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Der Stein war kalt unter meinen Fingern. Vorsichtig tastete ich mich vorwärts, fuhr über die raue Oberfläche der Wand und suchte nach Spalten im Fels, die sich bereits mit Wasser zu füllen begannen. Bald würde die Regenzeit kommen. Immer höher und höher kletterte ich, mit tastenden Fingern, auf das ferne Tropfen lauschend. Je höher ich kam, desto leiser wurde es um mich herum und es war fast, als gäbe es nichts außer mir und dem kalten Stein unter meinen Fingern. Es war befreiend einmal aus dem hellen Heilersaal zu entkommen und mich ganz der Dunkelheit zu ergeben.
Ein Warnruf erklang und ich klammerte mich an die Wand, die Augen fest geschlossen und leise fluchend. Es war nun schon das dritte mal in dieser Woche, dass meine Kletterstunde erhellt wurde. Als ich das gleißende Licht rot durch meine Augen schimmern sah, wusste ich, dass es nun vorbei sein würde mit dem Frieden. Vorsichtig öffnete ich die Augen wieder und versuchte mich an den Schein zu gewöhnen, der unnatürliche Schatten auf die Felsen malte. Ich warf einen Blick hinunter und wie ich es mir gedacht hatte; da stand eine weiße Gestalt, umgeben von einigen dunklen Beschützern. Fasziniert sah ich, wie sie Schicht um Schicht ihrer Kleidung ablegte, bis sie von Kopf bis Fuß in einen ebenfalls weißen Trainingsanzug gehüllt war. Natürlich trug sie noch immer ihre Handschuhe und den zarten Schleier vor dem Gesicht. Wenn sie einfach das Licht auslassen würden, würde sie auch niemand sehen, dachte ich genervt. Aber sie war eben eine der Lichten; wo immer sie erschienen wurden Lampen entzündet oder Spiegel umgelenkt, sodass nun auch aus der Decke dieser Halle kalte Strahlen herab schienen. Das Mädchen, ich konnte nicht erkennen wie alt sie war; wie lange sie noch hatte, begann also, umgeben von ihren ewigen Schatten, ebenfalls die Wand hoch zu klettern. Ich war nicht der einzige, der sie beobachtete, wenn auch der einzige, der sich nicht bemühte es zu verbergen. Ob ich sie stürzen sehen wollte, weiß ich nicht. Ich hatte nie verstanden warum sie klettern lernen mussten, schienen sie doch sonst immer einige Fuß breit über dem Boden zu schweben. Was würde es ihnen nützen, wenn sie schließlich doch ins Licht gehen mussten? Ihre Bewegungen waren gleichmäßig, wenn auch oft wenig präzise. Sie verließ sich auf ihre Augen, statt auf ihre Hände, und oft rutschte sie an der glitschigen Felswand ab, was kein Wunder war, trug sie doch immer noch ihre Handschuhe. Meine eigene Kleidung war schon nervig genug, war ich doch verpflichtet das Heilerband am Arm zu tragen und die typischen weiten Hosen derer, die keine Mittel hatten sich eine ordentliche Kletterkleidung zu leisten.
Bald war sie mit mir auf einer Höhe und machte keine Anstalten umzukehren. Was, wenn sie sich den weißen Hals brechen würde? Ob es wohl Ersatz gab für eine Lichte? Soweit ich wusste waren es immer genau siebzehn; wenn eine ging, wurde eine neue erwählt. Ich hätte lieber Mitleid mit ihr haben sollen, aber sie musste sich ihr Brot nicht erarbeiten, hatte von allem im Überfluss und wurde von den meisten als eine Art Göttin verehrt. Endlich riss ich mich von ihrem Anblick los und kletterte ebenfalls weiter. Die Halle war hoch, eine unserer höchsten und fast nie leer. Immer war jemand da, der üben musste oder einfach das Gefühl genoss, so weit oben zu sein und das Nichts um sich herum zu spüren. Ich beschloss so weit ich konnte zu klettern und es dann gut sein zu lassen für den Tag, doch ohne es wirklich zu wollen, kletterte ich immer schneller, bis ich die weiße Spinne neben mir eingeholt hatte. Sie hatte mich wohl auch bemerkt, jedenfalls entstand bald eine Art Wettklettern zwischen uns, was sie nur verlieren konnte. Ich hatte seit ich denken konnte an dieser Wand gehangen, kannte jeden Spalt und jede Nische blind. Ihre Technik war fehlerhaft und ihre Schnelligkeit nur ihrer Ungeduld zuzuschreiben, sodass ich tatsächlich als erster den letzten Absatz erreichte. Ich zog mich keuchend hoch und wartete auf sie, die Beine über den Abgrund baumelnd. Sie war wohl noch jung genug um sie ansprechen zu dürfen, doch tat ich es nicht. Was hätte ich auch sagen sollen. Als sie jedoch an mir vorbei kletterte, in den Bereich der Halle, der nicht mehr sicher war, konnte ich mir einen erstaunten Ausruf nicht verkneifen:
"Hier ist es zuende, Weiße. Weiter klettert man nicht."
Ich war schneller auf meinen Füßen als sie antworten konnte und kletterte nun ebenfalls weiter. Dass nichts Gutes dabei herauskommen würde, hätte ich mir eigentlich denken können.
"Wenn das stimmt, mal sehen wer schneller wieder unten ist.", war ihre Antwort, und sie ließ sich etwas unbeholfen wieder auf den Vorsprung fallen. Wie es sich herausstellte war sie runter noch schneller als rauf, ließ sich in halsbrecherischen Bewegungen von einem Vorsprung zum nächsten fallen, sodass von unten ihre Begleiter bereits riefen sie solle vorsichtig sein. Bald hatte sie mich abgehängt und warf mir mit offensichtlicher Arroganz einen verschleierten Blick zu. Etwas an mir schien sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ich hörte ein Reißen, dann einen erschrockenen Schrei und einen Moment später einen dumpfen Aufprall und noch mehr Geschrei. Ihre Beschützer waren außer sich, die ganze Halle war in Aufruhr, jeder lief erst herbei und machte dann, als klar wurde, dass die Gefahr bestand sie zu sehen, wieder kehrt und verließ eilig die Halle. Ich war der letzte, der sich von der Wand löste und wollte schon ohne einen Blick gehen, als mir meine Verpflichtung bewusst wurde. Immerhin war ich angehender Heiler und ob sie nun eine Lichte war oder nicht, man verlangte von mir jeden gleich zu behandeln, auch wenn sie selbst diese Regel wohl kaum befolgte. Ihre Begleiter stellten sich als recht nutzlos heraus; alles was sie geschafft hatten, war festzustellen, dass sie noch lebte und ihr weiter nicht viel passiert war, abgesehen davon, dass sie sich die Schulter hielt und leise wimmerte. Viel ertragen konnten diese Lichten wohl nicht. Ich ging also auf sie zu und meinte mit den Worten "Ich bin Heiler." mit offenen Armen empfangen zu werden, doch dem war nicht so. Sie wollten mich nicht durchlassen und ich wäre gegangen, wenn die Lichte ihren Begleitern nicht zugerufen hätte, sie sollten mich wegschicken.
"Mädchen, wenn du weiterhin die Wände hochkrabbeln willst, brauchst du deinen Arm."
Das überzeugte jedenfalls ihre Wachen, die vorsichtshalber die Lichter löschten und mich ihre Schulter in völliger Dunkelheit einrenken ließen. Zur Vorsicht nahm ich sie mit in die Hallen der Heiler und gab ihr eine Salbe für den Arm und ihre möglichen Schürfwunden, die ich natürlich nicht begutachten durfte.
"Du bist hellblau.", bemerkte sie, auf mein Heilerband deutend, und zum ersten mal wünschte ich, ich hätte ihr in die Augen sehen können um festzustellen ob Spott darin lag. Ihre Stimme hatte sie viel zu sehr zu kontrollieren gelernt.
Sie verabschiedete sich nicht und ich hatte nicht vor je wieder mit ihr zu sprechen.

Es vergingen einige Monate und ich hatten den Zwischenfall beinahe vergessen. Weder meinen Eltern noch meiner kleinen Schwester, die die Lichten anbetete, hatte ich davon erzählt. Ich versuchte mir einzureden, dass es nicht wichtig genug war, aber viel zu oft konnte ich mich beim Klettern in der großen Halle nicht mehr richtig konzentrieren, viel zu oft fragte ich mich wie alt sie wohl war; wie lange sie noch hier leben durfte. Bisher hatte ich nie ein Wort mit einer Lichten gewechselt, es schickte sich ja auch nicht, hatte sie immer als unnahbar betrachtet und nicht viele Gedanken an sie verschwendet. Manche, meine Schwester eingeschlossen, glaubten fest daran, dass es der Aufstieg der Lichten war, der unsere Hallen erhellte und uns jedes Jahr nach der dunklen Zeit wieder einen neuen Frühling schenkte. Ich glaubte fest daran, dass sie in ihren Tod gingen und wir Licht haben würden ob sie nun aufsteigen oder nicht. Aber das war nicht meine Sorge, nicht meine Aufgabe mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich musste lernen wie man Knochenbrüche heilte, welche Pflanzen Schmerz linderten und welche Seen das beste Wasser enthielten um daraus Salben herzustellen. Es war nicht mehr lang, bis ich in die Kaste der Heiler aufgenommen werden würde und bis dahin hatte ich noch viel zu lernen. In den wenigen Stunden, die ich frei hatte, flüchtete ich immer öfter in meine Lieblingshöhle, statt in der großen Halle zu klettern.
Es war nur eine kleine Höhle und es war auch weiter nichts besonderes daran. Sie lag weit oberhalb der Heilerhalle und war durch einige enge Gänge mit ihr verbunden. Ich saß dort oft stundenlang und lauschte dem Tropfen eines fernen Wasserstroms, den ich nie hatte finden können. An manchen Tagen schien ein winziger Strahl Licht durch einen Riss in der Decke und wenn man ganz leise war, konnte man einige Tiere hören, die im Dämmerlicht tanzten. Einmal hörte ich sogar eine Motte, die sich verflogen hatte. Es war mein Platz, meine eigene kleine Welt, ohne Spiegel und Seen, meist in völlige Dunkelheit gehüllt. Keine Lichte störte mich hier, veranstaltete ein Wettklettern nur um sich fast das Genick zu brechen. Ich hoffte bloß, ich würde sie nie wieder sehen.

Sie brachten sie auf einer Bahre herein. Ich konnte ihre eiligen Schritten hören, wie sie seitwärts trippelten, die Bahre zwischen sich. Noch bevor ein Wort gesprochen wurde, stieg mir das Blut in den Kopf, mein Herz raste. Mir war sofort klar, dass sie kein normaler Patient war. Ihr Gewand raschelte wie flüssige Seide, ihr schmerzerfülltes Stöhnen klang fremd in meinen Ohren, sie murmelte Worte die ich nicht verstand. Ein weiteres Rascheln, diesmal lauter, sagte mir, dass man sie vor mich auf den Tisch gelegt hatte. Der Geruch von Blut stieg mir in die Nase, aber da war noch etwas anderes, das ich zunächst nicht zuordnen konnte. Sie roch süßlich, als hätte man sie in einer Mixtur der Blumen gebadet, die in den hellen Hallen wuchsen. Der Geruch kam mir erschreckend bekannt vor.
"Sie ist gestürzt, ihr Bein scheint gebrochen zu sein.", teilte man mir mit. Ich erkannte an der ruppigen Sprechweise, dass es einer ihrer Beschützer war. Wiedereinmal hatten sie ihre Aufgabe nur mäßig gut erfüllt.
"Ich bin noch kein ausgebildeter Heiler.", gab ich zurück ohne mich von der Stelle zu rühren. Sicher hatte ich schon lange meinen Eltern assistiert und war ohne weiteres dazu in der Lage einen Knochenbruch zu heilen, aber ich war noch nicht eingeweiht worden und hatte das Recht dazu noch nicht erlangt, in einer der Hallen der Heiler einen Patienten zu behandeln.
Ich hörte wie zwei der Bewacher die Eingänge verschlossen und sich draußen positionierten. Die Welt zuckte ohne Vorwarnung und ich schlug mir die Hände vor die Augen.
"Was soll das?", rief ich wütend und stolperte einen Schritt zurück, bevor ich so langsam ich konnte die Augen öffnete.
"Beeil dich. Sie hat nach dir verlangt.", sagte der verbliebene Bewacher und deutete auf das Heilerband an meinem Arm.
Als sich meine Augen einigermaßen an das Licht gewöhnt hatten, schaute ich mich um. Im ersten Moment nahm ich nur helle und dunkle Flecken wahr, doch das reichte um mir meine Befürchtungen zu bestätigen: Vor mir lag eine Lichte und wahrscheinlich nicht einfach irgendeine.
Bevor ich noch ein Wort hatte sagen können, hatte der letzte Bewacher die Lampe auf den Tisch neben mich gestellt, um dann ebenfalls den Raum zu verlassen. Ich rührte mich noch immer nicht. Gedanken hetzten durch meinen Kopf, einer wirrer als der andere. Ich war verloren, soviel wusste ich. Was auch immer ich unternehmen würde, es gab keinen Ausweg. Diesmal hatte sie nicht bloß einen ausgekugelten Arm. Würde ich ihr helfen, musste ich sie entkleiden und sie sehen. Darauf stand die Höchststrafe, doch ich war noch nicht eingeweiht. Man würde mich lediglich meiner Sehkraft berauben und so sehr ich die Dunkelheit liebte, ohne meine Augen konnte ich kein Heiler mehr sein. Würde ich ihr nicht helfen, brächte ich sie in Lebensgefahr. Niemand sonst würde sie behandeln können ohne sein Leben zu verwirken. Die Zeit verstrich und noch immer stand ich regungslos vor ihr und hätte mich wohl auch nie bewegt, hätte sie nicht in diesem Moment die Augen geöffnet. Durch den weißen Stoff flackerte es plötzlich dunkel und ihre unwirkliche Stimme erklang.
"Bitte, geh..."
Im Grunde war sie auch nur ein Mensch der Schmerzen litt.
Mit sicheren Handgriffen ertastete ich ihre Wunden. Ein gebrochenes Bein, einige gebrochene Rippen und nach ihrem Stöhnen zu urteilen auch mehrere Prellungen.
"Wie heißt du?", fragte ich sie während ich Schicht um Schicht ihres Stoffes zurück schlug. Ich kannte die Namen aller 17 Lichten natürlich, wie jeder hier, doch konnte ich nicht schätzen wie alt sie war.
"Was tust du?", flüsterte sie schwach und versuchte mich festzuhalten. Vorsichtig löste ich ihren Griff und hatte endlich ihr Bein frei gelegt. Ihre Haut war ebenso weiß wie der Stoff, der nun in einem Wasserfall den Tisch herunter hing. Der Knochen stand heraus und sie blutete stark. Ich hatte keine Hilfe zu erwarten, wollte ich nicht jemand anderem das Leben nehmen. Meine Hände waren fast ebenso verschwitzt wie ihre Haut, als ich mich daran machte den Knochen zu richten. Sie schrie nicht, doch sie verfiel in eine Art Fieberwahn, in dem sie immer wieder rief, ich solle aufhören, ich sei in Gefahr, sie habe einen Fehler gemacht nach mir zu rufen...
Als ich fertig war und mir in einem kleinen Strom im hinteren Teil des Saals die Hände wusch überlegte ich, ob ich wohl fliehen konnte, bis mir die Bewacher vor den Türen wieder einfielen. Als ich sie gerade herein bitten wollte, fiel mein Blick abermals auf das Mädchen. Ihren Namen hatte sie mir nicht genannt. Eilig deckte ich ihr Bein zu, sodass nichts mehr von ihr zu sehen war. Der Schmerz schien sie überwältigt zu haben, denn sie gab keinen Laut mehr von sich. Eine Sekunde dachte ich, sie sei vielleicht gestorben, doch dann konnte ich ihren Atem hören. Ich löschte die Lampe und hoffte gegen jede Vernunft, man würde mir glauben, dass ich sie im Dunkeln behandelt hatte. Solange sie mich nicht verriet, hatte ich nichts zu befürchten. Ich lachte leise. Mein Leben lag in der Hand einer Lichten, wie man es uns schon immer hatte weismachen wollen. Welch Ironie.

Ihr Bein verheilte gut, doch hatte man mich damit beauftragt, ihre Heilung zu betreuen. Natürlich hatte ich anfangs nicht viel zu tun, ihre Knochen mussten wieder aneinander wachsen bevor sie lernen konnte zu gehen. Ihre Bewacher wichen nicht von ihrer Seite, was sie zu ärgern schien, denn immer wieder versuchte sie sie weg zu schicken.
Irgendwann kam die unvermeidliche Frage:
"Werde ich wieder klettern können?"
Es war das Erste, was sie zu mir sagte seit ich ihren Knochen gerichtet hatte. Wenn das Licht gelöscht war, wie jetzt, konnte ich fast vergessen, wer sie war. Vielleicht hatte ich deshalb plötzlich Mitleid mit ihr, schließlich hatte sie sich ihre Position nicht ausgesucht, ebenso wenig wie ich hatte Heiler sein wollen.
"Das wird sich zeigen.", antwortete ich.
"Sicher ist es schwierig. Wahrscheinlich werde ich es nie mehr lernen, nicht wahr?", sagte sie und ich konnte nicht sagen ob sie traurig klang.
"Vielleicht nicht. Aber ihr seid eine Lichte, wenn ihr nicht klettern könnt, dann werdet ihr eben getragen.", gab ich zurück.
Warum man mich dazu bestimmte ihre Muskeln aufzubauen und mit ihr Laufen zu lernen, weiß ich nicht. Nach einiger Zeit, als man mir vertraute, ließen uns ihre Bewacher allein ein Stück die Hallen hinauf und hinab humpeln. Es gab Tage, da sagte sie kein Wort und brauchte unendlich lang von einem Ende zum anderen, und wieder Tage, da wollte sie nicht stehen bleiben, wollte rennen und springen und tanzen. Dann erzählte sie mir von ihrer Ausbildung und ich hörte meist schweigend zu. Ich hatte nicht gewusst, dass ihr Tagesablauf noch viel strenger geplant war als meiner. Sie lernte fremde Sprachen und Schriften, die längst vergessen waren, musste endlose Listen von Pflanzen und Sträuchern auswendig lernen, die bei uns nicht wuchsen, die zu viel Licht brauchten. Sie hatte alle großen Hallen zu besuchen, jede Woche eine andere, um den Menschen Mut zu machen, um ihnen Licht zu bringen. Jeder bewunderte sie, und das wusste sie auch. Ich war mir nicht sicher, warum sie mir all das erzählte, wenn sie von mir ebenfalls Bewunderung erwartete, hatte sie sich getäuscht. Im Gegenteil, ich fragte mich immer öfter warum sie sich dem unterzog. Endlich, an ihrem letzten Tag in den Hallen der Heiler, fragte ich sie genau das.
Ihr Kopf drehte sich in meine Richtung und wieder einmal hasste ich sie dafür, dass sie in meinem Gesicht lesen konnte, ich aber nicht in ihrem. Sie antwortete nicht, sondern ging und für einige Zeit hörte ich nichts mehr von ihr. Meine Eltern und Freunde fragten mich aus, wollten alles über sie wissen, wie sie sprach, wie sie sich bewegte, wie sie roch. Ich fand das Thema wenig spannend und bald hatten sie es satt mich zu langweilen und ließen mich in Ruhe.
Wir hatten alle ohnehin größere Sorgen, denn die Zeit der Flut stand bevor und das Licht versiegte in den Hallen der Nahrung. Das Wasser stand oft meterhoch, floss von den Wänden herab und versickerte nur langsam. Es war ein schlimmes Jahr und als ich wieder einmal mit meiner Familie in der dunklen Essenshöhle saß, fragte ich mich, ob die Lichten je hungern mussten. Wenn es keine Felder mehr gab, wenn alle Erde die wir hatten weg schwamm, in die unerforschten Tiefen der Welt, wovon wollten sich die Lichten ernähren? Ich glaubte keine Sekunde an das Märchen, dass sie von purem Licht leben konnten. Und selbst wenn, die Lichter gingen aus, die Lampen brannten nicht mehr in der feuchten Luft, alles war nass und die Spiegel, die von weit oben das Licht einfangen und zu uns bringen sollten, verrosteten in ihren Sockeln. Nun war ich froh kein Spiegelmacher zu sein, denn sie mussten höher klettern als gut für sie war, um die Spiegel zu reparieren und wenigstens ein bisschen Licht nach unten zu schicken.
Immer öfter kamen Menschen in die Heilerhallen, die gestürzt oder halb ertrunken waren. Ich hatte alle Hände voll zu tun, musste nun selbst Knochen richten und Wunden verbinden, weil wir zu wenige waren, und bei jedem neuen Patienten war ich froh, dass sie es nicht war.

Gegen Ende der Zeit der Flut kam sie zu mir, umringt von ihren Wächtern und forderte mich auf mit ihr zu klettern. Ich hätte es nicht verweigern können, selbst wenn ich gewollt hätte. Sie schickte ihre Bewacher fort und wir gingen schweigend in die große Halle des Kletterns, wo wir uns das erste mal begegnet waren. Sie humpelte noch immer ein wenig und es war klar, dass sie nicht so schnell würde klettern können, wie zuvor. Ich half ihr so gut ich konnte, suchte die Kletterpfade aus, die wenigstens etwas trockener waren als der Rest, zog sie hoch, wenn sie nicht mehr konnte, stützte ihr Bein mit selbst konstruierten Eisenschienen.
"Warum tust du das eigentlich?", fragte ich schließlich, nachdem wir bereits eine Woche lang jeden Tag schweigend klettern geübt hatten.
"Weil ich es muss.", war ihre Antwort. Das wunderte mich.
"Wozu das? Wenn du siebzehn bist gehst du ins Licht, wie jede vor dir und jede nach dir."
"Wer sagt, dass ich dann nicht mehr klettern muss?", fragte sie, sich keuchend an einen Vorsprung lehnend.
"Wenn man tot ist, braucht man nicht mehr klettern.", antwortete ich nur.
Sie lachte.
"Ich werde nicht sterben. Ich werde Teil des Lichts werden."
Ich verdrehte die Augen und sprach das Thema nicht mehr an.
Als sie mit der Zeit besser wurde und sich außer ein paar Schürfwunden nichts weiter zugezogen hatte, beschlossen wir, andere Hallen zu suchen, in denen wir klettern konnten. Sie hasste es von anderen angestarrt oder umschmeichelt zu werden, was die häufigsten Reaktionen auf ihr Erscheinen waren. Ich schmeichelte ihr freilich nicht, und verschonte sie auch nicht mit meiner Einschätzung ihrer Kletterkünste. Obwohl sie Fortschritte machte, war sie noch immer langsam und auch wenn sie versuchte es zu verbergen, hörte ich an ihrem Atem, dass ihr Bein sie noch immer schmerzte. Um herauszufinden, was die Heilung verlangsamte, hätte ich mir das Bein natürlich ansehen müssen, allerdings hatte ich wenig Lust zu sterben und ließ es daher bleiben.
Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass sie mir immer weniger wie ein Geist vorkam, erst recht nicht wie ein gottähnliches Wesen, dem ich huldigen sollte. Sie war eigentlich ein fröhlicher Mensch, hatte einen starken Willen und war in vielerlei Hinsicht ebenso starrköpfig wie ich. Eines Tages nahm ich sie mit in meine Lieblingshöhle. Bis dorthin war es ein weiter Weg und ich verlangte ihr einiges an Körperbeherrschung ab. Aber wenn sie wieder klettern wollte wie früher, dann musste sie auch diese Hürde nehmen.
"Es wird dunkel werden, kleine Lichte.", sagte ich als wir durch die unbeleuchteten Gänge zur Höhle krabbelten.
"Ich bin mein eigenes Licht.", antwortete sie und sah leider nicht, wie ich wie so oft die Augen verdrehte.
Es war ein klarer Tag, nur wenig Wasser hing in der Luft und die Grotte wurde von einem schwachen Lichtstrahl erhellt. Die Steine rings um uns glitzerten im Licht und wenn man lauschte konnte man das Summen einer Motte hören. Ihre Begeisterung für meinen Rückzugsort erstaunte mich.
"Sieh mal. So eine habe ich schon lange nicht mehr gesehen."
Sie zeigte mir den kleinen Falter, der sich auf ihren Handschuhen niedergelassen hatte und neugierig die Fühler in alle Richtungen streckte. Es war eine Motte, ebenso weiß wie die Hand auf der sie saß.
"Ich bin nach ihr benannt, weißt du?" , flüsterte die Lichte und ließ das Tier weiter fliegen.
"Also bist du in einem Jahr an der Reihe.", schlussfolgerte ich, nachdenklich die Namen der Lichten durchgehend.
"Übermorgen beginnt mein Schweigejahr.", bestätigte sie.
"Deinen Namen hast du mir noch nicht genannt, Heiler."
"Der tut nichts zur Sache, kleine Motte."
Wir kamen nun so oft hierher wie es ihr Tagesplan erlaubte, und redeten. Sie erzählte mir von ihrer Welt, in der jeder sie fürchtete, da ein Blick den Tod bedeutete. Ich erzählte ihr von den Hallen der Heiler und wie ich einst als Kind weggelaufen war, weil ich lieber Spiegelmacher werden wollte. Wir lachten dann, als könnte es etwas ändern. Tage und Wochen vergingen wie im Flug und ich vergaß, dass ich sie nun nicht mehr ansprechen durfte, dass nun auch der Klang ihrer Stimme verboten war. Es war uns nicht wichtig, denn in meine Lieblingshöhle folgte uns niemand, dort konnten wir jemand anders sein, ich ein Spiegelmacher und sie ein Mädchen, das tanzte.
Ich sah zu wie sie sich im Licht drehte, Arme ausgestreckt, immer schneller, bis sie zu einem Schleier milchigen Lichts wurde und schließlich eine Motte zu werden schien, die das Licht umschwirrte.
"Du solltest nicht gehen.", sagte ich und beendete den Zauber. Vor mir stand wieder eine der Lichten, erhaben und unnahbar.
"Man hat mich mein ganzes Leben lang darauf vorbereitet. Es gibt nichts anderes für mich."
"Leg deine Kleidung ab und niemand wird dich erkennen. Du wirst einfach verschwunden sein, keiner wird sich an dich erinnern."
"Vielleicht will ich ja nicht, dass sich niemand an mich erinnert."
"Dann geh nicht."
Ihr Kopf zuckte in meine Richtung.
"Nenn mir einen Grund, warum ich bleiben sollte."
"Um nicht zu sterben, deshalb."
"Ich gehe ins Licht."
"Glaubst du wirklich daran?"
"Ich muss daran glauben!"
"Das ist Wahnsinn, niemand ist je wiedergekommen."
"Ich habe eine Aufgabe. Erfülle ich sie nicht, gibt es keine Rückkehr."
Sie drehte sich um und wollte gehen, doch ich riss sie zurück. Ich weiß nicht genau wie es geschah, aber mit einem mal hatte ich ein weißes Tuch in den Händen und schaute in zwei aufgerissene, dunkelgrüne Augen. Der winzige Moment, bis sie das Tuch geschnappt und wieder an ihrem Kopf befestigt hatte genügte, um mir das Bild ins Gedächtnis zu brennen. Nie werde ich diese Augen vergessen. Nie würde ich sie wieder sehen.
"Kleine Motte, warte doch..."
Nachdem sie gegangen war blieb ich noch lange in der Höhle und verfluchte ihre Dummheit. Sie würde ihr Leben wegwerfen und glaubte ja selbst kaum an das, was sie tat. Ob es wirklich einen Gott gab, hinter dem Tor aus Licht, das sie durchschreiten musste? Würde er sie aufnehmen und zu Licht machen, um unsere Höhlen zu erleuchten? Das war doch Schwachsinn. Ich blickte zur Decke, zu dem Riss weit über meinem Kopf und fragte mich, woher das Licht wirklich kam. Als sie getanzt hatte, hätte ich ihr glauben können, dass es von ihr ausging.

Am späten Abend ging ich endlich heim. Meine Augen hielt ich geschlossen, vielleicht um die weißen Schleier zu verscheuchen, die vor ihnen tanzten. Zu Hause warteten bereits einige Männer auf mich und ohne Widerstand folgte ich ihnen die langen Gänge hinunter, vorbei an vielen Wohnhöhlen, bis in die tiefsten der tiefen Kammern, wo die Verbrecher in den Untiefen nach Erz schürfen mussten. Man brachte mich in eine Zelle und schloss die Eisentür, drehte dreimal den Schlüssel um und ließ mich allein. Ich hatte keine Fragen gestellt, wusste ich doch wieso ich hier war. Morgen würde ich sterben, denn ich hatte eine Lichte gesehen. Ich hatte mein Leben leichtfertig in ihre weißen Hände gelegt und sie war es leid geworden, hatte mich verraten um meine unbequemen Wahrheiten nicht mehr hören zu müssen.
Die Zeit verstrich in völliger Dunkelheit, ohne jede Möglichkeit, sie zu messen. Ich aß und trank nicht und wartete auf mein Schicksal, wie ich es schon mein ganzes Leben getan hatte. Welches Recht hatte ich gehabt, ihr Vorwürfe zu machen? Ich hatte ja selbst nie versucht meinem Schicksal zu entgehen. Und als ich so da lag, nicht wissend ob ich träumte oder schlief, da wusste ich endlich warum sie sich das Bein gebrochen hatte. Und ich Dummkopf hatte sie geheilt...
Ich träumte sie käme mich besuchen und schrieb mit zitternden Fingern auf meinen Arm. Sie schrieb einer ihrer Bewacher hätte uns gehört, aber sie wolle mich heraus holen. Im Schlaf sah ich ihre grünen Augen wie Leuchtfeuer. Sie sagte, ich sollte behaupten, ich hätte eine Motte gesehen, aber Motten tanzen nicht, Motten fliegen. Warte doch... kleine Motte...
Viele Tage später kam ein Mann mit einer Lampe, schloss meine Zelle auf und sagte: "Der Vorwurf des Redens mit einer Lichten wurde fallen gelassen."
Des Redens? Man zog mich auf die Beine und brachte mich zur Eingangshalle. Von dort sollte ich selbst nach Hause finden. Ich taumelte durch die Gassen, hielt mich an den Wänden fest, denn meine Beine wollten nicht mehr laufen. Als ich in den Hallen der Heiler angekommen war und meine Familie gefunden hatte, redeten alle gleichzeitig auf mich ein. Offenbar war ich einige Wochen weg gewesen und sie hatten gedacht sie hätten mich verloren.
Ich brauchte lange um wieder auf die Beine zu kommen, obwohl ich mich hätte beeilen müssen, da meine Prüfungen bevor standen. Am Tag der letzten Heilerprüfung würde ich dann zur Feier des Tages das erste mal einem Aufstieg beiwohnen. Als mir klar wurde, was das bedeuten würde und wer dieses Jahr dran war, musste ich mir Mühe geben nicht zu schreien vor... ja vor was? War ich wütend, weil sie sich nicht gerettet hatte? Weil sie mich gerettet hatte? Weil ich sie nicht hatte retten können?
Tausend Menschen versammelten sich in der Halle des Lichts, am ersten Tag des Jahres. Viele waren in meinem Alter, durften ebenfalls zum ersten mal einen Aufstieg sehen. Andere waren von weit her gereist, von jenseits der Hallen der Nacht, um dieses besondere Ereignis zu erleben, um für ihre Familien zu beten und ein wenig Licht des großen Tores zu sehen.
Von der Decke hingen weiße Fahnen, der Weg zum Tor war mit Blumenblättern bestreut und ein aufgeregtes Tuscheln ging durch die Menge. Ich stand etwas weiter hinten, jedoch genau neben dem Weg, auf dem meine Motte gleich schweben würde. Da wurde mir klar, was ich hätte antworten sollen, als sie mich fragte, warum sie bleiben sollte.
Aus dem hinteren Teil der Halle erklangen unwirkliche Töne, verzerrt durch das Echo und die vielen Stimmen, die zuerst flüsternd, dann immer lauter die alten Lieder des Lichts anstimmten. Alle Augen waren nach vorne gerichtet, wo neben den noch verschlossenen Flügeln des Tores sechzehn weiße Gestalten, alle unterschiedlicher Größe, standen und warteten.
Während wir sangen kam die siebzehnte von hinten den Gang hinunter, gefolgt von drei Bewachern. Sie ging langsam und würdevoll, blickte sich nicht um und zögerte nicht.
Bis sie zu mir kam. Abrupt blieb sie stehen, wandte sich zu mir, entknotete das Heilerband, das ich am Arm trug, und band es sich selbst als Haarband um den Kopf. Sie hatte mich befreit. Ein Raunen ging durch die Menge, doch man sang weiter und sie ging weiter und ich konnte sie nicht aufhalten. Das einzige was ich für sie hätte tun können, hatte ich ihr versagt. Ich hätte ihr Mut machen sollen, ihr sagen sollen, dass alles gut wird, dass sie ins Licht gehen und ich in ihrem Strahl tanzen würde, wenn alles vorbei war.
Der Gesang kam zu seinem unausweichlichen Ende, tausend Stimmen sangen ihren Namen als sich Flügeltüren öffneten und uns gleißendes Licht blendete. Dunkel stand sie vor dem Licht, welches durch tausend Spiegel zurück geworfen wurde, sodass es jetzt wie eine Flut über uns herein brach, und sie verschwamm wie Milch, umrahmt von pechschwarzen Flügeln, die sich langsam um sie schlossen und für immer in Vergessenheit hüllen sollten. Ich dachte an ihre grünen Augen und wusste, sie würde nicht vergehen wie ein Lichtstrahl am Abend. Sie hatte sich nicht zu einem gesichtslosen Symbol machen lassen, denn ich hatte sie gekannt, hatte ihr Lachen gehört und ihre Augen gesehen. Sie war meine Motte und ich würde sie nie vergessen, wo auch immer sie nun war.

Impressum

Lektorat: Vielen Dank an Lisa und Antje!
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die gerne tanzen.

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