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Prolog

Sie sah auf ihre Uhr. Bis ihr Zug kommen würde, hatte sie noch eine ganze Stunde Zeit. Gemächlich bewegte sie sich auf einen Stuhl im Wartesaal zu. Außer ihr befand sich noch ein junger Mann im Raum.
"Guten Tag", grüßte sie höflich. Er sah von seiner Zeitung auf und lächelte.
"Ihnen auch einen wunderschönen Morgen. Wobei Sie ja schon jetzt schön sind." Er grinste über beide Ohren und bedeutete der Dame, sich neben ihn zu setzen. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken und zupfte ihren braunen Faltenrock zurecht. "Wo geht es denn hin, wenn ich fragen darf?", erkundigte sich der Mann neben ihr. Sie überlegte kurz, ob es klug wäre es ihm zu verraten. Schließlich entschied sie, es ihm zu erzählen. Sie würde ihm nur den Zug nennen, nicht aber den Ort. "Ich nehme den Zehn Uhr Zug", antwortete sie.
Die Züge des Mannes veränderten sich. Seine eben noch hellblauen Augen, schimmerten in einem matten Grau. "Tatsächlich? Ich fahre mit demselben."
Die junge Dame lächelte. Sie wusste nicht warum, aber sie fand diesen Mann unglaublich sympathisch. Die Vorstellung, noch länger Zeit mit ihm zu verbringen gefiel ihr. "Möchten Sie eine Runde mit mir spielen?", erkundigte sich der Mann. Erstaunt blickte sie auf. Seine Zeitung war einem Würfelbecher gewichen. Wieso hatte sie es nicht bemerkt? Die junge Dame blickte aus dem Fenster. Feine Schneeflocken fielen auf den Bahnsteig und tauchten ihn in ein zartes Weiß. Fast schon zärtlich schmiegten sich die Kristalle auf den Boden und bedeckten ihm mit ihrer flauschigen Hülle. "Nein danke. Ich spiele nie", entgegnete sie leise. Eine Ansage verkündete, dass ein Zug eingetroffen war. Eine alte Dame stieg aus, in ihrer Hand eine vollgepackte Tasche. "Bitte erweisen Sie mir die Ehre. Sie mögen es nicht glauben, aber es geht um viel in diesem Würfelspiel." Die Frau riss ihren Blick von dem Fenster los und wandte sich wieder dem jungen Mann zu. "Na gut, aber nur so lange bis der Zug kommt", willigte sie schließlich ein. Sie war kein Mensch, der gerne spielte. Eigentlich hätte sie niemals eingewilligt, wenn da nicht dieser Mann gewesen wäre. Er begann zu würfeln. Sie nahm den Becher. Würfelte und verlor. Er war immer wieder besser als sie. Die Frau gab sich sichtlich Mühe, wollte den jungen Mann beeindrucken. Sie musste einfach besser sein, als er. Doch es funktionierte nicht. Sie schüttelte die Würfel mit all ihrer Kraft durch. Erfolglos. Schweißperlen rannen über ihre Stirn. Ihre Hände begannen zu zittern. Irgendwie musste sie ihn doch schlagen können. Immer wieder gewann dieser Mann. Seine Hand schüttelte den Becher mit solch einer Eleganz, als hätten sie nie etwas anderes getan.
Klack. Klack. Klack. Es war das Geräusch mit dem sie verschmolz. Der Laut, mit dem sich ihre Würfe verbanden. Wieder eine vier. Er eine sechs.
Klack. Klack. Klack. Die Dame war dermaßen in das Spiel vertieft, dass sie nichts um sich herum mitbekam. Sie vergaß die Zeit. Hatte die Abneigung gegenüber dem Spielen vergessen. Alles, was existierte war, dieses eine Geräusch. Klack. Klack. Klack. Sie drei. Er fünf. Die Miene des Mannes blieb unbewegt, als schien er seine Siege gar nicht zu bemerken. Auch er schien von Würfelspiel wie besessen zu sein.
Klack. Klack. Klack. Die junge Dame merkte nicht, wie der Uhrzeiger die Zehn streifte und der Zug einfuhr mit dem sie fahren wollte. Alles um sie herum verschwamm. Puzzelte sich zu einem einzigen Bild zusammen. Dem Würfelspiel.
Klack. Klack. Klack.
Sie eins. Er sechs. Der Zug fuhr ab. Ohne sie. Die Dame spielte. Würfelte um ihr Leben. Die Zeit raste an ihnen vorbei, keiner von beiden bemerkte es. Plötzlich eine Durchsage. Ihre Augen lösten sich von dem Spielbecher. Erst jetzt bemerkte sie es: Der Zug war fort. Die monotone Stimme der Ansagerin verkündete, dass was sie nicht fassen konnte. Der Zug mit dem sie fahren wollte, war entgleist zwölf Menschen tot. Das konnte doch nicht sein. Wenn sie eingestiegen wäre, dann würde sie jetzt wahrscheinlich tot sein. Völlig verschreckt drehte sich die Dame um. Sie wollte von dem Mann hören, das dass alles nicht stimmte, sie sich irrte. Doch der Platz neben ihr war plötzlich leer. Er hatte die Dame allein zurück gelassen. In ihrer Hand das Würfelspiel.

1.1

Er stapfte durch den weichen, zuckerwatten ähnlichen Schnee. Der Bahnsteig war wie leergefegt. Nur eine ältere Frau, die ihren riesigen Koffer hinter sich herschob, konnte er ausmachen. Seine dunklen Augen verfolgten die zarten Flocken, die den Boden bedeckten. Eine feine Träne bahnte sich einen Weg über sein blasses Gesicht. Der junge Mann hatte sein Würfelspiel verloren. Warum hatte er überhaupt zu spielen begonnen? Kross wusste um die Macht des Würfelspieles und dennoch hatte er sich verleiten lassen zu spielen. Er stapfte durch den Schnee. Unnachgiebig bahnte sich das weiße Nass durch seine Schuhe. Kross zog sich seine Kapuze über und hoffte, der nächste Zug würde kommen, bevor Sie ihn zu Rede stellen würde.
"Junger Mann! Wenn Sie erlauben, würde ich auch gerne Mal vorbeigehen", drang gedämpft eine herrische Stimme zu ihm durch. So schnell die dichte Schneedecke es zuließ, trat er einen Schritt nach links. Kross hatte nicht zu ihr aufgesehen, denn er fürchtete, die Frau aus dem Wartesaal würde vor ihm stehen. Ihn mit dem klagenden Blick anschauen, mit dem ihn schon viele andere angesehen hatten. Kross selber konnte es nicht mehr ertragen, sein eigenes Spiegelbild widerte ihn zutiefst an.
"Keine Manieren, die Jugend von heute", wieder ertönte diese wütende Stimme. Wie durch Watte erreichten ihre Worte seine Ohren. Die Jugend von heute. Die Jugend von heute. Wie ein Vorwurf hallten die Worte in seinen Ohren nach. Aber nicht mit der herrischen, sondern mit der Stimme der Frau aus dem Wartesaal.
"Ich wollte es nicht. Wirklich", flüsterte Kross in das muntere Treiben des Schnees. Er hoffte, dass flauschige Weiß würde seine Worte zu ihr tragen und sie würde es verstehen. Warum sie ihm den Becher gereicht hatte, weshalb sie gespielt hatten.
"Schon gut. Das kann doch jedem Mal passieren. Sie meinten es ja nicht böse." Die Worte ließen ihn zusammenzucken. Es waren keine bösen Worte, sondern aufmunternde. Kross blickte erschrocken auf. Er schob seine Kapuze ein Stück beiseite, um die Dame besser erkennen zu können. Vor ihm stand eine junge Frau, ungefähr zwanzig. Dunkelblonde, lange Haare umrahmten ihr Gesicht. Doch das war es nicht, was ihm die Sprache verschlug. Es waren ihre Augen. Dasselbe dunkle grün. Genauso wie die von der Dame im Wartesaal.

1.2

Cinnamon sah ungläubig auf das Würfelspiel in ihrer Hand. Was war hier bloß geschehen? Sie erhob sich von ihrer Bank. Vor ihren Augen begann es zu flimmern. Ihr Blick trübte sich das Blut strömte langsam durch ihre Adern. Sie war durcheinander und wusste nicht, was sie eigentlich glauben sollte. Sie stützte sich an der gelbgestrichenen Wand ab und schloss einen Moment die Augen.
"Kann ich ihnen helfen?", erkundigte sich eine besorgte Stimme. Erschrocken fuhr Cinnamon zusammen, könnte es sein, dass der Mann zurückgekehrt war? Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sich wich zurück. Öffnete die Augen. Sie sah in zwei hellbraune Augen, die hinter zwei getönten Brillengläsern verborgen lagen. Sein kurzes, dunkles Haar passte farblich perfekt zu dem T-Shirt welches er trotz des kalten Wetters trug. "Ähm, alles in Ordnung, denke ich", antwortete sie. Ihr Magen zog sich zusammen, sie hatte gehofft er würde kommen. Ihr eine Erklärung geben, dass alles ganz normal war und er nur kurz auf die Toilette verschwunden war. Doch er war gegangen und hatte sie mit all den Fragen zurückgelassen. Warum hatten sie gespielt? Wer war er? Hatte er von dem Unglück gewusst? Und wenn, warum hatte er sie nicht alle zu einem Würfelspiel eingeladen?
"Ich bin übrigens Claude", riss er Cinnamon aus ihren Gedanken. Sie setzte ein Lächeln auf, wollte sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen.
"Cinnamon", gab sie knapp zurück. Sie wusste nicht warum sie überhaupt geantwortet hatte. Vielleicht wollte sie einfach nicht alleine sein, nach dem was geschehen war.
"Das ist aber ein schönes Würfelspiel. Spielen wir eine Runde?", fragte Claude sie und schenkte ihr ein Lächeln. Verwundert sah sie in ihre Hand. Fest umklammern, sodass ihre Knöchel hervortraten, hielt sie den Würfelbecher. Wieso hatte sie ihn nur mitgenommen? Cinnamon presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Mussten heute denn alle mit ihr spielen wollen? „Da sind Sie heute schon der zweite, der mich das fragt“, erwiderte sie mit fast tonloser Stimme. Erstaunt zog er eine Augenbraue kraus.
„Ach wirklich? Das Spiel scheint wirklich anziehend zu sein“, meinte Claude. Er wusste nicht, wie recht er hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Würfelspiel. Die Art und weiße wie es einen einnahm. Ja, dass alles war mehr als seltsam. Nur einer wusste, was es mit dem Würfelbecher auf sich hatte. Der Mann aus dem Wartesaal. Doch gerade dieser war spurlos verschwunden.

1.3

Er sah der Frau ins Gesicht. Dieselben grünen Augen, dennoch sie ist es nicht. Ihr Lächeln war nicht das der Dame aus dem Wartesaal. Er war ein bisschen enttäuscht, doch er gab sich sichtliche Mühe dies mit einem gezwungenen Lächeln zu überspielen. "In Ordnung", presste Kross hervor. Die Frau lächelte.
"Übrigens ich bin Melinda", stellte sie sich vor. Gezwungener Maßen müsste er nun seinen Namen nennen. Schon der Höflichkeit wegen.
"Kross", erwiderte er. Das war kurz und knapp und erfüllte seinen Zweck.. Kross legte keinen großen Wert auf lange Gespräche und das ließ er die Menschen auch spüren. "Interessanter Name. Habe ich noch nie zuvor gehört", meinte die Dame. Sie strich sich eine verirrte, von Schneeflocken durchnässte Locke hinter ihr Ohr. "Ja", gab er zurück. Die Tatsache, dass sie nicht die Frau aus dem Wartesaal war, hatte sein Interesse an ihr drastisch sinken lassen. Er zog die Kapuze wieder enger über seinen Kopf. Sein Haar fühlte sich von dem vielen Schnee nass an und einige Haarsträhnen klebten an seinem Nacken. "Melinda, lass den jungen Mann in Ruhe", schimpfte die ältere Frau. Kross hatte sie fast vergessen. Sie kam hinter einem relativ hohen Bahnfahrtplan hervor und kam energischen Schrittes auf ihre Tochter zu. Vielleicht würde sich jetzt eine Gelegenheit ergeben. Er wollte hier weg. "Ich unterhalte mich doch bloß. Mama, ich bin schon groß, falls du das vergessen haben solltest." Nun klang auch Melinda wütend. Kross wischte sich eine Schneeflocke von seinen Wimpern. Das Wetter machte die Warterei auf den Zug wirklich nicht besser.
"Ahm, wenn sie mich entschuldigen. Ich muss jetzt los." Die beiden hielten in ihrem Gezeter urplötzlich inne. "Jetzt ist er weg. Echt toll", zischte Melinda. Das war das letzte was er von den beiden mitbekam denn er verschwand einfach. Manchmal war es doch ganz gut alleine zu sein. Kross wusste schon warum er sich dieses Leben ausgesucht hatte. Er hatte Fehler gemacht. Die Einsamkeit war seine Strafe. Und statt sich nur daran zu gewöhnen, hatte er beschlossen sie zu mögen. So war es einfacher. Denn was man mochte konnte einem keine Schmerzen bereiten. Auch wenn die Erinnerungen an all das Schlechte, was er getan hatte bleiben würde. Es war wie ein Schleier der ihn einhüllte. Unsichtbar für die Menschen, aber unübersehbar für ihn. Was nützte schon ein Neues Leben, wenn man wusste, dass sein Herz niemals rein sein würde? Er stapfte durch den eisigen, pulverigen Schnee. Er betäubte das Gefühl der Trauer in ihm, was tief auf seinem Herzen lastete wie ein Stein. Ein Gewicht was drohte ihn unter Wasser zu ziehen. Kross war immer weiter gelaufen. Sein Mantel und seine Schuhe waren völlig durchnässt und er fror. Zitternd klopfe er sich den Schnee der sich wie eine zweite Schicht auf seinen Mantel gelegt hatte ab. Genau rechtzeitig. Er sah die Bahn. Sie fuhr auf ihn zu. Kam näher und näher. Bedeckt von Schnee und Eis. Der Zug würde ihn fortbringen. Weg von hier. In eine kleine Stadt, die er gewählt hatte, um seiner Vergangenheit zu entfliehen.

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Tag der Veröffentlichung: 09.12.2013

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