Die Weite der Landschaft, der unendliche Blick über die briefmarkenplatte Landschaft faszinierten sie. Kaum schaffte sie es, den Blick von den beeindruckenden Wolkenformationen abzuwenden, die riesigen Wattebäuschen gleich, wie auf einer Theaterbühne über Wiesen, Entwässerungsgräben und windgepeitschte Weiden hinwegzogen. Eine einsame Möwe, die knapp über ihrem Kleinwagen segelte und das Vehikel neugierig beäugte, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Eine Sekunde zu lange schaute sie hinauf und hätte beinahe das Steuer verrissen, als unvermittelt ein Kaninchen über die Straße hoppelte und sie ihm auszuweichen versuchte. Der Straßengraben näherte sich bedrohlich, die Reifen hinterließen bereits eine Spur in dem unbefestigten Seitenstreifen. Im letzten Moment schaffte Franziska Erdmann es jedoch, das Fahrzeug wieder in ihre Gewalt zu bekommen und gegenzusteuern. Das Kaninchen war längst unversehrt im hohen Gras am Straßenrand verschwunden.
Franziska atmete tief durch. Das fehlte noch, dass sie einen Unfall baute, noch bevor sie ihr Ziel erreichte! Sie strich sich eine Strähne ihres langen honigblonden Haares hinter die Ohren zurück, die vom Fahrtwind aufgewirbelt worden war, und warf einen nachdenklichen Blick zu der hoch am Himmel stehenden Sonne. Deren glühende Strahlen schienen erbarmungslos auf das Dach des dunkelblauen Autos und erhitzten gnadenlos das Wageninnere. Trotz der heruntergekurbelten Seitenscheiben hatte Franziska das Empfinden, in einem Backofen zu sitzen. Bedauerlicherweise hatte der alte Polo noch keine Klimaanlage, aber an ein neues Fahrzeug mit entsprechender Ausstattung war bei ihrem knappen Budget derzeit nicht zu denken.
„Vielleicht, wenn ich in meinem neuen Job die Probezeit bestanden und eine bezahlbare Unterkunft gefunden habe“, überlegte Franziska halblaut und grinste, als ihr bewusst wurde, dass sie Selbstgespräche führte.
Fürs Erste würde sie mit einer kleinen Zweizimmerwohnung über der Gastwirtschaft ‚Zum goldenen Hirschen’ vorlieb nehmen müssen. Immerhin hatte die Vermieterin, Louisa Erdmann, am Telefon recht nett geklungen und sich gleich bei ihr erkundigt, ob sie verwandt seien. Nein, die Namensgleichheit war Zufall, denn ihre Vorfahren stammten offenbar aus entgegengesetzten Teilen des Landes. Franziska hatte ihren Heimatort in Westfalen als Zwanzigjährige verlassen, nachdem sie ihre Eltern und ihren Bruder bei einem tragischen Zugunglück verloren hatte. Sie hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen – zu viele schmerzliche Erinnerungen hingen an dem kleinen Ort, aus dem sie stammte. Die vergangenen sieben Jahre hatte sie im äußersten Süden Deutschlands verbracht.
Und dann hatte Patrick sie betrogen … Ausgerechnet mit Jill, der sympathischen Nachbarin, die Franziska mit der Zeit zur Freundin geworden war! Franziska war an jenem Tag eher von der Arbeit aufgebrochen, da ihr eine Erkältung in den Knochen steckte und sie sich recht elend fühlte. Der Anblick ihres Freundes, der sich mit der Nachbarin nackt unter der Dusche vergnügte, hob ihre Stimmung nicht gerade. Franziska blieb wie erstarrt in der Tür zum Bad stehen und verfolgte, wie Jill verzweifelt mit dem Duschvorhang ihre Blöße zu bedecken versuchte. Patrick glotzte mit großen Augen von einer Frau zur anderen und wusste offenbar nicht, wie er reagieren sollte.
Der Schock trieb eine ungeahnte Energie durch Franziskas Adern. Mit eisiger Stimme bestimmte sie: „Jill, verschwinde. Sofort!“
Sie maß Patrick mit einem vernichtenden Blick, wandte sich wortlos um und stapfte ins Schlafzimmer. Dort zerrte sie seine Kleidung aus dem Schrank und warf sie achtlos zu Boden. Danach sammelte sie seine geliebte CD-Sammlung im Wohnzimmer in einen Karton, ging zurück und ließ ihn auf seine sorgsam gebügelten Oberhemden fallen. „Deinen übrigen Kram packst du bis heute Abend zusammen und machst, dass du fortkommst!“
Patrick, der in der Tür stand und sich das T-Shirt in die Jeans zu stopfen versuchte, setzte empört an: „Du kannst mich nicht einfach ...“ Weiter kam er nicht. Mit blitzenden Augen, in der Hand einen Kleiderbügel, trat Franziska drohend auf ihn zu: „Und ob ich kann, glaub’s mir, mein Süßer! Ist schließlich meine Wohnung, falls dir das entfallen sein sollte.“
Triumphierend verfolgte sie, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. Irritiert sah er Jill hinterher, die soeben aus der Wohnungstür schlich. Ein Blick in die frostige Miene Franziskas sagte ihm deutlich, dass er verspielt hatte. Mit hochrotem Kopf sammelte er seine Habseligkeiten in einer großen Reisetasche zusammen und klopfte an Jills Tür gegenüber.
Franziska hörte, wie die Nachbarin ihn nach einem kurzen Wortgefecht einließ, dann schleppte sie sich wankend zum Bett. Nun erst wurde ihr bewusst, wie erschöpft sie sich fühlte. Ihre Stirn war glühend heiß, in ihrem Schädel pochte es. Sie fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem sie erst am nächsten Vormittag erwachte. Sie heulte einen ganzen See in ihr Kissen hinein, bekam jedoch einen Wutanfall, als Patrick sich noch einmal in die Wohnung traute, um seinen vergessenen Rasierapparat zu holen. Nachdem sie sich abreagiert hatte, ging es ihr besser.
Kurz darauf wurde ihr eine Stelle in Norddeutschland angeboten; ihr bisheriger Arbeitsvertrag war ohnehin lediglich befristet und sollte bald enden. An der Küste zu wohnen hatte sie schon lange gereizt, und so ergriff sie dankbar die Gelegenheit, sich dort ein neues Leben aufzubauen.
Franziska dachte wieder einmal an den Anblick der beiden nackten, ineinander verschlungenen Körper im Bad, der sich ihr tief ins Gedächtnis eingebrannt hatte. Sie hatte ihn geliebt, verdammt!
Vergeblich bemühte sie sich, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann hieb sie jedoch wütend mit der flachen Hand auf das Lenkrad, was einen abermaligen Schlenker des Kleinwagens zur Folge hatte. Zum Teufel mit Patrick.
Hätte jemand ihre Schlangenlinienfahrt durch die norddeutsche Tiefebene verfolgt, er hätte leicht den falschen Schluss daraus gezogen. Aber Franziska war glücklicherweise völlig allein auf der abgelegenen Landstraße unterwegs, die sie dem beschaulichen Fünftausend-Seelen-Städtchen am Meer näherbrachte.
Ihre Gedanken eilten voraus. Was würde sie dort erwarten? Sie war noch niemals in diesem Landstrich gewesen, kannte das Kreischen der Möwen nur aus dem Fernsehen. Waren die Menschen im hohen Norden tatsächlich so wortkarg, wie man es immer von ihnen behauptete? Würde sie mit ihrer neuen Aufgabe als Bibliothekarin in der Stadtbücherei zurechtkommen? Heute war Freitag; bereits am Dienstag sollte der Umzug stattfinden, so dass ihr nur wenige Tage blieben, sich umzusehen. Am Donnerstag würde sie dann schon ihre neue Stelle antreten. Ihre alte Wohnung hatte sie bereits geräumt, frisch gestrichen und die Schlüssel übergeben. Ihre Habseligkeiten hatte sie in der Garage einer Freundin untergestellt, die auch die Möbelpacker beaufsichtigen würde. Somit ersparte sich Franziska eine erneute Fahrt nach Süddeutschland und zurück. Ihre neue Unterkunft kannte sie bislang nur von gemailten Fotos und einem handgezeichneten Grundriss. Hoffentlich erwartete sie keine unangenehme Überraschung ...
Franziska passierte ein halb verrostetes Ortsschild, das aus dem rasch aufziehenden Nebel auftauchte und verkündete, dass man sich in ‚...wisch’ befand. Der Rest des Namens war unleserlich. Verwirrt trat sie gleich darauf behutsam auf die Bremse und beäugte die milchigen Schwaden, die plötzlich wie aus dem Nichts durch die Luft waberten und die Felder verhüllten. Eben gerade war es noch klar und sonnig gewesen! Die Sichtweite beschränkte sich inzwischen nur noch auf höchstens zehn Meter. Gibt es hier häufig solche Wetterumschwünge?, fragte sie sich und fuhr vorsichtig weiter.
Entlang des Straßenrandes wuchsen Bäume, die sich in heftigen Windböen bogen. Franziska fröstelte, als ein eisiger Hauch auf ihre bloßen Arme traf und ihr eine Gänsehaut verursachte. Sie kurbelte eilig die Fenster hoch und schaltete nach kurzem Zögern sogar die Scheinwerfer ein, denn die Nebelsuppe wurde immer undurchdringlicher, dazu wurde es schnell dämmerig. Brach etwa ein Unwetter los?
Franziskas Auto rollte langsam weiter über das altmodische Straßenpflaster, das aus Ziegelsteinen bestand, die mit der Schmalseite nach oben verlegt worden waren. Die Fahrbahn war mit unzähligen Schlaglöchern übersäht, aus denen zum Teil bedenklich tiefe Krater geworden waren. Bei jeder Bodenwelle prallte ihr Hintern unsanft auf den Sitz.
„Ist ja schon fast lebensgefährlich, hier zu fahren“, murrte Franziska und schüttelte empört ihren Kopf, als der Wagen durch die nächste Vertiefung holperte und sie gehörig durchgeschüttelt wurde. „Den Bürgermeister dieses Kaffs sollte man zur Verantwortung ziehen, das kann man doch nicht dermaßen vernachlässigen!“ Stellenweise wagte sie nur noch im Schritttempo zu fahren.
Verfallen wirkende Häuser tauchten wie Schemen neben der Straße auf, um gleich darauf wieder im Dunst zu verschwinden. Weder Menschen noch Tiere waren in diesem verlorenen Nest auszumachen. Nach einer Fahrtstrecke, die Franziska unendlich lang erschien, kam sie an dem Ortsausgangsschild vorüber, das allerdings mit der Schrift nach unten im Gras lag. Sie rieb sich verblüfft die Augen: Nur wenige Meter weiter senkte sich wieder die Hitze über ihr Auto, schien die Sonne und blitzte der blaue Himmel, als wäre nichts gewesen. Sie stoppte ihr Fahrzeug und hielt etwas benommen auf einem schmalen Sandstreifen neben der Straße an, um den Kopf zu wenden und zurückzublicken.
Was sie dort sah, brachte sie jedoch nur noch mehr durcheinander. Hinter ihr lag der soeben durchfahrende Ort nun ebenfalls in gleißendem Sonnenlicht. Deutlich waren die baufälligen Gebäude zu erkennen, die leeren Fensterhöhlen, in denen noch vereinzelt zerfetzte Gardinen wehten, die schief in den Angeln hängenden Türen, das wuchernde Unkraut in den ehemaligen Gärten. Ein ausgeschlachtetes Autowrack stand einsam dicht am Straßenrand, sein Heck ragte ein Stück in die Fahrbahn.
Wohin war der Nebel so plötzlich verschwunden? Franziska starrte nachdenklich auf das total verrostete Auto, an dem sie im Nebel haarscharf vorbeigefahren sein musste, ohne es wahrzunehmen. Dann beschloss sie, sich nicht unnötig darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie ließ die Seitenscheiben erneut herunter, drehte das Radio lauter – sonderbarerweise war der Sender nach der Fahrt durch den Ort völlig verstellt, so dass sie ihn wieder einstellen musste – und gab sich der Fahrt durch die spätsommerliche Landschaft hin, sog tief den Duft des frisch gemähten Heus ein und nickte freundlich grüßend einem älteren Mann zu, der ihr auf seinem Traktor begegnete.
Das erste Lebenszeichen nach vielen einsamen Kilometern! Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie das Städtchen erreicht hatte. Sie meinte, ein Bauwerk auszumachen, das aus einem Wäldchen hervorlugte. Vereinzelt säumten hier bereits Bauernhöfe die Landstraße, weideten schwarzweiße Kühe hinter Stacheldrahtzäunen, bearbeiteten Menschen die ausgedehnten Felder.
Vereinzelt kamen Franziska nun andere Autos entgegen, hin und wieder musste sie Radfahrern ausweichen, die mangels Radweg die Fahrbahn benutzten. Eine Neubausiedlung kam in Sicht, wo junge Familienväter den Feierabend damit verbrachten, die noch kahlen Gärten herzurichten. Kinder tobten ausgelassen auf Spielgeräten, Mütter ermahnten ihre Sprösslinge liebevoll zur Vorsicht, hängten Gardinen auf, schmückten ihr Heim mit allerlei Nippes und schufen ein behagliches Nest für sich und ihre Lieben.
„Was für eine Kleinstadtidylle, wie aus einem Bilderbuch“, ging es Franziska durch den Sinn. Vielleicht würde sie eines Tages auch so leben. Falls sie sich irgendwann auf eine neue Partnerschaft einlassen sollte ...
Sie folgte der gewundenen Straße in das Städtchen hinein. Ein Postamt, ein gutbürgerliches Speiselokal und ein Supermarkt auf der einen Straßenseite, eine Tankstelle, eine etwas heruntergekommene Kneipe und ein Blumenlädchen auf der anderen – alles war recht überschaubar und erinnerte sie ein wenig an den Ort ihrer Kindheit. Sie würde sich sicherlich bald hier einleben. Nicht weit von der roten Backsteinkirche entfernt befand sich ihre zukünftige Unterkunft über der Gaststätte ‚Zum goldenen Hirschen’, dessen Eingangstür ein kitschiger Hirsch auf einem Mauervorsprung zierte, den vergoldeten Kopf dem Besucher zugewandt. Franziska parkte unter einem der Gaststubenfenster, schnappte sich ihre Reisetasche aus dem Kofferraum und betrat den Gastraum.
„Moin“, schallte es ihr vergnügt entgegen.
„Meu ...ähm, Guten Morgen“, entgegnete Franziska nach einem kurzen Blick auf die zierliche Uhr an ihrem Handgelenk etwas irritiert. Hm, es war doch schon später Nachmittag ...? An diese Begrüßung würde sie sich erst gewöhnen müssen.
„Sie werden die Dame aus Stuttgart sein“, grinste die schlanke etwa Dreißigjährige hinter dem Tresen, die mit ihrer frechen roten Kurzhaarfrisur wie ein Kobold wirkte. „Ich bin Louisa Erdmann, wir hatten miteinander telefoniert.“
Die quirlige Wirtin musterte Franziska ungeniert und bot sich an, ihre Reisetasche hochzutragen. „Bitte die Hühnerleiter dort hinauf!“ Sie deutete auf eine schmale Treppe, die in den ersten Stock führte.
Franziska balancierte die ausgetretenen Stufen hinauf, gefolgt von Louisa, die ihr die Wohnungstür aufschloss. Die Unterkunft erwies sich als überraschend hell und freundlich. Der Blick in den Hinterhof war zwar nicht sehr spektakulär, aber Louisa versicherte ihr, dass es nachts auf dieser Hausseite immerhin viel ruhiger wäre als zur anderen Seite hinaus. Denn dort befand sich der Gastraum im Erdgeschoss und zudem der Parkplatz direkt vorm Gebäude.
„Ist bereits alles geputzt, Sie können jederzeit einziehen“, erklärte der Kobold. „Wie wär’s mit einem Begrüßungsschluck auf Kosten des Hauses?“
Bald darauf saß Franziska in der Gaststube Louisa gegenüber, beide einen starken Kaffee vor sich. Die beiden Frauen waren einander auf Anhieb sympathisch und klönten, als wären sie schon ewig miteinander vertraut.
Louisa kannte mindestens das halbe Städtchen, so auch Franziskas künftige Kollegin in der Stadtbücherei. „Also die Petersen, die hat ’ne spitze Zunge, aber sie is’ eigentlich ganz in Ordnung. Nur wenn einer ihre geheiligten Bücherschätze mit Eselsohren oder – Gott bewahre! – verspätet zurückbringt, dann hat man bei ihr versch … ähm, ich meine, dann hat man schlechte Karten!“ Louisas zwinkerte Franziska schelmisch zu. „Aber jetzt haben wir ja dich in der Bücherei, du wirst den ollen Drachen schon zähmen.“
Die nächstgrößere Stadt befand sich mit dem Auto eine halbe Stunde entfernt, und so beschloss Franziska, den Samstagvormittag zu nutzen, um dort einige noch dringend benötigte Kleinteile für ihre neue Wohnung zu besorgen. Sie schlenderte durch den Baumarkt und lud diverse Steckdosenleisten, einen Zollstock, ein Sortiment Nägel und Schrauben sowie zwei wunderschöne Blumenübertöpfe in ihren Kofferraum. Danach legte sie noch einen kurzen Bummel durch die Fußgängerzone ein, stärkte sich in einem Café mit einer Tasse Kaffee und machte sich anschließend auf den Heimweg.
Die Landstraße lag wie ein endloses Band vor ihr, in gleißendes Licht getaucht von der aufsteigenden Sonne. Abermals genoss sie den Blick über die saftigen grünen Wiesen, bewunderte die friedlich dahinziehenden Schäfchenwolken und winkte fröhlich einem entgegenkommenden Radfahrer zu, der stramm in die Pedalen trat. Eine Ansiedlung kam in Sicht, zunächst als winzige Erhebung am Horizont, dann immer größer. Franziska konnte bereits einzelne Gebäude unterscheiden, eine Kirchturmspitze, die sich über den Dächern erhob, ein Getreidesilo, Bäume ...
Sie näherte sich dem Ortsschild: Holtewisch hieß das Dörfchen. Die Straße war ebenfalls säuberlich mit Ziegelsteinen gepflastert, wies aber glücklicherweise keine Bodenwellen auf. Franziska hatte den Höllenritt vom Vortag noch in deutlicher Erinnerung. Sie konnte nicht schnell fahren, den ein Tracktor zockelte gemächlich vor ihr die gewundene Ortsdurchfahrt entlang. Überholen wäre in den unübersichtlichen Kurven zu riskant gewesen, also blieb Franziska hinter dem Ungetüm und lauschte begeistert einem Oldie aus den Achtzigerjahren, den sie lange nicht mehr gehört hatte. Längst vergessen geglaubte Erinnerungen stiegen bei der vertrauten Melodie in ihr auf, und auch der englische Text war sofort wieder präsent. Inbrünstig sang sie mit und senkte verlegen die Stimme, als sie sich der amüsierten Blicke der Passanten bewusst wurde. An einer Ampel – der einzigen weit und breit – hängte der lästige Tracktor sie endlich ab und tuckerte davon, während Franziska gelangweilt verfolgte, wie eine hutzelige Alte die Straße überquerte, mühsam auf ihren Stock gestützt.
Die Ampel zeigte für die Fußgänger bereits wieder rotes Licht, als ein junges Pärchen noch rasch von einer Straßenseite zur anderen huschte. Das Mädchen deutete plötzlich auf Franziskas Auto und brachte damit ihren Freund fast dazu, mitten auf der Fahrbahn stehen zu bleiben. Beinahe gewaltsam zerrte das Mädchen ihren Begleiter zum sicheren Gehsteig, während er den Polo nicht aus den Augen ließ.
Befremdet sah Franziska ihnen hinterher und verpasste beinahe die Grünphase. Glücklicherweise befand sich auf der wenig befahrenen Strecke niemand hinter ihr. Irritiert legte sie endlich den Gang ein und fuhr weiter, während es in ihrem Kopf arbeitete. War etwas mit ihrem Fahrzeug nicht in Ordnung? Sie überprüfte den Lichtschalter – aus. Der Scheibenwischer war selbstverständlich auch nicht in Bewegung, denn bislang hatte den gesamten Tag hindurch die Sonne geschienen. Die Reifen rollten wie immer einwandfrei über den Untergrund, also konnte sie keinen ‚Platten’ haben, und da sie keine verdächtigen Geräusche vernommen hatte, schienen sich auch Stoßstange und Blinker noch an ihrem Platz zu befinden.
Was zum Teufel hat der Jungen nur gesehen, dass ihm vor Staunen fast die Augen herausgekugelt sind?, überlegte Franziska. Auch das Mädchen hat beim Anblick meines Autos einen langen Hals gemacht, entsann sie sich und beschloss, beim nächsten Stopp den Wagen zu inspizieren.
Die Gelegenheit dazu sollte bald kommen, denn als sie einen zufälligen Blick auf die Tankanzeige warf, stockte ihr der Atem. Sie fuhr mittlerweile auf Reserve, denn sie hatte vergessen, den Wagen nach der langen Fahrt aus Süddeutschland wieder aufzutanken! Das war nun umgehend nachzuholen, andernfalls würde sie sehr bald zu Fuß weitergehen müssen.
Der Ort war klein, aber sie hatte Glück. Nicht weit von der zierlichen Kirche entfernt entdeckte sie eine Tankstelle. Sie blinkte, steuerte aufs Tankstellengelände und kniff irritiert die Augen zusammen. Die Bezeichnung für eine der Kraftstoffsorten, die sie an der Zapfsäule ablesen konnte, hatte sie zuletzt vor vielen Jahre an einer Tankstelle gesehen. Diese Sorte konnte man doch schon lange nirgends mehr tanken, oder? Verwundert ließ sie ihren alten Polo langsam ausrollen, bis sie vor einer der Säulen anhielt.
„Wow! Wo ham’ Sie’n den her?“ Der etwa Achtzehnjährige bestaunte mit offenem Mund Franziskas Vehikel. Beinahe ehrfürchtig neigte er sich mit gerecktem Hals dem Schriftzug am Heck entgegen und murmelte andächtig: „Ein Polo … Aber was für einer! Wo gibt’s denn sowas zu kaufen? Meine Schwester fährt auch ’nen Polo, noch gar
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6938-5
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