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Beginn

Sie würde nicht schreien, oh nein! Ida von Ambessen grub die Fingernägel in ihre Wangen. Das würde hässliche Male geben, dachte sie, aber was wären die schon gegen die Schmerzen, die ihren Leib zu zerreißen schienen.

„Pressen, nicht aufgeben!“, feuerte die Hebamme sie an und strich ihr beruhigend über die schweißnasse Stirn. Ida keuchte, presste, ertrug Wehen.

Und ihr Mann? Norwin interessiert meine Pein nicht, dachte Ida. Die Kinder würden gleich nach ihrer Geburt getrennt. Weit voneinander entfernt aufwachsen würden sie und nichts ahnen von dem anderen Wesen, mit dem sie den Mutterleib geteilt hatten. Norwin hat mich bei dieser Entscheidung mit eisigen Augen gemustert, erinnerte sich Ida.

Die nächste Wehe war so heftig, dass sie ungewollt doch aufschrie. Kurz darauf beugte die Hebamme sich über zwei winzige Gestalten und raunte andächtig: „Mädchen, gesund, hübsch und ...“

Und verloren, überlegte Ida deprimiert und schloss entkräftet ihre Augen.

„Das hier kannst du mitnehmen“, vernahm sie da eine tiefe Stimme. Ihr Ehemann – noch!, dachte Ida.

Norwin von Ambessen trat an das Bett, warf seiner erschöpften Frau und den beiden Neugeborenen in der Wiege daneben einen angewiderten Blick zu und deutete auf eines der beiden Mädchen.

„Und das bleibt bei mir!“ Sein Finger zielte nun auf den anderen Säugling.

Am folgenden Tag verließ Ida Knotthoff – sie würde nach der Trennung wieder ihren Mädchennamen verwenden, entschied sie – mit einem der beiden Säuglinge im Arm das Schloss. Eine Freundin fuhr sie zu einer schäbigen Mietwohnung im Elendsviertel einer fernen Stadt und half ihr die Treppen zur dritten Etage hinauf.

Anderthalb Zimmer, eine Kochzeile im Flur und eine winzige Nasszelle wären nun ihr Zuhause, überlegte Ida und wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie ließ sich auf das klapprige Bett sinken und legte ihre Tochter behutsam in die Mulde der durchgelegenen Matratze. Bewundernswert still war das Kind, schaute seine Mutter aus großen blauen Babyaugen an und wackelte etwas mit seinen Fingerchen.

„Alberina nenne ich dich, mein armes Würmchen“, raunte Ida der Kleinen zu und streichelte ihr zärtlich über den Kopf. „Du wirst eine schöne Kindheit haben!“, versprach sie.

Nur wie?, dachte Ida. Wovon leben, wie zurechtkommen? Nun war sie nicht mehr die Adelige, die vornehm in einem Schloss wohnte, der die Mahlzeiten zubereitet wurden, die sich teure Garderobe leisten konnte und kostbaren Schmuck trug.

Nein, ihre geliebte goldene Brosche würde sie bald fortgeben müssen, ihre Markenkleider im Secondhandshop anbieten und vom Erlös Babybrei und Windeln erstehen. Norwin, du Schuft!, dachte Ida erbost und ballte ihre Fäuste. Nun hat deine Mutter erreicht, was sie wollte; sie konnte mich nie ausstehen.

Mich seid ihr elegant losgeworden und meine andere Tochter wird mich nicht kennenlernen. Ihr werdet das Kind zu einer hochmütigen, oberflächlichen Prinzessin erziehen! Wehmütig dachte Ida an das verknautschte Gesichtchen zurück, auf das sie nach der Geburt nur einen kurzen Blick hatte werfen dürfen und das dem Schwesterchen unglaublich ähnelte. Schon hatte die Hebamme Norwins Befehl gehorcht, das Kind in ein Tuch gehüllt und fortgenommen.

 

 

„Rina, hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?“ Die tägliche Frage, dachte Ida und kannte die Antwort bereits. Intelligent, aber faul. So würde sie Alberina, kurz Rina genannt, beschreiben. Dabei sanftmütig und ausgesprochen hübsch mit ihren blonden Locken und grünen Augen – unverkennbar Norwins Kind -, bezauberte das Mädchen alle Menschen. Sogar ihre strenge Lehrerin wickelte sie um den Finger, wusste Ida.

„Nein, Mamutschka“, kam wie so oft die Antwort aus dem halben Zimmer, Rinas Bereich, spärlich eingerichtet mit Mobiliar aus dem Sperrmüll.

Auch nach dreizehn Jahren schlug sich Ida noch mühselig durch und jobbte im Supermarkt. Die Arbeit war anstrengend, und abends fielen ihr die Augen zu, kaum dass sie auf dem alten Sofa saß. Vollkommen ausgelaugt fühlte sich die einst lebhafte Fünfunddreißigjährige, und ihre Tochter warf ihr verstohlen besorgte Blicke zu.

Immer elender fühlte sich Ida, und ihre Bewegungen waren die einer alten Frau. Erst am Vortag war sie im Supermarkt ohnmächtig von ihrem Sitz an der Kasse zu Boden gerutscht. Eine vom Regal gefallene Dose habe die Schramme an ihrer Stirn verursacht, log Ida ihrer Tochter vor. Rina hatte sie zweifelnd angesehen. Sie würde bald zum Arzt gehen, nahm Ida sich vor.

Eine Woche darauf stand Rina, gehüllt in schwarze Kleidung von Ida, mit gesenktem Kopf neben Else. Die Nachbarin hatte sich des verwaisten Kindes vorübergehend angenommen. Ein Herzinfarkt, schnell und vernichtend, hatte Ida ereilt. Jede Hilfe war zu spät gekommen, und sie man hatte sie tot aus dem Hinterausgang ihres Arbeitsplatzes getragen.

Die Abschiedszeremonie war vorbei, und Rina wälzte sich schlaflos auf der Hälfte des Ehebettes, die einst der Schlafplatz von Elses verstorbenem Mannes gewesen war. Bald würde ihr Schicksal sich entscheiden, dachte Rina und versuchte, nicht mehr zu schluchzen.

Viel hatte Ida ihrer Tochter nicht hinterlassen, wie sich herausgestellt hatte: Zweihundert Euro auf dem Konto, etwas Kleingeld im Portemonnaie sowie eine schäbige Mietwohnung.

„Zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel“, kommentierte Else und erklärte sich bereit, das Mädchen in ihrer eigenen Unterkunft vorübergehend aufzunehmen. Doch ihre verkniffene Miene verriet Rina: Else wäre froh, sie bald loszuwerden!

Zwei Monate vergingen. Else wurde immer gereizter, je länger Rina sich bei ihr aufhielt, und Rina fühlte sich unbehaglich. Doch wohin sollte sie ausweichen? Es schien keine andere Lösung zu geben, und sie gingen einander möglichst aus dem Wege.

 

 

„Die Post“, murrte Else und warf drei Umschläge auf ihren Küchentisch. „Werbung … verflixt, eine Rechnung … und was ist das?“

Rina sah, wie Else den dritten Briefumschlag mit dem Kartoffelschälmesser aufschlitzte, ungeduldig einen cremefarbenen Brief herauszog und glättete.

„Büttenpapier. Wer schickt mir denn so was? Ach nee, ist für dich, Rina! Vielleicht ein heimlicher Verehrer?“ Die Frau entblößte ihre Zahnstummel und lachte. „Nimm.“ Sie reichte Rina den Brief.

„Norwin von Ambessen“, entzifferte die den Absender. „Kenn ich nicht.“ Achtlos wollte sie das Schreiben in die Mülltonne stecken, doch Else nahm es ihr weg.

„Von Ambessen“, murmelte sie. „Das war früher der Nachname deiner Mutter, Rina. Stand in ihren Unterlagen. Sie war mal verheiratet.“ Sie schob den Brief wieder Rina zu und forderte sie auf: „Lies ihn!“

Das Schreiben entpuppte sich als die Nachricht, dass Rinas' Vater verstorben sei. Dabei war eine Einladung in sein Schloss.

„Tja, nun bin ich Vollwaise“, resümierte Rina. „Mein Vater … Kenn ich nicht! Was für'n Schloss, war der etwa reich?“

„Sein Name klingt adelig. Du bist wohl eine Prinzessin, Mädchen, und weißt es nicht, haha!“ Else erhob sich, um nach dem Essen auf dem Herd zu sehen. „Fahr hin, lern das Schloss kennen“, schlug sie vor. „Bei mir kannst du sowieso nicht ewig bleiben!“

Außer einem randvoll gepackten Rucksack würde sie nichts mitnehmen, ihre wenigen Besitztümer passten alle hinein, erkannte Rina. Schon zwei Tage darauf schenkte sie Else zum Abschied einen Blumenstrauß und machte sich auf zum Bahnhof, auf ihrem Rücken den Rucksack, über dem Arm ihre warme Jacke.

Aufbruch in eine bessere Zukunft, hoffte Rina und stieg in den Zug. Weit fortbringen in eine andere Stadt, in ein anderes Leben würde er sie nun.

 

 

Rumms! Die Schublade war zu. Ein Foto war aus einem Buch ihres Vaters gefallen. Elli hatte es aufgehoben, einen flüchtigen Blick darauf geworfen und es dann unter eine Glasplatte in der Schublade des Wohnzimmerschrankes geschoben. Weitere Fotografien befanden sich dort; Aufnahmen, die irgendwie in keines der Fotoalben so recht gehören wollten, die man aber auch nicht wegwerfen mochte.

Die abgebildete alte Frau mit den durchdringenden dunklen Augen ist längst von Würmern zernagt!, dachte Eleonora von Ambessen. 'Anna' hatte jemand auf die Rückseite gekritzelt und daneben ein Datum vermerkt, das fast fünfzig Jahre zurücklag.

Offenbar war sie die einstige Kinderfrau ihres Vaters gewesen. Eleanora wandte sich ab und hatte das Gesicht der altmodisch gekleideten Frau mit dem silbergrauen Oma-Dutt auf dem Kopf schon wieder vergessen.

„Eleanora!“ Nervtötend wie immer, ärgerte sich das schlanke Mädchen und strich sich eine Strähne ihres langen blonden Haare hinter ihr Ohr. Was wollte ihre Großmutter von ihr?

„Jaa“, erwiderte sie gedehnt und fläzte sich auf einem Sessel.

„Kind!“ Irmtraut von Ambessen betrat das Wohnzimmer und kündigte an, die Wangen hochrot vor Aufregung: „Alberina ist eingetroffen. Sehen wir uns doch gemeinsam dieses klägliche Individuum an, Eleanora. Sie sieht dir leider ausgesprochen ähnlich. Die gleichen grünen Augen. Auch ihre Haarfarbe ähnelt deiner. Wie goldenes Stroh eben. Ungezähmt wie das ganze Mädchen“, meinte die Gräfin ein wenig abschätzig.

Wir werden meiner Schwester einen Empfang bereiten, den vergisst die nicht!, dachte Elli und verzog ihr hübsches Gesicht zu einer Grimasse. Die Hälfte von Papas Erbe soll diese alberne Gans erhalten - gar nichts steht dieser Erbschleicherin zu! Zwillinge, pah ...

Elli hatte kurz zuvor erfahren, dass sie nicht die einzige Tochter Norwins war. Teilen sollte sie nun mit dem fremden Gör alles, sich lediglich mit der Hälfte dessen zufriedengeben, was ihr allein gehörte!

 

 

Eisig wie eine Schneekönigin!, ging es Rina unwillkürlich durch den Kopf, als sie den kalten Blick des Mädchens an der Seite einer älteren Dame auf sich ruhen sah. Das also war ihre Schwester; Rina rieb sich über ihre Arme und fröstelte.

Die Tür zum Salon öffnete sich. Eine Bedienstete brachte ein Tablett mit Tee und Plätzchen herein, stellte alles auf ein zierliches Tischchen und verschwand wieder.

Nach einer Viertelstunde war die Begrüßung für Rina überstanden. Das einzig Wärmende ist der Tee gewesen, dachte sie, als sie abends in einem riesigen Himmelbett lag und sich entsetzlich klein und verloren darin fühlte. Auch hier war sie nicht willkommen. Mamutschka, dachte Rina zärtlich und hielt die Tränen nun nicht mehr zurück. Schluchzend schlief sie ein, die Wangen nass, die Haare zerstrubbelt.

Ein seltsamer Traum stahl sich in Rinas unruhigen Schlaf, in der eine Frau vor ihrem Bett stand. Als Rina hochschreckte, meinte sie kurz, eine füllige, dunkel gekleidete Frauengestalt wahrzunehmen, glaubte, ein runzliges Gesicht mit einem aufgetürmten grauen Haarturm darüber schwebe über ihrem Bett. Meinte, die gütigen Augen der Unbekannten unverwandt auf sich gerichtet zu sehen, das Mitleid in ihnen zu erkennen. Dazu nahm sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.10.2020
ISBN: 978-3-7487-6187-7

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