.

„Felix! Pass auf da ist die Straße!“

Die Stimme gehörte zu einer Frau mittleren Alters, welche einen strengen, blonden Dutt trug und eine gelbe Regenjacke.

Zu ihr gehörte wahrscheinlich auch die Gruppe Kindergartenkinder die hinter ihr zusammengedrängt stand und welche alle samt leicht verängstigt drein schauten.

Es war eben dieser Blick den kleine Kinder aufsetzten, wenn Erwachsene in ihrem Beisein die Stimme anhoben.

Doris kannte das noch von ihrer Tochter.

Diese wollte auch immer sofort das Jungendamt alarmieren, wenn Doris mal wütend wurde.

Woher kam dieser Trend Kinder bis zu ihrem 18 Lebensjahr in Watte und Frischhaltefolie zu verpacken. So das ihnen bloß nichts negatives in den frühen Lebensjahren widerfährt?

Der Rohrstock war natürlich keine Alternative, aber ein Knigge-Grundkurs täte manchen Jugendlichen doch mal ganz gut.

Wenn Doris sich die ganzen Teenager, ja sogar Grundschüler, mit ihren Iphones ansah wurde es ihr flau in der Magengegend.

Snapchat hier, Instagram da, diese Generation war mitunter für ihre Rente verantwortlich!

Wo sollte sie denn dann enden? Etwa auf der Straße?

Moment mal…

„Tun Sie doch was!“ Das Keifen der Erzieherin war es, welches Doris wieder in die Realität zurück holte.

„Wer ich?!“, Doris wirbelte herum und griff panisch in die Richtung in welcher der rote Wirbelwind geschossen war.

Sie bekam etwas zu packen, wusste nicht genau was es war, es musste der Saum einer Jacke oder aber die Kapuze sein und versuchte das Kind zurück zu ziehen.

Jedoch war Doris nicht gerade der koordiniertes Mensch, geriet in Stolpern, riss das Kleinkind mit sich und beide landeten auf dem staubigen, kalten Boden.

Nur weniges Millimeter von der stark befahrenden Straße getrennt.

Ein Kleintransporter sauste mit so hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbei, das man ihn nur schemenhaft als solchen wahrnehmen konnte.

Aus dem Beifahrerfenster drang aggressives Gerufe.

Doris schaute sich nach dem Jungen um, wegen dem sie hingefallen war, registrierte dann, dass sie ihn unter sich begraben hatte und rollte sich zur Seite.

Der Junge sah sie verdattert an.

Er trug eine rote Regenjacke, eine blaue Budelhose, Gummistiefel und hatte mausbraune Haare.

Für einen kurzen Augenblick wechselten die beiden stumm, hilflose Blicke, dann begann sich das Gesicht des Kindes seltsam zu verziehen.

Doris schluckte. Sie wusste was jetzt kam.

Während der Junge losbrüllte, kam auch die Erzieherin bei ihnen an.

Völlig außer Atem zog sie das Kind auf die Beine.

„Felix! Ich habe dir gesagt keine Alleingänge! Hier ist es gefährlich!“

Doris rappelte sich auf und warf den restlichen Kindern einen kurzen Blick zu, welche nun noch verstörter dreinblickten als zuvor.

Ein paar von ihnen hatten es sich auf der Parkbank neben ihrer Sporttasche bequem gemacht.

Den Ernst der Situation schien keiner von ihnen begriffen zu haben, nur das Geschimpfe der Erzieherin und das Geplärre des Kindes schien sie zu verschrecken.

Dann wand sich Doris wieder der Pädagogin und ihrem Schützling zu, welche scheinbar fertig war mit dem Rügen und nun das Wort an Doris wandte:“Ich danke Ihnen vielmals. Wirklich, wissen Sie, Felix ist...“

Sie schaute auf und sah Doris das erste Mal in die Augen.

Doris geriet ins Schmunzeln.

Irgendwoher kamen ihr die Gesichtszüge, die dicken, roten Wangen, die blau-grauen Augen, die Sommersprossen und die Brille, ein nebenbei bemerkt sehr unvorteilhaft gewähltes Modell für die runde Gesichtsform, wie Doris fand, bekannt vor.

Nur woher?

„Doris?“ Die Frau schaute sie verwirrt an.

„Ja?“ , entgegnete Doris unsicher.

Die Verwirrung im Gesicht der Erzieherin wich einem breiten Lächeln, ehe sie voll Glück rief:“Doris! Oh Gott wie lang ist es her?“

Doris konnte nicht ganz folgen.

„Schuldigung, aber ...“ Doris schaute verzweifelt zu dem Kind, welches sich von seinem Weinkrampf erholt zu haben schien und dann wieder zu der Frau, welche sie freudestrahlend anlächelte., „Kennen wir uns?“

„Aber natürlich!“, lachte diese,“Ich bin es doch! Mandy, aus der Bäckerei, weißt du nicht mehr?“

Doris schüttelte verdutzt den Kopf.

„Ich habe als Aushilfe neben dem Studium gearbeitet, weißt du nicht mehr?“

„Ach ja!“ Doris war sich immer noch nicht ganz sicher, wollte aber nicht für dumm gehalten werden.

Sie war vielleicht schon etwas in die Jahre gekommen, inzwischen arbeits- und obdachlos, aber mit Alzheimer hatte sie nichts am Hut.

Noch nicht.

„Was hast du noch gleich studiert?“, versuchte sie sich zu retten.

„IT-Management, du weißt schon.“, lachte Mandy und nahm die Hand des Kindes, welches um ein Haar Doris und sich selbst hätte drauf gehen lassen, nur um einen kurzen Sprint ein zu legen.

„Ja...“ Doris lächelte beschämt und dann fiel es ihr plötzlich wieder ein:“Aber ja, Mandy, du warst nicht lange bei uns, nur ein Jahr, dann bist du doch nach Thailand gegangen, oder?“

„Ja, genau für ein Auslandsjahr!“

Doris rümpfte die Nase, versuchte es aber mit einem Lächeln, während die drei zurück zu den restlichen Kindern gingen.

Irgendwo stank es ihr das manche Leute das Geld hatte mal eben so ein Jahr blau zu machen und sich sonst wo auf der Welt zu vergnügen und Andere sich jeden Tag den Arsch abrackern mussten um dämlichen Filterkaffee und dämliche Erdbeerkonfitüre finanzieren zu können.

Mandy hatte sie schon damals nicht ganz leiden können, eine verwöhnte, schlecht blondierte, kleine Göre, ganz frisch vom Gymnasium, welche etwas jobben wollte um noch mehr Maclippenstifte zu ihrer ohnehin schon viel zu großen Sammlung hinzu fügen zu können.

Und dabei hatte sich Doris schon damals eingestehen müssen, dass sie schlichtweg einfach eifersüchtig auf das kleine Gör war, welches einen perfekten Start ins Leben vorgekaut bekommen hatte und sich darüber wahrscheinlich nicht einmal bewusst war.

Zuhause das Hotel Mama genießen, Partyurlaub hier, Auslandsjahr da und dabei waren die Eltern ja noch so unglaublich stolz, weil ihre kleine Tochter zur Uni ging.

Doris schüttelte den Kopf, musste ihren Zorn aber dennoch hinunter schlucken, den Mandy führte das Gespräch unbeirrt fort: „Ich hab das Studium aber abgebrochen? War doch nicht das, was mich so interessiert hat.“

In manchen Ländern müssen Kinder von klein auf schuften und das für ein paar Cent am Tag um ihre Familie zu ernähren und hier zu Lande wird ein Studiengang mir nichts, dir nichts abgebrochen, weil einem die Fachrichtung doch auf einmal nicht mehr zusagt.

„Ach so, ja schade,...“ , entgegnete Doris knapp und biss sich auf die Unterlippe um zu verhindern, das sie vielleicht etwas sagte, was sie später bereuen könnte.

„Ja,...“ Mandys Blick schweifte über die Kinder, dann lächelte sie, schaute kurz zu Felix der mit immer noch roten Augen und an seinem Finger nuckelnd an ihrer Hand ging und dann wieder zu Doris:“Also habe ich diese Stelle hier als Kindergärtnerin angenommen und ich bin so glücklich!“

„Das freut mich.“, log Doris, denn eigentlich war es ihr herzlich egal, was das Mädel trieb.

„Und du, was machst du?“, wollte Mandy wissen.

„Ich...“ Doris geriet ins stocken.

Unmöglich wäre es zu sagen, dass sie arbeitslos, ja sogar heimatlos war.

Das wollte sie niemandem unter die Nase reiben, schon gar nicht solchen Leuten, die dafür am wenigsten Verständnis hatten, da ihnen alles im Leben vor die Füße gelegt wurde.

Wie es sich anfühlt kurz vorm Abgrund zu stehen, konnten Doris Ansicht nach nur Leute verstehen, die bereits einmal dort gestanden und nach unten geschaut hatten.

Mandy sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. Ihre dicken Wangen, waren vom kalten Wind rot wie zwei Äpfel.

Was seltsam aussah, denn ansonsten war ihre Gesicht mehr weiß, als hautfarben. Und das biss sich total.

„Nun ja, du weißt ja wie das ist, man lebt so vor sich hin.“, versuchte Doris sich zu retten, doch Mandy schien die Antwort nicht zu genügen.

„Das heißt du arbeitest immer noch in der kleinen, schäbigen Bäckerei? Das gibt’s doch nicht!“, Sie schüttelte verständnislos den Kopf, so als läge es an ihr darüber zu urteilen was für Doris zu tun hätte und was sie hätte sein zu lassen, „Ich dachte du machst was aus deinem Leben! Sich ausleben!“

„Nun, das ist aber alles nun mal nicht so einfach.“

Doris blieb stehen und schulterte ihre Sporttasche.

„Ach papalap. Man muss sich nur trauen, wenn du dich ein wenig mehr anstrengen würdest und ein wenig konzentrierter bei der Sache wärst dann, ...“

„Nun, das bin ich aber nicht.“, unterbrach Doris sie barsch und funkelte sie an.

Mandy schaute sie verdutzt an. „Nun, ich wollte dich nicht,...“, begann sie verlegen, doch Doris unterbrach die Stammelei: „Hast du nicht und jetzt entschuldige mich bitte.“

Doris machte kehrt.

„Ich habe noch einen wichtigen Termin.“

Während sie ging, drückte sie sich sanft durch die Gruppe von Kleinkindern, die wie paralysiert dem Gespräch gelaust hatte und ließ Mandy hilflos stehen.

„Ja dann… mach's gut.“, hauchte diese und drückte die Hand des kleinen Felix.

 

Einige Straßen weiter machte Doris ihrem Ärger Luft.

„Das gibt es doch wirklich nicht.“, zischte sie und kickte einen Stein, der vor ihr auf dem Weg lag im hohen Bogen ein paar Meter weiter, „Was bildet die Schnepfe sich ein? Was bilden sich generell alle ein?“

Doris blieb abrupt stehen. Ihr Gesicht musste vor Zorn ganz rot angelaufen sein.

Oder war es doch das kalte Wetter?

Doris zitterte am ganzen Leib, doch sie war sich zu 100 Prozent sicher, dass der Grund dafür nicht die Kälte war.

„Warum kann man sich nicht einfach aus Andernsleut' Angelegenheiten heraushalten? Aber nein! Man muss sie verurteilen und weiter deprimieren!“

Mit einem Mal verstummte Doris und schaute sich vorsichtig um.

So laut wie ich geschrien habe, kommen bestimmt gleich die Männer im weißen Kittel mit den „Hab mich lieb-Jacken“ , dachte sie bei sich.

Doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

Doris seufzte und setzte ihren Weg fort.

Die ersten Blätter begannen bereits zu fallen, doch die meisten Bäume erfreuten sich noch ihrer rot-orange-braunen Krone.

„Schon schön.“

Doris Blick wanderte nach oben, die Farbenpracht der herumstehenden Birken bewundernd und von dessen Schönheit so abgelenkt achtete sie gar nicht mehr auf den Weg und hätte fast laut aufgeschrien, als sie beinah in etwas großes, weißes gelaufen wäre.

Erschrocken machte sie einen Satz nach hinten und beäugte, was ihr eben diesen Schrecken eingejagt hatte.

Es war ein Hund, welcher es sich mitten auf dem Parkweg bequem gemacht hatte.

Er trug weder Halsband noch Leine. Doris schaute sich um, ob irgendwo der Besitzer des Tieres zu sehen war, doch immer noch schien sie komplett allein auf ihrem Spaziergang.

Doris blickte zu dem Hund und der Hund blickte zurück.

Sie hatte nie viel für Tiere übrig gehabt, nachdem sie mit sieben beim Ponyreiten im hohen Bogen im Graben gelandet war und mit zehn Jahren von Nachbars Töhle in den Fußknöchel gebissen worden war, war die Liebe irgendwo abhanden gekommen.

Außerdem wusste man gerade bei fremden Tieren nie, wie sie drauf waren, weswegen man Achtung bewahren sollte.

Doch der Hund zu ihren Füßen schien alles andere als bösartig zu sein. Ja, eher tiefenentspannt.

Es schien beinah so, als wollte er die letzten Sonnenstrahlen des Jahres genießen und einfangen, immerhin hatte er sich auf das einzige Stück Boden gelegt, das nicht von dem Blätterdach der Birken überhangen war.

„Was machst du hier?“, fragte Doris und verstummte, als erhoffte sie sich eine Antwort.

„Nun ja, ich...“ , stammelte sie nervös und tippelte in einem großen Bogen um das Tier herum, „Ich geh dann mal, bleib einfach liegen...“

Der Hund beobachtete und beinah meinte Doris in seinen Augen so etwas wie Belustigung erkennen zu können.

Dann schüttelte sie den Kopf.

Er war wahrscheinlich irgendwo abgehauen und genoss jetzt ein paar Stunden seiner erkämpften Freiheit ehe die Polizei oder engagierte Nachbarn ihn zurück zu seinen Besitzern brachten.

„Braver Junge.“ , stammelte sie nervös, nach dem sie den, mit weit gewähltem Radius, Halbkreis um das Tier vollendet hatte.

„Das ist ein Mädchen.“, sagte eine Stimme plötzlich aus dem Nichts und ließ Doris in sich zusammen fahren.

Panisch schaute sie sich um.

Wer hatte das gesagt?

Geht es jetzt im Kopf los?

Doris wurde es kalt und heiß gleich zeitig. Hatten sie der Stress bereits so in die Verwirrtheit getrieben? War es so weit das sie anfing Stimmen zu hören?

Verwundert starte sie zu dem Hund zu ihren Füßen.

Doris kniff misstrauisch die Augen zusammen:“Kannst du etwa...“

Doch weiter kam sie nicht, denn plötzlich stand nur wenige Zentimeter neben ihr ein junger Mann.

Es war, als wäre er wie aus dem Nichts aus dem Boden gewachsen, immerhin hatte sie ihn weder kommen sehen noch hören.

„Hallo.“, lächelte er sie an, als hätte er ihr nicht gerade den Schreck ihres Lebens verpasst.

„Oh Gott.“ Immer noch völlig verwirrt und zu Tode erschrocken machte Doris ein paar unsichere Schritte nach hinten, stolperte dabei über ihre eigenen Füße und landete somit wieder auf dem Boden der Tatsachen.

Der Junge schaute sie belustigt an. „Na, du bist ja vielleicht ulkig.“

Er warf einen raschen Blick zu dem Hund, der gelangweilt gähnte und dann den Kopf auf die Pfoten legte.

„Das ist meine Hündin Alaska.“ Mit einem Kopfnicken deutet er in ihre Richtung,“ Aber ihr zwei habt euch ja bereits kennen gelernt.“

Doris verdatterter Blick wechselte zwischen dem Hund und dem Jungen.

„Ja.“, stammelte sie, während sie sich aufsetzte.

Sie beäugte den Jungen.

Er hatte schwarze, etwas längere, zerzauste Haare, wobei eine große Strähne komplett in seiner Stirn hing und beinah sein rechtes Auge halb verdeckte.

Er war relativ dünn und blass und sah allgemein relativ herunter gekommen zu sein.

Dreck und Staub klebte in seinem Gesicht, seine Hände waren aufgeschürft und seine Hose löchrig.

Er trug einen, für ihn etwas zu großen schwarzen Kaputzenpulli, darüber eine schwarze Jacke, einen dicken Schal und seine Füße steckten in sehr ramponierten knöchelhohen Springerstiefeln.

Doch was Doris am meisten faszinierten, waren seine stahlblauen Augen, die sie wie kleine Diamanten anstrahlten.

„Ich bin Jamie!“ ,lachte er und streckte ihr die Hand hin.

„Doris.“, entgegnete Doris, während sie sich mit seiner Hilfe aufrappelte.

„Tut mir echt leid, dich so erschreckt zu haben, mann...“ Verlegen kratzte Jamie sich am Hinterkopf und schaute zu wie Doris sich den Staub vom Mantelsaum schlug.

„Kein Problem.“, entgegnete Doris gedehnt und warf einen schnellen Blick zu Jamies Hündin, die sich inzwischen auf die Seite gerollt hatte und wohl ein kleines Nickerchen hielt, „Heute ist eh nicht so mein Tag.“

Sofort schoss ihr die Begegnung mit Mandy wieder in den Kopf.

„Ich habs so halb mitbekommen, eher der ganze Park bei deinen grummeligen Monologen.“

Doris lief rot an.

„Was hat dir denn so die Laune verdorben?“, wollte er wissen.

„Ach, ...“ Doris spürte wie die Wut von vorhin wieder in ihr aufstieg und ihr schossen die Tränen in die Augen,“ Es war nichts sonderlich Wichtiges.“

Sie schaute zu Boden.

Erst jetzt bemerkte sie die zwei bis oben hin vollgepackten Plastiktüten, die an Jamies Bein lehnten.

„Hat sich aber anders angehört.“, bemerkte Jamie, griff nach den Plastiktüten und warf sie sich über die Schulter.

„Hör mir zu.“, schnaubte Doris und sah Jamie jetzt direkt in die großen, blauen Augen.

Sie funkelten sie freundlich an.

„Ich bin nicht sonderlich erpicht drauf' drüber zu reden, okay?!“

„Alles gut.“, beschwichtigte Jamie sie,“Ich dachte ich frag mal nach.“

Stumm sahen sich beide an und peinliches Schweigen breitet sich aus.

„Nur so, weil du wahrscheinlich alle Tiere im Umkreis von drei Kilometern verscheucht hast. Abgesehen von Alaska.“ Er deutete mit seiner freien Hand auf seinen Hund, „Aber die ist auf einem Ohr taub und auch generell nicht mehr die Jüngste, also gilt die nicht.“

Doris musste lachen. Wer war dieser verrückte Kauz?

Jamie zuckte mit den Schultern.

„Dein Pech.“

Jamie schnalzte mit der Zunge und mit einem Mal bewegte sich Hund.

Langsam stand das Tier auf, streckte sich und ließ ein lautes Gähnen vernehmen.

Dann gesellte er sich zu ihnen und schaute erwartungsvoll zu seinem Herrchen auf, als wollte er sagen: Hier bin ich. Und nun?

Jamie runzelte die Stirn, ehe er sich erneut Doris zuwandte: „Du scheinst mir doch gerade frei zu sein.“

Doris war verwirrt:“Was meinst du?“

Will er etwa…

Jamie lachte, als hätte er sehen können, welche Gedanken hinter ihrer Stirn vor sich gingen:“Ich meine, dass du nicht so ausschaust als hättest du gerade irgendwas zu tun.“

Er warf einen flüchtigen Blick auf die Sporttasche.

„Und für Sport scheint die auch nicht zu sein.“

Doris biss sich genervt auf die Unterlippe.

„Wenn du nur darauf aus bist dich über mich lustig zu machen, muss ich dich enttäuschen.“

Sie warf Jamie einen zornigen Blick zu.

„Dafür bist du zu spät dran.“

Jamie lachte laut.

„Als ob ich es wagen würde, mich über irgendwen lustig zu machen. Ich meine, sieh mich mal an!“

Er breitete die Arme aus um Doris seine zerstörte Kleidung zu zeigen.

„Wer bin ich schon?“

„Genau so jemand wie ich anscheinend.“, nuschelte Doris und wand den Blick an, damit Jamie nicht sah, wie sich erneut das Wasser in ihren Augen sammelte.

Jamie legte sanft die Hand auf Doris Schulter.

„Komm, wir gehen spazieren.“ , sagte er dann.

Doris nickte schwach.

 

Während sie durch den Tierpark schlenderten, begegneten sie keiner Menschenseele.

Jamie schien mit Absicht die ruhigeren Pfade für ihre Route zu wählen, damit sie von nichts gestört wurden.

Die Nachmittagssonne stand hoch am Himmel und ließ die Bäume um sie herum lange Schatten werfen.

Sie gingen eine Weile, bis sie zu einer großen Wiese kamen, an dessen Rand sie sich auf eine Parkbank bequemten.

Während Doris Jamie ihre Geschichte und von den morgendlichen Ereignissen berichtete, beobachteten beide Alaska, wie sie auf dem Feld zu ihren Füßen nach Wühlmäusen jagte.

Was durchaus angenehm war, denn so kam Doris nicht in das Bedrängen zu meinen, Jamie in die Augen gucken zu müssen.

Denn das hätte sie bei bestem Willen nicht verkraftet.

Jamie hörte ihr aufmerksam zu, stellte nur ab und an kleine Zwischenfragen, aber ließ sie ansonsten reden.

Was gut tat, wie Doris fand und wahrscheinlich längst überflüssig war.

 

„Wow.“, hauchte Jamie, nach dem sie fertig war, „Ganz schön viel für einen einzigen Morgen.“

Doris nickte unter einem Schluchtzer und versuchte sich dann die Tränen aus den Augen zu wischen.

„Dafür das du so ziemlich alles verloren hast, wirkst du trotzdem aber ziemlich gelassen.“ Jamie lehnte sich zurück und seine Augen wanderten zu Alaska, die gerade nach einem Maulwurf zu graben schien, „Ich meine abgesehen davon, das du am helllichten Tag durch den Tiergraten rennst und laut mit dir selber sprichst, scheint dir alles andere relativ egal zu sein.“

Doris schüttelte den Kopf.

„Ich setzt mich nur nicht gerne mit solchen Dinge auseinander.“, gestand sie, „Das ist wahrscheinlich das größte Problem.“

Jamie nickte.

„Ja, scheint fast so.“, entgegnete er ohne den Blick von seiner Hündin zu wenden.

Doris seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen.

Sie war sogar zu deprimiert um weiter zu weinen.

Vielleicht hatte sie aber auch ihren Wasservorrat in der letzten dreiviertel Stunde gänzlich aufgebraucht und ihre Tränendrüsen streikten jetzt.

Verzweifelt sah sie auf zum Himmel, der beinah komplett wolkenlos war.

Es war einer der letzten schönen Tage, dieses Jahres laut Wetterbericht und das obwohl ein kalter Wind wehte und die Sonne nur wenig Wärme abgab

„Wenn es einen Gott gibt, warum lässt er das dann alles zu? Kannst du mir das mal verraten?“

Verzweifelt vergrub Doris das Gesicht wieder in ihren Händen und verzog das Gesicht.

„Das fragen sich die Kinder in Afrika wahrscheinlich auch.“, erwiderte Jamie knapp und in seiner Stimme schwang etwas mit, was Doris nicht zu deuten wusste, „Oder die Mütter, die im Krieg ihre Söhne verlieren. Wahrscheinlich,...“

Er lachte leise.

„Wahrscheinlich auf Kylie Jenner oder Kim Kardashian.“

Doris hielt ihr Gesicht weiterhin in ihren Händen versteckt, ohne zu antworten.

Sie wollte und konnte nichts sagen.

In ihr hatte sich eine eiskalte Leere ausgebreitet und der Gedanke in den Vordergrund gedrängt, dass sie einfach versagt hatte.

Das sie ihr Leben weggeschmissen hatte. Das sie einer dieser Menschen war, auf die man insgeheim immer hinabschaute und die Kinder weiter zog, wenn sie stehen blieben und fragten, warum der Mann auf der gegenüber liegenden Straßenseite im Schlafsack unter der Brücke hockte.

Einer dieser ungepflegten, stinkenden Menschen. So einer war sie jetzt.

Und das war so schnell passiert, dass sie es weder hätte aufhalten, geschweige denn bemerken können.

„Es könnte schlimmer sein.“ Jamie stand auf.

Doris schaute ihn verwirrt an. „Wie?“, fragte sie dann verzweifelt, „Wie sollte es besser schlimmer sein?“

„Naja.“ Jamie steckte die Hände in die Hosentasche und drehte sich zu ihr um,“Du könntest krank sein. Krebs haben, oder...“ Er überlegte kurz.

„Oder Ebola.“ Er lächelte sie verschmitzt an.

„Was ich damit sagen will ist.“ , nachdenklich strich er sich durch sein kohlrabenschwarzes Haar,“Du könntest schlimmer dran. Nur weil man mal keinen Job findet, oder auch mal keine Wohnung mit Badezimmer, Schlafzimmer und Küche hat, muss das noch immer kein Todesurteil sein.“

Er atmete tief ein, ehe er fort fuhr:“ Es gibt Menschen die leben nur so. An die denkt nur keiner. Und weißt du warum?“

Er sah sie herausfordernd an, doch Doris schwieg.

„Weil wir Menschen der Meinung sind wir hätten es durch schaut.“

„Wir hätten was durchschaut?“, wollte Doris wissen.

„Na, das Leben. Du weißt schon, wir gehen in den Kindergarten, Schule, zur Uni oder machen eine Ausbildung, suchen uns dann einen Job in dem wir den Rest unserer Lebens versauern, bringen ein paar Kinder zu Welt, wechseln Windeln, streiten uns täglich mit unserem Ehepartner, besuchen Schwiegereltern die wir nicht leiden können und belächeln Chefs denen wir den Tod wünschen. Ist doch so.“

Er zog eine Augenbraue hoch.

„Oder Doris?“

Doris warf den Kopf in den Nacken und ihr Blick wanderte zu den kahlen Baumkronen über ihnen.

Ein paar tapferer Vögelchen sangen trotz der Eiseskälte ihre fröhlichen Lieder.

„Ziemlich irrsinnig wenn du mich fragst und trotzdem ist das in vielerlei Augen die Definition eines gelungen und perfekt durchdachten Lebens.“

Doris nickte. Sie verstand langsam worauf er hinaus wollte.

„Und jeder der keinen Job hat oder sich zumindest nicht einmal drum bemüht, hat das Leben nicht verstanden und weiß nicht worum es geht.“

Jamie faltete die Hände hinterm Kopf zusammen und grinste Doris dann breit an.

„Aber was bringt dir dein Job für dein Leben?“

„Naja...“ Doris überlegte, „Geld halt.“

„Und?“ Jamie warf ihr einen waghalsigen Blick zu.

„Und...“, begann Doris, verstumme jedoch.

Und was eigentlich…? Dachte sie Was bringt mir all das Geld?

Jamie lachte.

„Das Wort gesellschaftliche Existenz steht in keinerlei Zusammenhang mit dem Wort glückliches Leben. Was meinst du warum es so viele Aussteiger gibt, die keinen Bock mehr auf ihr schnödes Dasein haben und nach Honolulu oder Timbuktu reisen um sich dort eine neue Heimat zu errichten? Diese Leute werden belächelte, Doris, belächelt von Otto-Normalverbrauchern die nie weiter schauen als ihr kleines Bürozimmer es ihnen ermöglicht.“

Er schien in seinem Element zu sein.

Doris schien als hätte er diese Diskussion schon öfter und mit verschiedenen Personen geführt.

„Diese Leute wollen was sehen von der Welt. Sie wollen ihr Leben leben und werden von irgendwelchen Anzugs- und Büroheinis verspottet, die denken sie hätten es in ihrem lächerlichem Arbeitszimmer zu etwas gebracht. Aber was denn bitte?“

Jamie schnaubte.

„Wenn sie einmal sterben wird sich keiner an den Vorstandsvositztenden aus Etage Sieben erinnern und dieser wird sich auch an nichts erinnern, weil er nämlich nichts erlebt hat. Und trotzdem...“

Jamie seufzte und blickte zu Doris, so als hätte er sich daran erinnert worum es am Anfang der Diskussion ging.

„Trotzdem wird dieser Mensch von sich denken, Doris. Er hätte es zu etwas gebracht, weil er immer nach den Regeln gespielt hat. Aber das Leben besteht nicht aus Regeln und Vorschriften.“

Er sah ihr tief in den Augen und Doris meinte erkennen zu können, dass sie noch mehr glänzten als ohnehin schon.

„Das Leben besteht aus Möglichkeiten. Doch wir sind zu dumm das zu verstehen.“

Frustriert blickte er auf den Boden.

Er schien fertig zu sein.

Doris schwieg. Sie wusste bei bestem Willen nicht, was sie jetzt sagen sollte, oder was ihr das generell hatte sagen sollen.

 

Alaska spielte immer noch auf der Wiese und während Doris sie beobachtete, fragt sie sich ob es nicht ein angenehmeres Leben wäre als Hund.

Theoretisch ist deine komplette Existenz darauf aufgebaut zu essen, spielen, schlafen und manchmal gekrault zu werden.

Bei dem Gedanken daran wurde ihr es ganz wohlig warm. Das musste himmlisch sein.

Und so stressfrei.

„Was willst du jetzt machen?“, wollte Jamie wissen und riss sie somit aus ihren Tagträumen.

„Ich weiß es nicht.“ , gestand Doris.

„Nun, du scheint mir nicht einer dieser Menschen zu sein der die Möglichkeit beim Schopfe packt.“

Verärgert knirschte Doris mit den Zähnen, während Jamie in begann in seinem Rucksack zu wühlen.

„Wo hab ich denn...“, murmelte er gedankenverloren.

Sein plötzliches „Aha!“ ließ Doris zusammen fahren. Er schien gefunden zu haben wonach er gesucht hatte.

Stolz überreichte er Doris ein zerknittertes Blättchen Papier.

Verwundert nahm Doris das Kärtchen entgegen und beäugte es argwöhnisch.

Obdachlosenheim Berlin stand in großen Buchstaben ganz oben drauf.

Darunter war ein Bild von einem großen, leicht herunter gekommen Backsteingemäuer.

Welches, wie Doris vermutete auf dem Foto wahrscheinlich noch aus seiner schönsten Perspektive abgelichtet war und ganz klein unten am Rand war eine Adresse zu erkennen.

Lessingsstraße 90, Berlin Kreuzberg war dort hingequetscht worden und Doris musste vor Mühe die Augen während des Lesens zusammen kneifen.

„Geh dahin und die Leute werden sich um dich kümmern.“

Erklärte Jamie ihr nach einer Weile.

Er stand vor ihr in einer sehr abgelehnten Haltung, mit verschränkten Armen und kritischem Blick, so als wollte er sagen: „Aber ich komme auf keinen Fall mit.“

„Woher hast du das?“, fragte Doris.

„Ach, das geben sie dir alle Nase lang, wenn sie dich sehen, sie wollen halt das du was mit deinem Leben,...“ und er verzog das Gesicht als hätte er in eine saure Zitrone gebissen, als er die nächsten Worte sagte:“… anfängst, du weißt schon, das du eine Chance bekommst etwas aus dir zu machen.“

Er verdrehte genervt die Augen, pfiff nach Alaska, welche am anderen Ende der Wiese aufschreckte und zu ihnen hin gesprintet kam.

Dann leinte er sie an, warf sich seine Plastiktüten wieder über die Schulter und zog wortlos von dannen.

Doris saß da wie angewurzelt.

Das war so ziemlich die komischste Begegnung, die sie je in ihrem ganzen Leben gehabt hatte.

Bevor Jamie komplett in der Ferne verschwand blieb er jedoch noch einmal stehen und rief ihr über die Schulter zu: „Aber Doris, denk dran! Überdenk- deine Prioritäten!“

Dann hob er die Hand und verschwand hinterm Horizont.

Immer noch sichtlich verwirrt, saß Doris allein gelassen auf der Parkbank.

Dann steckte sie die Visitenkarte in ihre Jackentasche und fasste einen Entschluss.

Entschlossen stand sie auf und machte sich auf den Weg zur nächsten U-Bahn Station.

Dabei hallten Jamies Worte wie ein Echo in ihrem Kopf nach.

Doris schüttelte den Kopf um die wirren Gedanken zu vertreiben.

Was wusste der schon? Er war ja fast noch ein Kind und auch seine Träume würden irgendwann der Realität weichen müssen.

Sie würde jedenfalls ihr Leben wieder auf die Kette bekommen und mit Hilfe der Behörden irgendwie den Weg zurück in die Gesellschaft finden.

Komme was da wolle.

 

Doris hatte ja damals noch keine Ahnung, wie sehr sich ihre Pläne noch ändern würden.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.07.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all jene die einen kleinen Anstoß bei der Verwirklichung ihrer Träume brauchen. Macht einfach. Das Leben wartet nicht.

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