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Daniela Rau: Martinszug

Das kleine Elektroauto kämpfte sich im zweiten Gang die schmale Straße in Lindlar entlang. Am Steuer saß Noah Birkholz und verfluchte sich zum wiederholten Mal, dass er in der letzten Besprechung der Stadtverwaltung nicht einfach seine große Klappe gehalten hatte.

„Großartige Idee, Herr Birkholz, übernehmen Sie das doch.“

Noah schüttelte über sich selbst den Kopf. Den Mund zu halten war nicht gerade seine Stärke. Deswegen war er im Frühjahr auch zum Gleichstellungsbeauftragten gewählt worden. Er war von einem ruhigen Job ausgegangen, doch gab es offensichtlich mehr unterdrückte Männer in der Wipperfürther Stadtverwaltung als angenommen.

Noch eine Kurve. Er entdeckte das verwitterte Schild „Grauwacke Steinbruch“. Darunter ein nicht ganz so wettergegerbtes Holzpaneel mit der Aufschrift „Außer Betrieb“.

Noah atmete auf. Es konnte nicht mehr weit sein. Tatsächlich, nach der nächsten Kurve öffnete sich die Straße zu einem riesigen Tal hin. Der Anblick des ehemaligen Steinbruchs faszinierte Noah so sehr, dass er fast gegen die Absperrung gefahren wäre, die den kleinen Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude gegen die metertiefe Schlucht abgrenzte.

Sein Auto piepte. Der Akku war fast leer. Hoffentlich gab es hier oben eine Ladestation. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Der Anblick war großartig: Was vor Jahren ein geschlossener Steinbruch gewesen war, glich heute einer schweizerischen Berglandschaft: Der ganze Steinbruch war renaturiert und nach strengen Klimaschutzkriterien aufgeforstet worden. Abschnitte mit Wald wechselten mit dichten Wiesen und durch die Mitte floss ein künstlich angelegter Bach.

Dort unten entdeckte Noah sie: Die Alpensteinböcke.

„Herr Birkholz?“

Noah drehte sich um.

„Willkommen im Biosphärenreservat Lindlar – die Heimat des oberbergischen Edelweiß.“ Ein riesiger Mann in rustikaler Holzfäller-Optik streckte Noah die Hand zur Begrüßung hin.

Der braucht wohl niemals einen Gleichstellungsbeauftragten, schoss es Noah durch den Kopf.

„Ich bin Jens, Tierpfleger, Gärtner, Förster und Verwalter in einem.“

„Noah“, murmelte Noah. „Haben Sie vielleicht eine Ladestation für E-Autos hier?“

Jens Blick glitt mehrmals über Noahs schlammbespritzen Zweisitzer, als würde er dadurch noch wachsen.

„Neee, wir fahren hier mit Diesel. Wegen der Forstwirtschaft, wissen Sie. Elektro nützt da nix.“ Er grinste breit. „Unsere CO2 Bilanz ist trotzdem ausgeglichen, wir pflegen ja die Bäume mit den Fahrzeugen.“

Er lachte über seinen eigenen Witz.

Noah lächelte schwach. „Wie komme ich denn dann wieder zurück?“

Jens zuckte mit den Schultern. „Leerlauf hat er doch, oder? Zurück geht`s nur bergab. Einfach rollen lassen.“

Er bemerkte Noahs entsetzten Blick nicht und wechselte das Thema: „Also, da unten sind unsere Prachtkerle.“ Er wies auf den Bach im Tal. Dort stand eine Handvoll Tiere beieinander. „Alpensteinböcke aus einer Erhaltungszucht. Wir sind Mitglied im Europäischen Zuchtprogramm.“

Noah sah die graubraunen Tiere mit den markanten, nach hinten gebogenen Hörnern. „Sind die denn zahm?“, fragte er.

„Na klar.“ Jens lachte. „Wir trainieren mit ihnen von klein auf. Die sind fast wie Ponys.“

Noah verschwieg, dass er als Kind von einem Pony gebissen worden war.

„Gibt es jemanden, der sie führt?“, fragte Noah.

„Na klar“, Jens wies auf das Verwaltungsgebäude, „wir haben alles da, Geschirre, Transportmöglichkeit und Bestechungsleckerlies. Sogar Schaufeln, um die Häufchen wegzumachen.“

„Die Stadtverwaltung Wipperfürth würde sie gerne für den Martinszug mieten. Für den großen Stadtzug“, sagte Noah.

„Kein Problem. Dafür vermieten wir die kräftigen Männchen mit den imposanten Hörnern. Lassen Sie uns reingehen, dann machen wir den Papierkram fertig.“

Noah nickte. Seine Idee mit den Steinböcken war wirklich gut gewesen.

Ihm graute jetzt nur noch vor der Rückfahrt.

 

 

Sankt Martin

Darius hieß der ausgewachsene Steinbock, der kurz vor dem Martinszug in Wipperfürth aus dem Anhänger geladen wurde. Trotz aller Skepsis musste Noah Jens recht geben, als dieser mit Stolz verkündete: „Ein Prachtkerl“.

Der Prachtkerl ließ sich auch brav abladen, satteln und weihnachtlich schmücken: Die gewaltigen Hörner umwickelte Jens liebevoll mit biologisch abbaubarem, ungiftigem Jute-Lametta und befestigte einige Weihnachtsbaumanhänger am Gehörn.

Der St. Martin in seinem prächtigen roten Mantel wartete bereits. Jens erklärte ihm kurz den Ablauf, dann ließ er ihn aufsitzen.

Jens würde den Martinszug mit Darius anführen.

Pünktlich kurz vor Beginn traf auch die Blaskapelle ein. Es war geplant, dass St. Martin nacheinander alle Wipperfürther Schulen abritt, um dort die Schülerinnen und Schüler mit ihren Laternen in Empfang zu nehmen. Unterwegs durften sich alle Bürger anschließen. Enden würde der Martinszug traditionell auf dem Kirchplatz.

Darius machte seine Sache großartig. Weder die Stolperkanten an den Abflussrinnen noch Baugruben oder Schutthaufen konnten ihn aufhalten. An so mancher Stelle hatte Jens mehr mit dem baustellengeprägten Untergrund zu kämpfen als der trittsichere Steinbock. Darius schien die Sache richtig Spaß zu machen: Mit hoch erhobenem Kopf schritt er voran, je mehr Laternen dazu kamen, desto höher trug er seinen Weihnachtsschmuck.

Noah lächelte. Seine Idee war ein voller Erfolg. Nachdem bereits vor Jahren Tierschützer erfolgreich gegen Pferde auf Martinszügen und Esel bei Passionsspielen prozessiert hatten, waren viele Städte und Gemeinden auf solarbetriebene E-Scooter umgestiegen.

Die Stadt Wipperfürth hatte es versucht. Doch nachdem der E-Scooter drei Jahre hintereinander an verschiedenen Fräskanten der Baustelle einen Achsbruch erlitten hatte, war der St.-Martin-Darsteller nicht mehr bereit gewesen, es noch einmal zu versuchen.

Deswegen war Noah auf die Idee mit dem Steinbock verfallen. Er hatte gehört, dass der Steinbruch in Lindlar nach seiner Schließung in ein Biosphärenreservat für Alpensteinböcke verwandelt worden war. Die prächtigen Männchen wurden ab einem Alter von wenigen Monaten zu Zug- und Reittieren für Festumzüge ausgebildet und waren inzwischen deutschlandweit bekannt.

Im Frühjahr war ein Jesusdarsteller bei den Passionsfestspielen auf einem grau gefärbtem Steinbock geritten.

Sie erreichten als letzte Station des Martinszugs das Seniorenheim an der Lüdenscheider Straße. Beinahe alle Bewohner standen am Straßenrand bereit, um sich dem Zug anzuschließen. Stolz hielten sie ihre bunten Laternen in die Höhe.

Noah entdeckte auch einige der neuen, experimentellen Rollatoren: Da Wipperfürth durch die Baustelle für Rollstühle und Gehhilfen völlig unpassierbar geworden war, hatten Altenpfleger und Betreuer nach einer neuen Lösung gesucht, und sie gefunden:

Die Europäische Raumfahrtbehörde ESA suchte nach einem geeigneten Gelände, um ihre auf der Bewegung von Insekten basierenden bionischen Forschungsrover für die geplante Marslandung in 12 Monaten im Realversuch zu testen.

Die Initiative „Wipperfürth in Bewegung“ hatte Kontakt zur ESA aufgenommen und ihnen ihre Idee erläutert: Den Wipperfürther Senioren wurden die Rover, die aussahen wie schafsgroße Heuschrecken mit Sattel, zur Verfügung gestellt. Diese sechsbeinigen Helfer waren extra für schwieriges und unwägbares Gelände konstruiert und die ESA war hocherfreut, wie sehr die Wippefürther Straßen der zu erwartenden Marsoberfläche ähnelten.

Hinter den Schulkindern setzte sich ein langer Zug an Senioren auf sechsbeinigen Gehhilfen in Bewegung, die Laternen an die langen Fühler gehängt.

Als sich die ganze Stadt auf dem Kirchplatz versammelte und gemeinsam mit der Blaskapelle „Sankt Martin“ anstimmte, lächelte Noah.

Dieser Martinszug war ein voller Erfolg.

Daniela Rau: Über die Autorin

 

 Geschichten haben mich schon immer mitgerissen.

Aufgewachsen mit „Akte X“,  „Outer Limits“ und zahlreichen Romanen von Wolfgang Hohlbein, begeisterten mich schon früh fantastische Geschichten mit naturwissenschaftlich-technischem Hintergrund. Später entdeckte ich Michael Crichton, Douglas Adams und John Scalzi als Autoren, deren Bücher ich bis heute (immer wieder) lese.

Mein erster Roman war eine Science-Fiction Novelle, die ich für eine Freundin zum Geburtstag geschrieben habe.  
Besuchen Sie meine Homepage:
www.leselichtung.com

Anne Fitsch: Ein Winterspaziergang auf der Kaiserhöhe

 

Vor grauem Himmel

stehen Bäume

wie Reisigbesen

verkehrt herum

in tiefe Erde gesteckt,

und an den Tischen,

in den Häusern

sitzen die Riesen,

müde vom Kehren.

 

Es ist einer der grauen und viel zu warmen Januartage des noch neuen Jahres.

Die Sonne fühlt sich nicht verantwortlich für diese Jahreszeit und schaut nur hin und wieder auf die Stadt, um festzustellen, dass der Winter sich nicht ordentlich kümmert.

Irgendwas hält ihn auf, und so stehen die Bäume nackt und merkwürdig schutzlos in den Wäldern und Gärten. Abgestellt, vergessen, wie die Besen übergroßer Riesen.

Hinter mir liegen viele Stunden am Computer.

Es wird Zeit für eine Pause. Ehe die frühe Dunkelheit den restlichen Tag verschluckt, nehme ich mir Schal und Mantel vom Haken und gehe die wenigen Meter hoch zur Kaiserhöhe.

Ich bin gerne dort

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Autorengruppe Loseblattsammlung
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Autorengruppe Loseblattsammlung
Lektorat: C. Kaula
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6741-1

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