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Kein Leben ohne Handy

Niniona, ein Wesen nicht größer als das Hautschüppchen eines erwachsenen Menschen, schob ihren eisblauen Körper geschickt durch die Eingeweide des Handys. Wie hungrig sie inzwischen war! Kaum auszuhalten.

Niniona bewegte sich ein wenig schneller, denn der Hunger nagte an ihr und ließ sie ungeduldig werden. Ungeduldig und fürchterlich gereizt. Das winzige kugelrunde Geschöpf stellte seine unzähligen am oberen Ende jeweils trichterförmigen Fortsätze auf, die nach allen Seiten von seinem Körper abstanden.

Damit konnte Niniona sämtliche Töne der menschlichen Stimmen einfangen, denn die waren ihre Nahrung. Die tiefe Männerstimme des Handynutzers, die soeben durch das Gerät dröhnte, würde sie rasch wachsen lassen; begeistert lauschte Niniona dem kräftigen Bariton. Bei Frauenstimmen dauerte das Wachstum länger, denn sie waren zu hoch. Nicht kräftig genug für Niniona und ihren niemals versiegenden Appetit.

Leider benutzen immer mehr weibliche Menschen als früher Handys, dachte das Wesen missgelaunt. Die Damen schnattern zwar wie eine Herde Enten, doch von ihren dünnen Tönen kann ich leider schlecht wachsen!

Wurde das Handy lange nicht benutzt, so musste Niniona hungern. Erhielt sie mehrere Tage lang kein Futter, so schrumpfte sie, bis sie so klein wurde, dass sie aus dem Handy hinaus rutschte. Durch einen der engen Durchgänge glitt, nach draußen fiel, dort austrocknete und schließlich starb. Nichts weiter als ein Staubkorn bliebe dann von Niniona übrig, irgendwann fortgewischt von einem Putzlappen in den Händen eines reinlichen Menschen.

Das darf nicht geschehen, sagte sich Niniona. Ich will nicht enden wie mein Vetter, der schutzlos in der Sonne lag und ausdörrte. Wie hat der Ärmste sich quälen müssen, und ich konnte ihm nicht helfen. Musste hilflos zusehen, wie er elend verreckte. Musste wehrlos sein Wimmern ertragen. Wie sehr seine bedauernswerte Witwe gelitten hat! Nein, das möchte ich nicht erleiden müssen.

Das für menschliche Auge kaum wahrnehmbare Geschöpf presste seine abstehenden Fortsätze eng an seinen Körper, rollte dann mit dem nun stromlinienförmigen glatten Leib ein Stück voran und streckte die hinderlichen Körperglieder anschließend wieder komplett aus.

So bewegte Niniona sich langsam aber stetig den schmalen Pfad entlang, der vom Prozessor auf der Hauptplatine des Handys zu dem ebenfalls auf der Platine verlöteten Arbeitsspeicher führte.

Der Speicherplatz eignet sich nicht nur für das Ablegen vom Betriebssystem und Dateien, überlegte Niniona. Nee, da passt auch noch mein Nachwuchs rein! Bald werde ich mich fortpflanzen, dann wirst du dich wundern, lieber Handynutzer, dachte sie gehässig. Wie sehr mir die aufgeregte weibliche Stimme auf die Nerven geht, sobald die Frau der angenehmen männlichen Baritonstimme antwortet. Auch dem armen Kerl scheint die Dame am anderen Ende der Telefonleitung auf den Sack zu gehen. Seine Tonlage wird immer genervter. Hilfe, jetzt schreit er schon ins Gerät!

Schnell raus hier, beschloss Niniona, ist ja nicht auszuhalten. Das Metallplättchen, das die Oberseite der Platine bedeckt, erzeugt immer einen schauderhaften Widerhall. Da haben die Hersteller des Handys nicht mitgedacht. Hätten ja auch Kunststoff verwenden können. Besäße ich Ohren, zuhalten müsste ich sie mir! Doch womit, Hände habe ich ja auch nicht. Ich bin eben nur ein recht einfach geformtes Wesen. Dabei rund und praktisch, bin ich allerdings ein ansehnliches Lebewesen, und meine Farbe gefällt mir besser als die anderer Arten. Manche sind grün, igitt.

Niniona versuchte, ihr Spiegelbild in dem Metallplättchen vor sich wahrzunehmen. War keiner der Trichter am Ende ihrer Fortsätze eingedrückt? Kritisch überprüfte sie alles und dachte daran, dass sie sie jederzeit notfalls platt an ihren Körper pressen konnte. Dann erhielte sie jedoch kaum noch Nahrung und durfte nicht vergessen, die Trichter wieder aufzustellen.

Beruhigt stellte sie fest: Alles in Ordnung, die Trichter sind alle, wie vorgesehen, auseinandergefaltet. Wie Blüten, die sich der Sonne entgegen strecken, meinte sie begeistert und drehte sich übermütig vor ihrem Spiegelbild im Kreise. Ich bin eine eisblaue Schönheit, dachte Niniona, von sich selbst eingenommen. Eine blaue Elfe. Zart und sanft und … gefräßig.

Hm, diesmal ergreife ich aber lieber die Flucht vor dem nervtötenden Lärm, sagte sie sich. Sie stieß energisch mit dem Rand eines Trichters gegen einen anderen, der schief stand. Alle meine Fortsätze müssen vernünftig aufgerichtet sein, da bin ich penibel, dachte sie.

Ich will doch nicht draußen aussehen wie ein Landstreicher, der sich jahrelang die Haare nicht geschnitten hat. Oder wie einer der Männer, deren Bartgestrüpp ihre Stimmen so verzerrt in das Handy hineinlässt, dass mir jedesmal übel davon wird. Das klingt immer so, als ob die Kerle gesoffen hätten. Oder als ob sie durch Watte hindurch reden. Total undeutlich und für mich unbekömmlich. Bärte … Bäh, wie eklig, dachte Niniona verächtlich und schüttelte sich vor Abscheu. Da sind mir sogar die Frauenstimmen lieber.

Ein weiterer lauter Fluch des Mannes trieb jetzt Niniona endgültig ins Freie hinaus, während sie dachte: Mir langt es hier drinnen erst einmal. Futtern kann ich nachher noch in Ruhe. Bei diesem menschlichen Gebrüll schmeckt mir das Essen sowieso nicht.

 

 

Niniona zwängte sich entschlossen an mehreren flachen Kabeln vorbei durch lange schmale Gänge, die wie ein Labyrinth durch das Gerät verliefen. Sie ließ die Steckverbindungen auf der Hauptplatine hinter sich, durch die sämtliche Kabel mit einzelnen Bauteilen verbunden waren. Dann entwischte sie der Enge und dem Krach im Gerät durch den SIM-Schacht des Handys.

Wie gut, dass diese Schublade nicht vollständig schließt, überlegte Niniona. Sonst hätte ich echt ein Problem, hier rauszukommen. In dem Handy, in dem ich kürzlich war, kam ich nur durch den Kopfhöreranschluss nach draußen; wie umständlich. Gut, dass ich mir diesmal ein etwas älteres Gerät ausgesucht habe!

Kaum auf der glatten Oberfläche des Handys angekommen, erfasste eine Windböe Niniona. Sie wurde unsanft durch die Luft gewirbelt und fand sich auf der Handyhülle wieder, die zwischen den Fingern des Mannes steckte. Eng schmiegte sich das schwarze Plastik um das Gerät. Verzweifelt presste sich Niniona an einen winzigen abstehenden Knubbel, der sich davon gelöst hatte.

Was zum Teufel war das, was hat mich da gerade hinweggefegt?, fragte sich das Geschöpf benommen und erhielt gleich darauf die Erklärung, als sich ihm stachelige blonde Bartstoppeln näherten wie ein riesiger lebendiger Wald. Fleischige menschliche Lippen öffneten sich und stießen erneut heftige Luftströme aus, die Niniona zurück in das Innere des Handykleides hineinbeförderten. Der Ummantelung des Handys, in die der Mann nun erneut das Gerät steckte. Schimpfend kletterte Niniona drinnen rasch über den Akku hinweg und ließ sich dahinter ermattet zu Boden sinken. War das anstrengend heute!

Und noch immer nix gegessen, dachte Niniona und ordnete gereizt die Trichter an zwei ihrer Fortsätze wieder. Sie hatten sich bei der wilden Flucht vor den riesigen Bartstoppeln ineinander verheddert. Hielten sich jetzt fest umschlungen wie ein Liebespaar.

So lassen sich nicht einmal mehr die Töne einer zarten Mädchenstimme einfangen, wusste Niniona und fragte sich: Wie soll ich damit an menschliche Töne gelangen? Nee, zunächst alles gründlich ordentlich sortieren, sonst klappt es nicht mit der Nahrungsaufnahme. Und ich habe Hunger, verdammt! Kohldampf, würde meine jüngere Schwester sagen. Niniona II …

Wie einfallslos von unseren Eltern, uns Kindern einfach Nummern zu verpassen, dachte Niniona, die eigentlich Niniona I hieß, verächtlich.

Was aus meinem Schwesterlein wohl geworden ist, nachdem es sich in einem der modernen ultraflachen Smartphones niedergelassen hat?, überlegte Niniona. Was für ein unbequemes Heim, hatte sie damals gedacht und ihre uneinsichtige Schwester vergeblich gewarnt. Kaum Platz, sich in dem platten Gehäuse zu bewegen, kaum eine Möglichkeit, sich darin irgendwo schlafen zu legen.

Da hatte sie, Niniona I, sich doch die behaglichere Unterkunft in einem etwas altmodischeren Handy ausgesucht! Ältere Geschwister wie sie waren eben meist klüger. Sie besaßen einfach mehr Lebenserfahrung.

Kurz hing sie ihren Kindheitserinnerungen nach, dann beschloss sie, nun endlich etwas Essbares aufzutreiben.

„Liselotte, wie schön, dich zu erreichen“, dröhnte es da durch die feinen Ritzen des Handys hindurch. Erleichtert stellte Niniona fest, dass der Mann offenbar ein weiteres Gespräch begann. Passend zur Mittagszeit, dachte sie amüsiert. Sie öffnete die Trichter an ihren Fortsätzen so weit wie möglich.

Hm, wie gut ihr die Töne mundeten. Wie lecker ihr der wohltönende Bariton des Handynutzers schmeckte, wie wohltuend diese Männerstimme ihren Magen füllte. In den Typen könnte ich mich glatt verlieben, dachte Niniona. Ob der so aussieht, wie er spricht? So sanft und sympathisch, so schmeichelnd seine Tonlage … Ach, wäre ich doch eine Frau. Kennenlernen wollte ich diesen Mann, ihn knutschen, seine Hand halten, sein … Stopp, rief Niniona sich selbst zur Ordnung. So etwas stellt sich ein anständiges Geschöpf nicht vor.

Konzentriere dich auf das Handy, deinen Lebensraum, dummes Ding, ermahnte sie sich. Welch wunderbare Klangqualität dieses Gerät aufweist! Aus dieser Unterkunft möchte ich so bald nicht ausziehen. Hier möchte ich alt werden, möchte meine Kinder aufwachsen sehen und sie beim ausgelassenen Spielen zwischen den flachen Kabeln beobachten. Hier werde ich ihnen beibringen, wie sie die Trichter an ihren Fortsätzen bewegen müssen, um Nahrung zu bekommen. Wie sie sich in eine glatte runde Kugel verwandeln können, die über die Gänge rollt. Was sie beachten müssen, damit sie nicht an den vielen Bauteilen hängen bleiben. Bis die lieben Kleinen in ihr eigenes Leben hinaus gehen und sich eine eigene Wohnung suchen werden.

Bei diesen Gedanken wiegte sich Niniona selbstvergessen vor und zurück vor dem Mikrofon, glücklich und in bester Laune. Hätte ich Beine, ich würde ein Tänzchen aufführen, dachte sie und klappte übermütig die Trichter an ihren Fortsätzen abwechselnd auf und zu. Wie lauter kleine

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3755-1

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