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Tulpengrüße

 

Die rote Tulpe auf der Verpackung schien Augen zu haben und ihm zuzuzwinkern. Wie albern! Der stämmige Landwirt fuhr sich mit der Hand über die verschwitzte Stirn; es war warm für Oktober.

Er betrachtete die Furchen, die der Traktor beim Pflügen hinterlassen hatte. Den Geruch nach Erde in der Nase, die blutrot untergehende Sonne im Nacken, schob er seine Mütze zurecht und wendete das Gefährt.

Er würde Blumenzwiebeln pflanzen, die im folgenden April bunte Tulpen hervorbringen würden. Sie zählten zu den bekanntesten Erzeugnissen Hollands und zogen die Touristen zum Noordoostpolder östlich vom Ijsselmeer.

Diesmal hatte er den sandigen Boden mit einer neuen Spezialmischung gedüngt, die ein prächtiges Wachstum verhieß. Wieder schien die aufgedruckte Tulpe sich zu bewegen. Er hatte wohl einen Sonnenstich!

Das Frühjahr nahte. Die Zwiebeln begannen zu sprießen. Triebe wuchsen aus dem Boden, wurden größer, reckten sich in die Höhe. Samtige Blätter in leuchtenden Farben umschlossen die Blüten und färbten das Feld. Ein starker Duft breitete sich aus.

„Wie riesig, Papa!“ Ein Kind hüpfte hoch, um das Blatt einer Tulpe zu erhaschen.

Der Vater runzelte die Stirn. Hoch wie Sonnenblumen, überragten die Blumen nicht nur seinen Sohn, sondern gingen auch ihm bereits bis zu den Schultern.

„Ungewöhnlich“, murmelte er und hob das Kind hoch, so dass es das Blumenmeer überblicken konnte.

Die Tulpen wuchsen weiter. Bald verlor sich ein Teenagerpärchen zwischen den Stängeln, die inzwischen höher als die Telegrafenmasten am Wegesrand waren. Das übermütige Kichern verstummte, als einige der Tulpen sich um die Körper der beiden schlangen und sie zu ersticken drohten; mühsam rissen sie sich los. Ihre schweißnassen Hände ineinander verschränkt, irrten sie stundenlang umher, bis sie endlich erleichtert aus dem Tulpendickicht hinausgelangten.

Ein kurzer Regenschauer auf die Tulpenblätter hatte dafür gesorgt, dass ein intensiver Duft aufstieg. Wie ein schweres Parfüm benebelte es die Sinne, was rasch zu wiedererwachenden Frühlingsgefühlen bei dem Pärchen führte. Baldwankten die Tulpen soheftig hin und her, als hätten sie hochprozentigen Alkohol getrunken. Möwen, die sich auf den Blütenrändern zu einem Schläfchen niedergelassen hatten, flogen ärgerlich kreischend wieder hoch, drehten einige Runden über ihrem schaukelnden Hochsitzund ließen protestierend weiße Kleckse fallen, die Löcher in die Blütenblätter ätzten und diesen ein zerzaustes Aussehen verliehen.

Ein Reh stolperte durch die schwankenden Gewächse und suchte den Ausgang; schließlich stieß es auf ein Kaninchen. Klein und wendig huschte dies flink durch den engen Tulpenwald, während das Reh sich an seine Fersen heftete. Durch seine Körpergröße im Nachteil, rempelte es dabei unzählige Tulpenstängel an, dennoch gelang es ihm, das kleine Hoppeltier nicht aus den Augen zu verlieren und sich von ihm ins Freie führen zu lassen. Schnaufend blieb es stehen; das Kaninchen war längst in seinem Bau verschwunden, sicher vor feindlichen Tulpen.

 

Der Landwirt riss erstaunt die Augen auf, als er sein Feld sah. Er bat seinen Freund, einen Freizeitpiloten, um Hilfe. Dessen Cessna stieg brummend auf und erklomm luftige Höhen.

„Die hast du alle gesetzt?“, erkundigte der Freund sich ungläubig mit einem Blick hinaus.

Der Landwirt nickte betreten und zuckte zusammen, als er das Dach eines blauen Kleinwagens inmitten des Feldes entdeckte. Festgefahren in der Blütenpracht, war der Fahrer noch zur Tür hinausgekommen und an den überdimensionalen Blättern einer roten Tulpe hochgeklettert. Dort hing er nun, umklammerte mit seinen Beinen den glatten Stängel und schwenkte verzweifelt beide Arme. Die Männer im Flugzeug meinten, schwache Hilferufe zu vernehmen.

„Müssen wir nicht ...“ begann der Landwirt, doch sein Freund unterbrach ihn: „Nein, wo soll ich denn landen?“

Tatsächlich, die Gewächse hatten sich nicht nur nach oben ausgebreitet, sondern auch in die Breite und nahmen mittlerweile mehr Platz als das ursprüngliche Feld ein. Sie wuchsen bis zum nahen Waldrand, umschlangen die Bäume, zermalmten sie. Sie wucherten weiter und verdrängten unaufhaltsam die Vegetation. Sie dehnten sich aus bis zum Deich, überwanden diesen und erreichten schließlich das Ijsselmeer, den größten See Hollands, wo sie im Wattboden Fuß fassten und gediehen.

Die farbenfrohen Blüten irritierten die Segler und führten zu Unfällen. Die Frau eines Freizeitskippers ging über Bord und wurde von einem schlanken Tulpenstängel umschlungen – liebevoller, als ihr Gatte sie je gehalten hatte. Sie wäre ertrunken, hätte ein Taucher, der die Unterwasserwelt erkundete, sie nicht rechtzeitig gerettet.

Sensationsreporter rückten an und lichteten die unglaublichen Erzeugnisse des Landwirts ab. Interviews wurden landesweit ausgestrahlt, Touristen aus der ganzen Welt kamen, um das holländische Phänomen zu bestaunen. Souvenierstände machten ihr Geschäft mit Tulpen aus Plastik, Tulpen auf Postkarten, Tulpen auf T-Shirts. Eine Gruppe Japaner knipste begeistert eine Windmühle, um deren Flügel sich gelbe Tulpen rankten.

Ein frecher Knirps aus New York kletterte bis zu einer Blüte empor, verschwand hinter den Staubblättern, kam wieder hervor und umarmte den Blütenstempel, bevor er mit einem Schrei in die gelbe Pracht hinabrutschte und nicht wieder auftauchte. Kurz darauf nahte Rettung: Aus einem Hubschrauber wurde ein Seil in die Blüte hinuntergelassen, der Knabe hangelte sich daran empor, kam gelblich verfärbt wieder zum Vorschein und empfing schon bald eine Ohrfeige von seinem Vater sowie eine Strafpredigt von seiner Mutter.

'Anstatt mich für meine Tapferkeit zu loben', dachte er missmutig und musste auch noch auf das versprochene Schokoladeneis verzichten. Wie ungerecht, einen Helden so zu behandeln!

Fernsehteams standen vor den Blumenfeldern und machten Live-Reportagen. Nachrichtensprecher berichteten mit ernsten Stimmen von der Bedrohung ganzer Landstriche. Die Königin empfing den Landwirt, der eilig damit begann, seine Autobiographie zu entwerfen. Lässig sonnte er sich im Ruhm und gab Autogramme. Eine Tulpe aus Bronze zierte seinen Tisch daheim; sehr zum Missfallen seiner Frau, denn sie musste jeden Tag den Staub von ihr wischen.

 

Doch der Unwille in der Bevölkerung wuchs ebenso flink wie die Tulpen. Vor Reisen zum

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 28.10.2020
ISBN: 978-3-7487-6254-6

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