Alles andere als glücklich blickte Marvin aus dem Fenster. Er sah einige Nachbarskinder unten am Spielplatz im Schnee spielen. Ihr Lachen konnte man selbst im achten Stock noch hören. Das war auch der Grund weshalb Marvin sich von dem Fenster abwand und zu seinem Bett zurückging. Er ließ sich darauf fallen und blickte regungslos an die Decke und außer dem Tick-Tack seiner Wanduhr war es still.
Die Heizung war auf volle Leistung gedreht und dennoch kam es ihm unglaublich kalt im Raum vor weshalb er die Wolldecke über sich zog. Das Licht an seinem Schreibtisch brannte noch und die vielen Zettel dort zeigten, dass er noch nicht fertig war mit seinen Recherchen. Doch die Müdigkeit hatte ihn überfallen und die Lust, weiter zu machen, hatte er nicht wirklich weshalb er aufgehört hatte.
Wenn er ganz leise war und lauschte, konnte er seine Mutter in der Küche werkeln hören, untermalt von der Weihnachtsmusik welche aus dem Radio trällerte. Ein schmales Lächeln legte sich auf seine Lippen und er glaubte, den Duft der Plätzchen selbst durch die geschlossene Tür zu riechen. Seit dem Tod seines Vaters beschäftigte sich seine Mutter immer zu Weihnachten mit Backen.
Und da Marvin generell fast nichts aß, musste sie das gebackene verschenken oder selbst essen. Trotzdem machte sie es jedes Jahr aufs Neue ohne zu jammern oder es sich anders zu überlegen. Marvins Gedanken schweiften immer mehr in die Ferne ab und so bekam er auch nicht mit, wie seine Mutter in sein Zimmer kam. „Marvin?“, erst beim dritten Mal reagierte er auf die Nennung seines Namens.
Martina stand neben seinem Bett, einen Teller Kekse in den Händen. Als er sie fragend anblickte, sprach sie lächelnd weiter: „Magst du nicht doch ein paar Vanillekipferl essen?“ Zuerst wollte er ablehnen, doch da das nur eine neue Diskussion mit seiner Mutter einbringen würde, nickte er und wartete ungeduldig darauf, dass sie sein Zimmer verließ. Doch Martina hatte es längst bemerkt.
Sie setzte sich neben ihn und sofort war ihre Fröhlichkeit und gute Laune verflogen. Dafür blickten ihre Augen wahnsinnig besorgt und liebevoll auf Marvin nieder. Dieser drehte sich auf die Seite, sein Gesicht von seiner Mutter weg, und zog die Beine an um die Arme darum zu schlingen. Die ersten Minuten sagte keiner etwas bis sich Martina endlich traute, das Wort zu erheben.
„Ist es wegen Philip?“, fragte sie ohne zu zögern und mit normaler Stimmlage. Ihr entging das Zusammenzucken ihres Sohnes nicht und dann hörte sie ihn leise flüstern: „Ich kann das einfach nicht mehr. Er sieht in mir den kleinen Bruder den er nie hatte aber ich sehe ihn anders!“ Martina legte Marvin sanft die Hand auf den Rücken und fuhr auf und ab um ihn zu beruhigen.
Man konnte ihr ansehen, dass dieses Thema unangenehm für sie war, und dennoch klang in ihrer Stimme nur die Besorgnis einer Mutter heraus: „Liebeskummer ist der schlimmste Kummer. Aber lass dich nicht innerlich auffressen von ihm, denn eines Tages wird wieder alles gut werden mein kleiner Spatz, ich verspreche es!“ Um ihre Worte zu unterstreichen legte sie sich neben Marvin und zog ihn in eine liebevolle Umarmung.
Der Rothaarige schluchzte leise und presste sich an seine Mutter wie er es als kleiner Junge steht‘s getan hatte wenn er traurig war. In diesem Moment war es ihm egal, dass er bereits neunzehn war und nicht sechs. Denn die Umarmung seiner Mutter schenkte ihm Trost und beruhigte ihn gleichermaßen. Lange Zeit blieben sie einfach so liegen, bis die Eieruhr die Stimmung zerstörte.
„Entschuldigung!“, lachte Martina, fuhr Marvin durchs Haar und eilte in die Küche. Dieser blickte ihr kurz hinterher bevor er sich mit neuem Elan erhob und ihr folgte. Es war Plätzchen Zeit!
Es war nur noch eine Woche bis Weihnachten und Marvin hatte beschlossen, den heutigen Tag dazu zu nutzen, die restlichen Geschenke einkaufen zu gehen. Zu Weihnachten bekamen seine Mutter und er immer Besuch von seinen Großeltern und seiner Tante samt Anhang der aus seinem Onkel und seinem vierjährigen Couse bestand. Darauf freute er sich am meisten, denn mit Kindern konnte er schon immer gut umgehen.
Als Marvin schon gut eine Stunde aus dem Haus war ging seine Mutter in sein Zimmer und wollte gerade zusammengelegte Wäsche verräumen als ihr Blick auf einen Zettel fiel der direkt in ihrem Blickfeld lag. Neugierig legte sie die Wäsche ab und nahm den Zettel zur Hand. Es war ein angefangener Brief, an eine wohl bekannte Person adressiert.
Seit Martina denken konnte, kannten sich Marvin und Philip bereits. Auch wenn Philip bereits 26 war, verbrachte er steht’s viel Zeit mit Marvin. Egal ob es ums Lernen ging, Party machen, Feste feiern oder einfach nur abzuhängen, immer waren sie zu zweit unterwegs. Besonders nach dem Tod ihres Mannes und Marvins Vaters war Philip eine große Stütze gewesen.
Doch seit drei Monaten herrschte Funkstille zwischen den beiden Freunden. Nur die Intuition einer Mutter ermöglichte es ihr, zu wissen, was passiert war. Scheinbar hatte sich ihr Sohn in Philip verliebt, unglücklich wie es aussah. Dass Marvin ehern dem eigenen Geschlecht zugetan war, hatte sie schon früh gewusst. Spätestens als er verkündet hatte, eines Tages Orlande Bloom zu heiraten, war es Gewissheit gewesen.
Doch einen festen Freund hatte Marvin nie gehabt. Wenn er nicht mit Philip rumhing, dann mit Schulkollegen die sicherlich nichts von seiner Sexualität wussten. Den Tag vor drei Monaten, an dem Marvin sich so verändert hatte, hatte Martina nicht vergessen. Tränen überströmt war Marvin nach Hause gekommen und hatte sein Zimmer zwei Tage nicht verlassen.
Was genau passiert war, dass wusste sie nicht, und doch schmerzte es sie, ihren Sohn so leiden zu sehen. Und besonders schlimm war es, wenn Philip anrief oder vor der Tür stand. Wenn er anrief, legte Marvin sofort auf und wenn er klingelte, öffnete er nicht. So konnten die beiden sich bisher auch nicht aussprechen. Deshalb war der Brief auch so interessant für Martina, denn sie wollte endlich, dass Marvin wieder glücklich war.
Lieber Phil,
ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir alles tut. Was ich getan habe, ist unverzeihlich und ich kann nachvollziehen, dass du so reagiert hast, wie du reagiert hast. Jetzt im Nachhinein ist es mir mehr als nur peinlich und unangenehm, aber leider kann man die Zeit nicht zurück drehen. Doch du hast es verdient, die Wahrheit zu erfahren. Ich tat das nur, weil ich es nicht länger schaffte, stark zu bleiben. Ich kenne dich länger als ich mich zurück erinnere und doch haben sich meine Gefühle dir gegenüber stark geändert. Deshalb muss ich unsere Freundschaft auch beenden, da ich dich liebe! Mein Leben ist ohne
Martina lächelte, wegen der Worte die sicherlich schwer zu schreiben gewesen waren. Die verlaufene Tinte an einigen Stellen und die getrockneten Wassertropfen zeigten, wie schwer es Marvin gefallen sein musste, diese Zeilen zu schreiben. Und doch war es nur noch ein Beweis, wie sehr ihr Junge unter dieser Situation litt und das sie schnell etwas ändern musste. Und so legte sie den Brief zurück und verließ Marvins Zimmer, um ihren Plan umzusetzen.
Mit der Gewissheit, Marvin würde noch länger weg sein, tippte sie Philips Nummer ein und wartete ungeduldig, bis jener abhob. „Marvin?“, fragte er hoffnungsvoll und hektisch und Martina tat es leid diese Hoffnung zerstören zu müssen. „Nein, Martina hier. Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen!“
Über eine Stunde telefonierte sie mit Philip und als sie auflegte, grinste sie erleichtert. Philip war einverstanden und jetzt müsste Marvin nur noch zurückkommen und dann konnte es losgehen. Was genau passiert war, hatte sie zwar nicht in Erfahrung bringen können, aber nun wusste sie, dass auch Philip anders fühlte wie Marvin dachte. Und das war gut so, denn dann gab es Hoffnung.
Marvin war kalt und er war müde als er endlich heim kam. Zwar hatte er jetzt alle Geschenke beisammen, aber trotzdem konnte er sich nicht freuen. Denn Weihnachten hatte er bisher jedes Jahr mit Philip gefeiert, zumindest war dieser für ein paar Stunden vorbeigekommen, und dieses Jahr würde das nicht der Fall sein. Seine Mutter war scheinbar außer Haus denn kein Licht brannte und es war still.
Nachdem Jacke und Schuhe in der Garderobe verstaut waren ging er ins Wohnzimmer wo er erstaunt registrierte, dass aus seinem Zimmer Licht kam. Entweder seine Mutter hatte vergessen es auszuschalten oder jemand war hier. Die erste Variante gefiel ihm eindeutig besser und so zitterten seine Hände nur ein wenig, als er die Zimmertür öffnete. Im selben Augenblick, erstarrte er zu einer Salzsäule.
Auf seinem Bett saß Philip der ihn anblickte und mit seinem Blick fesselte. „Was machst du hier?“, fragte Marvin hysterisch und war kurz davor, die Wohnung schleunigst wieder zu verlassen. Doch Philip war einfach aufgestanden und packte sein Handgelenk um ihn rein zu ziehen. „Anders kann ich ja nicht mit dir reden!“, murmelte er und lächelte leicht als er die Tür schloss und den Schlüssel umdrehte bevor er ihn einsteckte.
Marvin war noch immer steif wie ein Brett, auch wenn die Angst nicht überwiegend war. Viel eher war es Panik und Unwohlsein was ihn ausfüllte. Sprachlos blickte er Philip an der sich vor ihm aufbaute und dann vorsichtig eine Hand auf seine Wange legte, den Blickkontakt nicht unterbrechend. „Du bist ein wahnsinniger Sturkopf!“, hauchte er tadelnd und grinste leicht.
Der Rothaarige schluckte schwer und blickte nur verwirrt und fragend drein. Philip hob ein Blatt Papier hoch und als Marvin erkannte, welches es war, wurde er augenblicklich rot und wollte den Kopf abwenden. Doch der sanfte, aber feste Griff an seiner Wange hinderte ihn daran. „Meinst du das ernst?“, wollte Philip leise und heißer wissen. Zwar war es Marvin unglaublich peinlich, aber er antwortete fest: „Jedes Wort!“
Im nächsten Moment lagen Philips Lippen auf seinigen und küssten ihn liebevoll und doch hart. Mehr aus Reflex wie aus Wissen schlang Marvin die Arme um dessen Hals und erwiderte den Kuss als ginge es um Leben und Tod. Als sie sich trennten atmeten beide schwer und es war an Philip, etwas zu sagen: „Wieso bist du nur abgehauen? Ich habe mir so große Sorgen gemacht und außerdem konnte ich nicht einmal was sagen!“
Marvin senkte nun doch den Blick und murmelte: „Ich hatte Angst vor deiner Reaktion oder deinen Worten!“ Er spürte Philips Blick und das Lächeln welches er nicht sehen konnte als dieser flüsterte: „Du bist ein Dummkopf. Glaubst du wirklich, ich würde dich hassen? Ich war nur so verwirrt, denn ich habe es mir immer gewünscht, dass meine Gefühle erwidert werden, und zwar von dir und niemand anderen!“
Texte: Melian van Delan
Bildmaterialien: Laura Skorski
Tag der Veröffentlichung: 22.02.2015
Alle Rechte vorbehalten