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Zur Zeit der Konjunktion erwacht,
Tanzend mit zwei Sternen,
Will die Königin der Nacht
Mit den Vögeln fliegen lernen.

Und die Blauen fallen, fallen
Eins, drei, vier ins Licht,
Weißt du schon, wohin sie fallen?
Denn sonst findest du sie nicht.




Es war eine dieser Nächte, in denen die Menschen stehen blieben und flüsterten. Jeder schien irgendwohin zu wollen, jeder schaute sich nervös über die Schulter, beeilte sich, und doch waren die Gänge voll wuselnder, aufgeregter Menschen. In den letzten Wochen hatte es immer wieder solche Nächte gegeben, die nicht schlafen wollten und erfüllt waren von Wispern.
Natürlich hatte man von der Prophezeiung gehört und natürlich glaubte man nicht daran. Aber dennoch füllte sie die Luft mit süßer Vorahnung und überzog Arme mit Gänsehaut. Es gab nicht mehr viel, das einen wirklich mitzunehmen vermochte in die Welt des Unwahrscheinlichen. Gerade weil es ein Märchen war, ein Mythos, war es realer als alles, was man in den Medien zu sehen bekommen konnte.
Auch Marlon hatte davon gehört, aber ihn interessierten die Gerüchte nicht. Er hatte schon einige kommen und gehen sehen und nichts war geblieben als verlegenes Schweigen und ein Gespräch über das Wetter, das wahrlich nicht sehr interessant war. Es war windstill, wie immer. Er stapfte einsam durch die Gänge und beteiligte sich nicht an dem Geflüster, grüßte hie und da einen Nachbarn und schlug den Weg zu seinem Lieblingslokal ein. Es war ein abgelegener Schuppen am Rande der Sektion Gamma, kurz vor dem Ende der großen Kuppel. Dort war nie viel los und auch heute saßen nur vereinzelt ein paar Leute herum, die Köpfe zusammengesteckt, und beachteten Marlon kaum. Er mochte das Lokal, denn es hatte ein paar ungetönte Fenster, durch die man hin und wieder einen Stern vorbeiziehen sah und manchmal sogar einen Planeten. Dann konnte man sogar fast glauben, dass es vielleicht eine Welt da draußen gab, die nicht grau und stickig war und einen nicht erdrückte.
"Na, Kleiner, wie immer?", wurde er vom Barkeeper begrüßt.
Marlon schüttelte den Kopf und antwortete: "Heut' nicht. Meine Ration ist leer."
Der Barkeeper nickte und legte das obligatorische Putztuch beiseite.
"Hinten will dich jemand sprechen", flüsterte er ihm zu.
Marlon seufzte. Eigentlich hatte er nur in Ruhe ein paar Seiten in seinem neuen Buch lesen wollen, aber anscheinend meinte man es heute nicht gut mit ihm.
Im hinteren Bereich der Bar befanden sich einige abgetrennte Kabinen für Leute mit weniger guten Lungen, die ständig unter Erdatmosphäre gehalten wurden. Marlon war wie die meisten daran gewöhnt, ein künstliches Gemisch zu atmen. Zwei der Kabinen waren besetzt, in der einen saß ein gut gekleideter junger Mann, in der anderen eine verhüllte, gebeugte Gestalt über einer dampfenden Tasse. Was sie wohl von Marlon wollen konnte? Sicher ging es wieder um seine Tante... es ging immer um seine Tante.
Marlon war bereits im Begriff, die Kabine durch die kleine Druckschleuse zu betreten, als ihn jemand an der Schulter packte.
"Du bist das Sequin-Kind, nicht wahr? Der Neffe von -"
"Astrandrina", ergänzte Marlon und drehte sich zu dem gut gekleideten jungen Mann um, der ihn sogleich in seine Kabine zog. Warum waren es eigentlich nie die geheimnisvollen alten Hexen, die sich mit ihm unterhalten wollten, und warum wollten alle nur über seine Tante reden? Die Antwort auf letzteres war klar: Weil sie ein Schiff hatte.
"Wenn Sie wissen wollen, ob meine Tante ihr Schiff vermietet: Die Antwort ist nein. Wenn Sie mich also jetzt bitte gehen lassen würden."
Der Mann riss entsetzt die Augen auf und bedeutete Marlon zu schweigen.
"Bitte, junger Herr, nicht so laut. Ich will es nicht mieten. Ich habe Informationen für deine Tante, über... du weißt schon was."
Marlon ließ seinen Blick über die gelbstichige Weste und die einfallslosen Tatoos wandern und beschloss, dass er den aufgeblasenen Kerl nicht mochte. Andererseits konnte Marlon nicht leugnen, dass er die Luft genoss, die er nun ganz kostenlos atmen durfte, und ließ ihn daher noch etwas zappeln.
"Ich weiß leider überhaupt nicht, wovon Sie reden. Und ich heiße Marlon, wie Sie sicher bereits herausgefunden haben."
"Es geht um die Perlen", brachte er schließlich hervor.
Nun wurde Marlon aufmerksam.
"Die was?"
"Zur Zeit der Konjunktion - ", begann der Mann zu zitieren, doch Marlon hatte keinen Nerv dafür.
"Geht es wieder um diesen Kinderreim?", fragte er gelangweilt.
"Es ist kein Kinderreim, Jungchen, es ist eine alte Überlieferung der Prophezeiung."
"Ja, das habe ich gehört... und ich heiße Marlon. Was können Sie mir über diese Perlen erzählen?"
"Erst will ich mit deiner Tante reden."
Langsam wurde es Marlon doch zu viel.
"Hören Sie, ich weiß nicht, warum Sie überhaupt erst zu mir gekommen sind, wenn Sie mir dann doch nichts erzählen. Warum haben Sie sich nicht gleich bei Astra gemeldet?"
"Weil sie mir nicht zuhören wollte. Aber wenn du mit ihr redest - "
"Dann brauche ich etwas, das ich ihr sagen kann."
Das sah der Herr dann auch ein und beugte sich zu Marlon hinüber.
"Die 'Blauen' aus der Prophezeiung - Das sind Perlen. Und ich weiß, wer weiß, wo sie sind."
Triumphierend lehnte er sich zurück und genoss die Reaktion auf seine Worte.
Hätte es noch Grillen gegeben, Marlon war sicher, er hätte sie in diesem Moment zirpen gehört.
"Die Frau in der anderen Kabine kennt die wirkliche Prophezeiung. Sie weiß, wo wir hinmüssen", schloss der Mann und blickte sich ängstlich um. Marlon schwieg zunächst und ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Er wusste eigentlich nicht wirklich, ob seine Tante sich an der allgemeinen Jagd nach den Blauen beteiligte, die, seit die Konjunktion näher rückte, im Gange war. Aber auch wenn er die ganze Angelegenheit für völlig absurd hielt, so eröffnete sich ihm hier jedoch eine einmalige Chance: Er hatte etwas, das seine Tante brauchte, nämlich Informationen. Und wenn sie wirklich nach den Blauen suchte, seien es nun Perlen oder was auch immer, dann würde er sie zwingen, ihn mitzunehmen, dann konnte er endlich weg von diesem Raumkomplex, der ihn zu ersticken drohte, dann konnte er vielleicht endlich den Fuß auf einen Boden setzen, der nicht von Menschen gemacht war, eine fremde Sonne aufgehen sehen über einer fremden Erde... Ganz gleich wo.
"Was wollen Sie für diese Informationen?", fragte Marlon schließlich.
Die Antwort hatte er bereits erwartet: "Einen Platz auf der N.I.G.H.T. Empress natürlich, für mich und das Medium."
Marlon zog die Augenbrauen hoch.
"Die Frau in der nächsten Kabine. Sie empfängt die Schwingungen des Univer - ", wollte der gut gekleidete Herr erklären, doch Marlons vernichtender Blick brachte ihn zum schweigen.
"Soweit ich weiß, kommt meine Tante uns morgen besuchen. Ich werde versuchen sie zu überreden", versprach Marlon und ließ den Mann sitzen.

Nach zwei Kontrollen an Sektionsübergängen kam Marlon endlich zu Hause an. Sein Vater beschwerte sich schon gar nicht mehr darüber, dass es schon weit nach Beginn der Nachtruhe war. Die Kontrolle war mittlerweile so weit vernetzt, dass sie einen auch auf kurzer Strecke minutenlang aufhalten konnte. Als könnte man in einem Raumkomplex irgendwohin fliehen...
"Man hat mich wieder nach Tante Astra gefragt", begrüßte Marlon seinen Vater.
Der grinste und antwortete: "Das war wohl zu spät: Astra ist bereits gestern in die Medizinische gegangen und reist morgen ab. Schau mal, da ist noch etwas Abendessen im Konserva. Aenni ist schon im Bett."
"Wollte sie mich nicht mitnehmen?", fragte Marlon.
"Aenni?", fragte der Vater erstaunt zurück, doch Marlon war nicht nach Scherzen zumute. Wie oft hatte sie ihm schon versprochen, ihn mitzunehmen, aber es dann doch nie getan. Ob sie wohl wirklich auf der Suche nach den Blauen war?
"Hey, sei nicht traurig. Du bist halt noch zu jung und außerdem brauche ich dich hier. Aber sie hat dir ihr Kätzchen dagelassen", versuchte Marlons Vater, ihn aufzumuntern, doch der schnaubte nur. Tante Astra war der ganze Stolz und die Hoffnung der Familie. Was immer sie sich gewünscht hatte, hatte sie bekommen, denn ihre Eltern wollten unbedingt einen Raumschiff-Captain in der Familie haben, wohl in der Hoffnung, selbst die "New Earth VI" verlassen zu können. Ersteres hatte durchaus funktioniert, Astra hatte bereits mit 18 ihr erstes Raumschiff kommandiert, aber gar nicht daran gedacht, irgendwen mitzunehmen. Damals hatte sie ein Haustier zum Geburtstag bekommen, und natürlich nicht irgendeines.
"Hallo Captain Kitty", grummelte Marlon auf dem Weg in seinen Raum. Er wusste genau, dass Astras schwarzer Panther es gar nicht lustig fand, wenn man ihn Kitty nannte, aber er sah nicht ein, was an seinem richtigen Namen, "Captain Black Pants", besser sein sollte. Der Panther hatte allerdings andere Sorgen und schlich sich hastig an Marlon vorbei in seine Kammer, sprang auf das Bett und starrte Marlon aus großen, grünen Augen an.
"Da war heute ein Mann, der Informationen für Tante Astra hatte. Meinst du, wir sollten versuchen, sie noch zu erwischen, bevor sie ablegt?", fragte Marlon den Panther. Manchmal hatte er das Gefühl, als würde die große Katze ihn besser verstehen als die meisten Menschen. Er war oft zu Besuch, wenn Astra wieder einmal auf ihren Reisen war. Obwohl sie ihn "Captain" genannt hatte, nahm sie ihn nie mit.
"Du wärst auch gern mal dabei, nicht wahr? Wenigstens auf einen Kontrollflug hätte sie uns mitnehmen können. Aber nein, die Sicherheitsvorkehrungen sind zu hoch..."
Der Panther stupste ihn sanft an.
"Also meinst du auch, wir sollten sie suchen? Weißt du was, Pants, das machen wir auch."



Als Neffe von Astrandrina war es nicht sonderlich schwer, die Andocksektion zu erreichen, besonders wenn man einen schwarzen Panther zur Unterstützung dabeihatte. Das verschaffte einen gewissen Respekt, immerhin war er der Letzte seiner Art. Als Marlon und Captain Kitty endlich am Hangar der Empress angekommen waren, ließ man sie nicht weiter; das Schiff war bereits startklar. Das war's, dachte Marlon und schlurfte die langen, dunklen Gänge zurück, doch der Panther verstellte ihm den Weg.
"Lass gut sein, sie ist weg", sagte Marlon, doch Pants fletschte die Zähne. Diesem Argument hatte Marlon nichts entgegenzusetzen und wich vorsichtig zurück. Im Prinzip war der Panther zahm, aber lange Zähne hatte er trotzdem. Beängstigend knurrend, scheuchte Captain Kitty Marlon den Flur wieder hinunter, bis zu einer Doppeltür, vor der einige Duzend Leute herumwuselten.
Es bedurfte einiger weiterer Ermunterungen seitens der schwarzen Raubkatze, doch schließlich trat Marlon an einen wichtig aussehenden Offizier heran und verlangte, eingelassen zu werden.
"Ich bin, ähm, der Neffe des Captains und Steuermann - ", doch weiter kam er nicht.
"Na endlich!", sagte der Offizier, fuhr lustlos einen Scanner über Marlons Arm, winkte ihn, samt Katze, hindurch und bat ihn, er möge sich doch bitte beeilen.
So recht konnte Marlon sein Glück nicht fassen, als er durch die vielen Luftschleusen, Desinfizierungsräume und Anti-Bak-Kammern gedrängelt wurde. Dem Panther wurde nicht weiter Beachtung geschenkt, wahrscheinlich glaubte man, er wäre wie die meisten Tiere künstlich.
"Wow, Kitty, das war genial", flüsterte Marlon, als sich die letzte Luftschleuse hinter ihnen schloss. Ein Zittern lief durch den Boden und auch durch den Jungen. Es war das erste Mal, dass er in einem Raumschiff war, also jedenfalls das erste Mal außerhalb der "New Earth VI". Er konnte die Maschinen spüren, die langsam hochgefahren wurden, und die Lüftung des Schiffes, die klang wie ein leises Atmen. Vorsichtig strich er über die aufgestellten Nackenhaare des Panthers.
Vor Aufregung vergaß Marlon fast, sich zu wundern, dass man ihn überhaupt hereingelassen hatte. Wahrscheinlich war der Aufbruch überraschend genehmigt worden und das Zeitfester nur sehr klein gewesen. Aber ach was, er sollte sich lieber über sein unglaubliches Glück freuen. Er würde ins Weltall hinausfliegen, vielleicht sogar nach den blauen Perlen suchen, würde Sterne und Nebel endlich von Nahem sehen, vielleicht sogar einen Planeten betreten.
"Start ist initialisiert, bitte auf Starpositionen. Start ist initialisiert...", tönte es durch das Schiff.
Ein Schnurren ging durch das Schiff, dann gab es ein Zischen, als sich der Andockkanal löste und sich das Schiff von seinen Fesseln befreite. Sie flogen!
Ein paar Gänge weiter fand Marlon ein Fester, durch das er gerade noch den Raumkomplex verschwinden sah. Sie mussten sich mit einer ziemlichen Geschwindigkeit bewegen, denn das mehrere hunderttausend Menschen beherbergende Schiff war bereits nur noch so groß wie ein Pappkarton. Darum herum reihten sich unendlich viele Sterne und über ihnen, gerade noch sichtbar, war das Band der Milchstraße.
"Es ist wunderschön, Pants. Ich meine, klar sieht man es auch von dort, aber... Meinst du vielleicht, wir werden Nebelspinnen sehen, Kitty? Oder sogar Regenvögel?"
So ganz konnte Marlon sich nicht erklären, warum er nicht an die Prophezeiung glaubte, dafür aber an gigantische, gefiederte Wesen, die durch das All flogen und es auf den Planeten, die sie besuchten, regnen ließen. Aber mit den Gerüchten über die Prophezeiung hatten auch die Berichte über die Regenvögel zugenommen und man konnte ja nicht an alles glauben.
Mit einem winzigen Blinken verschwand seine alte Heimat in der Unendlichkeit der Sterne.
Jetzt musste er nur noch seine Tante finden. Das sollte sich als erschreckend einfach herausstellen. Kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, als ihn der Panther auch schon in den nächsten Gang schob und gegen die Wand presste.
Eine bekannte Stimme klang den Gang hinunter, in dem Marlon eben noch gestanden hatte.
"Sie haben keine Befugnis dazu, das ist mein Schiff, es gehört der Kontrolle nicht! Lassen Sie mich sofort los!", schrie Astra, wurde jedoch von jemandem, den Marlon nicht sehen konnte, ruhig gestellt. Im nächsten Moment marschierten drei uniformierte Männer an seinem Versteck vorbei, zwischen ihnen eine halb bewusstlose Tante Astra.
Ein kalter Schauer lief Marlon über den Rücken und er presste sich, so gut er konnte, an die Wand. Zum Glück schien ihn niemand bemerkt zu haben, aber das war nicht seine einzige Sorge. Offenbar war das Schiff beschlagnahmt worden. Wenn er sich zuvor Sorgen gemacht hatte, wie wohl seine Tante reagieren würde, so war nun klar, dass er in noch viel größeren Schwierigkeiten steckte. Er war schließlich nicht eingeplant gewesen und wahrscheinlich war die eigentlich Besatzung gar nicht an Bord gelassen worden. Das würde jedenfalls das Durcheinander beim Abflug erklären.
"Was machen wir denn jetzt, Pants?"
Sicher musste es für etwas gut sein, einen echten schwarzen Panther dabeizuhaben, vielleicht konnte er ja sogar seine Tante befreien. Und dann? Sie waren nicht gerade in der Überzahl. Zwar war die Empress für eine kleine Besatzung von höchstens zehn Mann gedacht, aber ein Junge, ein Kätzchen und eine bewusstlose Tante Astra konnten zehn wahrscheinlich bewaffneten Kontrolleuren nicht viel entgegensetzen. Ausgelegt war das Schiff eigentlich als Kommunikator, konnte über weite Strecken Nachrichten an alle wichtigen Raumkomplexe senden, aber das war wohl kaum der Grund, weshalb die Kontrolle es beschlagnahmt hatte: Es war schnell. Das Schnellste. Marlon kannte den Bauplan der Empress auswendig, hatte er doch viel Zeit damit verbracht, davon zu träumen, einmal mit diesem Schiff zu fliegen. Natürlich hatte er sich schönere Umstände gewünscht, aber man musste schließlich nehmen, was man kriegen konnte.
Es gab auf der Empress, wie in jedem guten Schiff, eine Reihe von Lüftungsschächten und Wartungsröhren, die zu jedem beliebigen Raum führten, auch zu der kleinen Inhaftierungszelle, die nun als ihren ersten Gefangenen ihren eigenen Captain beherbergen musste. Pants hatte es deutlich leichter als Marlon, durch die engen Tunnel zu kriechen, doch nach gefühlten Stunden, die Marlon lieber vor einem Fenster verbracht hätte, gelangten sie zum Kabinentrakt, der auch die Inhaftierungszelle enthielt. Mühsam kroch Marlon aus der runden Öffnung, schloss die Luke hinter sich und rannte in einen der Uniformierten.
"Noch so einer?", sagte der und hinderte Marlon erfolgreich an einem halbherzigen Fluchtversuch. Auch das Fauchen des Panthers konnte da nicht mehr helfen und ein paar Minuten später war es ziemlich eng in der Inhaftierungszelle.
Tante Astra, die wieder zu sich gekommen war, und eine ältere, übertrieben geschminkte Dame seufzten im Chor.
"Sind Sie nicht das Medium?", verwunderte sich Marlon, bevor seine Tante mit der Schimpftirade loslegen konnte. Die alte Dame antwortete zwar, jedoch nicht in einer Marlon bekannten Sprache.
Tante Astra hingegen machte recht ausdrücklich deutlich, wie wenig sie von ihrem Neffen hielt und was sie alles mit ihm zu tun vor hatte, sollten sie hier je wieder herauskommen.
Nachdem ihre Wut ein wenig abgeklungen war, kriegte Marlon aus ihr heraus, dass sie sich ebenfalls an Bord geschlichen hatte, nachdem ihr das Kommando über ihr eigenes Schiff entzogen worden war. Ursprünglich hatte sie gehofft, durch die überstürzte Abreise noch zu entkommen, denn sie hatte sich schon gedacht, dass man sie nicht mit dem besten Schiff der "New Earth VI" auf die Suche nach den Blauen fliegen lassen würde.
"Also suchst du wirklich nach den Perlen?", unterbrach Marlon aufgeregt.
"Den was?", fragte seine Tante genervt.
"Den - ", doch das Medium unterbrach Marlon wirr gestikulierend.
"Ist die verrückt oder so?", fragte Marlon Tante Astra.
"Ich kenne sie gar nicht, sie war hier, als sie mich geschnappt haben."
Marlon überlegte einen Moment, ob es ratsam wäre, Tante Astra von dem gut gekleideten Herrn zu erzählen, entschloss sich jedoch dann dagegen, da sie sicher abgehört wurden.
Wenig später erübrigte sich diese Überlegung jedoch, da sich die Zellentür öffnete und ein hochdekorierter Offizier mit sechs kleinen Monden am Revers eintrat.
"Sir, meine Festnahme steht -"
"Ruhe! Ich will mit dem Jungen reden", brachte der Offizier eine verdutzte Tante Astra zum Schweigen. Was sagt man dazu, dachte Marlon, ausnahmsweise fragt wirklich mal jemand nach mir.
Stolz trat er dem Offizier gegenüber.
"Wer bist du überhaupt?", fragte dieser und Marlons Schultern sanken ein paar Millimeter.
"Marlon Brendan Sequin, Sohn von -"
"Also der Neffe von der da?", ergänzte der Offizier.
Marlon seufzte. "Und Sie sind?"
"Das tut nichts zur Sache. Momentan bin ich erster Offizier der Empress. Was weißt du über dieses Medium? Und keine Spielchen, wir wissen, dass du vor einigen Tagen mit ihrem Beschützer in Kontakt warst."
"Ehrlich gesagt", begann Marlon, doch der Panther neben ihm zischte fast unhörbar.
"Nun", fuhr Marlon fort, "sie kennt das Geheimnis der blauen Perlen. Sie weiß, wo sie zu finden sind." Das war immerhin bisher die Wahrheit. Blöd war nur, dass er mehr auch gar nicht wusste, was möglicherweise ein Problem werden konnte.
"Sie spricht keine uns bekannte Sprache. Hat ihr Beschützer dir Hinweise gegeben, wie man mit ihr kommunizieren kann?", fragte der Offizier.
Marlon wollte schon wieder verneinen, fing jedoch den Blick des Panthers und dachte sich schnell eine alternative Version der Wahrheit aus.
"Klar."
"Dann wirst du uns helfen. Tante und Katze werden uns beim nächsten Halt leider verlassen."
"Oh, Sie haben mich nicht ganz richtig verstanden", sagte Marlon, der plötzlich mutiger wurde.
"Ich werde Ihnen natürlich nur helfen, wenn meine Tante und der Panther an Bord bleiben und wir alle drei eine anständige Kabine zugewiesen bekommen. Und das Medium auch."
"Hör mir mal zu, Freundchen, du kannst froh sein, dass du noch am Leben bist", zischte der Sechsfachmond und beugte sich bedrohlich zu Marlon hinunter.
"Ich denke nicht, dass Sie ohne Genehmigung des Captains einfach Geiseln erschießen dürfen. Mit dem würde ich übrigens auch ein Wörtchen reden wollen."
Hätte es auf dem Schiff Türen gegeben, der Offizier hätte sicher eine zugeknallt.
"Ziemlich unhöflich", flüsterte Marlon und kraulte den knurrenden Panther.
"Das haben wir gut gemacht, was Captain Kitty?"
"So heißt er nicht", fauchte seine Tante. "Und was in allen Welten hast du dir dabei gedacht? Verstehst du die Irre da etwa?"
"Sicher, Tantchen", log Marlon, der nun sicher war, dass sie abgehört wurden. "Das wollte ich dir eigentlich mitteilen, aber du musstest ja mal wieder ohne mich losfliegen."
"Du bist zu jung!"
"Du warst auch nicht älter, als du das erste Mal geflogen bist!"
"Du hast keine Ausbildung, ich hingegen - "
"Ich hatte Flugstunden, seit ich laufen konnte!"
"Dein Vater braucht deine Hilfe - "
"Mein Vater sperrt mich auf diesem versifften Raumkomplex ein!"
Jemand hüstelte.
Als Marlon und Tante Astra sich umsahen, stellten sie verdutzt fest, dass ein älterer Herr mit Halbglatze lautlos in die Zelle getreten war. Er trug eine seltsame Mischung aus Cowboy-Klamotten und silbern glitzernden Pailletten. Auf dem Kopf hatte er einen Dreispitz samt ausgestopftem Papagei.
"Die Verwandtschaft ist nicht zu überhören", war sein Kommentar.
"Sie wollten mich sprechen, Mister Sequin?"
Marlon starrte noch immer auf das Federbündel auf dem Kopf seines Gegenübers.
"Wie unhöflich von mir. Ich bin Captain Schmidt", stellte sich der ältere Herr vor.
"Mister Sequin, wenn sie jetzt so freundlich wären, das Medium nach seinen Informationen zu fragen. Sofern es etwas Brauchbares zu sagen hat."
"Das kommt drauf an. Was wissen Sie denn schon?", versuchte Marlon sein Glück, jedoch erfolglos. Er traf auf einen wütenden Blick vom ersten Offizier und eine hochgezogene Augenbraue des Captains.
"Ich denke...", begann Marlon, wild spekulierend, "dass es etwas mit den Regenvögeln zu tun hat. Also, das hat das Medium gesagt. Vorhin."
"Unsinn", sagte der Captain. "Die gibt es nicht."
Marlon schnaubte. "Aber an die blauen Perlen glauben Sie? Was, wenn sie Regen sind? Es heißt doch "die Blauen fallen, fallen..."."
"Kurs auf den nächsten Schwarm Regenvögel", befahl der Captain.
"Sir?", fragte der verdutzte erste Offizier.
"Nur ein Scherz, Nick. Kurs auf das Sirius System."
"Aber Sir", versuchte es der Offizier noch einmal. "Wir haben keinen Steuermann."
"Was soll das heißen? Haben wir keinen zugeteilt bekommen?"
"Nein, Sir. Wie es aussieht, haben wir lediglich drei Offiziere, einen Maschineningenieur und zwei Köche."
"Einer von denen wird wohl fliegen können", meinte der Captain und fügte im Gehen hinzu:
"Die dort brauchen wir nicht mehr. Schmeißt sie beim nächsten Planeten raus." Mit wippendem Papageien verließ er die Zelle.
Gar nicht schlecht, dachte Marlon, dann sehe ich wenigstens meinen ersten Planeten. Das leise Wimmern des Panthers machte ihn allerdings darauf aufmerksam, dass es möglicherweise das letzte sein würde, was er je zu sehen bekam, denn es gab nur einen bewohnten Planeten und der lag nicht auf ihrem Weg und war ohnehin nur ein Ort für Rohstoffabbau.
Mit einem Mal stürzte alles auf ihn ein, was er in den letzten Stunden erlebt hatte. Er war in ein Raumschiff eingebrochen, hatte endlich seinen Heimatkomplex verlassen, war von den obersten Kontrolleuren gefangen genommen worden und wahrscheinlich würde bald sein größter Traum Wahrheit werden. Nur, dass ihn das umbringen würde. Aber wenn die Kontrolle so, ohne mit der Wimper zu zucken, über Leichen ging, dachte Marlon und fühlte eine Gänsehaut über seinen Rücken kriechen, dann mussten die blauen Perlen, was immer sie waren, sehr wertvoll sein.
Plötzlich riss ihn eine krächzende Stimme aus dem Schlaf.
"Sie werden uns nicht umbringen, Marlon."
Verwundert über Tante Astras plötzlichen Stimmbruch bemerkte Marlon erst nicht, dass es die alte Frau gewesen war, die gesprochen hatte.
"Natürlich spreche ich Deutsch. Aber nicht mit jedem. Ich konnte ihnen ja schlecht von der Prophezeiung erzählen", krächzte die Alte weiter.
"Und das sollten Sie auch jetzt nicht. Wenn die Kontrolle die Blauen in die Finger kriegt... ", unterbrach Tante Astra.
"Was sind die Blauen? Warum ist die Kontrolle hinter ihnen her?", fragte Marlon.
Tante und Medium warfen sich einen Blick zu.
Schließlich fuhr die alte Dame fort: "Sie sind sehr wertvoll. Sie verleihen Macht, Marlon, mehr als du dir vorstellen kannst. Wer sie besitzt, beherrscht die Menschheit."
"Das tut die Kontrolle doch ohnehin schon."
"Aber nur, weil noch niemand die Perlen gefunden hat", flüsterte Tante Astra, doch Marlon war sich sicher, dass die Mikros in der Zelle jeden noch so leisen Ton wahrnahmen.
"Warum gerade jetzt? Warum hat man nicht schon vor Jahren nach ihnen gesucht?", fragte Marlon weiter.
Tante Astra seufzte, wie sie es immer tat, wenn sie ihm etwas Offensichtliches erklären musste.
"Wegen der Konjunktion."
"Was hat die damit zu tun?"
Nun meldete sich das Medium wieder zu Wort: "Durch die Konjunktion ist es erst möglich geworden, sie zu finden. Die Kraft der in Reihe gestellten Planeten hat das Universum in Schwingungen versetzt und jeder, der weiß, was er sucht, kann es nun finden."
Großer Unsinn, dachte Marlon und bemerkte, dass auch der Panther skeptisch aussah, falls das denn überhaupt möglich war für eine Katze.
Doch die alte Dame war offenbar von einem Schwung kosmischer Energie erfasst, denn sie humpelte ein paar Schritte auf Marlon zu und flüsterte ihm ins Ohr: "Du bist es, Marlon. Du weißt, wonach du suchst, du kannst es finden!"
"Gar nichts kann er finden, außer Unheil! Er hätte lieber zu Hause in Sicherheit bleiben sollen", schimpfte die Tante, als hätte sie nicht andere Sorgen. Aber wenn sie unter Stress stand, dann musste sie ihre Wut halt an ihrem Neffen ablassen.
"Seid mal still, ihr drei. Hört ihr das?", fragte Marlon und Tante, Medium und Panther spitzten die Ohren. Alle drei schüttelten den Kopf.
"Eben. Die Maschinen sind aus. Sie können das verdammte Schiff nicht fliegen."
Plötzlich kam Marlon ein Gedanke.
"Was ist wohl besser", rief er gegen die Decke, "ein Junge am Steuer, der eh nicht mehr lange leben soll, oder gar nicht fliegen?"
"Bist du verrückt?", sagt die Tante, doch seine Worte zeigten bereits Wirkung, denn einige Sekunden später erklang eine genervte Stimme durch die Schiffskommunikation.
"Mister Sequin, soso. Na dann bitte ich Sie, auf der Brücke zu erscheinen."
"Komm, Captain Kitty. Ich denke, wir sollten dich endlich auf deinen rechtmäßigen Platz bringen."



Vom Gefangenen zum Steuermann aufgestiegen, waren die nächsten Tage für Marlon wesentlich angenehmer. Zwar stellte sich das Fliegen der Empress als durchaus schwierig heraus, doch mit einer Waffe im Rücken und einem Panther an der Seite lernte es sich gleich doppelt so gut. Trotzdem genoss er seinen neuen Posten, denn die Brücke enthielt neben dem etwas nostalgischen Steuerrad auch das größte Panoramafenster des Schiffes. Sterne rasten vorbei wie flackernde Notsignale, die Empress passierte sogar einige Nebel, die ihre spinnenartigen Arme nach ihnen ausstreckten. Zu gerne wäre Marlon ihrem Ruf gefolgt, doch der wippende Papagei hatte immer ein Auge auf ihn. Überhaupt wurde Captain Schmidt mit der Zeit immer redseliger und klopfte Marlon sogar hin und wieder auf die Schulter. Auch wenn dieser immer noch gewisse Abneigungen gegen seinen Kerkermeister verspürte, konnte er nicht leugnen, dass er sich zum ersten Mal wirklich geschätzt fühlte. Sie brauchten ihn.
Es gab noch einen weiteren Vorteil, auf der Brücke stationiert zu sein, denn dort war die Schiffskommunikation permanent eingeschaltet, so hörte Marlon alles, was an Bord so vor sich ging. Besonders nervig waren dabei die zwei Köche, die sich alle halbe Stunde darum stritten, wer das beste Rezept für Hühnerfrikassee kannte. Natürlich waren ohnehin keine passenden Zutaten an Bord, aber das störte die beiden wohl nicht. Interessant waren hingegen die Besprechungen des Captains. Natürlich achtete er darauf, die Blauen oder ihre Bedeutung nicht zu erwähnen, doch es war klar, dass er eigentlich keine Informationen benötigte. Das einzige, was er nicht zu wissen schien, war der genaue Ort der Perlen. Er nahm wohl an, dass sie auf einem der Sirius-Planeten zu finden wären. Je näher sie dem Stern jedoch kamen, desto aufgeregter wurde man auf der Empress.
Tante und Medium weigerten sich, mit Marlon zu sprechen, da sie sein Verhalten als eine Art persönlichen Verrat anzusehen schienen. Für sich und den Panther hatte Marlon mittlerweile tatsächlich ein eigenes Zimmer herausgehandelt, doch die anderen beiden Gefangenen waren zu wenig kooperativ oder nützlich. Andererseits, überlegte Marlon, nahm man ihn selbst vielleicht auch einfach nicht als Bedrohung wahr. Er war schließlich nur ein Kind, das zufällig das schnellste Schiff der Menschheit fliegen konnte.
Zugegeben, es war auch nicht sonderlich schwierig, den ohnehin nur symbolischen Steuerknüppel gerade zu halten und hin und wieder die richtigen Koordinaten einzutippen, wenn man den Dreh erst mal heraus hatte. Erst nach fast einer Woche Flugzeit, als sie Sirius beinahe erreicht hatten, wurde Marlon zum ersten Mal wirklich gefordert. Ohne ersichtlichen Grund schlug die Empress zur Seite aus und ließ sich auch durch gutes Zureden nicht mehr auf Kurs halten. Nachdem noch einige Explosionen aus der Nähe der Maschinen gekommen waren, stürmte nicht nur der Captain auf die Brücke, sondern auch alle drei Offiziere und beide Köche. Nur der Maschineningenieur nicht, der war sinnvollerweise zum Ursprung der Geräusche gerannt.
"Was war das, Junge?", schrie einer der Offiziere und hielt Marlon die ihm bereits bekannte Druckluftknarre an die Schläfe.
"Woher soll ich das wissen? Ich fliege hier nur."
"Woher soll er das wissen?", bestätigte der Captain und lächelte. Etwas an diesem völlig unpassenden Lächeln ließ Marlon nun doch Angst bekommen.
"Er war es nicht. Schaut mal nach draußen."
Und Marlon schaute. Das Schiff war eingehüllt in eine Blase aus Nebel, der sich in dicken Tropfen auf dem Panoramafenster absetzte. Zuerst war der Blick verschleiert, doch als das Wasser nach und nach kondensierte und schließlich zu einem einheitlichen Film wurde, wurde die Sicht wieder klar und gab den Blick frei auf blaue, gigantische Federn, die zu noch größeren Schwingen gehörten. Der Nebel wurde schließlich zu einem Meer als Wasser, durch das man vage die einzigen Wesen sehen konnte, die fähig waren, im Weltall zu überleben.
"Regenvögel...", flüsterte Marlon. "Pants, schau mal, das sind echte, lebende Regenvögel!"
"Steuermann, sofort weg hier!", rief der Captain über den Nachhall einer weiteren Explosion hinweg.
Marlon gab sein bestes, die Empress aus dem Sog der Regenvögel zu befreien, obwohl er viel lieber mit ihnen geflogen wäre. Allerdings schienen die Maschinen die Feuchtigkeit nicht zu mögen und verabschiedeten sich eine nach der anderen. Gerade als die vierte Explosion das Schiff erschütterte, machte die Empress einen Satz zur Seite und flog taumelnd aus dem Schwarm der Vögel heraus.
"Vielleicht sollten wir ihnen wirklich folgen", schlug Marlon vor, als er das Schiff wieder unter Kontrolle hatte. Die Empress war jetzt deutlich langsamer und schlug immer wieder zur Seite aus, aber sie flog noch.
Humpelnd trat der Captain an Marlon heran.
"Hör mal, Junge. Du machst dich ganz gut, weißt du das? Wenn das hier erledigt ist, sorge ich dafür, dass du eine ordentliche Ausbildung bekommst und, wer weiß, vielleicht eines Tages ein Kontroll-Schiff fliegen kannst."
"Danke, Sir."
Captain Kitty war weniger begeistert von Captain Schmidts Annäherungsversuchen und knurrte leise vor sich hin. Marlon hatte jedoch genug von der ständigen schlechten Laune des Tiers.
"Was denkst du, das wir suchen, Junge?", fragte der Captain unverwandt.
"Die Perlen...", begann Marlon, doch der Captain beugte sich verschwörerisch zu ihm herunter und flüsterte: "Weißt du, es gibt keine Prophezeiung. Es gibt nur einen uralten Traum, der irgendwann zu einem Kinderlied geworden ist. Aber ich denke, wir sind endlich soweit, nach den Sternen zu greifen."
"Was suchen wir dann?", fragte Marlon verwundert.
"Wir suchen Macht, Junge. Vor langer Zeit hatten die Menschen viele Träume, aber aus den meisten sind wir erwacht. Wir wollten fliegen und wir haben Flugzeuge gebaut, wir wollten den Weltraum beherrschen und auch das haben wir getan. Wir haben alle Krankheiten ausgerottet und jedes Geheimnis bezwungen, bis auf eins. Und fehlt nur noch die Macht über das Leben selbst."
"Was wollen Sie denn machen, wenn Sie ein Mittel gefunden haben, das Leben zu beherrschen?"
"Möglichst viel Geld herausschlagen, natürlich. Das einzige, was noch mächtiger ist als das Leben, ist Geld, Junge."
"Sie meinen, wir werden so was in irgendwelchen blauen Perlen finden?"
"Nimm es nicht zu wörtlich. Ich denke, es wird eine Art Wurmloch geben, oder einen Bosonen-Stern. Irgendein Phänomen, von dem aus Gott die Seelen erschaffen hat."
Mit diesen seltsamen Worten ließ er Marlon allein auf der Brücke zurück. Der Panther knurrte nicht mehr, sondern hatte den Kopf zwischen die Pfoten gelegt und hielt sich wohl die Ohren zu.
"Was meinst du, Pants? Macht über das Leben selbst... Was will man damit?"



Sie erreichten Sirius am dreizehnten Tag ihrer Reise, deren Rest sie damit verbracht hatten, im Flugwind der Regenvögel zu fliegen. Sirius stellte sich als Doppelsternsystem mit drei Planeten heraus, die auf Captain Schmidts Karte mit "Nebel", "Drei" und "Vier" bezeichnet waren. Offenbar hatte man früher noch mehr Planeten vermutet, überlegte Marlon. Sie waren zwar bisher nur als winzige schwarze Punkte zu sehen, aber sie waren das Schönste, was er je gesehen hatte.
"Was ist los, Steuermann? Irgendwelche Anzeichen auf ungewöhnliche Phänomene?", schallte es über die Schiffskommunikation.
Marlon konnte nichts weiter erkennen, als plötzlich...
"Capatin!", rief er, doch ein anderer Captain reagierte schneller und stieß ihn um. Die Tatzen auf Marlons Arme gestützt, fauchte der Panther ihn an.
"Was soll das, Pants? Lass mich in Ruhe!"
Doch die schwarze Raubkatze ließ ihn nicht los, bis er versprach, dem Captain nichts zu sagen.
Etwas wackelig rappelte sich Marlon wieder auf und starrte auf das atemberaubende Schauspiel, das sich ihm hier bot. Sirius, der Hundsstern, wurde umkreist von mehreren Tausend Regenvögeln. Das Licht brach sich in der Nebelwolke, die die Tiere umgab, und schickte Regenbögen durch den ganzen Raum, flackerte auf Marlons Gesicht und tauchte die drei Planeten in ein Feuerwerk aus Farben.
"Was machen die da, Pants?", flüsterte Marlon.
Die Katze sprang auf das Steuerpult, wohl um besser sehen zu können, und schwieg.
Das Schauspiel dauerte nur wenige Minuten, dann waren die Vögel verschwunden. Wenig später erschien Captain Schmidt auf der Brücke und fand seinen Steuermann und dessen Haustier mit großen Augen auf den Stern starren.
"Junge, hast du noch nie einen Stern gesehen? Was mich mehr interessiert; gibt es hier irgendetwas Blaues, das nach Perle aussieht?"
Marlon verneinte. Das ganze System enthielt nur genau fünf Objekte, keines davon besonders außergewöhnlich.
"Sir, vielleicht ist es auf einem der Planeten? Vielleicht gibt es dort irgendetwas, ein altes Relikt oder so", schlug Marlon vor.
"Schauen wir doch nach. Mach dich fertig, Junge, wir gehen runter."
Marlon konnte sein Glück nicht fassen. Dass auch Tante und Medium in Raumanzüge gesteckt und zusammen mit Marlon und Panther in eine der kleinen Kapseln der Empress gequetscht wurden, vergaß er seltsam zu finden. Captain Schmidt wollte erst mal nicht mitkommen, er sei überzeugt, sein neuer Steuermann werde seine Sache schon gut machen.
Der erste Planet, den sie untersuchen sollten, war von einem dicken Nebel umgeben. Man nannte das Atmosphäre, wie Marlon aus seinen Büchern wusste. So etwas hatte es früher auch auf der alten Erde gegeben. Die Kapsel geriet ins Schleudern, als sie in die Atmosphäre eintraten, und schien in Flammen aufzugehen. Es wurde so heiß, dass Marlon schon fürchtete zu verbrennen. Seine Tante hatte offenbar schon mit dem Leben abgeschlossen und wollte nichts davon hören, dass Marlon für Captain Schmidt nach der Macht über das Leben suchen wollte.
Schließlich durchbrachen sie jedoch die Atmosphäre und durch das winzige Fenster der Kapsel konnte Marlon eine fremde Sonne aufgehen sehen, auf einem fremden Planeten. Sie war blau, ebenso wie die Welt unter ihnen, wie Marlon feststellte. Blaue Flächen, durchzogen von grünen Streifen und Flecken und gesprenkelt mit weißen Nebelklumpen.
"Meinst du, das sind Wolken, Pants?"
Sie sanken schnell, viel zu schnell.
"Raumkapsel, Landesequenz starten", befahl Marlon. Nichts geschah.
"Autorisationscode: Captain K.I.T.T.Y.", versuchte es Tante Astra und zog vorwurfsvolle Blicke auf sich, doch es geschah noch immer nichts. Der Boden raste mit unangenehmer Geschwindigkeit auf sie zu. Es krachte, knallte und Marlon fühlte, wie er durch die Luft geschleudert wurde. Sein Anzug riss an ihm, seine Arme schlugen unkontrollierbar umher, er sah abwechselnd weiße und braune Flecken vorbeirauschen, konnte nicht mehr atmen. Das war es also. Eine Fehlfunktion in der Landesequenz... Und dabei war er so kurz davor gewesen...
Der Aufprall ließ Marlon wieder zu sich kommen. Verwirrt darüber, nicht tot zu sein, blieb er noch eine Weile liegen, um sich davon zu überzeugen, dass der Schmerz in seinen Beinen wirklich echt war. Schließlich öffnete er vorsichtig die Augen. Er lag in einem Haufen weißen Stoffes, der wohl zu einem Fallschirm gehört hatte. Etwas weiter weg sah er ein paar weitere Stoffhaufen und half seinen Begleitern, so gut er konnte, sich von den Fallschirmen zu befreien.
"Tante, geht es dir gut?", fragte er die zerzauster Astra.
"Marlon, wo ist Captain Kitty?", rief sie entsetzt.
"Er muss den Notschalter betätigt haben."
"Kitty?", rief Marlon unsicher nach dem Panther, bis er sich daran erinnerte, dass er, im Gegensatz zu dem Tier, in einem Raumanzug steckte, der für Geräusche wohl nicht sehr durchlässig war (es sei denn, man war wie Tante Astra und das Medium ebenfalls an die interne Kommunikation angeschlossen).
"Suchen wir die Kapsel, vielleicht hat er sich irgendwie retten können", schlug Tante Astra vor und half dem etwas wackeligen Medium auf die Beine.
"Such, Marlon, du weißt, was du finden willst", murmelte die alte Dame, aber Marlon hörte nicht weiter darauf. Wie es aussah, hatte Captain Schmidt nicht beabsichtigt, sie am Leben zu lassen, und dank Marlons unbedachtem Vertrauen zu Menschen mit ausgestopften Papageien auf dem Hut hatte er womöglich Captain Kitty in Gefahr gebracht. Seit der Panther vor einer gefühlten halben Ewigkeit bei ihm aufgetaucht war, hatte er alles dafür getan, Marlon zu helfen... jetzt war es an ihm, den Panther zu retten.
Die Kapsel war ein Stück weiter in einem Haufen grünen Wirrwarrs abgestürzt und hatte sich in einer Art brauner Stangen verfangen. So gut es in dem unbequemen Anzug ging, kletterte Marlon mithilfe Tante Astras zu der Kapsel hoch, während das Medium am Boden eine Art Tanz aufführte.
Die Kapsel war schwer beschädigt, das Fenster war eingedrückt, die Decke fehlte und die Sitzpolster waren in Flammen aufgegangen, die sich nun fröhlich durch die Schaltkreise fraßen. Von einer schwarzen Katze fehlte jedoch jede Spur.
Marlon wurde es abwechselnd heiß und kalt, als er mühsam wieder herunterkletterte und nur den Kopf schüttelte, als Tante Astra ihn fragend ansah.
Plötzlich packte das Medium Marlon am Arm und zog ihn hinter sich her zu einer Art großer Wasserlache, die umgeben war von noch mehr grünem Zeug. Dort saß eine große, schwarze Katze und trank genüsslich.
"Oh Pants!", rief Marlon, natürlich unhörbar für das Tier, und Tante und Junge stürzten auf den Panther zu, die eine um ihn von dem möglicherweise giftigen Wasser wegzuziehen, der andere um ihn zu umarmen. Beides fand das Tier nicht so lustig, fauchte und sprang Marlon mit ausgefahrenen Krallen direkt ins Gesicht. Verdutzt wusste dieser erst nicht, was er tun sollte, denn der wütende Panther kratzte wild um sich, bis der Raumanzug in Fetzen an Marlon herunterhing und dieser panisch die Luft anhielt. Wie groß war schon die Wahrscheinlichkeit, auf einen Planeten mit atembarer Atmosphäre zu treffen?
Captain Kitty, offenbar durchgedreht, wollte schon Tante Astra angreifen, als diese freiwillig den Helm abnahm und nun versuchte, Marlon zu beruhigen. Sie deutete auf das Medium. Und wirklich, die alte Dame hatte schon vor einiger Zeit ihren Anzug ausgezogen und untersuchte nun das grüne Zeug, das um sie herum wucherte... oder wuchs... Marlon erinnerte sich plötzlich an eine Zeichnung aus dem Buch, das er zuletzt gelesen hatte, und nahm zögernd die Reste seines Helms ab. Es war ein altes Buch gewesen, die Geschichte stammte aus der Zeit der alten Erde. Dort hatte es Pflanzen gegeben und Bäume...
"Pants, du hast recht", flüsterte Marlon, "Ich denke, wir haben sie gefunden. Seht mal dort drüben!"
Alle schauten in die Richtung, die Marlon ihnen wies. Am Rande des Teichs war ein braunes Wesen aufgetaucht, das neugierig seine Ohren in ihre Richtung drehte. Bald tauchten mehr auf, die wohl von der Explosion der Kapsel verschreckt worden waren, sich jetzt aber langsam wieder herantrauten und das Wrack interessiert umkreisten. Zu ihnen gesellten sich winzige Vögel, kaum größer als Marlons Hand, und einige andere Flugtiere, die summend das Wasser umschwirrten.
Ganz weit oben, noch über den Wolken, sah Marlon nun auch die Silhouetten der Regenvögel, aus deren Schwingen unaufhörlich Wassertropfen fielen und Regenbögen an den Himmel malten.
"Siehst du, Kind, man muss wissen, was man sucht", sagte das Medium und Marlon verstand es endlich.
"Das sind die Perlen des Sirius, das ist, was Macht über das Leben verleiht. Hier könnten wir leben. Nicht mehr auf diesen Raumkomplexen ziellos durch das Weltall fliegen, hier könnten wir wieder Menschen sein."
Der Panther nickte zufrieden.
"Captain Schmidt darf es nicht erfahren", sagte Tante Astra.
"Nein, er meinte zu mir, er würde damit nur Geld machen wollen", stimmte Marlon ihr zu.
Plötzlich knackte etwas in Marlons Hand und er stellte fest, dass er noch immer den Helm festhielt. Eine verrauschte Stimme krächzte ihnen entgegen, die eindeutig Captain Schmidt gehörte.
"Gut gemacht, Junge, ich wusste, du würdest sie finden. Die blauen Perlen sind also Planeten, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin... Vielen Dank für deine Hilfe, jetzt müssen wir nur noch herausfinden, ob sich die Planeten zum Rohstoffabbau eigenen. Ehrlich gesagt, bin ich etwas enttäuscht. Ich hätte etwas Spektakuläreres erwartet."
Es knackte wieder und die Stille war fast greifbar.
"Was machen wir jetzt?", flüsterte Marlon, nachdem alle drei ihre Helme so weit wie möglich weggeworfen hatten.
"Wir sollten uns verstecken", meinte das Medium, aber Marlon schüttelte den Kopf.
"Nein, wir sind die Einzigen, die von diesem Ort wissen. Das dürfen wir nicht geheim halten", sagte Tante Astra.
"Wenn wir nur wieder auf der Empress wären...", meinte Marlon seufzend.
"Dann würde Captain Schmidt uns sicher sofort umbringen", sagte Tante Astra.
"Nein, das meine ich nicht. Die Empress ist doch ein Kommunikationsschiff, es hat Verbindung zu allen Raumkomplexen und Schiffen, die wir haben. Wir könnten eine Botschaft schicken."
"Wow, Neffe, du kennst mein Schiff besser als ich. Das ist sogar eine durchaus brauchbare Idee."
"Mit einer kleinen Schwierigkeit", warf das Medium ein.
Nun standen alle drei betroffen da und schwiegen. Wie immer, wenn keiner weiterwusste, sprang Captain Kitty herbei. Er knurrte kurz und stürzte sich dann zwischen die Bäume. Marlon und die Anderen folgten ihm, so gut es ging, durch das dichte Unterholz, wobei das größte Hindernis eigentlich ihre Neugier war. Es gab so vieles zu sehen, so vieles, für das Marlon keinen Namen hatte, das krabbelte und kletterte, das wuchs und blühte und sein Aufnahmevermögen völlig überforderte. Ob es auf der alten Erde auch einmal so ausgesehen hatte?
Nachdem sie einige Zeit hinter dem Panther hergehetzt waren, der sich bestens zurechtfand, erreichten sie endlich den Rand des Waldes, der zu einem mit weißem Staub bedeckten Boden führte. In der Ferne konnte man eine schier endlose Wassermasse sehen, auf deren glitzernder Oberfläche sich zwei Sonnen spiegelten.
Wenn man genau hinsah, erkannte man außerdem einen schwarzen Fleck am Himmel, von dem zwei kleinere Flecke wegflogen.
"Die Empress hat zwei Kapseln gestartet. Bestimmt suchen sie uns", sagte Tante Astra, doch Marlon hielt ein anderes Schauspiel im Bann.
Am Rand des Wassers saßen einige Hundert Regenvögel, die von nahem sogar noch beeindruckender waren. Ihr typischer Nebel fehlte allerdings, dafür rollten ihnen Rinnsale aus Wasser die Federn hinunter. Ehrfürchtig bestaunten die drei Gestrandeten diese Riesen, die schon lange vor ihnen gewusst hatten, was die blauen Perlen waren. Captain Kitty aber hatte es weiterhin eilig und lief geradewegs auf einen der Vögel zu.
Offenbar waren diese im Aufbruch begriffen, denn einige schlugen bereits mit ihren Schwingen und wirbelten meterhohe Staubsäulen auf.
"Kommt, schnell", rief Astra und rannte dem Panther nach.
"Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber man sagt, sie können im Weltall überleben, weil sie ihre eigene Atmosphäre erzeugen", erklärte die Tante im Laufen. Marlon war skeptisch, aber wenn sie recht hatte, dann konnten sie so zur Empress gelangen.
Der Vogel, auf den der Panther leichtfüßig gehüpft war, schien ihre Anwesenheit weniger spannend zu finden und scherte sich nicht weiter um seine Besucher.
Tante Astra und Marlon hatten etwas Mühe, die glitschigen Federn hinaufzuklettern, und als Marlon sich nach dem Medium umsah, stellte er fest, dass die alte Dame es gar nicht erst versuchte. Er reichte ihr seine Hand, um ihr zu helfen, doch sie schüttelte bedächtig den Kopf und sagte: "Lass gut sein, Marlon. Ich habe meinen Teil erfüllt. Ich werde hier warten, bis die ersten Menschen herkommen und "Fort Sequin" errichten."
Es war zu spät, sie umzustimmen, denn der Vogel fing bereits an zu schwanken und erhob sich so leicht in die Luft, als wäre er nur ein Blatt im Wind. Tante, Neffe und Captain Kitty winkten der alten Dame, während sie immer höher kreisten, bis sie die Wolken durchbrachen und in den pechschwarzen Himmel schwebten.


Mit einem hatte das Medium jedoch unrecht gehabt: Als einige Monate später wirklich die ersten Menschen den Nebel-Planeten erreichten, errichteten sie dort "Fort Black Pants".

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Bildmaterialien: Leviosa
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2012

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