25. Mai 1982
Die Zerrissenheit in mir hält an. Ich spüre nach wie vor diese immer fortwährende Müdigkeit, diese Konzentrationsschwäche, diese Gefühlsschwankungen… Ich fühle diese Bedrängnis, die aus meinem Inneren zu kommen scheint, sie bedrückt mich, behindert mich beim Atmen, schränkt mich ein und verängstigt mich. Ich habe Schmerzen, unaufhörliche Schmerzen in der Brust, als zerspringe mein Herz, als zerreiße meine Seele. Unvorstellbare Qualen, die ich allmählich nicht mehr aushalte. Wutanfälle suchen mich heim, meine Gefühlswelt scheint durcheinander gebracht zu sein. Ich verspüre den Drang zu schreien, Dinge zu zertrümmern, anderen Menschen Schaden zuzufügen, obwohl ich keinen Grund dazu habe.
Etwas Fremdartiges, Mächtiges scheint in mir zu wohnen, sich zu regen und sich in mir auszubreiten. Ich spüre es deutlich in meinem Inneren; es pulsiert, es lauert… Es fühlt sich an, als wolle eine fremde Macht mit einem Rammbock durch verschlossene Tore aus meinem Inneren herausbrechen; als wolle es meinen Körper zersprengen und seine gesamte Kraft entfalten. Ich versuche es zurückzuhalten, doch es wirkt, als würde es immer kräftiger werden und ich immer schwächer. Ich weiß nicht, was es ist und woher es kommt; doch ich weiß, dass es nicht mehr weggehen wird. Ich verändere mich tagtäglich - unaufhaltsam bewege ich mich auf einen Abgrund zu und kann nicht anhalten, umkehren oder ihn überwinden; ich werde fallen.
Ich habe Angst. Angst, dass es ausbricht. Angst, dass es jemandem etwas antut – Angst, dass ich jemandem etwas antue…
Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich scheine nicht mehr ich selbst zu sein. Ich verspüre Zorn, und den Drang ihn aus mir herauszulassen. Er will wüten und zerstören und ich kann es ihm nicht länger unterbinden.
Was wird mit mir geschehen? Wie wird es weitergehen? Bin ich auf dem Weg in den Wahnsinn?
(Aus den Tagebüchern der Sonoko Akamatsu)
-JAPAN 1983, Akamatsu-Residenz-
„Das ist wunderschön“ Mit einem entzückten Lachen drehte sich Sonoko Akamatsu im Kreis, wobei der Rock ihres langen, lila Kleides um sie her wallte. In fließenden Wellen wogte der schimmernde, seidene Stoff mit jeder ihrer Bewegungen, während sich aus dem verschnörkelten, filigranen Blumenmuster stetig andere Formen bildeten. Aus leuchtenden, grünen Augen betrachtete sie ihr Ebenbild in einem großen Spiegel, der in ihrem Ankleidezimmer stand. Ihre roten Haare waren zu einer kunstvollen Frisur gesteckt worden, die unter großem Aufwand von ihrer Zofe, Mayu, errichtet worden war. Das Mädchen drehte sich nochmals langsam vor dem Spiegel, um sich von allen Seiten begutachten zu können, ehe sie sich den übrigen Personen im Raum zuwandte.
„Wie sehe ich aus?“, erkundigte sie sich. Ihre leuchtenden Augen wanderten von einem Gesicht zum nächsten, während sie auf eine Antwort wartete.
„Ihr seht bezaubernd aus, junge Herrin“, antwortete eine alte Dame, welche die Schneiderin der Familie Akamatsu war. Sie hatte das Kleid eigens für den anstehenden, besonderen Anlass entworfen.
„Ihr seht aus wie eine Prinzessin, Sonoko-sama“, erklärte das junge, blonde Mädchen, das neben dem Spiegel stand und andächtig die Hände gefaltet hatte. Sie war Mayu, die Zofe der jungen Adeligen.
Sonoko nickte zufrieden. Mit einer weiteren Drehung, mit der sie die Weite ihres Rockes präsentierte, wandte sich das Mädchen einem dunkelhaarigen Mann zu, der mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen lehnte und an den Geschehnissen wenig Anteil nahm.
„Was sagst du dazu, Ryo?“
Wachsame, silbrige Augen trafen die grünen des Mädchens, ehe er die Schultern zuckte.
„Meine Aufgabe ist es, Euch zu beschützen, Sonoko-sama“, erklärte er nüchtern. „Ich stehe Euch nicht als Modeberater zur Verfügung“
Ein Ausdruck der Enttäuschung zeichnete sich auf dem Gesicht des jungen Mädchens ab. „Aber du kannst doch wenigstens sagen, ob es dir gefällt!“, protestierte sie leicht beleidigt.
Der Leibwächter lächelte matt. „Es wird den Ansprüchen des heutigen Abends auf jeden Fall entsprechen, Sonoko-sama“
Die Zofe kicherte hinter dem Rücken ihrer Herrin. „Ryo-san ist immer so nüchtern und sachlich. Er ist wirklich sehr gut erzogen“, flüsterte sie ihrer Herrin zu. Diese nickte knapp.
„Sonoko-sama? Sonoko-sama, seid Ihr bereit?“ Eine männliche Stimme erklang im Gang, ehe das schmale Gesicht eines grauhaarigen, alten Mannes im Türrahmen auftauchte. Bei ihm handelte es sich um den Butler der Familie. Durch runde Brillengläser, die seine Augen wie Stecknadeln erscheinen ließen, blickte er das junge Mädchen fragend an. „Ich bin bereit“, antwortete diese, während ein Lächeln auf ihrem Gesicht Gestalt annahm.
„Sehr gut. Ich soll euch nach unten in den Ballsaal geleiten. Dort warten bereits Eure Geburtstagsgäste, Sonoko-sama“ Der Butler verneigte sich rasch, ehe er Sonoko durch die Tür geleitete.
„Viel Glück!“, rief ihr die Zofe hinterher, die aufgeregt an ihren blonden Zöpfen drehte.
Der Leibwächter lief schweigend neben Sonoko her. Sie warf ihm einen einschätzenden Blick aus dem Augenwinkel zu, ehe sie wieder auf den dunkelgrünen Teppichboden blickte, der den Weg hinunter in die Festhalle schmückte.
Ryo-san wirkt heute verstört und etwas zu angespannt, überlegte sie. Er ist sonst nicht so. Ob das an den vielen Geburtstagsgästen liegt, die ich heute Abend empfangen muss?
Sie warf ihm erneut einen Blick zu. Ryo konnte die Anwesenheit vieler Leute nicht ertragen. Er war ein Einzelgänger, nicht an großen Gesellschaften interessiert. Die Tatsache, an einer großen Feier teilzunehmen, um seine Herrin zu beschützen, konnte ihm durchaus Sorgen bereiten…
Als Sonoko den Saal betrat, wurde es schlagartig still. Die Atmosphäre, zuvor noch angereichert durch den Mischklang von Gelächter, Unterhaltungen und der sanften Begleitung eines Walzers, brach abrupt ab. Kein Glas klirrte mehr, kein Mensch sprach mehr. Es herrschte Totenstille.
Oben auf einem Podest, von welchem aus eine große Treppe in den Saal führte, blieb sie stehen. Unzählige Gesichter blickten zu ihr empor; Gesichter die sie kannte, Gesichter, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Einige lagen voller Erwartungen, andere schienen ihre Anwesenheit an der Geburtstagsfeier eher als unangenehme Pflicht anzusehen und warfen ihr nun herausfordernde Blicke zu. Mit einem Anflug von Nervosität begann Sonoko zu sprechen. Die Dienerschaft des Hauses Akamatsu hatten ihre Geburtstagsrede oft genug mit ihr geübt, dennoch überkam sie die Angst, noch ehe sie das erste Wort ausgesprochen hatte. Vor solch einer Ansammlung von Menschen sollte sie sich nicht blamieren.
„Guten Abend“, begann sie freundlich, jedoch mit leichter Brüchigkeit in der Stimme. „Ich begrüße Sie alle herzlich zur Feier meines vierzehnten Geburtstags. Ich bin sehr erfreut über Ihr zahlreiches Erscheinen. Heute Abend…“
Während Sonoko sprach, ließ Ryo nervös den Blick durch die Anwesenden gleiten. Er erkannte hochrangige Adelige mit ihrer Dienerschaft, Mitglieder der Familie Akamatsu, jedoch auch Gesichter, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Gesichter, die ihm unheilverkündend erschienen. Misstrauisch beäugte er jeden Winkel des Saales. Denn, wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, sollte an diesem Abend etwas Grauenvolles geschehen.
„…und nun amüsiert Euch“, beendete Sonoko ihre Rede mit einer weit ausholenden Handbewegung. Die Musik im Saal begann erneut zu spielen und die Gäste sprachen aufgeregt miteinander. Ryo blieb starr auf dem Podest stehen, während Sonoko sich langsam die Treppe hinunter bewegte, um sich unter die Gäste zu mischen.
„Du brauchst mich hier nicht zu begleiten, Ryo“, hatte sie ihm lächelnd versichert. „Wer soll mir hier denn etwas antun?“
Seufzend lehnte sich Ryo gegen das Geländer und begutachtete die Gewänder der Gäste.
Manche haben tatsächlich mehr Geld ausgegeben, als sie überhaupt jemals besessen haben…, dachte er, den Blick auf einen dicklichen Mann geheftet, der Unmengen von Essen hinunterschlang. Plötzlich erfasste sein Blick eine andere Gestalt, die sein Unbehagen bei weitem verstärkte. Ein schwarzhaariger Mann in einem langen, dunklen Mantel. Er trug einen schwarzen Hut, der sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verbarg. Neben ihm ging ein junger Mann, dessen Haar jedoch gänzlich farblos war. Eine Augenklappe verbarg sein rechtes Auge, das linke hingegen schien jeden im Saal Anwesenden genau zu fixieren.
Wer sind die?, überlegte Ryo panisch. Ob das jene sind? Jene von denen man sagt, sie würden heute Abend erscheinen und sich rächen? Er ließ den Blick weiter durch den Saal schweifen. An einem der Ausgänge hatten sich zwei Frauen positioniert. Ihre Gewänder waren prunkvoll, doch unter dem samtenen Umhang der einen konnte Ryo eindeutig ein Schwert erkennen.
Verdammt! , schoss es Ryo durch den Kopf. Sie werden uns angreifen! „Sonoko-sama!“, rief er hektisch. „Sonoko-sama!“
Doch das junge Mädchen war zu tief in ein Gespräch mit einer jungen Frau versunken, als dass sie etwas hätte hören können.
„Verdammt!“, fluchte der Leibwächter. Er musste seine Herrin warnen. Eilig wandte er sich um. Er wollte die Treppe hinunterstürmen, doch wie er sich umwandte erfasste sein Auge eine dunkle Gestalt, die sich hinter ihm aufgebaut hatte. Etwas Hartes traf ihn am Kopf, er verlor das Gleichgewicht und stürzte von der Empore hinab in das Getümmel des Ballsaals. Noch während er fiel vernahm er das entsetzte Schreien der Gäste. Er hörte das Klirren von Metall und wusste, dass es nun zu einem Angriff kommen würde. Das Letzte, was seine Ohren erfassten, war der erschrockene Schrei seiner Herrin, als sie ihn fallen sah, dann umfing ihn Dunkel...
- 10 Jahre später -
Sanft spielte der Wind mit den weißen Flocken des Schnees; ließ sie aufsteigen und abfallen, wie es ihm beliebte, wiegte sie hin und her, bis er sie schließlich zu Boden fallen ließ, auf welchem sie sich zu einer dicken, weißen Decke verdichteten. Schützend legte sich der Schnee über die Erde, bedeckte Wiesen und Felder und zierte die Dächer und Mauern mit seiner weißen Pracht. Er verschönerte Dinge, welche im Winter trostlos und kalt erschienen und erhellte die Nacht, da er die Strahlen des Mondlichts reflektierte. Eine gewisse Ruhe lag nun in den Dingen, eine Friedlichkeit, welche die karge, trostlose Winterlandschaft sonst nicht bieten konnte.
Verlassen lag der Hof in welchem unberührter Schnee glitzerte. Auch in dem gewaltigen, alten Steingebäude, welches in einiger Ferne stand, waren sämtliche Lichter erloschen. Einzig ein Mädchen im Alter von vierzehn Jahren saß am Fenster und blickte durch die vereiste Fensterscheibe hinaus in das wiegende Schneegestöber. Sie hatte die Hände flach auf die Glasscheibe gelegt und ihre Stirn an das kalte Glas gedrückt, um besser sehen zu können. Jedes Mal jedoch, wenn sie ausatmete, beschlug das Fensterglas und raubte ihr für einen kurzen Augenblick die Sicht. Aus großen, leuchtenden Augen betrachtete Sayu das Treiben des Schnees. Sie träumte sie befände sich dort unten im Hof, inmitten der Schneeflocken und könnte mit ihnen tanzen. Sie drehe sich hin und her in einem schneeweißen Kleid und Schuhen aus Glas, während ihr Haar von glänzenden Eiskristallen geschmückt würde. Eine wahrlich märchenbuchartige Vorstellung. Für einen Moment schloss sie die Augen. Sie überlegte ob sie nicht hinuntergehen sollte. Hinunter in den Hof und tanzen mit den Schneekristallen, welche vom Himmel rieselten.
Ihr Herz begann zu klopfen, während sie sich das Gefühl vorstellte, wie es wohl wäre im Schnee zu gehen. Wie es knirschen würde unter den Fußsohlen und wie ihr warmer Atem sich in der kalten Luft abzeichnen würde. Sie seufzte wehmütig, denn sie konnte ihren Posten nicht verlassen. Seit zwei Jahren hatte Sayu bereits den Posten des Ordnungshelfers im Tanaka-Waisenhaus inne. Diese Aufgabe wurde stets nur Kindern zugeteilt, die sich außerordentlich vorbildlich führten und keinerlei Probleme bescherten, zu welchen Sayu offenkundig gehörte. Zu den Pflichten der Ordnungshelfen gehörte natürlich nach dem Rechten zu sehen, dafür zu sorgen, dass die Kinder leise waren und schliefen und keines der Kinder versuchte aus dem Waisenhaus auszubrechen. Dies war der Grund, aus welchem Sayu den Hof beobachtete. Drei Jahre zuvor war ein Junge nachts aus dem Haus geschlichen und war über die Mauer geklettert. Am nächsten Morgen hatte man ihn gefunden – Hunde hatten seinen gesamten Körper zerfetzt. Sayu erschauderte bei dem Gedanken daran. Auch wenn sie es nicht selbst gesehen hatte, hatten die Aufseherinnen des Waisenhauseses doch präzise genug beschrieben, um es sich lebhaft vorzustellen. Sie blickte erneut hinab in den Hof, um zu sehen, ob sich dort unten etwas regte.
Lieber weise ich die Kinder gleich darauf hin, dass man das Haus nachts nicht verlässt, bevor ihnen wieder etwas Schlimmes zustößt…, dachte sie sich entschlossen. Jedoch dauerte es nicht lange, ehe sie ihre ganze Aufmerksamkeit wieder der weißen Pracht widmete und ihre Pflichten verdrängte.
Seit jeher liebte sie den Schnee. Die leichten Flocken, welche vom Wind behände umhergetragen wurden, waren ihr über die Jahre hinweg ans Herz gewachsen. Jedes Jahr wartete sie, bis die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen, erst dann schien sie sich wirklich wohl zu fühlen. Früher, als sie noch nicht Ordnungshelferin gewesen war und nicht nachts hatte wach bleiben dürfen, hatte sie sich stets heimlich ans Fenster geschlichen. Hinter dem Vorhang hatte sie sich versteckt. Mit vor Aufregung nassen Händen hatte sie dem Schneegestöber zugesehen. Hinausgewagt hatte sie sich allerdings nie, das war zu riskant gewesen. Hätte einer der Ordnungshelfer oder Aufseher sie bemerkt, hätte sie mit einer schwerwiegenden Strafe rechnen müssen.
Erneut träumte sie sich in ihren Tanz mit den Schneeflocken hinein; wiegte sanft in einem imaginären Takt zu welchem sie leise eine leicht melancholische Tanzmelodie summte. Es war kein wirkliches Lied, denn im Waisenhaus wurden den Kindern keinerlei Lieder beigebracht, sie summte gelegentlich das, was ihr in den Sinn kam. Doch es war stets dieselbe Melodie, die einzige Melodie, die sie in sich trug. Sobald sie sie summte erinnerte sie sich an etwas weit Entferntes; etwas, von dem sie selbst nicht sagen konnte, was es war, doch es fühlte sich vertraut an. Ein Gefühl des Nachhause Kommens nachdem man lange Zeit fort gewesen war. Ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Geborgenheit…
Singen war im Waisenhaus nicht angesehen. Kinder, die zu singen begannen oder gar zu pfeifen, wurden oftmals von den strengeren Aufsehern geschlagen oder gar in den Keller gesperrt, um sie zu züchtigen. Es wurde sogar von Kindern erzählt, welche die Züchtigung im Keller nicht ausgehalten hätten und an den schweren Verletzungen gestorben seien. Doch dies waren gelegentlich Gerüchte. Niemand wusste, ob sie der Realität entsprachen.
Sayu seufzte. Seit sie sich erinnern konnte lebte sie bereits in diesem Waisenhaus. Sie wusste nicht aus welchem Grund sie keine Familie mehr hatte und wie man ihr stets versichert hatte, war dies auch Frau Tanaka, der Leiterin des Waisenhauses, nicht bekannt. Auch ihren richtigen Namen wusste niemand, daher hatte man sie Sayu genannt, als Abkürzung für den Namen Sayuri, welcher Frau Tanaka sehr gefiel. Sayu hatte nichts besessen, als sie gekommen war, abgesehen von einem zerrissenen Nachthemd, einer Puppe mit rotem Haar in einem grünen Kleid und einer Kette an welcher ein goldenes Oval hing, das mit verschnörkelten Blumen verziert war. Es wirkte auf den ersten Blick wie ein Medaillon, jedoch mit der Ausnahme, dass es sich nicht öffnen ließ. Frau Tanaka hatte Sayu neu eingekleidet mit Kleidung, die sie von ihrem eigenen Geld bezahlt hatte. Sayu wusste selbst nicht aus welchem Grund die alte Frau ihr gegenüber solche Güte walten ließ. Jedoch erschien es ihr willkommener, als – wie manche anderen Kinder – auf sich allein gestellt zu sein. Allerdings machte diese Besonderheit Sayu nicht unbedingt nur Freunde. Einige Kinder beneideten sie darum, bei Frau Tanaka zum Teetrinken eingeladen zu werden und von dieser ständig Sonderrechte zu erhalten. Wenn Sayu genau nachdachte, empfand sie es selbst nicht für richtig. Jedoch vermochte sie nichts an der Situation zu ändern, abgesehen davon, dass sie nicht jeder Einladung nachging.
„Sayu-chan“, flüsterte eine sanfte, weibliche Stimme von der Türe aus. Sayu wandte sich um. Schemenhaft konnte sie die Umrisse eines schlanken Mädchens in der Finsternis ausmachen, die vorsichtig auf Sayu zu stolperte. Obgleich sie ihr Gesicht nicht zu sehen vermochte, konnte sie anhand des Schattens sofort ihre beste Freundin Yumi erkennen. Yumi hatte ein Merkmal, das sonst keines der Mädchen in ihrem Alter besaß. Sie trug die glatten, langen Haare meist zu zwei Zöpfen gebunden, die sehr hoch am Kopf saßen, sodass sie im entferntesten Sinne an die Ohren eines Hasen erinnerten. Dies war einer der Gründe, aus welchem Yumi auch den Beinamen Usagi trug, über welchen sie selbst allerdings nicht sonderlich erfreut war.
„Hallo Yumi“, begrüßte Sayu ihre Freundin. Bereits seit sie kleine Kinder waren, waren die beiden Mädchen unzertrennlich gewesen. Die Tatsache nichts über ihre Identität zu wissen, hatte sie unabdingbar zusammengeschmolzen. Nachdem Yumi nun ebenfalls das Amt des Ordnungshelfers innehatte, waren die Mädchen fast den ganzen Tag beisammen. „Und? War alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich bei Yumi, die mittlerweile neben ihr am Fenster stand. Diese nickte, während sich der Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht abzeichnete.
„Die Mädchen schlafen alle wie Steine“, erklärte sie zufrieden. „Selbst als ich über einen Teppich gestolpert bin ist keiner Aufgewacht“
Sayu nickte erleichtert. „Das ist erfreulich. Im Hof hat sich auch nichts geregt, abgesehen von dem Schneetreiben dort draußen…“ Sie lächelte in sich hinein. Normalerweise wäre der Rundgang ihre Aufgabe gewesen. Da Yumi jedoch erst seit zwei Wochen im Amt war, wusste sie davon nichts und Sayu hatte es geschickt anstellen können, sie davon zu überzeugen, den Rundgang machen zu müssen. So hatte sie selbst viel Zeit gehabt vom Schnee zu träumen.
Eine leicht egoistische Handlung, überlegte das Mädchen im Nachhinein. Aber das war eine Ausnahme!
Die letzten beiden Jahre hatte Sayu den Rundgang völlig alleine machen müssen, da ihre ehemalige Partnerin nachtblind gewesen war, sodass sie nun das Gefühl hatte, diese Pause verdient zu haben.
„Ich bin froh, dass niemand gemerkt hat, dass ich hingefallen bin…“, erklärte Yumi peinlich berührt. „Ich war ganz nahe am Ostflügel, wo die Jungen schlafen. Wenn einer das gesehen hätte…“
Sayu lachte „Ja, dann hättest du bestimmt den Spitznamen Flughase bekommen“, scherzte sie.
Yumi blickte sie kritisch aus ihren dunklen Augen an. „Das ist nicht komisch!“, erklärte sie ernst. „Das wäre beinahe rufschädigend geworden!“
Manchmal war Sayu wirklich erleichtert zu sehen, wie Yumi all die Ärgernisse mit Humor auffasste. So viel, wie die Kinder im Waisenhaus über Yumi herzogen, war es ein Wunder zu sehen, wie sie trotz alledem nicht in Tränen ausbrach, sondern schulterzuckend lächelte.
„Ich bin Usagi, das Mädchen mit den Hasenzähnen und den Hasenohren“, fuhr Yumi entschlossen fort. „Und dabei bleibt es jetzt“
„Was machst du, wenn jemand kommt und dir deine Position als Usagi streitig macht?“ Sayu sah Yumi mit gespielter Ernsthaftigkeit an.
„Dann…“ Yumi zuckte mit den Achseln. „Das überlege ich mir dann, wenn es soweit ist…“
Beinahe zeitgleich schweiften ihre Blicke hinunter in den Hof. Das Schneegestöber war heftiger geworden und hatte sich allmählich in einen leichten Schneesturm verwandelt. Die dicke Mauer, welche das Waisenhaus umsäumte, war nur noch hie und da als dunkler Umriss zu erkennen.
„Bin ich froh, dass ich nicht da draußen sein muss…“, murmelte Yumi fröstelnd.
Sayu öffnete den Mund um etwas zu erwidern, doch wie sie ihn geöffnet hatte, schloss sie ihn bereits wieder. Etwas Undefinierbares, das sich im Hof befand, hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie strengte ihre Augen an, während sie näher an die Fensterscheibe heran trat. Yumi beobachtete sie dabei kritisch.
„Sayu… ist alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich unsicher, wobei sie sich Sayu näherte um deren Blick zu folgen.
„Ich… weiß nicht…“ Sayus Blick heftete sich an einen Schatten, der sich quer über den Hof bewegte. Der Schneefall lockerte sich etwas auf und plötzlich erkannte Sayu Umrisse. Eine kleine, zierliche Gestalt in einem wehenden Mantel schritt über den Hof. Sie trug einen Schirm, der sie vor dem Schnee schützen sollte.
Sie wandte sich zu Yumi um. „Dort ist jemand im Hof!“, stieß sie hervor. Hastig löste sie den Blick vom Fenster und eilte zur Tür.
„Yumi, informiere bitte Matsumoto-san. Ich gehe in den Hof und sehe nach!“, erklärte sie.
„Sayu, ich-“, hörte sie noch Yumi protestieren, jedoch kam dieser Protest bereits zu spät. Sayu öffnete die Tür und spurtete voller Entschlossenheit hinaus.
Finsternis umhüllte sie und nahm ihr jegliche Sicht. Nur hin und wieder drang unter den Türen fahles Mondlicht hindurch, welches graue Streifen auf den Boden zeichnete, die gespenstisch waberten. Vorsichtig mäßigte sie ihr Tempo. Obwohl sie sich der Anordnung der Gänge durchaus bewusst war, hielt sie es für sinnvoller keinerlei Risiken einzugehen, da es doch hin und wieder geschah, dass Tanaka-san Vasen oder Beistelltischchen erwarb, welche sie unerwartet in den engen Gängen des Hauses zur Zierde aufstellte.
So leise und so schnell wie möglich schlich Sayu voran. Nichts war zu vernehmen, abgesehen von dem gelegentlichen Knarren der Holzdielen und dem Pochen ihres Pulses. Sie sollte die schlafenden Kinder nicht wecken. Dies war eines der wichtigsten Gebote der Ordnungshelfer: Völlig gleich, was sie taten, sie mussten es so tun, dass es die anderen Kinder nicht um den Schlaf brachte.
Sayu ließ den Bereich der schlafenden Kinder hinter sich und hastete eine alte, knarrende Holztreppe hinunter, die in die Eingangshalle des Waisenhauses führte. Dort angekommen bog sie in einen Seitengang ein, in welchem sich unzählige, gleich aussehende Türen aneinander reihten. Sie rannte bis zum Ende des Ganges, zog die letzte Türe auf und bog in einen weiteren, kleinen Gang ein, der leicht bergab führte. Ihr Herz klopfte heftig und ihre Seite begann unangenehm zu stechen, während sie sich weiter den Gang entlang kämpfte. Spinnenweben hingen von den Decken und nur durch kleine Fenster, knapp unter der Decke des Flurs, drang das schummrige Nachtlicht hinein. Doch Sayu benötigte kein Licht. Sie kannte diesen Gang beinahe so gut wie ihr eigenes Zimmer, da sie sich oft über diesen Weg hinaus in den Hinterhof gestohlen hatte, wenn sie sich vor dem Unterricht hatte drücken wollen.
Am Ende des Ganges blieb sie stehen. Eine dicke, hölzerne Tür versperrte ihr den Weg. Ohne nachzudenken drückte sie die eiserne, verschnörkelte Türklinke und stemmte sich mit aller Kraft gegen das massive Holz. Mit einem schleifenden Geräusch schwang die Tür zur Seite. Kalte, frische Luft stieß Sayu entgegen. Nachtwind, der dicke Schneeflocken mit sich trug. Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Mädchens aus, als sie den ersten Schritt hinaus in den weißen, pulverigen Schnee tat. Langsam stieß sie die warme Luft aus ihren Lungen aus und betrachtete, wie sie als weißer Dampf in der Kälte Gestalt annahm. Gleichwohl genoss sie, wie das kalte Weiß unter ihren Stiefeln bei jedem ihrer Schritte knarrte. Lachend drehte sie sich im Kreis, wie sie es in ihrer Fantasie stets zu tun pflegte und tanzte mit den Schneeflocken, die um sie herum wirbelten. Glitzernd landeten sie in ihrem dunkelbraunen Haar, wie Schmuck aus funkelnden Diamanten. Glücklich tanzte Sayu über den Hof, vorbei an den Gewächshäusern, deren Scheiben zugefroren waren; vorbei an Frau Tanakas Rosengärten, die sie mit Leidenschaft pflegte. Erst bei dem kleinen Teich, in dem im Sommer viele Vögel badeten, beendete sie ihren Tanz. Erschöpft atmete sie tief durch und betrachtete ihr Spiegelbild auf der zugefrorenen Wasseroberfläche. Ihre Blasse Haut war gerötet von der Kälte und der Anstrengung des Tanzens und ihr Haar, vom Schnee durchnässt, klebte in ihrem Gesicht. Dennoch war sie glücklich, glücklicher als jemals zuvor. Vor sich hin summend umrundete sie den Teich und schritt auf die Gewächshäuser zu, um sich dort auf den Holzbänken, welche Frau Tanaka aufstellen lassen hatte, auszuruhen. Das plötzliche Klirren von Glas ließ sie in der Bewegung erstarren. Sayu wirbelte herum und betrachtete die Gewächshäuser. Eines von ihnen musste kaputt gegangen sein…
Vielleicht hat die Kälte das Glas zum Zerspringen gebracht, überlegte sie. Oder ein Dach ist unter dem Gewicht des Schnees eingebrochen…
Sie schlich zu den Gewächshäusern und begutachtete die Glasscheiben. Nicht weit von ihr entfernt klaffte ein gewaltiges Loch in einer Wand eines Gewächshauses. Glasscherben funkelten im Schnee, geziert von dunklen, roten Flecken…
Ein spitzer Schrei entwich Sayus Kehle, als sie sich darüber bewusst wurde, worum es sich bei den roten Flecken handelte.
Blut!
Plötzlich fiel ihr der eigentliche Grund ihres Kommens wieder ein. Sie hatte das Gebäude nicht verlassen, um im Schnee zu tanzen; sie war gekommen, weil sie eine Gestalt im Hof gesehen hatte.
Obgleich ihr Puls raste, versuchte Sayu ruhig zu bleiben. Als Ordnungshelferin war ihre Aufgabe, Kindern in Not zu helfen. Möglicherweise hatte sich ein Kind schwer verletzt, befand sich irgendwo in den Gewächshäusern und wartete auf Hilfe. Mit einem beunruhigenden Gefühl im Magen trat sie näher an das Loch im Glas heran. Um hindurchzusteigen war es bei weitem zu klein. Sayus Meinung nach wirkte es eher so, als hätte jemand mit der Faust gegen die Scheibe geschlagen und sich dabei verletzt. Ohne zu zögern hastete sie zum Eingang des Gewächshauses, schob die Tür beiseite und betrat das Halbdunkel, das sie schummerig empfing. Es war stickig und leicht schwül, obwohl derzeit nichts eingepflanzt war, schien die Beheizungsanlage aktiviert zu sein. Das Mädchen blickte sich um, während sie vorsichtig über den unebenen Untergrund schritt. Eine feine Spur von Blut zog sich über den Boden des Gewächshauses, die manchmal stärker, manchmal schwächer war.
Scheint so, als ob die Verletzungen doch schwerwiegender wären…, mutmaßte Sayu gedanklich. Sie betrachtete das Loch in der Glaswand von der anderen Seite. Die Spur des Blutes führte nicht nur von dem Loch weg, sondern auch zu dem Loch hin. Sie trat einen Schritt zurück. Plötzlich stieß ihr Fuß gegen etwas weiches, das am Boden lag.
Sie schreckte auf und wandte sich um. Am Boden lag, regungslos, ein Junge. Seine Augen waren weit geöffnet und starrten ins Leere. Die Haut seines Gesichtes glänzte in weißlichem blau; eine Farbe, die ihn unnatürlich, nahezu wie eine Puppe wirken ließ. Sayu ließ den Blick weiter über den Jungen schweifen. Fetzen von Kleidung bedeckten seinen Körper nur spärlich, welche den Blick auf tiefe Schnittverletzungen freigaben. Sayu keuchte auf. Sie kannte ihn, hatte ihn bereits einmal gesehen, jedoch mochte ihr sein Name nicht mehr einfallen. Langsam ging sie in die Knie, nahm eine seiner Hände und strich über die Haut – kalt. Es fühlte sich an, als bestünde der Junge aus derselben Substanz wie das Eis, welches eine Schicht über dem Teich gebildet hatte. Instinktiv strich sie über die Wange des Jungen und schloss sanft seine Augen. Langsam, beinahe unbemerkt, bahnte sich eine kleine, glitzernde Träne einen Weg ihre Wange hinab, tropfte über ihr Kinn und fiel auf den Körper des Jungen, wo sie sogleich zu Eis gefror. Allmählich kroch in Sayu eine grausame Erkenntnis empor.
Der Junge ist tot! Zunächst war es nur ein Gedanke, etwas Schleierhaftes, das in ihrem Geist umherspukte. Erst nach und nach nahmen die Worte Gestalt an und verließen ihre Lippen, leise, beinahe tonlos.
„Tot“
Noch nie zuvor hatte Sayu einen toten Menschen gesehen. Sie hatte sich stets vorgestellt wie furchtbar dies sein würde, dass sie Angst haben würde und Trauer empfinden würde. Doch nun, da sie die Hand eines toten Menschen hielt, empfand sie nichts dergleichen, nur Leere – erschreckende Leere. Es war ein merkwürdiges Gefühl, es schien zu betäuben, schien schläfrig zu machen. Als ob Schwindel sie packen würde und sie in einen Strudel zerren würde; ein Strudel, der stetig schneller wurde. Mit zittriger Hand griff sie sich an die Stirn und fühlte Hitze, als ob sie Fieber hätte. Etwas stechend Heißes durchdrang ihren Körper, während ihr Geist in weite Ferne rückte.
Gedankenverloren blickte sie den Jungen an. Betrachtete sie nur den Ausdruck seines Gesichtes, hätte er genauso gut schlafen können; er wirkte entspannt und friedlich und in gewisser Weise schön.
„Wie eine Puppe…“, flüsterte sie, während ihre Gedanken zu ihrer eigenen Puppe abdrifteten. Auch sie war blass und regungslos, doch ihre Kleidung war heile, im Gegensatz zu der des Jungen.
Ein jähes Knacken riss Sayu aus den Gedanken. Ein Schleifendes Geräusch war zu vernehmen, gefolgt von Schritten im Gewächshaus. Sayu wandte langsam den Kopf zur Seite und blickte in die Richtung der Tür. Verschwommen nahm sie Gestalten wahr. Jemand kam auf sie zugeeilt und packte sie an der Schulter. Sie vernahm Stimmen, erkannte Gesten, fühlte Berührungen, jedoch nur schemenhaft. Verständnislose Sätze drangen in ihre Ohren, jemand schüttelte sie, jemand zog sie auf die Beine, doch Sayu konnte nicht stehen, ihre Beine fühlten sich taub an wegen der Kälte und dem Schock. Sie entglitt dem harten Griff, der sie nach oben ziehen wollte und fiel zu Boden. Mit einem harten Aufschlag prallte ihr Kopf gegen die Steinplatten, welche den Boden bedeckten, sie spürte einen kurzen Schmerz, ehe sie Finsternis umfing…
Das Feuer im Kamin prasselte. Heiße Funken flogen, stoben umher und schienen beinahe denselben Tanz zu vollführen, wie die kalten Schneeflocken in der Nacht. In einem Schaukelstuhl, in eine warme Decke gehüllt saß Frau Tanaka und blickte, über eine dampfende Tasse Tee hinweg, in den Kamin. Obgleich das Waisenhaus eine Gasheizung besaß, bevorzugte die alte Frau einen offenen Kamin in ihrem Zimmer, da sie den Tanz der Funken liebte. Es erinnerte sie an die Zeit, bevor sie Leiterin des Waisenhauses gewesen war, als sie selbst eine Familie hatte, einen Mann, zwei Kinder. Doch dies war lange her und seither war vieles geschehen. Sie seufzte wehklagend und schlürfte einen Schluck des heißen Tees, während sie weiterhin die Flammen betrachtete.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Die alte Frau schrak zusammen und schüttete etwas Tee über ihre Decke, ehe sie verstört „Herein“ rief.
„Tanaka-san“ Eine junge Frau in der weißen Kleidung der Krankenschwestern des Waisenhauses, trat ein und verbeugte sich vor Frau Tanaka. „Ich möchte Ihnen Bericht über die neusten Vorfälle erstatten“
Die Leiterin nickte. „Ich bitte Sie darum“
„Die Polizei ist alarmiert. Jedoch könnte es noch einige Zeit benötigen, bis sie hier in die Berge gefahren sind. Sie haben uns angewiesen nichts anzurühren, ehe die Polizei sich ein Bild von dem toten Sakai-kun gemacht hat“, erklärte die Frau. „Die Polizei schließt einen Mord an dem Jungen nicht aus“
Tanaka nickte abermals. „Natürlich nicht. Die Polizei schließt niemals etwas aus, sie muss immer in alle erdenklichen Richtungen ermitteln…“, knurrte sie vor sich hin. „Und was ist mit Sayu?“
„Oh, Sayu-chan geht es soweit gut. Sie schläft gerade. Ihre Kopfverletzung ist nicht allzu schlimm und die Unterkühlung bessert sich auch bereits. Ich denke nur an dem Schock wird sie etwas zu nagen haben“, berichtete die Krankenschwester sachlich.
„Sobald sie aufwacht, sagen Sie mir bitte Bescheid“, ordnete die Leiterin an.
„Jawohl, Tanaka-san“ Die Krankenschwester verbeugte sich abermals, ehe sie aus dem Zimmer schritt und leise die Türe hinter sich schloss. Erneut wandte die alte Frau ihren Blick dem Feuer zu.
Was ist hier los? Warum sterben nun plötzlich Kinder hier in meinem Waisenhaus? Und warum findet gerade Sayu ihre sterblichen Überreste…?
Langsam kroch die Morgendämmerung über das verschneite Land. Orangenrote Sonnenstrahlen verscheuchten dichte Nebenschwaden und verliehen der Landschaft einen goldenen Glanz. Doch selbst der hoffnungsvolle Schimmer der aufgehenden Sonne konnte die negative Aura nicht verbergen, welche den Polizeiinspektor Ryo Yagami umgab. Ohne den Blick von der Straße abzuwenden quälte er sein kleines, hellgrünes Auto die stark ansteigende Gebirgsstraße empor, während seine kühlen, grauen Augen finster vor sich hin starrten. Vom Beifahrersitz aus betrachtete Yushi Kato, Yagamis Assistent, seinen Meister, während ein nervöses Kribbeln in seinem Bauch empor kroch. Dies war das erste Mal, dass Kato seinen Meister in einem Einsatz begleiten durfte und er hoffte inständig dies nicht zu vermasseln. Kato war bereits seit einigen Jahren bei der Polizei tätig, jedoch hatte er stets nur Verkehrskontrollen durchgeführt. Doch nun, da Yagamis Assistent gestorben war, hatte man Kato angeordnet, diesen Platz einzunehmen, obgleich er keinerlei Erfahrung im Ermitteln hatte. Kato seufzte und strich sich eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
Das kann ja heikel werden…, dachte er.
Obwohl Kato ein sehr strebsamer junger Mann, im Alter von vierundzwanzig Jahren war, war er ebenfalls vom Pech verfolgt, welches ihn oftmals verleitete, Missgeschicke zu verursachen oder gar das Unglück hervorzurufen. Seit jeher hatte Kato bereits die Ansicht, verflucht zu sein oder zumindest verwunschen, da er sich kaum an einen Tag erinnern konnte, an dem sich das Pech nicht an seine Fersen geheftet hatte.
Die Straße stieg weiter an und machte eine scharfe Biegung nach links. An einem steilen Abhang entlang führte sie geradewegs hinein in ein finsteres, nebelverhülltes Waldstück.
Kato seufzte erneut. Die bedrückende Stille, welche sich bereits seit ihrem Aufbruch aus dem Polizeirevier zwischen ihnen erstreckte, war für ihn kaum mehr auszuhalten. Als Mensch, der viel sprach, kam sich Kato in gewisser Weise unerwünscht oder gar verhasst vor - ein weiterer Faktor, der ihm äußerstes Unbehagen bescherte. Als ob Yagami seine Gedanken gelesen hätte, begann er plötzlich ein Gespräch: „Hast du dir gemerkt, was ich dir über den Fall erzählt habe, Kato-kun?“, erkundigte er sich beiläufig, während er weiterhin die Straße im Blickfeld behielt.
Kato nickte. „Ja. Das Tanaka-Waisenhaus wurde von Mayumi Tanaka vor dreißig Jahren gegründet und…“
„Ich will von dir nicht die Geschichte des Tanaka-Waisenhauses hören, Kato, ich möchte wissen, was du dir über den Fall gemerkt hast…“, unterbrach ihn Yagami leicht genervt.
„Oh…ja…“ Der jüngere Polizist überlegte einige Sekunden. „Nun, letzte Nacht ist ein Junge tot in einem Gewächshaus aufgefunden worden. Er wies Schnittverletzungen, ebenso wie erhebliche Unterkühlungen auf. Gleichwohl war ein Mädchen an seiner Seite, das des Schockes wegen nicht ansprechbar war“, rezitierte er den Bericht, welchen er von Yagami erhalten hatte. Dieser nickte knapp.
„Hast du gut auswendig gelernt“, brummte er.
„Ja, das ist einer der Vorteile des fotografischen Gedächtnisses: Ich muss etwas nur einmal anschauen und schon ist es abgespeichert, wie bei einem…“
„Computer – ich weiß“, murmelte Yagami. Aus dem Augenwinkel schielte er zu Kato hinüber, der beunruhigt den nebeligen Wald betrachtete.
Warum muss gerade Kato ein Mann sein, der einem so viele unnütze Dinge erzählen möchte?, überlegte er. Seine Gesprächigkeit geht mir gewaltig auf die Nerven…! Yagami bevorzugte die Stille. Seine Ruhe zu haben und nicht in unendliche Gespräche verwickelt zu sein war für ihn das höchste Gut, was bei Kato jedoch genau gegensätzlich war. Auch in jederlei anderer Hinsicht schien Kato Yagamis Gegenteil zu sein. Kato war kontaktfreudig, interessiert, hilfsbereit, jedoch auch überaus tollpatschig; Yagami hingegen war zurückgezogen, wollte von niemandem etwas wissen, jedoch gelang ihm stets alles, was ihm gelingen sollte.
Die Bäume lichteten sich und zum Vorschein kam ein gewaltiges, eisernes Tor in welches in verschnörkelten Buchstaben „Tanaka-Waisenhaus“ eingelassen war. Neben dem Tor befand sich ein kleines Wachthäuschen in welchem ein alter Mann mit schiefen Zähnen und einer Hakennase saß, der an einem seiner langen, gelben Fingernägel kaute. Kato zuckte zusammen, als er ihn betrachtete.
„Er sieht gruselig aus“, fand er.
„Das ist der Hausmeister - Noguchi ist sein Name“, erklärte Yagami wahrheitsgemäß.
„Oh. Über ihn hatte ich noch nie etwas gelesen…“, stellte Kato überrascht fest.
„Über ihn gibt es auch nichts zu lesen“, murmelte Yagami vor sich hin. Er kurbelte die Fensterscheibe seines kleinen, grünen Autos hinunter und steckte den Kopf hinaus in die winterliche Kälte.
„Noguchi!“, rief er, als ob er diesen bereits kennen würde. „Öffne das Tor!“
Der alte Mann hob den Blick an. Aus wässrig blauen Augen blickte er zu ihnen herüber. Einen Moment blieb er still sitzen, als überlege er, ob er dem Befehl Folge leisten solle oder nicht, ehe er sich erhob. Er war buckelig und klein und hatte fettiges, weißes Haar, welches seinen Kopf nur spärlich bedeckte. Hinkend schlurfte er zum Tor und begann damit, mit einem großen Schlüssel das Schloss zu öffnen.
„Er kann sich auch nur noch kaum auf den Beinen halten“, stellte Kato fest, während er den buckeligen Alten beobachtete.
„Das scheint nur so“, entgegnete Yagami trocken. Kato stutzte und blickte seinen Meister fragend an, als dieser jedoch keine Anstalten machte diese Äußerung genauer zu erläutern, zuckte Kato mit den Schultern und wandte den Blick erneut dem Hausmeister zu.
Er kennt ihn, dachte er überzeugt. Er kennt ihn definitiv! Und er will mir nicht verraten woher… Knarrend schwang das Tor beiseite und Yagami fuhr langsam in den Vorhof des Waisenhauses hinein, parkte das Auto und stieg gemeinsam mit Kato aus. Beeindruckt betrachtete dieser das gewaltige, aus Stein erbaute Waisenhaus. Dreißig Jahre war es her, dass es erbaut worden war, doch es wirkte, als sei es hunderte von Jahren alt und stamme aus einer gänzlich anderen Zeit. Das Haus bestand aus einem Hauptgebäude, von dem aus sich zwei Seitenflügel erstreckten, an deren Enden jeweils ein runder Turm prangte. Das Dach des Gebäudes war mit schwarzen Ziegeln gedeckt worden und an den Zinnen saßen Wasserspeier in Form von eigenartigen Kreaturen, die teils animalisch, teil menschlich und teils Fabelwesen waren. Kleinere Türme und Ausbauten, welche von Steinhauereien verziert waren, schmückten das Haus, sowie ein gewaltiger Balkon, der sich im ersten Stock des Hauptgebäudes befand. Große Fenster in gotischem Baustil erstreckten sich über die steinernen Mauern des Hauses an welchen sich teilweise die verschwommenen Gesichter neugieriger Kinder abzeichneten.
Kato nickte anerkennend, als er die Architektur begutachtete. „Europa, spätes dreizehntes Jahrhundert - hat hier teilweise als Vorlage gedient, würde ich sagen…“, murmelte er vor sich hin.
„Da kennt sich aber jemand aus“, stellte plötzlich eine weibliche Stimme fest. Kato fuhr herum und blickte in das Gesicht einer blassen Frau mit zurückgestecktem, dunklem Haar. Sie war jung und hübsch und der enge, dunkelblaue Mantel, den sie um den Leib geschnürt hatte, betonte ihre kurvenreiche Gestalt zu ihren Gunsten.
„Ich…äh…ich…“, stammelte Kato, der sich in gewisser Weise ertappt vorkam.
„Es ist beeindruckend, wenn Polizisten sich mit Baukunst auskennen – so etwas ist außerordentlich selten“, erklärte die Frau dezent lächelnd.
„Genauso, wie es selten ist, wenn die erste Hauptaufseherin eines Waisenhauses einfach so erscheint ohne sich vorzustellen, Kohara-san“, mischte sich Yagami kühl ein.
Die erste Aufseherin lächelte matt. „Ich wollte nicht unhöflich sein. Wir sind nur alle gerade sehr verwirrt wegen den Vorfällen der letzten Nacht, Yagami-san“, gab die Aufseherin zu. „Verzeiht mir bitte“ Sie verbeugte sich vor den beiden Polizisten.
Interessant, dachte Kato. Wie es scheint kennt Yagami sowohl den Hausmeister als auch diese hübsche Aufseherin. Das ist wirklich interessant… „Ach, das ist doch kein Problem“, fand er, der eine wegwerfende Geste vollführte. „Ich habe mich doch auch nicht vorgestellt. Ich bin nämlich Kato. Aber Sie dürfen mich gerne auch Yushi nennen“ Er lächelte die junge Frau offenherzig an.
„Wo ist Matsumoto-san?“, fragte plötzlich Yagami, womit er Koharas Aufmerksamkeit auf sich zog. „Sie ist doch sonst immer zugegen sobald es um Aufmerksamkeit geht“
„Die zweite Aufseherin hat andere Dinge zu tun, deswegen werde ich euch den Tatort zeigen“, erklärte die Frau und begann die beiden Männer über den Hof zu führen. „Dort drüben sind bereits die Gewächshäuser. Der Junge liegt unverändert da, so wie Sie es gewünscht hatten“ Die Frau deutete auf einige, vom Schnee bedeckte, Glashäuser, die nebeneinander angereiht im hinteren Winkel des Hofes standen. Vor ihnen befand sich ein kleiner Teich, um den herum ein kleiner Garten angelegt worden war, der im Sommer von prächtigen Rosen geziert wurde. Im Winter jedoch war er kahl und trostlos.
Kohara führte die beiden Polizisten in das dritte Gewächshaus, wenn man vom Teich aus zu zählen begann. Kato bemerkte sogleich, dass in eine Seitenwand des Gewächshauses ein Loch geschlagen war, an dessen Rändern Blut haftete.
Der Körper des Jungen war blass, jedoch wunderte dies Kato keineswegs, da der Junge ums Leben gekommen war. Furchtbare Schnittwunden erstreckten sich über seinen Bauch, allerdings schien aus ihnen kaum ein Tropfen Blut ausgetreten zu sein, da die Kleidung des Jungen nur spärlich mit Blutresten befleckt war. Seine linke Hand war zerschnitten. Mit ihr musste er wohl die Scheibe des Gewächshauses eingeschlagen haben, ehe er verstorben war. Kato betrachtete die Hand. Auch diese Verletzung hatte kaum geblutet. Einzig und allein ein feines Rinnsal von Blut musste seiner Hauptschlagader entwichen sein, das eine filigrane Spur auf dem Boden hinterlassen hatte.
„Als wäre er ausgesaugt worden…“, murmelte Kato vor sich hin, dem ein flüchtiger Gedanke an Vampire in den Sinn kam. Yagami warf ihm einen strafenden Blick zu, ehe er sich an Kohara wandte. „Kohara-san, wann wurde der Junge aufgefunden?“
Die Aufseherin überlegte einen Moment. „Nun… es war gestern Abend so gegen zweiundzwanzig Uhr“, antwortete sie.
„Wann wurde der Junge zuletzt gesehen?“, erkundigte sich der Inspektor.
„Nun, das war gegen einundzwanzig Uhr vierzig. Der Junge bat seinen Kollegen um eine Tasse Tee, da er Halsschmerzen bekam. Als dieser fünf Minuten später mit dem Tee wieder kam, war er nicht mehr da. Er sagte Matsumoto-san Bescheid und sie begannen nach ihm zu suchen“
„Sie sagten Kollege, Kohara-san. Wie darf ich das verstehen?“
Die Aufseherin lächelte verlegen. „Sakai-kun, der tote Junge, war ein Ordnungshelfer des Waisenhauses. Und Ordnungshelfer unter sich sind Kollegen und nicht etwa Kinder oder Freunde“, erklärte sie.
Yagami nickte. „Vielen Dank. Würden Sie uns nun bitte etwas alleine lassen, Kohara-san?“
„Gewiss doch, Yagami-san“ Die Aufseherin verbeugte sich knapp und schritt nach draußen.
„Meinetwegen hätte sie auch gerne hier bleiben können“, fand Kato. „Sie war hübsch“
„Möglich“, brummte Yagami. „Aber das was ich dir jetzt sagen werde, ist nicht für ihre Ohren bestimmt“
Kato nickte verständnisvoll. „Und was willst du mir sagen?“
Yagami öffnete den Mund, schloss ihn dann aber sogleich wieder, als hätte er es sich soeben anders überlegt.
„Zunächst will ich dich etwas fragen…“ Er blickte Kato direkt an. „Was fällt dir an der Leiche auf?“
„Du meinst ungewöhnliche Dinge?“, hakte Kato nach. Da sein Meister jedoch nichts erwiderte, begann er seine Beobachtungen in Worte zu fassen. „Also: Der Junge hat schwere Schnittverletzungen am Bauch, zugefügt durch einen spitzen Gegenstand, der hier nirgendwo zu finden ist. Seine Hand hat er sich höchst wahrscheinlich an der Glaswand des Gewächshauses zerschnitten – vielleicht ist er gestolpert und wollte sich daran abstützen. Was auffällig ist, ist die geringe Menge an Blut, die er bei derartig tiefen Verletzungen verloren hat – normalerweise müsste er in einer Blutlache liegen. Es sei denn, er ist gar nicht hier umgebracht worden und wurde nach seinem Tod erst hierher gebracht. Aber selbst in diesem Fall hätte seine Kleidung größere Blutrückstände aufweisen müssen. Die Spur seines Blutes beginnt erst kurz vor dem Gewächshaus und führt bis zu der Stelle an der er liegt – als wäre er davor noch nicht verletzt gewesen oder…“ Kato schien zu überlegen. „Offen gestanden kann ich mir auch keinen Reim darauf machen“
Yagami nickte zustimmend. „Wie kommst du darauf, dass er umgebracht wurde?“, hakte er nach.
„Nun, wenn er sich verletzt hat, dann frage ich mich ernsthaft was einen derartig verletzen kann und dann aber nur gezielt am Bauch. Wäre er in eine Glasscheibe gefallen, dann hätte er mit Sicherheit auch Schnitte an den Armen aufweisen müssen, schließlich versucht ein Mensch einen Sturz stets mit den Armen abzufangen“
„Das ist richtig. Aber wenn er nun also angegriffen wurde, warum gibt es dann keine Anzeichen dafür, dass er sich gewehrt hat?“
Kato zuckte mit den Achseln. „Möglicherweise hat er sich gar nicht gewehrt. Er wurde vielleicht überrascht und hatte gar keine Zeit dazu sich zur Wehr zu setzen. Schließlich ist er ein Kind – aller höchstens zehn Jahre alt“
„Er ist sechzehn Jahre alt“, korrigierte Yagami.
Kato blickte beschämt zu Boden. „Ähm… ich war noch nie gut darin das Alter von Menschen einzuschätzen…“, gab er kleinlaut zu.
„Trotzdem gutes Argument“, brummte Yagami anerkennend.
„Aber ich liege völlig falsch, nicht wahr?“, erkundigte sich Kato betrübt.
„Im Moment kann ich das noch nicht eindeutig sagen, Kato-kun. Deine Beobachtung war aber völlig richtig. Er hat kaum Blut verloren, das ist unnatürlich. Was mich jedoch noch viel mehr zum Staunen gebracht hat, ist die Tatsache, dass er völlig gefroren war, obwohl er zu dem Zeitpunkt, als er gefunden wurde noch nicht lange tot gewesen sein konnte, da er zwanzig Minuten vorher einen Freund gefragt hatte, ob er einen Tee haben könne, da er Halsschmerzen hätte“, erklärte Yagami nachdenklich.
Kato riss die Augen auf. „Du meinst das stimmt nicht?“
Der Inspektor zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht, was nicht stimmt, aber irgendetwas ist hier definitiv faul“ Er blickte Kato an. „Was fällt dir an dem Gewächshaus auf?“
Dieser blickte sich um. „Es ist ein ziemlich großes Gewächshaus, in dem aber nichts angepflanzt ist…“, stellte er unsicher fest.
„Richtig. Es ist nichts angepflanzt. Da frage ich mich doch, warum die Beheizungsanlage so stark aufgedreht wurde. Findest du es denn nicht auch recht heiß hier?“
Kato riss die Augen auf. „Du meinst…“ Er senkte den Blick auf den gefrorenen Jungen und Yagami konnte deutlich seinen Gedankengang an dessen Mimik ablesen.
„Ganz genau. Jemand wollte den Jungen auftauen…“
Nachdenklich legte Kato die Stirn in Falten. Yagami war ein Rätsel. Er war zwar klug und zuverlässig, jedoch wirkte er nicht weniger verwunderlich als der Mord an dem Jungen, der zu ihren Füßen lag.
„Und wie gehen wir jetzt vor?“, fragte er schließlich.
„Ich möchte, dass du sowohl das Mädchen, das noch im Krankenzimmer liegt, als auch den Jungen, der dem Toten Tee bringen wollte, befragst, und dir alles genau notierst. Und sieh zu, dass du ein paar Hintergrundinformationen über unser Opfer bekommen kannst“
Kato nickte. „Und dann?“
„Wenn du noch etwas Zeit hast, dann befrag einfach die Jungen aus seinem Zimmer oder irgendwelche andere Personen, die du zufällig triffst“ Yagami hob die Schultern. „Oder such hier alles ab nach Blutresten“
„Und was machst du so lange?“, erkundigte sich Kato.
„Ich muss ein paar Nachforschungen betreiben“, erklärte Yagami knapp.
„Das bedeutet, dass du eine Vermutung hast?“ Kato sah interessiert aus, Yagami ließ sich jedoch zu keiner Antwort bewegen.
„Morgen bin ich wieder da“
„Aber… aber das bedeutet ja, dass ich eine ganze Nacht hier bleiben muss!“, stieß der jüngere Polizist panisch hervor.
„Ja, sieht so aus…“
„Und was mache ich, wenn der Mörder wieder auftaucht?!“, hakte Kato nach. „Ich bin dir wohl kaum eine Hilfe, wenn ich tot bin“
„Da hast du Recht, aber du wärst mir eine große Hilfe, wenn du den Mörder schnappen würdest. Und jetzt mach dir nicht in die Hose, Kato-kun, vielleicht passiert dir ja gar nichts!“ Yagami klopfte seinem jüngeren Gehilfe auf die Schulter. „Also dann bis Morgen“ Ohne eine Miene zu verziehen schritt er an Kato vorbei und verließ das Gewächshaus. Dieser blickte ihm hilflos hinterher. „Yagami… Yagami!“, rief er und ließ den Kopf hängen. „Ich wusste doch, dass Polizist kein toller Job ist…!“
12. März 1982
Heute war ein seltsamer Tag. Ich habe das Gefühl, etwas in mir hätte sich verändert, doch ich kann nicht sagen, was es ist. Madame Kurenai war heute bei uns zu Besuch. Ich konnte sie noch nie sonderlich gut leiden, doch heute hat sie mich sehr erzürnt. Sie nannte mich einen Rüpel, der niemals eine feine Dame werden würde. Meine Eltern lachten darüber, doch ich fand das ganz und gar nicht lustig. Ich ärgerte mich fürchterlich darüber und plötzlich geschah etwas Merkwürdiges: ich fühlte, wie mir heiß wurde, meine Hände begannen zu zittern und der Tisch wackelte, als gäbe es ein Erdbeben. Ich hätte Madame Kurenai gerne ins Gesicht geschlagen oder sie angeschrien, doch dazu kam ich nicht, denn plötzlich zerbrach meine Tasse, die vor mir auf dem Tisch stand. Mir wurde schwindelig und ich kippte ohnmächtig vom Stuhl. Ich kann mir dies alles nicht erklären, jedoch habe ich das Gefühl, als hätte Madame Kurenai heute einen Zorn in mir geweckt, den ich noch nie zuvor verspürt hatte. Meine Mutter versucht mir einzureden, ein Erdbeben hätte meine Tasse zerspringen lassen, aber ich kann das nicht glauben; mich beschleicht das Gefühl, ich hätte irgendetwas damit zu tun…
(Aus den Tagebüchern der Sonoko Akamatsu)
Finster waren die Straßen, als läge ein gewaltiger Schatten über ihnen, der sogar das Weiß des Schnees zu absorbieren schien. Doch dies war nicht ungewöhnlich. Die verwinkelten kleinen Seitenstraßen von der Vorstadt Naganos, welche des Nachts nur von Drogendealern, Prostituierten und anderen zwielichtigen Gestalten genutzt wurden, sollten auch nicht hell sein; denn selbst wenn die wenigen Straßenlaternen, die dort existierten repariert wurden, wurden sie bereits in der nächsten Nacht erneut beschädigt.
Es gibt Orte an denen herrschen andere Gesetzte als auf den Hauptstraßen der Stadt. Orte, an denen Licht weniger beliebt ist, als Geborgenheit bietende Finsternis…
Langsam ging Ryo Yagami die schmalen Gassen entlang, die Hände hatte er in die Manteltaschen gesteckt und den Kragen hatte er aufgestellt, damit der Wind ihm nicht in das Genick blies. Obgleich er den Blick gesenkt hatte, als ob er die Straße beobachte, waren seine Augen wachsam und er bemerkte jede winzige Bewegung in seinem Umfeld. Ihm entging nicht der Mann, der hinter den Mülltonnen, nahe von ihm, mit einem Messer spielte; noch die Frau, die versuchte in einer kleinen Nische ihren Körper anzubieten; auch nicht die Schritte, die immer in demselben Abstand monoton hinter ihm her schritten, als wären sie das Echo seiner eigenen. Doch Yagami wusste es besser. Er kannte diese Gegend und die Gegend kannte ihn, auch wenn er schon lange nicht mehr dort gewesen war, war er nach wie vor ein Teil von ihr. Es hatte sich kaum etwas geändert, nur der eine oder andere Drogendealer war verstorben und es hatten sich mehr Prostituierte angesammelt als die Jahre zuvor, doch dies interessierte ihn nicht weiter. Yagami war nur aus einem einzigen Grund dort. Er war auf der Suche nach einer einzigen Person und er würde sie finden, völlig gleich, ob man ihn allmählich mehr und mehr in die Zange nahm und ihn schließlich angreifen würde oder nicht; er hatte sein Ziel noch nie verfehlt.
Gelangweilt stapfte er weiter durch den Schnee. Die Tatsache, dass das nasse Weiß den Boden bedeckte kam ihm sehr gelegen. Angreifer hätten es nun nicht leicht, da der tiefe Schnee sie behindern würde.
Warum greift ihr mich nicht an, ihr Feiglinge?, überlegte Yagami, während er die Präsenz von mindestens fünf Beobachtern verspürte. Worauf wartet ihr denn noch?
Als hätten sie seine Gedanken gehört, sprang plötzlich ein junger Mann hinter einem Container hervor und attackierte Yagami mit einem Messer. Doch dieser blieb gelassen. Mit einer sicheren Handbewegung packte er das Handgelenk des Mannes und drückte es fest. Augenblicklich wurde die Hand bläulich verfärbt und das Messer fiel ihm aus der Hand.
„Um mich zu töten müsst ihr euch schon etwas Besseres einfallen lassen, ihr Idioten!“, rief Yagami und stieß den Mann zurück gegen den Container. Sein Kopf prallte gegen das Metall und begleitet von einem stählernen Geräusch sank der Mann bewusstlos zu Boden. Weitere Angreifer sprangen aus ihren Verstecken hervor und begannen Yagami willkürlich mit Messern, Schlagstöcken und anderen Waffen zu attackieren; doch auch dies war ein leichtes Spiel für ihn. Messer wehrte er geschickt ab, nachdem er einem Mann einen Baseballschläger entrissen hatte, um sich auf gänzlich natürliche Weise gegen die Schlägerbande zu wehren. Bereits nach kurzer Zeit wusste Yagami, dass er ihnen sämtliche Knochen hätte brechen können, doch das war nicht sein Ziel. Daher bemühte er sich, sie auf menschliche Art davon zu überzeugen, sich zurückzuziehen, indem er ihnen gelegentlich Stöße oder Tritte verpasste, die sie im Schnee ausrutschen ließen oder auf andere Art zu Fall brachten.
„Was ist hier los?“, erklang plötzlich eine höhnende Stimme. Die Angreifer ließen von Yagami ab und zogen sich hastig zurück.
„Verzeihung, Arai-sama, wir wollten nur einen Eindringling zurechtweisen…“, erklärte einer von ihnen.
„Sieht eher so aus, als hätte er euch zurechtgewiesen…“
Ein Mann erschien aus der Dunkelheit, der die Männer von oben herab mit strafenden Blicken bedachte. Seine langen, blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und sein samtener, grüner Mantel verdeckte seien Statur derart gut, dass nicht leicht zu sagen war, ob er dick oder dünn war. Auf seinem Kopf prangte ein dunkelgrüner Zylinder, der ihm ein Aussehen wie aus einem anderen Jahrhundert verlieh.
„Und wen haben wir hier…“ Er näherte sich Yagami in schlenderndem Schritt, als befürchte er nichts von ihm. „Hat sich wieder jemand zu uns verirrt? Bist du vielleicht auf der Suche nach Drogen? Oder brauchst du eine gute Hure für dein Bett ode-“ Er hielt in der Bewegung inne, als sein Blick auf das Gesicht des fremden Mannes fiel. „Y-Yagami?“, presste er verdutzt hervor.
„Arai“, murmelte dieser unbeeindruckt vor sich hin. Dieser jedoch erschien weniger unbeeindruckt. „Was tust du verdammt noch mal hier?! Ich dachte du seist kein Teil mehr von uns!“, fauchte der blonde Mann wütend.
„Ein schlauer Mann hat mir einmal gesagt, dass man seinen Ursprung niemals verleugnen kann, selbst wenn Jahrhunderte vergangen sind, Arai“, erklärte Yagami kühl. „Ich bin gekommen um mit einer bestimmten Person zu sprechen – bringe mich bitte zu ihr“
„Yagami, ich habe hier das Sagen und nicht du! Wie kannst du es wagen mir Befehle zu erteilen?! Und mich einfach nur Arai zu nennen?!“, rief der Mann säuerlich, während er die Hände zu Fäusten ballte.
„Ich bin wortkarg, Arai. Dich Arai-sama zu nennen würde für mich zu viel Aufwand benötigen. Und jetzt bringe mich hinein in den Verband!“
Arai schüttelte den Kopf. „Ich glaube ich hör nicht richtig!“, rief er zornig. „Ich-“ Langsam hob Yagami die Handfläche in Arais Richtung und schloss die Augen. Die Luft begann zu vibrieren, es pochte nahezu in den Ohren. Still bewegte Yagami die Lippen, als spräche er tonlose Worte. Plötzlich war ein Knacken zu vernehmen, gefolgt von einem Klirren, als zerberste eine dicke Schicht aus Eis. Helles, bläuliches Licht umfing Yagami, ehe grelle bläuliche Blitze die Nacht erhellten, welche auf Arai zuschossen. Dieser stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, dann verstummte er schlagartig. Für einen Moment schien alles die Luft anzuhalten. Mürrisch betrachtete Yagami Arai, der zu Eis erstarrt auf der Straße stand.
„Dann betrete ich den Verband eben alleine“, erklärte er der Eisstatue und spazierte weiter die Straße entlang. Die Männer, die ihn kurz zuvor noch attackiert hatten, hasteten eilig zur Seite, um ihm den Weg frei zu machen.
„Was ist er?“, murmelte einer von ihnen. „Ist er auch so wie Arai-sama?“
„Scheint so…“, wisperte ein anderer bestätigend.
Ein zufriedenes Lächeln umspielte Yagamis Lippen. Es hatte ihm sehr gefehlt von seinen Kräften Gebrauch zu machen. Seit er dem Verband der Hexen und Magier entsagt hatte und sich für das Leben eines normalen Menschen entschieden hatte, hatte man ihm verboten in der Öffentlichkeit seine Kräfte zu gebrauchen. Normalerweise hätte der Verband seine Kräfte blockiert, jedoch war Yagami zu schnell untergetaucht, sodass er seine Kräfte behalten hatte können, wofür er nun doch sehr dankbar war.
Vor den umzäunten Ruinen einer alten Fabrik blieb er stehen. Aus den Augen der Menschen betrachtet, konnte man nur einsturzgefährdete Gebäude sehen, die von einem hohen Zaun umgeben waren, an dem Schilder mit der Aufschrift „Betreten auf eigene Gefahr“ oder „Achtung Einsturzgefahr“ angebracht waren. Betrachtete man das Gebäude jedoch, während man seinen Geist öffnete und ihn empfänglich für magische Energiequellen machte, erschien plötzlich ein gänzlich anderes Bild…
…der Zaun, zunächst aus Gitter, verformte sich zu schwarzem Metall, welches sich rankenähnlich ineinander verschlang, sodass es einen Zaun aus wunderschönen, verschnörkelten Blumen darstellte, deren Blütenblätter mit Blattgold überzogen waren. In der Mitte bildete sich ein Tor, welches von selbst aufschwang, als Yagami sich näherte. Ein weitläufiger Hof erstreckte sich vor ihm, als er das Gelände betrat, auf welchem unzählige Hexen und Zauberer in den verschiedensten Gewändern umherströmten, die Gegenstände transportieren, wichtige Unterlagen hin und her trugen oder gelegentlich in ein Gespräch versunken umherschlenderten. Obwohl es Nacht war, schienen im Verband alle fleißig zu arbeiten. In weiterer Ferne tauchte ein gewaltiges Bauwerk aus Stein auf, welches keinem üblichen Baustil angehörte. Es war nach und nach von verschiedenen Architekten erbaut worden, welcher jeder von einem anderen Stil beeinflusst gewesen zu sein schien, sodass neben orientalischen Kuppeldächern, gotischen Fensterrähmen und traditioneller japanischer Architektur auch Baustile enthalten waren, welche Yagami noch niemals zuvor gesehen hatte. Das Gebäude hatte keine wirkliche Form. Es war über und über mit Türmen und Ausbauten versetzt, sodass es aussah, als müsse es sogleich zusammenfallen. Oftmals, als er noch jünger gewesen war, hatte Yagami sich gefragt, ob das Gebäude auch ohne Magie hätte stehen können, oder ob es gelegentlich durch die Magie zusammengehalten wurde. Vor einem großen mit Diamanten und anderen Edelsteinen besetzten Tor, welches einer der ehemaligen Vorsitzenden des Ordens aus Indien mitgebracht hatte, blieb er stehen und klopfte. Es dauerte nicht lange, ehe eine schlanke Frau in einem dunkelroten, engen Satinkleid erschien. Ein buntes Blumenmuster zierte das dunkle Kleid, das auf einer Seite einen Schlitz bis fast zur Hüfte hinauf besaß. Ihr blondes Haar war von einer rosaroten Blume zusammengesteckt worden und verlieh ihr einen eleganten Ausdruck.
„Womit kann ich behilflich sein?“, fragte sie, während ein verführerisches Lächeln ihre roten Lippen umspielte. Im Normalfall hätte sie auf Männer eine überaus betörende Wirkung haben müssen, doch Yagami blieb kalt.
„Ich möchte mit dem Vorsitzenden des Verbands sprechen“, erklärte er sachlich. Die Frau wirkte verwirrt, wie es schien war sie es nicht gewohnt, dass Männer von ihrem guten Aussehen keinerlei Notiz nahmen. „Äh… dazu müssen Sie ein Formular ausfüllen und warten, bis er Sie empfangen kann und…“
„Es ist ein Notfall und wenn ich nicht heute noch mit dem Vorsitzenden sprechen kann, dann könnte sein, dass etwas sehr, sehr Schlimmes geschieht“, entgegnete Yagami indem er ihr das Wort abschnitt. Die Frau schnaubte verärgert, trat jedoch zur Seite und ließ ihn ein. „Und was ist das für ein Notfall?“, erkundigte sie sich forsch, während sie Yagami durch einen großen, von gewaltigen Säulen gestützten Empfangsraum führte, dessen Baustil an das antike Griechenland erinnerte. „Das ist eine Sache, die nur den Vorsitzenden etwas angeht“, antwortet dieser knapp.
„Na schön. Und was soll ich ihm sagen, wer so dringend mit ihm sprechen möchte?“ Provokant blickte sie Yagami in die Augen, der jedoch keine Miene verzog.
„Ryo Yagami“
Die Augen der Frau weiteten sich kurz, ehe sie den Mund zuklappte und wortlos nickte. „Setzen Sie sich, Yagami-san, ich werde umgehend Bescheid sagen…“ Sie eilte von dannen, wobei Yagami nicht wusste, ob sie dies tat, um schnell Bericht erstatten zu können oder um schnell von ihm fort zu kommen. Der Name Ryo Yagami war, wie es schien, noch immer in aller Munde. Ob ihm dies zu Gute kam oder nicht, würde sich noch herausstellen.
„Ryo Yagami?“, hallte plötzlich eine Stimme durch die Empfangshalle. Ein Mann mit Brille auf der Nase, der einen Stapel von Papieren in der Hand trug, blickte suchend im Raum umher.
„Das bin ich“, erklärte Yagami und erhob sich schwerfällig von einem Stuhl, auf den er sich soeben erst fallen gelassen hatte.
„Sehr gut“ Der Mann nickte ihm zu. „Mein Name ist Adachi, ich bin der erste Sekretär des Verbands. Ich bringe Sie zu Koyama-sama. Wenn Sie mir bitte folgen würden…“ Adachi führte Yagami einen breiten Gang entlang, an welchem zu beiden Seiten Pflanzenkübel, mit exotischen Pflanzen, standen. Am Ende des Ganges befand sich eine gewaltige Tür aus schimmerndem Messing, vor welcher vier Diener standen, welche die Tür aufschoben, sodass sie einen Weg in einen gewaltigen Raum offenbarte.
Das Innere der Halle war recht düster gehalten, überall brannten Kerzen und Fackeln steckten in den Wänden, während große, zerschlissene Vorhänge die Fenster verhängten, sodass tagsüber kaum Licht einfallen konnte. Die Halle war nahezu bis unter die Decke angefüllt mit Dokumenten, Büchern und anderen Arten von Papieren, welche sich in einer Vielzahl von wackeligen Holzregalen stapelten. Am Ende der Halle stand ein Schreibtisch, welcher, ebenfalls mit Papieren überhäuft, kaum noch als solcher erkennbar war. Ein Mann mit rötlichem Haar, dessen Gesicht beinahe auf einem Papier klebte, saß hinter dem Schreibtisch und schien etwas zu lesen, während sich das Licht der Kerzen in seinen dicken Brillengläsern spiegelte.
„Koyama-sama“ Adachi verbeugte sich tief, obwohl der Mann nicht von seinem Papier aufsah. „Ich bringe Ryo Yagami zu Euch. Er bittet um eine Audienz“ Der Sekretär verschwand durch die Tür nach draußen und ließ Yagami und Koyama alleine.
Koyama sah auf und musterte, durch die dicken Brillengläser, Yagami. „Du bist ein wenig dick geworden und klein“, stellte er überrascht fest.
„Vielleicht solltet Ihr die Brille abnehmen, Koyama-sama“, entgegnete Yagami monoton.
Der Mann kicherte. „Ja, ich sehe ohne sie ohnehin besser“ Er nahm das Gestell von der Nase und legte es andächtig auf seinen Schreibtisch. Aus wachsamen lindgrünen Augen musterte er den anderen Mann. „Nun, Yagami, was führt dich zu uns, obgleich du doch versichert hattest, nie wieder einen Fuß in dieses Gebäude zu setzten, geschweige denn ein Wort mit einem von uns zu wechseln…“ Koyama zuckte die Achseln. „Ich konnte nie wirklich nachvollziehen, aus welchem Grund du uns gleich alle verabscheuen musstest. Ich hätte dir den Platz des ersten Sekretärs angeboten – das Angebot steht immer noch“ Der Mann lächelte Yagami an, doch dieser seufzte nur. „Koyama-sama, ich…“
„Yagami, es schmerzt sehr, wenn du, der mein allerbester Freund war, derart förmlich mit mir redest! Also lass wenigstens das sama weg, wenn du mich schon nicht bei meinem Vornamen nennen möchtest“, entschied Koyama in gespielt beleidigtem Tonfall.
„Na schön“, gab Yagami seufzend nach. „Hör mal, Kouhei, ich bin dienstlich hier. Es gibt einen Mordfall, bei dem ich glaube, dass Magie im Spiel war“
„Magie?“, wiederholte Koyama, dessen geschauspielerte Lustigkeit urplötzlich verflogen war. Nachdenklich nickte er. „Das klingt spannend. Komm, Ryo, setz dich doch zu mir. Möchtest du einen Tee? Ich kann einen kochen. Ich kann dir auch Gebäck anbieten. Ich habe ganz tolles Gebäck aus Europa!“
„Nein, danke. Tee genügt vollkommen“, lehnte Yagami ab und nahm am Schreibtisch Platz. „Also, was war das für ein Mord?“, erkundigte sich Koyama interessiert, während er Teewasser aufsetzte.
„In einem Waisenhaus ist ein Junge ermordet worden. Er wurde mit einigen tiefen Schnitten ums Leben gebracht. Irgendjemand muss ihm die Energie ausgesaugt haben, sodass er weder Blut noch sonstige Lebensenergie zurückbehalten hat. Als er aufgefunden wurde, war er in vollständigem Eiszustand“, berichtete Yagami wahrheitsgemäß.
„Das heißt er war gefroren?“ Koyama nickte anerkennend „Das ist interessant“, stellte er erneut fest. „Und du glaubst, dass das mit Magie bewerkstelligt wurde… Nun, da gebe ich dir Recht, auf andere Weise kommt man wohl nicht zu einem derartigen Ergebnis. Es sei denn man steckt jemanden kurzzeitig in eine Gefriertruhe…“ Er machte eine Pause und goss den Tee ein, während er seinen Witz wirken ließ. Als Yagami dies jedoch ignorierte, fuhr er fort: „Hast du dir über mögliche Motive Gedanken gemacht? Und wer ist überhaupt das Opfer?“
„Das Opfer heißt Shinichi Sakai. Und wegen dem Motiv… Hexen und Magier ziehen meist nur dann von fremden Lebewesen Energie in sich, wenn sie selbst kaum noch Energie haben. Das heißt die Hexe oder der Magier, der die Energie abgezogen hat, hatte entweder keine Energie mehr – also vorher einen Kampf oder ähnliches – oder hat das aus Spaß gemacht“
„Oder ist aus dem Gefängnis ausgebrochen und musste sich erst wieder Energie beschaffen, weil man ihr im Gefängnis sämtliche Energie entzogen hat“, fügte Koyama hinzu. Da es im Gefängnis der Hexen und Magier üblich war, den Gefangenen die Energie zu absorbieren, um Ausbrüche zu vermeiden.
„Wie sollte die Person ohne Energie ausgebrochen sein?!“, warf Yagami ein. „Ich schätze eher, es war ein freier oder wilder Zauberer oder eine Hexe. Zumindest jemand, der nicht unserer Ordnung untersteht“
„Du meinst vielleicht einen Ausländer, der die japanischen Gesetze der Meldepflicht beim Orden nicht kennt?“, erkundigte sich Koyama verwirrt.
„Nein. Ich meine einen Gesetzlosen, der…“ Yagami brach ab. Für einen Moment wirkte sein Geist weit entfernt, an einem anderen Ort, an dem er nicht zu erreichen schien. Dann plötzlich schüttelte er den Kopf. „Ich weiß auch nicht, was ich meine“
„Nun, ich denke schon, dass du das weißt. Ich denke nur, du willst es mir nicht mitteilen, aber das ist nichts Neues“, befand Koyama, der seinen einstigen Freund aufmerksam musterte. „Wenn du möchtest kannst du aber gerne ein paar Tage hier bleiben und ich helfe dir bei den Nachforschungen, ob irgendjemand aus dem Gefängnis ausgebrochen ist oder, ob jemand gefährliches freigelassen oder gar freigekauft wurde. Genauso, wie ich mich überall erkundigen werde, ob in letzter Zeit ein ähnlicher Fall eingetreten ist. Und ich tue natürlich auch alles andere, was dir vorschwebt… Willst du vielleicht doch Gebäck?“ Koyama hielt ihm eine Platte mit unterschiedlichen Süßbackwaren vor die Nase, doch Yagami schob sie beiseite. „Ich möchte eine Liste aller Magier und Hexen, die jemals ein ähnliches Verbrechen begangen haben. Ich möchte wissen, ob die Familie Sakai, irgendeine Verbindung zu irgendwelchen Magiern hat und wenn ja, was für eine. Außerdem möchte ich wissen, wie, wann und warum seine Eltern ums Leben gekommen sind. Ich möchte eine Liste von allen Eismagiern und Eishexen in unserer Umgebung und ich benötige ein Telefon“, beendete Yagami seine Forderung.
„Ich denke den meisten dieser Bitten kann ich nachkommen. Warum benötigst du ein Telefon? Du hattest doch sonst nie Freunde zum anrufen“
„Mein Kollege ist noch im Tanaka-Waisenhaus, dem Tatort, und er wird dort für einige Zeit festsitzen, da ich mit dem Auto hierher gefahren bin. Ich möchte das Waisenhaus anrufen, damit er benachrichtigt wird und sich keine Sorgen macht, wenn ich etwas länger benötige“, erklärte Yagami.
Koyama nickte verständnisvoll. „Dann hat es also das Tanaka-Waisenhaus erwischt… Das ist wirklich interessanter als ich dachte…“, murmelte er vor sich hin. Er nahm einen Schluck Tee zu sich, ehe er fortfuhr. „Also du wirst deine Listen bekommen, völlig gleich, wie lange es dauern wird. Was mich jedoch interessiert ist: Warum fragst du wegen den Familienhintergründen nicht im Waisenhaus nach? Die haben doch bestimmt auch Aufzeichnungen oder notieren sich zumindest einige Dinge, bevor sie ein Kind aufnehmen“
Yagami nickte. „Das stimmt schon. Aber ich bekomme keinen Einblick ins Archiv. Oder besser gesagt: Es wird behauptet, es gäbe kein Archiv. Mir wurde gelegentlich erklärt Sakai-kuns Eltern wären bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Aber jeder weiß, dass das einer der schlechtesten Gründe auf der ganzen Welt ist, den man aufführt, wenn man die wahre Todesursache nicht nennen möchte“
„Aha“ Koyama lehnte sich zurück. „Und wie kommst du darauf, dass sie nicht bei einem Autounfall gestorben sind?“
„Der Junge war scheinbar schwer traumatisiert als er ins Waisenhaus kam. Er hat mit niemandem gesprochen, zumindest in den ersten Jahren, die er dort verbrachte. Er hatte oft Alpträume und hat immer herumgeschrien „sie“ würden kommen. Niemand weiß, wen er meinte, aber das klingt nicht so, als ob er von der Nachricht, dass seine Eltern bei einem Autounfall gestorben seien, traumatisiert worden wäre. Für mich klingt das so, als wären seine Eltern ermordet worden und das vielleicht sogar von Magiern“
Koyama sog scharf die Luft ein, hielt sie für einen Moment und stieß sie dann langsam wieder aus. Dann nickte er langsam. „Ich verstehe, was du meinst und worauf du hinaus möchtest. Leider ist deine Argumentation etwas schwammig und wenig überzeugend aber ich weiß, dass dein Gefühl dich kaum trügt, daher vertraue ich deinem Instinkt. Dass du jedoch gegen Hexen und Magier ermitteln möchtest, wird dir einen schlechten Stand bei deinen Artgenossen einbringen. Möglicherweise schlechter, als er sowieso schon ist. Außerdem dürfte sich dies außerordentlich schwierig erweisen, solange du kein Mitglied des Verbands bist…“ Er nahm etwas von dem europäischen Gebäck und aß davon. „Ich weiß natürlich, dass du eine erneute Mitgliedschaft im Verband keineswegs annehmen würdest, solange dein Stolz noch am Leben ist, daher werde ich dir auch keines Falls einen Antrag auf Wiedereingliederung in den Verband vorschlagen. Und da ich weiß, dass du außerordentlich stur bist, werde ich auch auf keinen Fall versuchen dich zu überreden, wieder ein Mitglied des Ordens zu werden, weil ich ja weiß, dass du lieber ein normaler Mensch bist und kein Magier. Ich werde dir auch nicht unter die Nase reiben welche unendlichen Vorteile eine Mitgliedschaft im Verband hätte und wie sehr ich dein Wiedereingliederungsverfahren beschleunigen und dir somit zu einer raschen Mitgliedschaft verhelfen könnte. All das interessiert dich ja eh nicht, deswegen werde ich dein Desinteresse zur Kenntnis nehmen und dir von alledem nichts verraten…“
„Kouhei, spiele nicht den Beleidigten“, ermahnte Yagami seinen früheren besten Freund streng.
„Aber ich bin beleidigt!“, entgegnete dieser in gespielter Verzweiflung. „Und das schon seit Jahren! Du warst einer der besten Absolventen der Magieakademie, hast eine der besten Ausbildungen für den richtigen Umgang mit Eismagie abgelegt. Du warst ein Meister – du hättest Schüler haben sollen! Aber nein, du hast plötzlich keine Lust mehr darauf, Magier zu sein und verschwindest einfach so!“
„Kouhei…“ Yagami wirkte verwirrt.
„Und jetzt tu nur nicht so, als ob es dich wundern würde, dass ich mich nicht darüber gefreut habe den unfreundlichen, abweisenden, hochintelligenten Ryo Yagami loszuwerden! Es ist wohl wahr, dass es nicht so viele gewaltsame Auseinandersetzungen mit eingefrorenen Menschen mehr in unseren Räumlichkeiten gab, seit du von hier verschwunden bist, aber das heißt nicht, dass es besser geworden ist. Ganz im Gegenteil: Jetzt sind alle idiotischen, halbadeligen Magier plötzlich der Meinung sich aufspielen zu können, als wären sie unser verstorbener König“
„So wie Arai?“, erkundigte sich Yagami.
„Ja genau. Hast du ihn getroffen?“
Yagami nickte. „Sozusagen…“
„Nun, die Zeiten haben sich geändert, Ryo, du kannst zu uns zurückkehren und uns helfen alles wieder in Ordnung zu bringen“, schlug Koyama vor. „Ich würde mich sehr freuen jemanden an meiner Seite zu haben, der nicht durch das Lächeln hübscher Frauen gleich käuflich wird“
„Egal ob ich zurück komme oder nicht, Kouhei, ändern wird sich gar nichts!“ Yagami erhob sich und wandte sich zur Tür. „Ich werde im Eingangsbereich nachfragen, ob man mir hier ein Zimmer zuteilen kann und ein Telefon. Gute Nacht“
„Ich würde gerne wissen, was dir deine Einstellung zu uns Hexen und Magier derart verdorben hat, Ryo“, rief Koyama ihm hinterher, ehe Yagami durch die Tür verschwand, doch Koyama sprach gedankenverloren weiter: „Du warst zwar schon immer mürrisch aber trotzdem hast du an uns geglaubt. Du hast geglaubt, dass auch ohne die Königsfamilie die Hexen und Zauberer zusammengehalten werden können, dass der Orden genügend Kraft haben wird, um es allen Recht zu machen und das Königshaus ersetzten zu können. Du warst doch sonst immer zuversichtlich, dass sich alles zum Guten wenden würde. Warum siehst du nun nur noch die Magier, die ihre Kräfte für ihre egoistischen Ziele missbrauchen? Es gibt auch solche Magier, die anders sind…“ Koyama stand auf und schritt zu einem Bücherregal. Heraus zog er ein altes, dickes Buch, welches mit Fotos bestückt war und blätterte es durch. Er betrachtete Frauen in schönen Kleidern, Männern in feiner Garderobe und Kinder, die Stolz auf den Bildern ihre Spielsachen präsentieren. „Oder hast du einen ganz anderen Grund, Ryo?“, überlegte Koyama weiterhin. „Gibt es etwas, das ich übersehen habe? Ein Verbrechen dir gegenüber, das die Welt der Magier begangen hat, welches nicht mehr gutzumachen ist?“ Er strich mit den Fingern über das Bild eines jungen Mannes mit dunklem Haar, der zwischen vielen anderen jungen Männern stand und leicht mürrisch in die Kamera blickte. Neben ihm stand ein junger Mann mit rötlichem Haar, dessen lindgrüne Augen begeistert in die Kamera leuchteten. „Wer gibt dem Schicksal seinen Lauf? Und wer entscheidet, ob dieser Lauf gut oder schlecht ist?“
Nachdenklich griff er zum Hörer eines goldenen Telefons, das er erst unter unzähligen Stapeln von Papieren hervorkramen musste. Er wählte eine Nummer und wartete, bis sich jemand meldete.
„Hallo, Koyama hier“, meldete er sich schließlich. „Ich habe eine Bitte an Sie. Ich möchte die Akte über Ryo Yagami… Ja, genau, Ryo Yagami. Und auch alle anderen Informationen, die Sie mir über ihn beschaffen können… Ach und haben Sie auch Unterlagen über eine Familie Sakai? Ja? Ja, diese auch. Vielen Dank. Auf Wiederhören“ Er legte den Hörer auf und betrachtete erneut das Foto, welches von Yagami und ihm vor langer Zeit gemacht worden war. „Ryo… Wir brauchen dich mehr, als du dir vorstellen kannst…“
Sanft wiegte sich die Puppe hin und her im Takt einer melancholischen, jedoch wunderschönen Melodie. Ihre roten Haare flogen im Takt und ihr dunkelgrünes Kleid wallte bei jeder einzelnen ihrer anmutigen Bewegungen. Immer schneller und schneller wurde sie. Sie begann sich zu drehen, hektisch zu drehen, während sie anfing zu lachen, schrill und gellend. Die Musik wurde dissonant und begann in den Ohren zu schmerzen. Die Haut der Puppe, zunächst porzellanweiß und makellos wurde plötzlich fleckig und schwarz und ihre Haare begannen sich zu entzünden. Doch sie lachte und lachte und hörte nicht auf. Ihre Augen wurden rot, wie die Flammen, die ihren Kopf umrahmten und dann öffnete sie ihren Mund und ein Schwall von Blut troff auf ihr grünes, samtiges Kleid. Der Stoff saugte das Blut auf und verfärbte sich augenblicklich in undefinierbares Dunkel.
„Komm zu mir!“, lachte sie, während sie eine Hand ausstreckte. „Komm zu mir, meine Kleine!“ Plötzlich trat an die Stelle der Puppe eine andere Gestalt. Ein Mann, dessen Gesicht von Blut befleckt war, stierte sie aus blutroten Augen an. „Komm zu mir!“, befahl er. „Komm zu mir, meine Kleine!“
Sayu schrak zusammen und setzte sich auf. Ihr Herz raste und ihr, von Schweiß durchnässter, Körper zitterte so heftig, dass es ihr schwerfiel zu atmen. Hektisch wanderten ihre Augen hin und her und musterten ihre Umgebung. Sie befand sich in einem Bett. Rings um ihr Bett hingen weiße Leinenvorhänge, die als Sichtschutz dienten. Es dauerte einige Sekunden ehe Sayu sich darüber bewusst wurde, wo sie sich befand.
Das ist das Krankenzimmer, dachte sie erleichtert, wobei sie sich zurück in die Kissen sinken ließ. Ich bin im Krankenzimmer und hatte einen Albtraum… Sie atmete mehrere Male tief ein in dem Versuch ihren Atem zu normalisieren und sich zu fangen. Sie hatte einen Albtraum von ihrer Puppe gehabt; von der Puppe, die sie über alles liebte.
Puppe… Tote Menschen glichen Puppen. Dies hatte Sayu nun herausgefunden, als sie den Jungen im Gewächshaus gefunden hatte. Doch verwunderlicher Weise hatte sie seither kein einziges Mal von ihm geträumt, sondern stets nur von ihrer eigenen Puppe, die in gewisser Weise mutierte und ihr Schaden zufügen wollte.
Wie viel Zeit seither wohl vergangen ist?, überlegte Sayu. Sie hatte kein Fenster in ihrer Nähe, um die Tageszeit an den Lichtverhältnissen abzuschätzen und die Oberkrankenschwester hatte ihr ausdrücklich verboten das Bett zu verlassen, ebenso, wie andere zu empfangen. Einige Male hatte sie eine männliche Stimme vor dem Vorhang gehört. Der Mann hatte beteuert Polizist zu sein und Sayu einige Fragen stellen zu wollen, doch die Oberkrankenschwester Mami hatte ihn stets fortgejagt, sodass Sayu ihn nie zu Gesicht bekommen hatte. Doch sonst war noch niemand erschienen, um sie zu sprechen. Weder Yumi noch Tanaka-san noch sonst irgendjemand. Sie seufzte. Sie fühlte sich einsam, einsamer denn je und sie wusste nicht warum. Der Junge der gestorben war, war kein wirklicher Bekannter von ihr gewesen. Er war einer der Ordnungshelfer aus dem Jungenflügel. Seinen Namen kannte sie nicht. Dennoch hatte sie sich mit ihm in gewisser Weise verbunden gefühlt, leider wusste sie nicht recht aus welchem Grund.
Als wäre er wie ich…, überlegte sie. Doch was brachte sie zu dem Gedanken? Alle Kinder im Waisenhaus waren wie sie – einsame Waisen, die darauf warteten alt genug zu sein, um vor die Tür des Hauses gesetzt zu werden und dann nicht zu wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollten.
„Sayu-chan?“, erklang eine forsche, weibliche Stimme. Kurz darauf erschien ein dickliches, rosiges Gesicht hinter dem Vorhang, welches der Oberkrankenschwester Mami gehörte. „Wie geht es dir?“ Sie schob ihren stark untersetzten Leib zu Sayus Bett heran, setzte sich auf einen knarrenden Holzstuhl, der unter ihrem Gewicht ächzte und nahm ihre Hand, um ihren Puls zu fühlen.
„Vielen Dank, Mami-san“ Sayu lächelte, erfreut darüber jemanden zu Gesicht zu bekommen, auch wenn es sich nur um eine Krankenschwester handelte. „Es geht mir wirklich sehr gut“
„Das denkst du nur“, murmelte die dicke Frau vor sich hin. „Kleine Mädchen, wie du, wollen immer so schnell wie möglich wieder aus dem Krankenzimmer raus, auch wenn sie in schlechtem Zustand sind. Jungen hingegen wollen immer länger bleiben, um von meinen jungen, hübschen Schülerinnen versorgt zu werden“ Sayu kicherte. Das konnte sie sich vorstellen. „Aber es geht mir wirklich gut“, beteuerte sie beharrlich.
Misstrauisch hob die Oberkrankenschwester eine Augenbraue an und musterte das Mädchen skeptisch. Sie war streng, zumindest gab sie sich nach außen hin so, jedoch war sie tief in ihrem Inneren eine unglaublich fürsorgliche und freundliche alte Dame, die sich gerne in ihrer Pause mit Frau Tanaka zum Teetrinken traf. Hoffnungsvoll blinzelte Sayu aus ihren großen, braunen Augen zu der alten Frau empor, doch diese schüttelte den Kopf. „Eine Nacht bleibst du noch hier“, entschied sie. „Und keine Widerrede!“ Sayu nickte bedauernd.
„Ich schicke dir jetzt einen Herrn von der Polizei herein. Wenn er dir unangenehm wird, dann läute die Glocke, die neben deinem Bett hängt und ich befördere ihn wieder nach draußen“, erklärte die Frau schroff, doch Sayu konnte deutlich ihren amüsierten Unterton wahrnehmen. Mami war keine schlechte Frau, doch hatte sie es gern andere Menschen einzuschüchtern. Besonders Männern gegenüber war sie oft unhöflicher als notwendig. Die älteren Kinder erzählten, sie hätte nie einen Mann gefunden, der sie liebte, daher wäre sie derart unfreundlich dem männlichen Geschlecht gegenüber.
„Das werde ich, Mami-san“, versicherte Sayu der Oberkrankenschwester. Diese brummte zufrieden und verschwand hinter dem Vorhang. „Sie können jetzt rein zu ihr“, hörte Sayu sie draußen murren. Kurze Zeit darauf hob eine Hand vorsichtig den langen Vorhang zur Seite. Ein blasser Mann mit rötlichen Haaren und rötlichbraunen Augen blickte freundlich zu ihr hinüber.
„Hallo Sayu“, begrüßte er sie lächelnd und trat langsam ein. „Ich bin Yushi Kato von der Polizei“ Er verbeugte sich etwas vor ihr, ehe er in einiger Entfernung von Sayus Bett stehen blieb und sie vorsichtig musterte. Sayu tat es ihm gleich. Der Mann wirkte freundlich. Etwas Positives umgab ihn, etwas, das vielen Menschen im Waisenhaus zu fehlen schien, doch Sayu konnte nicht herausfinden, was es war.
Vielleicht ist es einfach die Tatsache, dass er eine Familie hat und weiß, wohin er gehört. Im Gegensatz zu uns Waisenkindern, mutmaßte sie. Sie betrachtete ihn weiterhin ohne die Stille zu bemerken, welche sich wie eine Decke über sie gelegt hatte. Das plötzliche Räuspern des Polizisten riss das Mädchen aus den Gedanken und holte sie zurück in die Wirklichkeit.
„Setzten Sie sich doch bitte, Kato-san“, forderte sie den Polizist schließlich auf, während sie auf den Stuhl, der neben ihrem Bett stand, deutete.
„Ja, vielen Dank“ Hastig eilte der junge Mann auf den Stuhl zu und nahm Platz. „Wie geht es dir, Sayu-chan?“, erkundigte er sich vorsichtig.
„Es geht mir sehr gut. Ich fühle mich nur etwas schwach, weil…“ Sayu überlegte, was sie sagen sollte. Die Wahrheit wäre, dass sie schwach war, da sie viele Alpträume von ihrer Puppe gehabt hatte und allmählich nicht mehr schlafen konnte, doch dies war ihr überaus peinlich vor einem Polizist zuzugeben.
„Nun, das ist auch verständlich. Das Essen, das euch hier serviert wird stärkt auch nicht unbedingt“, nahm der Polizist gekonnt das Gespräch wieder auf und erlöste Sayu von der peinlichen Stille. Diese nickte zustimmend, das Essen war wirklich nicht gut.
„Sie wollten mir Fragen stellen, Kato-san?“, erkundigte sie sich neugierig.
Der Polizist nickte langsam. „Natürlich nur, wenn du dich in der Lage fühlst, darüber zu reden…“, begann er.
„Ich fühle mich in der Lage dazu. Aus irgendeinem Grund hat mich der Vorfall gar nicht so sehr in Angst versetzt“, erklärte Sayu.
„Es ist schön zu hören, dass du dich erholt hast. Du hast jetzt auch seit dem Vorfall durchgeschlafen…“
„Wie lange ist es denn her?“, wollte Sayu wissen.
„Zwei Tage“
„Zwei Tage?“ Sayu war verblüfft. Für sie fühlte es sich an, als wären bereits Wochen vergangen. Sie fühlte sich eigenartig, als hätte sie sich verändert…
„Du scheinst wirklich eine gute Verfassung zu haben, so leicht wie du den Schock weggesteckt hast“ Der Polizist lachte herzhaft, während Sayu begann auf ihrer Unterlippe herum zu kauen.
Sie nickte. „Dann mussten sie schon nicht so lange warten“, murmelte sie.
„Das wäre auch nicht weiter tragisch gewesen. Mein Partner, der mich mit dem Auto hierher gefahren hat, ist sowieso bisher nicht zurückgekommen, um mich abzuholen…“
Kato wirkte etwas traurig und ließ für einen Augenblick den Kopf hängen. Doch im nächsten Moment umgab ihn bereits wieder die glückliche Aura und er setzte das Gespräch unbehelligt fort. „Also, Sayu-chan, ich wollte dir Fragen stellen – das hätte ich jetzt doch beinahe vergessen!“ Sayu lachte und auch er lächelte vor sich hin, während er ein Notizbuch herausholte. „Also… wie wäre es, wenn wir die Befragung mal anders gestalten? Ich stelle dir keine gezielten Fragen, sondern du erzählst mir einfach alles, so wie es passiert ist“
Das Mädchen nickte zustimmend. „In Ordnung. Also…“ Sayu erzählte alle Einzelheiten: wie sie den Schneeflocken beim Tanzen zugesehen hatte. Und wie sie plötzlich die Gestalt gesehen hatte. Auch von den Anweisungen, die sie Yumi erteilt hatte, erstattete sie Bericht. Erst, als sie von dem Hof berichten wollte, und davon, wie sie im Schnee getanzt hatte, hielt sie inne. Sie erinnerte sich an ihren Tanz mit den Schneeflocken. Wie sie sich gefühlt hatte, als würde sie schweben inmitten des leichten Treibens der Schneeflocken. Sie lächelte vor sich hin und vergaß für einen Moment gänzlich weiterzuerzählen.
„Und dann?“, erkundigte sich der Polizist neugierig.
„Äh…“ Sayu blickte verlegen auf ihre Hände. „Ich habe im Schnee getanzt“, gestand sie, während die Röte in ihr Gesicht stieg.
„Warum ist dir das peinlich? Das ist doch toll. Ich habe als Kind immer im Herbstlaub getanzt – das hat mir Spaß gemacht“, erzählte Kato, um Sayu die Scham zu nehmen. „Also und was geschah, als du fertig warst mit deinem Tanz?“
„Zuerst gar nichts. Und dann hörte ich plötzlich ein Klirren. Ich wusste sofort, dass es von den Gewächshäusern kam und ging gleich dorthin, um nach dem Rechten zu sehen. Ich bemerkte das Loch in der Wand und dann die Blutspuren… Als Ordnungshelferin wurde mir beigebracht, dass ich Kindernin Not helfen muss, also ging ich ins Gewächshaus hinein und dort fand ich dann den Jungen. Tot und so kalt wie der Schnee…“
Nachdenklich schweifte Sayus Geist zurück ins Gewächshaus und erinnerte sich an den Anblick des gefrorenen Jungens. Ein sanfter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, ein Frösteln, vielleicht begründet durch die Kälte, vielleicht begründet durch den Tod des Jungens.
„Du sagtest, als du den Jungen gefunden hättest, wäre er bereits kalt wie der Schnee gewesen. Aber sagtest du nicht, er hätte kurz darauf noch das Klirren verursacht, indem er die Scheibe eingeschlagen habe?“
Sayu seufzte. „Ja, ich bin sofort hingerannt, nachdem ich das Klirren gehört habe. Ich denke das hat nur wenige Minuten gedauert, aber er war bereits so kalt, dass meine Träne auf seinem Körper gefror…“
Langsam, gedehnt stieß Kato die Luft aus und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Das ist interessant…“, erklärte er. Sayu blickte ihn neugierig an. „Weißt du, Sayu-chan, wenn jemand stirbt, dann ist er zuerst noch ganz warm, so als würde er noch leben - deswegen wissen manchmal Menschen nicht, ob jemand nur bewusstlos oder tot ist - und erst nach einiger Zeit wird der Körper dann richtig kalt. Aber, dass der Körper innerhalb von so kurzer Zeit so kalt ist, dass eine Träne sofort gefriert – das ist in der Tat selten“
„Meinen Sie, dass ich lüge?“, erkundigte sich Sayu verunsichert.
Kato schüttelte den Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Die Krankenschwestern haben ebenfalls gesagt, als sie ihn gefunden haben wirkte es so, als hätte er bereits seit Tagen im Schnee gelegen und wäre beinahe zu Eis erstarrt und das, obwohl er zwanzig Minuten zuvor noch lebendig gewesen war – zumindest sagt das sein Kollege aus…“
Stille legte sich über die beiden. Für einen Moment blickte Sayu auf ihre Hände und Kato auf die seinen, ehe er fortfuhr.
„Glauben Sie, der Junge wurde von einem anderen Ordnungshelfer ermordet?“, wollte Sayu wissen. Kato blickte sie an. Erstaunen, sowie Entsetzen waren in ihrer Stimme mitgeschwungen.
Das Mädchen scheint ein unglaubliches Vertrauen in die Kinder im Waisenhaus zu haben…, überlegte er.
„Ich glaube gar nichts, Sayu-chan, als Polizist ist es meine Aufgabe, sich an die Fakten zu halten“, erklärte der Polizist ruhig. „Ich muss nur verschiedene Möglichkeiten in Betracht ziehen und in jegliche Richtung ermitteln, um die richtige Lösung herauszufinden. Ich könnte genauso gut dich verdächtigen und behaupten, du hättest den Jungen bereits vor Tagen ermordet und ihn irgendwo in den Schnee gelegt und dann erst ins Gewächshaus gebracht. Aber das wäre sehr weit hergeholt“ Kato lachte, doch als er Sayus besorgtes Gesicht bemerkte, hörte er abrupt auf damit.
„Ich verstehe Sie, Kato-san. Und ich wäre Ihnen nicht einmal böse, wenn Sie diese Möglichkeit in Ihr Notizbuch schreiben würden“, äußerte Sayu. „Ich finde auch nicht, dass das lustig ist, vor allem nicht daher, da es um ein Menschenleben geht. Haben Sie noch andere Fragen?“
Kato schluckte hörbar und im nächsten Moment tat Sayu ihre schroffe Art außerordentlich Leid. Sie hatte diese Art selbst nicht verstanden. Normalerweise war sie stets freundlich und lustig. Diese schroffe Art im Umgang mit anderen Personen passte nicht zu ihr. Erschreckt darüber, wie unhöflich sie gewesen war, streckte sie ihre Hand nach dem Polizisten aus. „Ich… ich wollte Sie nicht verletzten“, stammelte sie. „Ich… glaube… mir geht es noch nicht so gut“
Doch Kato schien nicht verletzt zu sein. Er lächelte und drückte die Hand des Mädchens kurz, ehe er den Kopf schüttelte. „Unsinn. Das war in Ordnung. Ich rede immer zu viele Dinge, die andere Menschen stören und bekomme deswegen oft genug Ärger. Mach dir daraus nichts. Wenn du etwas nicht in Ordnung findest, dann ist es dein Recht, dies zu äußern“
Sayu nickte. „Das ist das erste Mal, dass mir das jemand sagt und dann auch noch ein Polizist – das ist komisch…“
„Na und? Polizisten sind doch auch nur Menschen“, verteidigte sich Kato gespielt beleidigt. „Was ist daran komisch, wenn ein Polizist auf das Befinden seiner Befragten Rücksicht nimmt?“
„Ich finde Sie sind nicht der typische Polizist, Kato-san“, fand Sayu. „Sie sind nicht ernsthaft und erwachsen genug“
„Und das sagt mir gerade ein kleines Mädchen“, witzelte Kato. „Aber schön. Ich glaube in diesem Fall hast du sogar Recht. Ich bin kein guter Polizist, das ist kein Geheimnis. Aber weißt du was der große Trick ist, Sayu-chan?“ Er sah das Mädchen fragend an, doch dieses schüttelte nur langsam, verneinend den Kopf. „Der Trick ist, seine Schwächen so gut zu überspielen, dass sie sogar einem selbst wie Stärken vorkommen – aber ich philosophiere zu viel herum! Wir befinden uns mitten in einer Befragung!“ Kato warf einen Blick in sein Notizbuch und studierte einige Sekunden lange seine Einträge. Derweil unterzog Sayu ihn einer weiteren, tiefgehenden Musterung. Obwohl Kato zugab Schwächen zu haben, strahlte er Stärke aus. Und obwohl er wohl an diesen Schwächen zu nagen hatte, fand er sich damit ab, dass er sie besaß und akzeptierte sie, als ein Teil von ihm. Und da wusste sie plötzlich, was es war, das Kato von den Menschen im Waisenhaus unterschied, es war die Tatsache, dass er Fehler beging und dennoch lachte und Freude versprühte, ohne in Scham oder Gram zu ersticken. Den Menschen im Waisenhaus wurde beigebracht, sie müssten alles perfekt machen. Kinder, die gegen Regeln verstießen oder deren Verhalten den Anforderungen nicht entsprach, wurden dementsprechend gezüchtigt oder zurechtgewiesen und durften sich denselben Fehler nicht noch einmal erlauben. Und wer lachte nachdem er zurechtgewiesen wurde, der bekam noch einmal eine Bestrafung. Das Leben im Waisenhaus war hart, dies war Sayu bewusst, aber war es außerhalb der großen Mauern des Hauses leichter? Daran wagte sie zu zweifeln.
„Nun gut, Sayu“, nahm Kato das Gespräch wieder auf. „Ich danke dir für deine Mitarbeit. Und falls dir noch etwas einfallen sollte, kannst du dich jederzeit an mich wenden“ Der Polizist erhob sich und wandte sich zum Gehen, doch Sayu hielt ihn zurück.
„Kato-san“, rief sie ihm nach. „Warten Sie bitte“
Der Mann hielt in der Bewegung inne und betrachtete das Mädchen fragend. „Was gibt es denn?“
„Der Junge… ist er wirklich ermordet worden?“ Eine starke Verunsicherung zitterte im Klang ihrer Stimme, als sie diese Worte sprach. Beinahe glaubte Kato einen flehenden Unterton mitschwingen zu hören, der ihn darum bat, ihr das Gegenteil zu bestätigen.
Ein Achselzucken drückte die Ratlosigkeit des Polizisten aus. „Das wissen wir noch nicht. Aber wir werden es herausfinden. Das ist schließlich die Aufgabe der Polizei“ Sayu noch einmal winkend, verschwand der Polizist hinter dem Vorhang und ließ das Mädchen erneut alleine. Sogleich legte sich Stille über das Krankenzimmer und Sayu fragte sich, wann es wohl Nachmittag sein würde.
Die Zeit schlich dahin und allmählich überkam Sayu eine gewaltige Müdigkeit. Die Augen kippten ihr des Öfteren zu und auch wenn sie wach war, schien sie sich in einer Art Unwirklichkeit zu befinden. Alles um sie herum schien zu wabern und hin und wieder drehte es sich um sie herum wie bei einer Karussellfahrt. Dann fielen ihr endgültig die Augen zu und sie sank in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.
„Sayu-chan? Sayu-chan!“
Jemand rüttelte an ihrer Schulter und riss sie aus dem Nichts.
Sayu öffnete die Augen und nahm verschwommen das Bild eines blassen Mädchens, welches sie aus besorgten Augen musterte, wahr.
„Yu-mi?“, fragte Sayu, als sie ihre beste Freundin erkannte. „Sayu, du bist wach!“ Yumi fiel ihr um den Hals, wobei ihre schwarzen Zöpfe in Sayus Gesicht fielen.
„Ja, ich bin wach…“, murmelte Sayu. „Wartest du denn schon lange hier?“
Yumi ließ ihre Freundin los und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. „Nein. Aber ich bin mehrmals heute Nachmittag vorbeigekommen, um nach dir zu sehen. Gestern übrigens auch, aber da hast du durchgeschlafen wie ein Stein“, erklärte sie. Sie kramte in ihrer Tasche und holte einen Stapel Papiere hervor. „Ich habe dir alles aus Moriyama-senseis Unterricht mitgenommen, damit du es nacharbeiten kannst, falls du Langeweile hast“ Sie legte den Stapel auf ein kleines Tischchen, welches am Bett angebracht war. Missmutig beäugte Sayu die Papiere. Sie hatte nicht sonderlich viel Interesse daran, viel Unterrichtsstoff nachzuarbeiten.
„Wie geht es dir jetzt?“, erkundigte sich Yumi besorgt.
Sayu hob die Schultern. „Ich…“
„Der Polizist meint, du stehst noch unter Schock und wärest deswegen so unbeteiligt und gefasst“ Yumi musterte Sayu aufmerksam. „Aber auf mich machst du einen völlig normalen Eindruck…“
Sayu nickte. „Das will ich auch mal hoffen. Alles andere würde mich beunruhigen“ Sie lächelte, als sie Yumis besorgte Miene sah. „Du musst dir wirklich keine Sorgen um mich machen, Yumi-chan! Mir geht es prima!“
„Ja… ich hoffe das bleibt auch so…“ Eine Falte zeichnete sich zwischen Yumis Augenbrauen ab. Eine Falte, die besagte, dass sie sehr angestrengt über etwas nachdachte.
„Was ist denn?“, wollte Sayu wissen.
Langsam stieß ihre Freundin die Luft aus, ehe sie stockend zu sprechen begann. „Ähm… weißt du…“ Sie brach ab. Wie es schien wusste sie nicht recht, wie sie beginnen sollte.
„Sag es doch einfach, Yumi“
„Es gibt Gerüchte“
„Was für Gerüchte?“
Yumi blickte auf das weiße Laken des Bettes, während sie an einem ihrer Zöpfe zu drehen begann. „Also ich weiß, dass an den Gerüchten nichts dran ist, Sayu, ich möchte nur, dass du weißt, dass es sie gibt und dass du sie dir nicht so zu Herzen nimmst und…“ Sie ließ den Kopf hängen, als ihre Stimme zu versagen drohte. Nachdenklich ließ Sayu den Blick über Yumis Gesicht schweifen. Noch nie zuvor hatte sie diese derart niedergeschlagen gesehen. Auch ihre Körperhaltung war vornüber gebeugt, als trage sie eine schwere Last auf ihrem Rücken.
„Yumi, was sind es denn für Gerüchte?“
„Manche Kinder sagen, du hättest Sakai-kun getötet“ Yumis Antwort, obgleich ihre Botschaft schockierend war, kam über ihre Lippen wie sanftes Wispern. Die Worte, kaum zu vernehmen, schlugen Sayu entgegen, als hätte Yumi ihr einen Stoß in den Magen versetzt.
„Was?“, keuchte sie ungläubig.
„Das sagen nicht viele…“, versuchte Yumi hektisch sie zu beruhigen. „Nur ein paar…“
Sayu schnappte nach Luft. Mit so einem Gerücht hatte sie nicht gerechnet.
Wer kommt auf so eine Idee? Schädigt das jetzt meinen Ruf als gute Ordnungshelferin?! Ja – bestimmt! Na toll… Warum sollte ich diesen Jungen überhaupt umbringen? Diesen… wie hieß er nochmal… Saika? Was sollte ich bitte für Motive haben?! Fragen über Fragen häuften sich in ihrem Kopf an. Fragen, die nach einer Antwort suchten. Fragen, die danach schrien ausgesprochen zu werden. Wie gerne hätte sie diese Fragen hinaus auf den Gang gebrüllt, auf dass jene, die diese Gerüchte in Umlauf gebracht hatten, ihr Rede und Antwort stehen mussten. Doch so sehr sie das Bedürfnis zu Schreien verspürte, wusste sie auch, dass dies die falsche Reaktion gewesen wäre.
Wenn ich mich jetzt aufrege, haben die, die diese Gerüchte verbreiten ihr Ziel erreicht. Sie wollen mich bloßstellen und das lasse ich mir nicht bieten! „Ach, was sind schon Gerüchte“ Sayu vollführte eine wegwerfende Handbewegung und versuchte Yumi dabei überzeugend anzulächeln. „Ich denke das ist dummes Gerede von dummen Leuten. So etwas verdirbt mir doch nicht die Stimmung“
Yumi lächelte. Wie es schien hatte Sayus Lächeln überzeugend gewirkt. „Ich bin so glücklich, dass du alles so leicht nimmst, Sayu-chan. Nichts und niemand vermag deine Stimmung zu trüben“
„Außer vielleicht das schlechte Essen im Krankenzimmer…“, murmelte Sayu, die sich daran erinnerte, was man über das Essen im Krankenzimmer munkelte. Ein Lächeln zeichnete sich auf Yumis Gesicht ab.
„Ich freue mich, wenn du wieder in den Unterricht kommen kannst. Wie lange musst du noch hier bleiben?“
„Eigentlich nur noch diese Nacht“, antwortete Sayu. „Aber wenn Mami-san Morgen schlechte Laune hat vielleicht noch ein Jahr…“
Yumi kicherte vergnügt. „Ja, das wäre ihr zuzutrauen“
Plötzlich wurde der Vorhang aufgerissen und Oberkrankenschwester Mamis rundes Gesicht erschien. „Die Besuchszeit ist zu Ende“, stellte sie knapp klar. „Sayu braucht jetzt Ruhe“
„In Ordnung, Mami-san“ Yumi erhob sich. „Gute Besserung, Sayu-chan. Bis Morgen“ Sie warf Sayu einen bedauernden Blick zu ehe sie Mami hinter den Vorhang folgte.
„Bis Morgen, Yumi-chan. Und Danke für den Besuch!“, rief Sayu ihr hinterher ehe sie verschwand. Nun war sie wieder alleine mit ihren Gedanken über tote Menschen und brennende Puppen…
Lässt mich dieses Ereignis wirklich so kalt?, überlegte Sayu. Das Bild des zerschnittenen Körpers flammte in ihr auf, dicht gefolgt von dem Bild des blutverschmierten Mannes aus ihrem Traum. Sie fuhr zusammen.
Nein, es lässt mich nicht kalt! Ich… kann nur gut verdrängen…
Die Nacht war voran geschritten und es waren bereits seit Stunden keine Schritte oder andere Laute mehr zu vernehmen. Gelangweilt saß Sayu in ihrem Bett und lauschte dem Schlag ihres Herzens. Ihre Gedanken kreisten um den toten Jungen. Wieder und wieder tauchte das Bild seines leblosen Körpers vor ihren Augen auf, sobald sie diese schließen wollte, um endlich Schlaf zu finden. Derweil wälzte sie sich von einer Seite zur anderen und wieder zurück. Sie stieß den Atem aus. Allmählich konnte sie nicht mehr still liegen. Also stand sie auf. Vorsichtig rutschte sie unter der Bettdecke hervor und stieg in die grauen Filzpantoffel, die vor ihrem Bett standen. Oberkrankenschwester Mami hatte sie ihr hingestellt, damit ihre Füße nicht kalt wurden, falls sie auf die Toilette gehen musste. Die Pantoffeln waren etwas zu groß und aus kratzigem Material, jedoch angenehmer, als der kalte Steinboden des Krankenzimmers. Sie rutschte mit den Hausschuhen über die Steinfliesen, als wären diese Platten aus Eis. Vor der Tür hielt sie inne. Sollte sie hinausgehen? Was sollte draußen schon passieren? Das Krankenzimmer befand sich in einem ziemlich abgeschiedenen Teil des Hauses, wo sich gelegentlich Putzräume und andere Abstellkammern, sowie Büros befanden. Die Büros waren nachts verlassen und auch die Putz- und Abstellräume wurden in der Nacht nicht aufgesucht.
Leise drückte sie die Türe einen Spalt weit auf und linste auf den Gang hinaus. Im Gegensatz zu den Korridoren bei den Zimmern der Kinder, waren die Gänge hier breit und von matten Lampen erhellt. Sayu blickte in beide Richtungen. Niemand war zu sehen, also schlich sie heraus. Die Türe schloss sie hinter sich, um kein Aufsehen zu erregen. Mit pochendem Herz und einem nervösen Kribbeln im Bauch stahl sie sich durch die Gänge. Die Luft war kühl, als wäre irgendwo ein Fenster nicht geschlossen worden, doch dies gab Sayu neue Energie. Mit jedem Schritt, den sie tat, fühlte sie sich leichter und dennoch gefestigt und stark. Tief sog sie die Luft ein und blieb für einen Moment stehen, um sich ausgiebig zu strecken. Die vielen Stunden, in denen sie hatte liegen müssen, hatten ihrem Rücken einige Verspannungen zugefügt. Zufrieden lächelte sie vor sich hin. Nachts auf den Gängen zu sein hatte etwas Abenteuerliches und Beruhigendes zugleich.
„…was soll das heißen?“, erklang plötzlich eine gedämpfte, männliche Stimme im Flur. Sayu hielt in der Bewegung inne und blickte sich um. Wo war das hergekommen? Und kam ihr diese Stimme nicht irgendwoher bekannt vor?
„Nein, ich finde das ganz und gar nicht interessant hier. Das Personal hier ist komisch und das Essen ist schrecklich schlecht“
Sie überlegte. Wie es schien, führte die Person ein Telefongespräch. Vorsichtig schlich sie um eine Ecke und warf einen flüchtigen Blick in einen etwas größeren Raum, an dessen Wänden mehrere Telefone hingen. Sayu staunte. Sie hatte nichts von diesem Raum gewusst.
„Und wie lange soll ich noch hier bleiben?“, erklang erneut die Stimme. Sayu strengte ihre Augen an und da entdeckte sie plötzlich Kato, der in einer Ecke des Raumes stand und telefonierte, während er gelangweilt das Kabel des Telefons um seinen Finger wickelte.
„Yagami, ich habe aber keine Lust mehr hier zu sitzen und nichts zu tun… Was soll ich machen?! Etwas herausfinden? Ja… Aber wie denn? …Einbrechen? In das Archiv?!“ Kato hatte den letzten Satz regelrecht herausgeschrien, sodass er sich nun ängstlich umblickte, ob ihn jemand belauscht hatte. Hastig zog Sayu den Kopf hinter die Ecke zurück und verharrte an der Wand lehnend. Kato sollte in das Archiv des Waisenhauses einbrechen, um etwas herauszufinden?
Das ist ja interessant… Neugierig lauschte das Mädchen weiter.
„…in Ordnung. Ich werde es versuchen. Aber wenn ich Ärger bekomme, dann bin ich diesmal nicht selbst daran schuld. Ja, danke, ich wünsche auch eine gute Nacht“
Kato schien aufgelegt zu haben. Er seufzte und murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin, was sich ein wenig nach Verwünschungen und anderen Flüchen anhörte. Derweil schritt er zur anderen Seite des Raumes, wo sich eine Tür befand, durch die er verschwand. Sayu blickte ihm nach. Wohin er nun wohl ging?
Irgendwie gehen hier komische Sachen vor sich. Zuerst ein toter Ordnungshelfer und jetzt einen Polizist, der ins Archiv einbrechen will… Letzteres war am einprägsamsten. Warum wollte Kato in das Archiv einbrechen? Was wollte er herausfinden? Was konnte man im Archiv herausfinden? Einzelheiten über die Kinder im Waisenhaus? Einzelheiten über das Personal im Waisenhaus? Einzelheiten über das Waisenhaus selbst?
Dies war der Moment in dem sich ein Gedanke in Sayus Kopf verfestigte, der sie noch für einige Zeit plagen sollte.
Wenn im Archiv Einzelheiten über die Kinder im Waisenhaus zu finden sind. Vielleicht könnte ich dort Dinge über mich herausfinden, die mir keiner sagt… Vielleicht gibt es doch Aufzeichnungen darüber wer ich bin und wo ich herkomme… Tanaka-san meidet dieses Thema oftmals – vielleicht verbirgt sich im Archiv eine Wahrheit, die alles verändern wird… Gähnend kehrte Sayu auf das Krankenzimmer zurück. Sie schlüpfte aus den Pantoffeln und legte sich zurück ins Bett.
Warum will Kato überhaupt in das Archiv eibrechen? Warum fragt die Polizei nicht nach Erlaubnis in die Akten Einsicht zu bekommen? Warum… Sayus Gedanken schweiften ab und sie sank in einen leichten, unruhigen Schlaf, durchzogen von bedrohlichen Alpträumen und Angstzuständen, die sie stetig wieder heimsuchten.
14. März 1982
Madame Kurenai ist noch immer in der Akamatsu-Residenz. Ich weiß nicht, was sie will, jedoch ist mir bei ihrer Anwesenheit nicht ganz geheuer. Sie verrät nicht ihren wahren Namen, sondern verwendet nur dieses Pseudonym, welches auf ihre blutroten Haare verweist. Herr und Frau Akamatsu sind ihr wohlgesonnen, doch ich spüre, dass sie in Spannungen mit Sonoko, der Tochter des Hauses liegt. Sonoko scheint seit ihrer Anwesenheit wie verändert zu sein. Zuerst dachte ich, dass sie vielleicht ihre Kräfte entwickeln könnte, doch dies ist nahezu unmöglich, da sie noch nicht einmal 14 Jahre alt ist. Ich schätze, dass es etwas mit dieser Madame Kurenai auf sich hat, doch verstehen tue ich es auch nicht. Ich werde weiterhin ein Auge auf diese Frau werfen und sobald sie sich auch nur annährend verdächtig verhält, werde ich mich erneut melden. Im Moment habe ich allerdings nicht das Gefühl, dass sie etwas mit ihnen zu tun hat. Mit jenen, die im Briefverkehr nicht erwähnt werden sollten.
(Aus einem Brief von Ryo Yagami an Seiji Kitano, den Vorsitzenden der International Federation of Magicians)
Gähnend schlich Kato durch die finsteren Gänge des Tanaka-Waisenhauses. Es war bereits weit nach Mitternacht und er hatte noch immer nicht das Archiv gefunden. Sämtliche Seitengänge, verschlossene Türen und abgeschiedene Räume hatte er bereits durchsucht, doch er war nicht fündig geworden.
Vielleicht haben die Angestellten Yagami gar nicht angelogen und es gibt in diesem Waisenhaus gar kein Archiv…, überlegte er, während er langsam weiter ging. Yagami war der festen Überzeugung gewesen, ein Archiv müsse existieren. Jedoch wagte Kato dies allmählich stark zu bezweifeln.
Wahrscheinlich führen sie nicht einmal Akten über ihre Kinder. Wäre diesem altmodischen Waisenhaus zuzutrauen. Oder sie sind doch sehr modern und haben irgendwo versteckt einen Computer, in dem sie die Daten sammeln… Schlechte Laune überfiel den jungen Polizisten, während er einem scheinbar endlosen Flur mit äußerst niedriger Decke folgte. In dem Gang brannte kein Licht, sodass Kato mit einer Taschenlampe den Weg ausleuchten musste. Der Weg führte leicht bergab und endete abrupt vor einer Wand. Kato blieb stehen.
Na klasse, dachte er genervt. Da gehe ich extra einen gruseligen Gang entlang und das nur um zu guter Letzt in einer Sackgasse zu landen! Niedergeschlagen lehnte er sich an die Wand und rutschte an dieser hinunter. Er lehnte seinen Kopf gegen die harte Steinmauer und seufzte gedehnt.
„Ich hasse dieses Waisenhaus“, fluchte er leise. „Das Waisenhaus mit all seinen blöden Gängen, seinem komischen Personal und seinem schlechten Essen!“
Gähnend betrachtete er den Gang durch welchen er gekommen war. An den Seiten hingen alte Fackelhalter, die von Spinnenweben überzogen waren, was darauf schließen ließ, dass sie schon lange nicht mehr in Benutzung waren. Kato beleuchtete die Decke. Dunkle Flecken, wie von Wasser, das sich im Gemäuer angesammelt hatte, zeichneten sich auf dem Putz ab. Teils klafften Löcher im Gemäuer, durch die ein leichter Windhauch zog. Kato legte den Kopf schräg.
Windhauch? Plötzlich von neuer Energie durchströmt, sprang der Mann wieder auf die Beine. Er trat näher an die Wand heran und betrachtete die Löcher zwischen den Steinen. Warum hatte eine Wand Löcher? Nachdenklich kaute er auf seinem Fingernagel.
Vielleicht eine Belüftung?, überlegte er. Aber wofür? Warum braucht eine Sackgasse eine Belüftung? Es sei denn… Kato wandte sich der Wand zu, an der er sich angelehnt hatte. Auch sie hatte Löcher. Ein Loch nach dem anderen immer in demselben Abstand.
„Das ist gar keine Sackgasse“, murmelte er, während er seine Hand an eines der Löcher hielt. Hier kam keine Luft heraus, sondern sie wurde hineingezogen. Vorsichtig begann Kato an den Löchern zu kratzen in der Hoffnung hineinsehen zu können. Der Putz rieselte, während er vorsichtig einen Stein aus der Wand zog. Neugierig leuchtete er mit der Taschenlampe in den Hohlraum, der sich hinter der Wand befand. Der grobe Umriss großer Regale kam zum Vorschein. Kato sog scharf die Luft ein.
Das ist es!, dachte er. Dort ist das Archiv. Aber wie komme ich dort rein? Er leuchtete die Wand ab. Irgendwo dort musste es einen Hebel oder etwas Derartiges geben, um eine verborgene Tür oder dergleichen zu öffnen. Mit klopfendem Herzen suchte der Polizist alles ab. Solche Suchen kannte er nur aus Filmen in denen Kinder Geheimgänge in alten Burgen suchten. Er selbst fühlte sich wie in einen dieser Filme versetzt, so aufgeregt war er. Mit pochendem Herz klopfte er die Wände ab, trampelte auf dem Boden herum, schob und zog an Ecken und Kanten in der Wand, die einen Mechanismus in Gang setzten hätten können. Doch erfolgslos - Kato konnte keinen Eingang finden.
Erneut frustriert lehnte er sich gegen eine der Seitenwände des Ganges und murrte vor sich hin, als plötzlich ein Geräusch ertönte. Ein leises Knacken, gefolgt von einem Schleifen, als würde etwas Schweres über sandigen Boden gezogen werden. Kato sah auf. Die Wand, welche er soeben noch abgeklopft hatte, schob sich knackend und ächzend zur Seite auf und offenbarte ein kleines, dunkles Loch.
„Wow“, entfuhr es Kato, der ungläubig auf die unförmige Öffnung starrte. „Wie habe ich das jetzt hinbekommen?“ Nachdenklich musterte er die Seitenwand des Ganges, an die er seinen Kopf gelehnt hatte. Ein Stein saß einen kleinen wenig tiefer als die restlichen. Er musste ihn wohl mit dem Kopf gedrückt haben, sodass er den Mechanismus in Gang gesetzt hatte. Zufrieden Lächelnd stapfte Kato auf das Loch in der Wand zu. Vorsichtig leuchtete er es mit seiner Taschenlampe aus, ehe er sich selbst hinein wagte.
Das Archiv war groß. Mit einer Bibliothek vergleichbar, zumindest Katos Ansicht nach. Unzählige gewaltige Holzregale, die einen leicht modrigen Geruch verströmten, waren in Reihen in dem Raum angeordnet. Kato selbst konnte nicht recht sagen, wie lange oder wie hoch der Raum war, da der Lichtkegel seiner Taschenlampe nicht allzu weit reichte. Langsam ging er über unebenen Steinboden auf das erste Regal zu, das sich nahe dem Eingang befand. Unzählige hölzerne Kisten standen in den Regalen, in denen sich Unmengen von Akten befanden. Kato pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Volltreffer!“ Er zog eine der Kisten heraus und begutachtete ihren Inhalt. Die Namen in der Kiste waren gänzlich ungeordnet: Suzuki kam nach Takahashi und danach kam plötzlich Asai. Kato seufzte. Wenn die Namen nicht irgendwie geordnet waren, würde er Jahre benötigen, um Sakai zu finden.
Vielleicht sind sie ja doch irgendwie geordnet, überlegte Kato. Er griff dreimal in die Kiste und zog willkürlich drei verschiedene Akten heraus. Dann legte er sie nebeneinander und verglich sie. Zwei waren Jungen, eines war ein Mädchen. Das Alter der Kinder war völlig verschieden, ein Kind war zwei, das andere fünf, das nächste elf. Auch ihre Geburtsmonate waren nicht dieselben.
Wie sind diese Akten nur geordnet? Kato las weiter. Da fiel ihm plötzlich etwas auf. Alle drei Kinder waren in demselben Jahr ins Waisenhaus gekommen: 1975. Glücklich schob Kato die Akten zurück und überlegte.
1975…
Das lag bereits achtzehn Jahre zurück. Shinichi Sakai hingegen war erst sechzehn Jahre alt gewesen. Demnach konnte er frühestens 1977 ins Waisenhaus gekommen sein. Die konnte jedoch auch nicht stimmen, da er einige Jahre mit seinen Eltern gelebt hatte, ehe er ins Waisenhaus kam.
Kato runzelte die Stirn. Völlig gleich wie viele Informationen ihm geliefert worden waren, es war mit keinem Satz erwähnt worden, in welchem Alter Shinichi Sakai ins Tanaka-Waisenhaus gekommen war.
Das heißt wohl, dass ich eine ordentliche Suche vor mir habe…, dachte der junge Polizist grimmig. Mit einem Ruck schob er die Kiste zurück ins Regal und leuchtete in dem Archiv umher. Er befand sich am Anfang eines unendlich wirkenden Raumes, der von Regalen und Dokumenten überfüllt war. Wenn sich ganz am Anfang das Jahr 1975 befand, wo also sollte er zuerst suchen. Kato schlussfolgerte, dass Sakai mit etwa vier bis fünf Jahren ins Waisenhaus gekommen war und hoffte, dass dies der Wahrheit entsprach. Und so begann er nach der Jahreszahl 1981 zu suchen, in der Hoffnung, fündig zu werden…
Stille lag über den Gängen des Waisenhauses, als Sayu am nächsten Morgen das Krankenzimmer verlassen durfte. Mami-san hatte ihr eine neue Schuluniform - einen dunkelblauen Rock, eine weiße Bluse und eine dunkelblaue Jacke – gebracht, damit sie vorschriftengerecht zum Unterricht erscheinen konnte. Gelangweilt schlenderte sie durch die leeren Gänge. Die Kinder schienen sich noch am Frühstückstisch zu befinden. Allerdings hatte Sayu keinen sonderlich großen Appetit, sodass sie dem Frühstück fern blieb.
Nahe ihrem Klassenzimmer blieb sie stehen und setze sich auf eine Bank. Hin und wieder gingen vereinzelte Kinder an ihr vorbei, die ihr flüchtige Blicke zuwarfen und dann weiterhasteten.
Als hätte sie Angst, ich könnte sie ermorden…, dachte Sayu grimmig.
Unvorstellbar. All die Jahre über hatte sie an ihrem Ruf gearbeitet. Sie hatte sich viel Mühe gegeben um vorbildlich und freundlich zu sein und nun, nun schienen alle plötzlich Angst vor ihr zu haben.
Wenn ich den finde, der dieses Gerücht in Umlauf gebracht hat, der kann was erleben! Allmählich füllten sich die Gänge. Schüler und Schülerinnen gingen an ihr vorüber, die sie teils mit schockierten, teils mit ehrfürchtigen und teils mit abwertenden Blicken bedachten. Sayu wandte ihnen den Rücken zu und starrte nun stur aus dem Fenster. Die abwertenden Blicke war sie bereits gewohnt. Schülerinnen, die ebenfalls gerne Ordnungshelfer geworden wären oder bei Tanaka-san nicht derart gut angesehen waren, hatten Sayu seit jeher missbilligende Blicke zugeworfen. Die schockierten Blicke allerdings war sie nicht gewohnt und sie wollte sich auch nicht an sie gewöhnen.
„Sayu!“ Yumi kam auf sie zu gerannt. Die Zöpfe schwangen fröhlich hin und her, während das Mädchen glücklich winkte. Sayu lächelte sie an. „Guten Morgen, Yumi“
„Sayu, warum stehst du hier rum? Ich habe dich beim Frühstück vermisst!“, warf Yumi ihr vor, während sie sich außer Atem an die Wand lehnte. „Es sind schon die Gerüchte aufgetreten, dass du neuerdings den Kontakt zu uns anderen meiden möchtest und…“ Yumi brach ab, als sie Sayus teilnahmslose Miene bemerkte. „Sayu? Was hast du?“
„Yumi… Was weißt du über diesen toten Jungen?“ Die Nachdenklichkeit in Sayus Gesicht überraschte Yumi. Dennoch antwortete sie unbehelligt.
„Shinichi Sakai… Er war ein Mädchenschwarm! Schlank, gut aussehend… jedoch immer verschlossen. Hat nie mit jemandem geredet und war oft unfreundlich zu den Leuten. Er schien sehr eingebildet zu sein“ Sie zog die Schultern hoch. „Manche haben gesagt, als er hier ankam sei er komisch gewesen, hätte immer nachts rumgeschrien… Ich glaube die Jungs haben ihn nicht gemocht. Aber… ich weiß nicht so viel über ihn“ Ein Anflug von Röte schoss in Yumis Gesicht und sie blickte zum Fenster hinaus.
Ob Yumi ihn auch attraktiv fand?, überlegte Sayu als sie ihre Freundin von der Seite betrachtete. Na ja, solange sie sich nicht von den Gerüchten beeinflussen lässt, die besagen ich hätte diesen Mädchenschwarm umgebracht, ist alles in Ordnung. Eine Gruppe von Schülerinnen zog an Sayu und Yumi vorbei.
„Habt ihr gehört, die hat ihn angeblich ermordet“, flüsterte eine von ihnen.
„Die? Die Ordnungshelferin? Unglaublich!“
„Ja, aber Tanaka-san wird sie schon schützen“
„Stimmt, sie ist ja der Liebling!“
„Tja, was sich so ein Liebling alles leisten kann. Ich glaube ich…“
Die Stimmen verblassten und Sayu ließ den Kopf hängen. Womit hatte sie das verdient?
„Sayu?“ Eine schroffe Stimme ließ sie zusammenzucken. Sie blickte auf. Vier Mädchen hatten sich vor ihr aufgebaut, sie wirkten wie die Wände eines Dammes, der jeder Flut trotzen konnte. Eine von ihnen kannte Sayu beim Namen. Sie hieß Hana und liebte es stets Yumi zu ärgern. Die anderen drei kannte Sayu nicht, jedoch vermutete sie, dass sie zu Hanas Freundeskreis gehören mussten. Hanas Anwesenheit ließ Yumi sogleich erstarren.
„Wie hast du ihn getötet, Sayu?“, fragte Hana, während ihre Augen sich wie Nadeln in die Sayus bohrten. Fassungslos erwiderte sie den Blick. Sie öffnete den Mund, schloss ihn jedoch sogleich wieder. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
Ich habe ihn nicht ermordet, wie kommst du auf so was?!, rief eine Stimme in Sayus Kopf. Aussprechen konnte sie diese Worte jedoch nicht, aus irgendeinem Grund wollte ihre Stimme nicht gehorchen.
„Na sag schon“, drängte die nächste. „Hast du ihn erstochen?“
„Vielleicht hat sie ihn erwürgt“, schlug eine andere vor.
„Nein, mit ihren Schwabbelarmen doch nicht“, entgegnete Hana herablassend. „Schau sie dir doch mal an…“ Hana packte Sayus Oberarm und drückte ihn zusammen. Diese ging verdutzt einen Schritt rückwärts, doch Hana hielt sie fest.
„Nun sag schon Fräulein Ordnungshelferin“, säuselte die vierte von ihnen. „Erschossen hast du ihn bestimmt auch nicht“ Die Mädchen kamen näher und bedrängten Sayu nun sichtbar.
„Lasst sie sofort in Ruhe!“, zischte Yumi, die sich allmählich aus ihrer Starre löste. Sie trat einen Schritt auf Hana zu und funkelte diese böse aus ihren dunklen Augen an.
„Was hast du gesagt, Usagi?“, fragte Hana wobei sie eine Augenbraue empor zog.
„Ihr… ihr sollt sie in Ruhe lassen!“, wiederholte Yumi energisch.
„Usagi, ich kann dich nicht verstehen. Du nuschelst so durch deine Hasenzähne…“ Die Mädchen begannen in Gelächter auszubrechen, als Yumi die Röte ins Gesicht schoss. Da packte Sayu der Zorn. Noch nie zuvor war sie in solchem Maß zornig gewesen, doch in diesem Augenblick war es, als würde ein Tor in ihr aufbrechen. Ein Tor, das über all die Jahre verschlossen gewesen war und alle Wut verborgen hatte, die sich in Sayus aufgestaut hatte. Etwas schien sich zu regen in ihr. Ein Kribbeln im Bauch, ein Rebellieren in der Magengegend. Ein Energiestoß durchfuhr ihren Körper und verabreichte ihr neue Kraft, als sie Hanas Handgelenk packte. „Lass uns in Ruhe!“, stieß sie gepresst hervor und riss die Hand des Mädchens von ihrem Oberarm fort.
„Was?“ Hanas Augen weiteten sich vor Schreck. Eine derartige Reaktion schien sie nicht erwartet zu haben.
„Verschwinde! Und lass uns in Ruhe!“ Sayus Worte waren wie ein Flüstern, doch sie schienen dennoch ihre Wirkung zu erzielen. Gefährlich funkelte sie die zurückweichenden Mädchen an, obwohl diese um einiges größer als Sayu selbst waren.
„Hana, wir sollten gehen“, meinte eine ihrer Begleiterinnen leicht panisch.
„Ja, sonst tut sie uns noch was“, bestätigte eine andere.
„Kommt, lasst uns abhauen. Die ist doch total daneben!“ Das dritte Mädchen packte Hana am Arm und zerrte sie von Sayu fort. Eilig stolperten die vier Schülerinnen den Flur entlang, wobei Hana Sayu entsetzte Blicke zuwarf.
„Sie wollte mir den Arm brechen“, stieß sie auf halbem Weg zum Klassenzimmer hervor, ehe sie verschwand.
Sayu stöhnte, lehnte sich an die Wand und rutschte an dieser erschöpft zu Boden. „Jetzt verstehe ich, warum du sie nicht magst…“, murmelte sie entkräftet.
Yumi nickte. Wortlos setzte sie sich neben Sayu auf die Steinfliesen und starrte mit ihr ins Leere. Auch wenn Yumi es nicht äußerte, war Sayu bewusst, dass sie mindestens genauso erstaunt über ihre Reaktion gewesen war, wie sie selbst.
Ich war noch nie so wütend… Vergebens versuchte Sayu sich an das Gefühl zu erinnern, das sie durchströmt hatte, als die Wut in ihr empor gekrochen war. So ein Kribbeln, als würden Käfer in ihrem Bauch krabbeln. Doch es kam nicht wieder.
„Soll ich Mami-san rufen?“, fragte plötzlich Yumi mit brüchiger Stimme. Sayu blickte sie verwirrt an. „Warum?“
„Es geht dir nicht gut“
„Ach was!“ Sayu zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. „Ich… bin nur noch müde, das ist alles“ Mit einem Satz sprang sie auf. „Also Yumi-chan, gehen wir in den Unterricht?“ Sie hielt ihrer Freundin eine Hand hin, welche diese lächelnd annahm.
Obwohl es mir schlecht geht schaffe ich es doch immer noch andere aufzumuntern…, dachte Sayu zufrieden. Hoffentlich wird sich das niemals ändern. „Weißt du was der Vorteil ist, wenn man den Ruf einer Mörderin hat?“, fragte Sayu, als sie mit Yumi zum Klassenzimmer ging. Diese schüttelte den Kopf. „Wenn man wütend wird, bekommen alle gleich Angst und denken, ich werde sie ermorden“ Sayu biss sich auf die Unterlippe. „Vielleicht wird mir dieser Ruf ja zu Gute kommen“, überlegte sie laut. „Es könnte ja sein, dass die Kinder dann aus Angst vor mir mehr auf mich hören und mich endlich mal ernst nehmen…“
Yumi seufzte. „Jetzt machst du dich auch noch lustig über diese Rufschädigung…“, murmelte sie verständnislos.
„Ja, was bleibt mir denn anderes übrig. Ich kann nichts daran ändern, wenn eifersüchtige Mädchen Märchen erzählen…“
In sanften Kreisen stieg der weiße Dampf aus der Teetasse empor. Er drehte sich um sich selbst, als wolle er eine Spirale formen, die jedoch bei dem kleinsten Windhauch ihre Form änderte und plötzlich zu einer Art Schlange wurde, die sich hin und her wandte, als spiele eine Musik, um sie zu beschwören. Sanft blies Yagami den Rauch seiner Zigarette mitten in den Dampf des Tees und beobachtete, wie sich der weiße Dampf mit dem bläulichen Rauch vermischte und ein neues, verworrenes Gebilde entstand.
„Ryo, hörst du mir eigentlich zu?“ Über dicke Brillengläser hinweg starrte Kouhei Koyama den Polizisten an, der mit ihm an einem Tisch im Wintergarten saß. Koyama hatte Kekse und Tee serviert, welche Yagami jedoch nicht angerührt hatte, so sehr war er in Gedanken versunken gewesen.
„Jaa…“, murmelte er bestätigend und hob die Schultern. „Du hast irgendetwas erzählt von… Was war es nochmal?“
Koyama sank in sich zusammen. „Sakai“, antwortete er trocken. „Ich habe dir gerade eben erklärt, dass du mit deiner Vermutung Recht hattest, dass mit dieser Familie Sakai etwas nicht stimmt“
„Ach ja?“ Yagami setzte sich aufrecht hin und blickte Koyama in die Augen. „Und woher weißt du das?“
Der Vorsitzende des Verbandes für Hexerei und Zauberei schüttelte fassungslos den Kopf. „Wozu habe ich dir das gerade alles erzählt?“
„Um es jetzt zu wiederholen“ Yagami lehte sich im Stuhl zurück und pustete den Rauch seiner Zigarette in die Luft. „Also?“, forderte er Koyama auf. Dieser nickte langsam.
Seufzend nahm er einen Keks und begann zu essen. „In der Akte, die ich aus dem Archiv der Hexen und Magiern angefordert habe, stand, dass die Familie Sakai eine alte Hexenfamilie ist, die jedoch schon seit langer Zeit zurückgezogen lebte. Sie gehörte zu jenen Familien, die wir als passive Magier bezeichnen. Sie besitzen magisches Potential, können auf dieses jedoch nicht zugreifen und diese Magie nicht benutzen. Sie sind sozusagen Magier ohne magische Fähigkeiten gewesen“
„Also perfekt zum Energie abziehen“, murmelte Yagami anerkennend.
„Genau“
„Stand in deiner Akte auch irgendetwas über die Todesursache von Shinichi Sakais Eltern?“
Koyama schüttelte den Kopf. „Nichts. Dort stand nicht einmal, dass sie überhaupt gestorben sind…“ Er holte eine braune Ledermappe unter dem Tisch hervor und begann darin zu blättern. „Hier steht als letzter Eintrag nur, dass die Familie Sakai in einen Konflikt mit dem Hochrat der Adeligen geraten sei…“ Koyama überflog eine Passage. Anschließend fasste er zusammen: „Aus unbekannten Gründen scheint die Familie Sakai ein Mitglied des Hochrats der Adeligen beschuldigt zu haben, einer kriminellen Magiergruppe anzugehören, die in der Vergangenheit unzählige Gewaltverbrechen begangen hat“
Yagami riss die Augen auf. Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er sich angespannt nach vorne lehnte. „Wen?“, presste er hervor.
Koyama legte den Kopf schief und nahm einen weiteren Keks in die Hand. „Das wird nicht erwähnt. Allerdings schienen diese Anschuldigungen auch völlig grundlos gewesen zu sein…“ Er steckte den Keks in den Mund und trank einen Schluck Tee hinterher.
„Das muss wahr gewesen sein“, stieß Yagami hervor. „Sie sind gekommen und haben die Familie Sakai ausgelöscht um ihre Existenz zu leugnen“ Entsetzt, beinahe panisch blickte der Polizist ins Leere. „Sie töten jeden, der von ihrer Existenz weiß…“
Koyama zog die Augenbrauen empor und nahm einen weiteren Keks. „Wenn du mir nun noch verraten möchtest, wen du meinst, Ryo, dann kann ich dir vielleicht besser folgen…“
Yagami fixierte den anderen Mann mit einem scharfen Blick, der sich durch Koyama zu bohren schien. „Yamimoto“ Das Wort kam über seine Lippen, ohne dass er diese zu bewegen schien. Koyama kratzte sich am Kopf. „Das ist ein Gerücht“, erwiderte er lächelnd.
„Heißt es…“
Nachdenklich beobachtete Koyama seinen Freund. Yagami wirkte angespannt, sehr angespannt.
„Nun, dann bist du also anderer Meinung und würdest behaupten, der Yamimoto-Clan hätte tatsächlich existiert?“, hakte er belanglos nach, während er weiterhin Kekse aß.
„Hm“, war die einzige Antwort, die er erhielt. Yagami erhob sich. „Ich muss gehen. Ich kann nicht länger hier bleiben“
Leicht überfordert und entrüstet zugleich, blickte Koyama ihm entgegen. „Aber du hast weder den Tee angerührt noch einen von diesen wunderbaren Keksen probiert! Ich… du kannst doch jetzt nicht einfach gehen!“
„Ich habe einen Fall zu lösen, Kouhei, ich kann“ Hastig eilte er durch den Wintergarten und auf dessen Ausgang zu.
„Ryo!!! Warte doch!“ Koyama winkte ihm mit einer Serviette hinterher, doch er erhielt keine Antwort mehr, denn Yagami war bereits durch die Tür nach draußen getreten. Ein Ausdruck der Härte trat in seine soeben noch freundlichen Gesichtszüge, als Koyama sich zurück auf seinen Stuhl setzte.
„Dann stimmt also meine Vermutung, Ryo, du hast tatsächlich etwas mit den Yamimotos zu tun gehabt… Das ist ja interessanter als ich dachte…“
Sakai. Missmutig blätterte Kato in der Akte, die er in der vorherigen Nacht aus dem Archiv entwendet hatte. Im Gegensatz zu den Informationen, die Kohara-san ihnen geliefert hatte, bot die Akte weitaus mehr Anhaltspunkte. Hinzu kam die Tatsache, dass von einem Autounfall mit keinem Wort die Rede war. Nachdenklich betrachtete Kato ein Foto der Familie, das in der Akte steckte. Es war ausgeblichen und vergilbt, dennoch konnte er unter zwei Erwachsenen und drei Kindern deutlich Shinichi Sakai erkennen. Das Foto musste sehr alt gewesen sein, da Sakai zu der Zeit der Aufnahme in einem Alter gewesen war, in dem man gerade erst einmal sprechen lernte.
Sieht aus wie eine glückliche Familie…, dachte Kato, wobei er die lachenden Gesichter genauer betrachtete.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Ehe Kato eine Antwort hervorbringen konnte, oder gar die Akte verschwinden lassen konnte, trat Kohara ein. Sie verneigte sich knapp.
„Kato-san“, sprach sie mit ruhiger Stimme. „Es ist ein Anruf für Sie eingegangen. Er ist auf Apparat zwei im Telefonzimmer“
Verblüfft erhob sich Kato von seinem Platz, damit Kohara nicht verleitet war, auf die Dinge auf dem Tisch zu blicken.
Sie sollte nicht sehen, dass ich eine Akte unerlaubt entwendet habe, dachte er beschämt. So etwas könnte miserable Folgen für mich haben. „Ein Anruf? Von wem denn?“ Nun stand Kato direkt vor Kohara und verbarg somit den Blick auf den Tisch. Natürlich wusste Kato bereits, dass Yagami anrufen würde, eine andere Möglichkeit gab es nicht.
„Von Yagami-san“, bestätigte Kohara seine Vermutung.
Kato nickte lächelnd. „Gut. Dann wollen wir ihn nicht länger warten lassen“ Er bedeutete der Frau zum Ausgang zu gehen, während er ihr folgte. Hinter sich zog er rasch die Tür ins Schloss.
Hoffentlich kommt niemand in das Zimmer…
Nachdem Yagami Kato zurückgelassen hatte, hatte Tanaka-san ein kleines Zimmer für den Polizisten bereitgestellt, in dem er übernachten durfte. Es war eine ehemalige Abstellkammer, in die notdürftig ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl gestellt worden waren. Es roch nach Mottenkugeln und Staub in dem Raum. Doch, da Kato sich ohnehin die ganze Nacht auf den Gängen aufgehalten hatte, hatte es ihm nicht das Geringste ausgemacht.
Hallo? Hallo?! Schon von der Ferne konnte Kato Yagamis Stimme aus dem Telefon schallen hören.
Er scheint es wohl nicht abwarten zu können…, dachte Kato amüsiert.
„Ja?“, meldete er sich gut gelaunt.
„Kato. Warum hat das so lange gedauert?“ Yagami klang gereizt und in gewisser Weise auch besorgt. Eine Falte zeichnete sich zwischen Katos Augenbrauen ab.
„Ich…“ Er blickte sich um, doch Kohara war bereits wieder gegangen. „Ich…“
„Hast du etwas herausgefunden?“, wollte Yagami wissen, noch ehe Kato sich rechtfertigen konnte, aus welchem Grund er Yagami so lange hatte warten lassen.
„Na ja… Also ich habe das Archiv gefunden. Es war-“
„Nicht vom Thema abschweifen!“, ermahnte ihn Yagami streng.
„Ja. Auf jeden Fall habe ich Sakai-kuns Akte mitgehen lassen – natürlich mit der Absicht, sie zurückzugeben, sobald ich sie dann fertig gelesen habe und-“
„Kato!“ Yagamis Ermahnung war eindeutig und zwang seinen jüngeren Kollegen dazu, die Fakten zu nennen, was dieser auch tat: „Du hattest Recht. Kein Autounfall. Angeblich ist die ganze Familie in ihrem Haus tot aufgefunden worden. Dort stand, dass Sakai-kun völlig verstört und mit Blut beschmiert durch seinen Heimatort gelaufen sei und die Leute argwöhnisch wurden und die Polizei informiert hätten. Diese hat dann die Eltern und die Geschwister gefunden. Der Junge war aber angeblich völlig von der Rolle und muss die ganze Zeit gelacht haben – der stand wohl unter Schock“
Yagami ließ ein Brummen vernehmen, welches bestätigte, dass er diese Ansicht teilte. „So was ist auch schockierend. Stand dort, wie sie gestorben sind?“
„Nein. Weder die Todesursache ist aufgeführt, noch wurde erwähnt, ob es Mord war oder nicht. Aber die Akten dienen ja eigentlich mehr dazu um die psychische Verfassung der Kinder nachvollziehen zu können, da spielen solche Dinge keine Rolle glaube ich“ Kato zuckte mit den Achseln, was Yagami natürlich nicht sehen konnte. „Später werde ich weiterlesen. Da stehen sehr interessante Dinge über Sakai-kuns Verhalten, die uns vielleicht weiterhelfen können“
„Gut, mach das“ Es folgte ein Moment der Stille, ehe Yagami erneut das Wort ergriff. „Ist sonst alles in Ordnung im Waisenhaus?“
Kato nickte. Als ihm jedoch auffiel, dass Yagami dies nicht sehen konnte antwortete er rasch mit „Ja“. Eine weitere Pause folgte, die sich diesmal länger zog. Kato beschlich die Ahnung, Yagami wolle ihm etwas erzählen, wisse aber nicht recht wie und wo er beginnen solle. Also entschloss sich der Polizist dazu, selbst die Initiative zu ergreifen.
„Und? Hast du auch etwas herausgefunden?“
„Wieso fragst du?“, konterte Yagami geschickt.
Kato schlug sich innerlich mit der Hand gegen die Stirn.
„Du hattest gesagt, du willst etwas herausfinden und lässt mich deswegen hier zurück. Deswegen frage ich“
„Ja, mir ist tatsächlich etwas zu Ohren gekommen, aber das kann ich dir jetzt noch nicht sagen, dazu brauche ich erst…“ Yagami brach ab. Ein weiterer Moment der Stille folgte, in dem Kato gespannt abwartete. „Egal“, ergriff Yagami schließlich wieder das Wort. „Bleib im Waisenhaus, ich werde versuchen dich bald abzuholen“
Kato nickte abermals. „In Ordnung“. Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit. Noch weitere Tage in dem Waisenhaus zu verbringen, entsprach nicht seiner Idealvorstellung von dem Beruf des Polizisten.
„Gut, dann halte weiterhin Augen und Ohren offen. Bis bald“
Es klickte und Yagami hatte aufgelegt. Nachdenklich betrachtete Kato der Hörer des Telefons, ehe er ihn langsam, wie in Trance, auf die Gabel hängte.
Was ist los mit Yagami? Warum erzählt er mir nicht einfach, was er herausgefunden hat? Was braucht er dazu erst? Ich verstehe gar nichts mehr…
Yagami hatte das Telefongespräch derart schnell beendet, als befürchte er, Kato hätte weiter nachhaken können und ihn dazu bewegen, etwas zu verraten, was dieser für sich behalten wollte. Ein derartiges Verhalten hatte Kato bei seinem Kollegen noch nie erlebt und es verwirrte ihn ziemlich.
Nachdenklich ging er auf sein Zimmer zurück.
Meine Abstellkammer, korrigierte er sich in Gedanken, als er die Türe öffnete. Als sein Blick auf den Tisch fiel, hielt er abrupt inne. Die Akte, die zuvor noch aufgeschlagen dort gelegen hatte, war verschwunden. Ein Stich des Ärgers und des Schockes durchzuckte ihn, als er sich dessen bewusst wurde.
Sie ist weg! Jemand muss sie gefunden haben! Jemand weiß, dass ich ins Archiv eingebrochen bin! Verdammt, Yagami, warum hast du mich nicht später angerufen?!
Niedergeschlagen ließ er sich auf seine Bettkante sinken. Und wieder war er vom Pech verfolgt worden. Es schien sich ihm wirklich angeheftet zu haben, wie ein Schatten, der auf Schritt und Tritt bei einem blieb.
Aber wer hat sie entwendet?, überlegte er. Hat Kohara-san sie doch gesehen? Oder ist jemand anderes hier reingekommen? Oder hat mich sogar gestern jemand gesehen, wie ich herumgeschlichen bin? Und hat nur darauf gewartet, sie wieder an sich zu nehmen? Welche wichtigen Informationen hätte ich der Akte wohl noch entnehmen können? Er seufzte und ließ sich in die Kissen sinken.
Ich bin froh, wenn Yagami mich abholt. Ich habe mich noch nie an einem Ort so unsicher gefühlt wie hier in diesem Waisenhaus!
Das Schnattern von unzähligen Stimmen erfüllte die Gänge des Tanaka-Waisenhauses, als Sayu, begleitet von Yumi, das Klassenzimmer verließ. Sie ließ den Kopf hängen, um nicht die Blicke der anderen Kinder erhaschen zu müssen. Ihr genügte, sie zu spüren.
„Sayu-chan!“, eine brüchige, heisere Stimme hallte durch den Gang. Schlagartig war es still, zu still. Sayu blickte auf und bemerkte, dass alle Kinder in dieselbe Richtung starrten. Unsicher folgte sie ihrem Blick. Vom anderen Ende des Ganges her humpelte ein gebückter, alter Mann, der sich auf einen knorrigen Holzstock stützte.
„Noguchi-san“, begrüßte Sayu den Hausmeister lächelnd. Die meisten Kinder fürchteten ihn seiner Stimme und Erscheinung wegen. Er machte einen Eindruck als sei er ein böser Zauberer oder eine andere Kreatur, die einem Schaden zufügen konnte. Sayu hingegen hatte keine Angst vor ihm. Bereits des Öfteren hatte sie mit ihm bei Tische gesessen und bei Tanaka-san Tee getrunken. Noguchi mochte ein furchteinflößendes Äußeres haben, sein Humor und seine Großzügigkeit jedoch, waren Sayu sehr ans Herz gewachsen.
Ein Lächeln überzog sein altes, faltiges Gesicht und brachte Leben in seine blassblauen Augen.
„Ich soll dich abholen und zu Tanaka-san bringen“, erklärte der Hausmeister sachlich, während seine Lippen den Blick auf schiefe, gelbe Zähne freigaben. Einige der Kinder begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln, als sie den Inhalt seines Satzes begriffen hatten.
„In Ordnung, Noguchi-san, ich werde mitkommen“ Sayu nickte Yumi zum Abschied zu. „Bis später!“
Yumi lächelte unsicher. „Ja, viel Glück!“
Langsam schlurfte der alte Mann vorwärts, Sayu folgte ihm in gemächlichem Tempo. Noch immer rührte sich keiner der Schüler in ihrem Umkreis. Es schien, als fürchteten sie sich zu sehr vor der geballten Erscheinung von Sayu in Begleitung des gruseligen Hausmeisters.
„Ja, ja, es ist bewundernswert, wie mit einem umgegangen wird, wenn man gefürchtet wird, oder Sayu-chan?“, erkundigte sich der Hausmeister, als sie in einen Nebengang einbogen.
„Allerdings…“ Sayu warf einen grimmigen Blick zurück auf die Schüler, die ihr noch immer neugierig nach blickten.
Die Wohnung, in welcher Tanaka-san lebte, war kitschig und maßlos überfüllt. Unzählige Spitzendecken und Rüschenkissen zierten die Möbel und Sitzgelegenheiten in jeglichen Räumen, während reichlich verzierte Vasen und Glaskunstwerke auf den Schränken und Regalen prangten. Tanaka-san schien eine Vorliebe für schöne Dinge zu haben, von denen man jedoch keinen Gebrauch machen konnte. Als Sayu das erste Mal bei Tanaka-san auf Besuch gewesen war, war sie aus dem Staunen nicht mehr heraus gekommen. Die alte Frau sammelte Uhren, Wanduhren, Standuhren, Sonnenuhren… Sämtliche Arten von Uhren schmückten die Wände des Wohnzimmers. Mit der Zeit hatte sich Sayu jedoch an die unzähligen Uhren und deren ungleichmäßiges Ticken gewöhnt, sodass sie nun, ohne von diesen Kenntnis zu nehmen, auf einem großen, roten Sofa Platz nahm. Noguchi blieb stehen und wandte sich einem dunklen Holzschrank zu, der mit Rosen bemalt war. Sayu wusste, dass Tanaka-san selbst die Blumen auf das Holz gezeichnet hatte, erwähnte dies jedoch nicht.
„Sayu, da bist du ja“ Aus einer Nebentür kam die alte Leiterin des Waisenhauses geschritten. Der hölzerne Fußboden knackte und knarrte unter dem Gewicht ihres fülligen Leibes, als sie auf den Tisch zuschritt, an welchem Sayu Platz genommen hatte. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf einen großen, weißen Schaukelstuhl fallen.
„Sie haben mich rufen lassen, Tanaka-san?“, erkundigte sich Sayu neugierig. Die alte Frau blickte auf. „Ja, ich möchte mich mit dir unterhalten“ Für einen Moment betrachtete sie das Mädchen nachdenklich, ehe sie liebevoll lächelte. „Ich wollte mich gerne versichern, dass es dir gut geht, nach all dem, was vorgefallen ist…“ Die Alte wandte sich Noguchi zu. „Noguchi, bringe uns doch bitte etwas Tee und etwas Gebäck. Sayu sieht ganz ausgehungert aus“ Der Hausmeister nickte und verschwand durch die Eingangstür in den Flur. Sayu sah ihm nach. Sobald Noguchi bei Tanaka-san zu Hause war, benahm er sich mehr und mehr wie ein Butler oder ein Bediensteter und nicht wie der grimmige, gruselige Hausmeister.
„Wie geht es dir jetzt?“ Die Frage der alten Frau riss Sayu aus den Gedanken.
„Gut“, antwortete sie spontan. „Ich fühle mich nicht anders als sonst“
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass manche Schülerinnen damit begonnen haben dich aufzuziehen“, erklärte Tanaka-san zögerlich.
„Ach so...“ Sayu vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist nicht weiter schlimm“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Es ist sogar mal eine schöne Abwechslung“, log sie rasch. Sie wusste selbst nicht recht, aus welchem Grund sie nicht die Wahrheit sagte; warum sie nicht aussprach, dass es sie störte, dass es ihr wehtat, dass es sie wütend machte… Doch so war Sayu seit jeher gewesen; sie versuchte stets die Glückliche zu mimen, obgleich es ihr schlecht erging, wollte sie stets die Maske der Glücklichen wahren und niemals ihre wahren Gefühle offenbaren.
Tanaka-san nickte langsam. „Nun, es ist erfreulich, dass es dich nicht zu sehr stört nach alledem…“ Sie zögerte erneut, wobei sie Sayu mit einschätzenden Blicken bedachte. „Und wegen dem Jungen…“, begann sie unsicher.
„Es geht mir gut, Tanaka-san“ Sayu zog die Schultern empor. „Ich scheine wirklich gut mit derartigen Dingen zurecht zu kommen“
In diesem Moment kam Noguchi mit Tee und Gebäck herein. Er verbeugte sich knapp, beinahe unmerklich vor Tanaka-san und stellte das beladene Tablett auf den Tisch. Sayu beobachtete ihn aufmerksam. Mit welch fließenden, vertrauten Bewegungen er die Tassen abstellte, den Tee eingoss und das Gebäck direkt in der Mitte des runden Tisches platzierte. Es erschien, als würde Noguchi neben seinen Tätigkeiten als Hausmeister durchaus noch anderweitige Kompetenzen aufweisen.
„Sayu-chan, wenn es dir nicht gut geht, dann sage mir bitte Bescheid“, ergriff Tanaka-san das Wort. „Ich möchte nicht, dass du etwas in dich hinein frisst“
Sayu nickte bestätigend. „Ganz bestimmt“ Doch sie würde sich nicht an Tanaka-san wenden, dies war ihr bereits zu diesem Zeitpunkt klar. Völlig gleich, was kommen würde, Sayu würde sich allein durchkämpfen.
Die alte Frau griff zum Gebäck und bot Sayu ebenfalls etwas an, ehe sie das Thema abrupt wechselte.
„Im Jungenflügel wird es einen neuen Ordnungshelfer geben“, verkündete sie ohne jeglichen Zusammenhang und biss in einen länglichen Keks.
Natürlich, dachte Sayu, schließlich ist einer der alten Ordnungshelfer kürzlich verstorben… Ermordet! Das Bild des gefrorenen Jungens blitze vor ihrem inneren Auge auf. Mit einem leichten Kopfschütteln jagte sie es fort.
Denke nicht daran!, ermahnte sie sich streng.
„Und wer ist der neue Ordnungshelfer?“, erkundigte sie sich bei Tanaka-san, obwohl sie die meisten Jungen nicht einmal kannte. Diese lächelte schelmisch. „Wenn du ihn gerne kennenlernen würdest, was hieltest du dann davon, mit ihm ins Dorf zu fahren und dort ein paar Einkäufe zu verrichten. Dabei könntest du ihm gleich noch die wichtigen Einzelheiten des Amts des Ordnungshelfers erklären. Sayu lehnte sich auf dem Sofa zurück.
Das hätte ich mir denken können…, ging es ihr durch den Kopf. Natürlich war dies keinesfalls ein bloßer Vorschlag, als vielmehr ein Befehl, wenn auch freundlich ausgedrückt. Tanaka-san verlangte stets von Sayu neue Ordnungshelfer einzulernen oder neuen Kindern ihre Zimmer zu zeigen. Anfangs war dies für sie eine unglaubliche Ehre gewesen, doch allmählich hatte es sich eher zu einer Art Plage erwiesen. Neue Ordnungshelfer waren nicht unbedingt kooperativ und neue Kinder nicht selten eingeschüchtert oder weinerlich, sodass diese Aufgabe des Öfteren überaus anstrengend werden konnte.
„Und was soll ich im Dorf besorgen?“, fragte Sayu freundlich, da sie wusste, dass Beklagen in diesem Moment keinen Sinn hatte. Noch ehe sich Sayu versah hielt die alte Frau ihre eine lange Liste hin. „Also… Kerzen, Streichhölzer – die langen aber, du weißt welche -, Brot, Reis, Wolle, einen neuen Handfeger, einen…“ Sayu nahm ihr die Liste ab, ehe sie weiter vorlesen konnte.
„Ja, Tanaka-san, das werde ich dann alles kaufen zusammen mit…“ Sie sah die alte Frau fragend an, da sie den Namen des Jungens noch immer nicht kannte.
„Hayato-kun“, antwortete Tanaka-san.
„Genau mit dem“
„Gut“ Die dickliche Frau erhob sich stöhnend. „Dann gehen wir mal, oder?“ Sayu blickte sie verdutzt an. „Wohin?“
„Na zur Kutsche natürlich!“ Die alte Frau schüttelte verständnislos den Kopf. „Ihr wollt doch nicht zu Fuß ins Dorf gehen oder?“
„Natürlich nicht“
Sayu erhob sich und folgte Tanaka-san aus der vollgestopften Wohnung.
Das Dorf…
Normalerweise wurden die Ordnungshelfer immer einmal im Monat ins Dorf geschickt um Einkäufe zu betätigen. Den Namen des Dorfes kannten die Kinder nicht, daher nannten sie es schlicht das Dorf. Tanaka-san schickte meist einen Jungen und ein Mädchen zusammen los, um für die Sicherheit zu sorgen. Abgeholt wurden sie meist von einem dicken, kleinen Kutscher, dessen Kleidung sehr an alte, englische Mode erinnerte. Er trug meist ein Jacket, eine Melone und hatte eine kleine Runde Brille auf der Nase. Er wirkte sehr nobel und Sayu wettete insgeheim, dass er im Alltag einer reichen Familie diente. Die Kutschen waren meist jedoch weniger komfortabel, hin und wieder kam es sogar vor, dass die Kinder auf einem Heuwagen mitfahren mussten.
Sayu folgte Tanaka-san durch den Hauptausgang hinaus auf den Vorhof, welchen Sayu von ihrem Zimmer aus sehen konnte. Dort auf dem Kopfsteinpflaster stand eine alte, braune Kutsche. Sie besaß kein Dach, sodass der Blick auf unkomfortable Holzsitze freigegeben wurde.
Das ist nicht gerade die Art von Kutsche wie man sie aus Märchen kennt…, bemerkte Sayu während sie das Gefährt musterte. Es scheint als müsste Tanaka-san ernsthaft ihr Geld sparen… Jedoch war es bei weitem besser als ein Heuwagen.
Vor der Kutsche stand ein braunhaariger Junge mit einer großen Brille, der aufgeregt mit dem Kutscher, dem kleinen, dicken Mann diskutierte.
„A-aber wenn mich eines Ihrer Pferde auch nur annähernd beißt, dann werde ich mich sofort beschweren!“, rief er, während er misstrauisch die beiden braunen Pferde beäugte, welche an die Kutsche gespannt waren.
Wie kann ein Pferd jemanden denn annährend beißen?, überlegte Sayu, während sie sich dem Kutscher und dem Jungen näherte.
„Keine Sorge, mein Junge, diese Pferde beißen nicht“, erklärte der Kutscher und tätschelte einem der beiden Tiere den Hals. Da fiel sein Blick auf Tanaka-san und auf ihre Begleiterin.
„Ah, Tanaka-san, da sind Sie ja!“, rief er und verbeugte sich höflich. „Und die kleine Sayu ist auch wieder dabei?“ Er musterte Sayu durch seine runden Brillengläser und lächelte anschließend aufmunternd. „Reizend. Wollen wir?“ Er machte eine einladende Geste in die Richtung der Kutsche, welche weniger einladend erschien. Sayu nickte und stieg vorsichtig die Treppenstufen empor, um sich in Fahrtrichtung auf die Holzbank fallen zu lassen. Der Junge, bei dem es sich wohl um Hayato handeln musste, folgte ihr unbeholfen. Er setzte einen Fuß auf eine der Treppenstufen, stolperte und fiel der Länge nach vor Sayu auf den Boden. Diese hastete vor und griff ihn an den Schultern, um ihm aufzuhelfen.
„Lass mich!“, fuhr er sie an. „Ich kann alleine aufstehen“
Sayu ließ sich erschrocken und enttäuscht zugleich zurück auf die Bank fallen.
Ich wollte doch nur nett sein…, dachte sie mit einem Anflug von Missmutigkeit. Doch dieser wich abrupt, als ihr ein neuer Einfall kam um die Situation zu retten.
„Stimmt, du hast Recht“, sagte sie schulterzuckend. „Wer alleine hinfällt muss auch alleine wieder aufstehen“ Sie lachte. „Ich bin übrigens Sayu“
„Hayato“, antwortete Hayato knapp.
Ob das sein Nachname ist? Wahrscheinlich… Ich würde ihm ja auch meinen Nachnamen nennen, wenn ich einen hätte…
Die Kutsche setzte sich in Bewegung und Tanaka-san winkte den beiden hinterher wie eine Großmutter ihren Enkelkindern, wenn sie diese lange nicht mehr sehen würde.
„Bis später Sayu!“, rief sie lachend. Doch Sayu beachtete sie nicht wirklich.
„Freut mich dich kennenzulernen, Hyoshi. Du bist der neue Ordnungshelfer vom Westflügel? Also vom Jungenbereich?“
„Hayato“, korrigierte sie dieser. „Hayato, nicht Hyoshi. Und ja, der bin ich“
„Ich bin Ordnungshelferin im Ostflügel“, erklärte Sayu stolz.
„Weiß ich. Oder warum glaubst du würde ich sonst mit dir hier Kutsche fahren?“
Sayu musterte Hayato eingehend. Kam es ihr nur so vor oder war der Junge äußerst unhöflich?
Vielleicht bilde ich mir das nur ein… Ich bin einfach zu sensibel! „Ähm… Du ersetzt jetzt also den alten Ordnungshelfer nach seinem Ausfall?“, versuchte Sayu das Thema zu wechseln.
„Tod“, antwortete Hayato knapp.
„Tod“, wiederholte Sayu mit einem Gefühl von Unbegangen. Hayato hingegen verstand Sayus Reaktion wohl etwas falsch.
„Das bedeutet, dass er gestorben ist“, erklärte er, als ginge er davon aus, Sayu würde dies nicht wissen.
„Ich weiß was das bedeutet – ich bin doch schließlich nicht blöd!“, fauchte diese gereizt und wandte den Blick ab. Für einen Moment betrachtete sie den Wald, der an ihnen vorüber zog, während die Kutsche bergab fuhr.
„Das kann man ja nie wissen“, fand Hayato. „Aber ich glaube es dir natürlich. Schließlich bist du die, über die man sagt, sie habe ihn ermordet“
Sayu schnappte nach Luft. „Was hast du gerade gesagt?“
„Du hast ihn doch gefunden, Sakai-kun, wie er im Gewächshaus lag. Es liegt doch auf der Hand, dass du ihn ermordet hast“, erklärte Hayato, während er seine Brille zurecht rückte. „Aber ich verüble dir das nicht unbedingt. Sakai-kun war komisch…“
„Komisch?“, wiederholte Sayu, die dieses Thema von Yumi bereits einmal gehört hatte. „Inwiefern?“
Hayato zuckte mit den Achseln. „Tagsüber war er eingebildet als wäre er der Kaiser und nachts war er ein Psychopath: Er hatte Angst, Alpträume, Schreiattacken - hat immer geschrien: Sie kommen!“ Erneut zuckte er mit den Achseln. „Wie es scheint kamen sie jetzt wirklich“
Nachdenklich betrachtete Sayu ihre Füße.
Sie kamen… Wer kam? „Dann hast du Sakai-kun nicht gemocht, Hasaya-kun?“
„Hayato“, korrigierte dieser abermals. „Und nein, ich mochte ihn nicht. Wie schon gesagt: keiner mochte ihn! Abgesehen von den Mädchen, die ihn vergöttert haben“ Er blickte Sayu merkwürdig an. Für einen Moment schien es, als wollte er lachen, doch dann sah er nachdenklich aus.
„Warum interessiert du dich für Sakai-kun?“, fragte er ernst.
Sayu überlegte für einen Moment, während sie auf ihrer Unterlippe kaute. Was sollte sie ihm sagen? Weil sie herausfinden wollte, wer der wahre Mörder war? Weil sie einfach neugierig war? Oder weil… Sie wusste es selbst nicht eindeutig. Doch zu guter Letzt kam Hayato ihr zuvor.
„Du bist einfach eine von denen, die ihre Nase überall hineinstecken wollen, habe ich recht?“, hakte er nach.
Sayu sah ihm direkt in die Augen, dann nickte sie langsam. „Ich habe ihn gefunden. Ich… interessiere mich eben dafür“
Ein leichtes Grinsen überzog Hayatos Gesicht.
„Dann bist du also keine Mörderin?“, fragte er, während Erleichterung in seiner Stimme mitschwang.
Sayu schüttelte den Kopf, während sie ein Lachen unterdrücken musste.
Was ist das nur für ein Dummkopf? Hat er wirklich geglaubt, ich hätte den Jungen ermordet? Und noch dazu: glaubt er wirklich ein Mörder würde zugeben, dass er ein Mörder ist?! Das ist vielleicht eine naive Person…
„Ach, es ist gut zu wissen, dass du keine Mörderin bist“, fuhr Hayato fort. „Ich hatte richtig Angst vor dir“
Diesmal musste Sayu wirklich lachen. „Nein, dazu gibt es wirklich keinen Grund. Ich bin nur ein neugieriges Mädchen“, gab sie zu.
„Da haben wir was gemeinsam“, fand Hayato. „Ich bin nämlich auch extrem neugierig. Da gibt es nämlich so ein Gerücht aus dem Ostflügel…“
„Ein Gerücht?“, wiederholte Sayu. „Und was ist das für ein Gerücht?“
„Es heißt, dass es bei euch im Ostflügel ein verfluchtes Mädchen gäbe – alle nennen sie Usagi, kennst du sie?“
Usagi… Sayu legte die Stirn in Falten. Es war eindeutig, dass er von Yumi sprach, aber warum sollte sie verflucht sein?
„Nein, davon habe ich noch nichts gehört…“, gab Sayu wahrheitsgemäß zu.
„Also dafür, dass du neugierig sein willst, weißt du doch erheblich wenig. Aber schön, ich erzähle dir alles was ich weiß“, begann der Junge. „Usagi ist scheinbar schon seit ihrer Ankunft hier im Waisenhaus verflucht. Das hängt bereits damit zusammen, dass die Aufseherin, die sie gefunden hat, zwei Tage später getötet wurde. Kurze Zeit später hat man wohl versucht sie zu entführen, woran sie sich jetzt aber nicht mehr erinnern kann, da sie dabei eine Gehirnerschütterung erlitten hat. Außerdem wollte eine Frau sie einmal adoptieren, die kurze Zeit später auch ermordet aufgefunden wurde. Alle Leute zu denen sie Kontakt hat, sterben. Also wenn du das nicht mysteriös oder verflucht nennst, dann bist du wirklich komisch“
„Das ist mysteriös“, pflichtete Sayu ihm bei. „Aber sag mal, woher weißt du denn überhaupt so viel?“
Hayato grinste schelmisch. „Tja, weißt du, ich habe so meine Quellen. Und meine Wege, um so ziemlich in jeden Raum des ganzen Waisenhauses zu gelangen. Und zwar wirklich in jeden Raum“ Er hielt abrupt den Atem an und lächelte anschließend verlegen. „Ähm, man merkt, dass ich sonst nur mit Jungs rede…“
„Wirklich in jeden Raum?“, interessierte Sayu, die Hayatos Anspielung, auf welche Jungen eingegangen wären, gänzlich ignorierte.
Der Junge nickte. „Klar. Wenn ich sage in jeden, dann meine ich auch wirklich jeden Raum“
Sayu beugte sich zu ihm vor. „Hast du auch Zugang zum Archiv?“
Für einen Moment schreckte Hayato zurück, als hätte Sayu ihm soeben ein abstoßendes Insekt vors Gesicht gehalten.
„Das Archiv?!“, stieß er hervor. „Ich wusste gar nicht, dass es hier ein Archiv hat!“ Er blickte Sayu fragend an. „Woher weißt du von dem Archiv?“
„Ich habe vor kurzem ein paar Kinder belauscht, die erzählt haben, dass mal ein Junge ins Archiv einbrechen wollte. Und ich dachte eben, dass das wahr sei…“, log Sayu rasch. Sie wusste selbst nicht, aus welchem Grund sie nicht die Wahrheit gesagt hatte. Doch die Lüge war ihr schneller über die Lippen gekommen, als sie darüber nachgedacht hatte.
Hayato legte die Stirn in Falten. „Tatsächlich? Es ist wirklich komisch, dass ich davon nichts mitbekommen habe…“ Für einen Augenblick glaubte Sayu er würde ihren Schwindel bemerken. Sie setzte bereits an, um die Sache klarzustellen, als sich Hayatos ernste Miene in Bewunderung verwandelte. „Du bist wirklich aufmerksam“, sagte er plötzlich begeistert. „Wenn diese Kinder das erzählt haben und das der Wahrheit entspricht, dann birgt das Tanaka-Waisenhaus ein weiteres Geheimnis von dem ich bisher nichts wusste“ Er strahle Sayu herzhaft an. „Ich werde versuchen alles über dieses vermeintliche Archiv herauszufinden, sofern es sich arrangieren lässt“
„Ja. Und ich werde versuchen mehr über…“ Sayu hielt inne. Wie sollte sie Yumi nennen. Yumi? Usagi? Das verfluchte Mädchen? „Mehr über den Fluch herauszufinden“, beendete sie schließlich den Satz.
„Wirklich? Das würdest du tun?“ Hayato schien ernsthaft erfreut zu sein. „Das ist toll! Dann werden wir uns nun hin und wieder besprechen müssen und unsere neuen Erkenntnisse zusammentragen“
Sayu nickte. „Genau, das werden wir tun, Hotaro-kun“
„Hayato-kun“, korrigierte dieser diesmal lächelnd. „Oder weißt du was, nenn mich doch einfach Satoshi – vielleicht fällt dir das nicht so schwer…“
„Mache ich Satoshi-kun“
Ein Lächeln umspielte Hayatos Mundwinkel. „Ich bin jetzt doch wirklich glücklich, dass ich auf dich gestoßen bin. Obwohl ich zuerst Angst vor dir hatte“, erklärte er, während er leicht errötete. „Dabei bist du gar nicht furchterregend…“
„Nein, das bin ich nun wirklich nicht“, bestätigte Sayu kichernd. „Aber sag mal, Satoshi-kun, woher weißt du so viel über Usagi?“
„Hmm…“ Der Junge blickte nachdenklich drein. „Ich weiß gar nicht mehr wie ich genau drauf gestoßen bin. Aber irgendwie habe ich davon gehört und dann angefangen zu recherchieren. Ich bin in Tanaka-sans Büro eingebrochen und habe neben Unterlagen über Usagi oder Inugami Yumi, wie sie eigentlich heißt, noch viele andere interessante Dinge entdeckt, die ich dir bei Gelegenheit gerne berichten kann“
Inugami Yumi… das ist also Yumis vollständiger Name?
Sayu überlegte kurz. Möglicherweise könnten sich in Tanakas Büro noch weitaus mehr Unterlagen befinden. Unterlagen, die möglicherweise auch über ihre eigene Herkunft aufklärten.
Bei Yumi hatte Tanaka-san auch behauptet es gäbe keine Informationen über ihre Vergangenheit und so wie es aussieht, gibt es doch welche…
„Lagert Tanaka-san alle wichtigen Unterlagen in ihrem Büro?“, wollte Sayu wissen.
Hayato schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht. Es gibt ein paar Personen über die ich nicht einmal eine kleine Notiz gefunden habe. Du bist eine von diesen Personen. Sakai-kun war auch eine von diesen Personen“ Er kratzte sich am Kopf. „Wenn ich recht darüber nachdenke, glaube ich, dass das mit dem Archiv gar nicht so dumm ist. Schätzungsweise lagert Tanaka-san nur die Unterlagen der neuen oder derzeitigen Kinder in ihrem Büro und ältere Akten, die nicht mehr täglich gebraucht werden, bringt sie vielleicht wirklich an einem anderen Ort unter“
„Aber meine Akte wird doch auch noch gebraucht“, erwiderte Sayu.
Hayato nickte zustimmend. „Stimmt. Die Theorie macht also auch keinen Sinn…“ Er legte die Stirn in Falten. „Wie auch immer. Wir werden bestimmt noch drauf kommen“
Sayu verkündete ihre Zustimmung mit einem Brummen, ehe sie ihren Blick auf ihre Umgebung richtete. Der Wald war inzwischen großen Wiesen gewichen und die steilen Wege hatten sich abgeflacht, sodass Sayu die Vermutung beschlich, sie würden bald das Dorf erreicht haben.
„Warst du schon einmal dort, Sayu-chan?“, erkundigte sich Hayato, der Sayus Blick nach geschlossen hatte, worüber sie nachdachte.
„Dort?“ Sayu und blickte Hayato fragend an.
„Ich meine in dem Dorf von dem man uns nicht sagt, wie es heißt“, erläuterte der Junge seine Frage etwas.
„Ja“, antwortete Sayu wahrheitsgemäß. „Aber es ist kein toller Ort…“
„Wie meinst du das?“ Hayato blickte sie fragend an. Ein Seufzen entwich Sayus Kehle, ehe sie sich zu Hayato vorbeugte, um nicht von dem Kutscher gehört zu werden.
„Es ist hässlich und heruntergekommen und die Leute dort sind unhöflich und es stinkt und…“ Sie reihte eine Anhäufung von negativen Eigenschaften des Dorfes aneinander, sodass Hayato zu guter Letzt zu lachen begann.
„Ich verstehe“, sagte er belustigt. „Na dann bin ich mal gespannt, ob ich das genau so sehe“
„Oh das wirst du, glaub mir“ Sayu sah ihn vielsagend an und Hayato schluckte aus Spaß laut, um den Eindruck zu erwecken, er habe Angst. Plötzlich zeichnete sich eine Falte zwischen seinen Augenbrauen ab. „Was meinst du, wie lange Tanaka-san uns noch erlauben wird ins Dorf zu fahren?“
Sayu runzelte ebenfalls die Stirn. „Wie meinst du das?“
„Na ja, ein Kind wurde ermordet, eigentlich müssten alle aus dem Häuschen sein. Aber Tanaka-san schickt uns einfach nur einkaufen“ Er blickte Sayu direkt an. „Weißt du, ich als Leiterin eines Waisenhauses, hätte die Kinder nicht mehr rausgelassen, bis der Fall geklärt ist!“
Nachdenklich kaute Sayu auf ihrer Unterlippe herum. In diesem Fall hatte Hayato Recht. Dafür, dass es offensichtlich einen Mord im Waisenhaus gegeben hatte, trug sich dort alles wie gewohnt zu. Die einzige Ausnahme war wohl der Umgang, der Sayu gegenüber an den Tag gelegt wurde, doch abgesehen davon…
Hat Tanaka-san denn keine Angst um uns?, überlegte sie. Oder haben sie schon einen Verdacht, wer der Mörder war und wollen es uns nur nicht sagen. Wissen aber, dass von diesem Menschen keine Gefahr mehr ausgeht? „Ja, das ist wirklich merkwürdig…“, stimmte sie Hayato schließlich leise zu. Sayu blickte nach vorne. Zwischen Büschen und Sträucher, kamen am Horizont die ersten Häuser in Sicht.
„Wir scheinen bald da zu sein“, rief Sayu und deutete auf die Umrisse der Häuser.
Hayato wandte sich um und betrachtete die näher rückenden Gebäude. „Ja…“
Das Dorf war klein und arm, wie Sayu es beschrieben hatte. Schäbige Häuser, welche teilweise mit Brettern willkürlich repariert worden waren, säumten die engen gewundenen Straßen. Der Wagen holperte über unebenen Untergrund, während er sich an den misstrauisch dreinblickenden Menschen vorbeibewegte. Sayu warf einen Blick hinab auf die Straße, welche eine Mischung aus Lehm, Schlamm und Gesteinsbrocken war.
„Es scheint lange her zu sein, dass diese Straße angelegt worden ist“, bemerkte Hayato, der ebenfalls nach unten blickte. „Falls sie überhaupt mal eine richtige Straße gewesen ist…“
Der Kutscher zwängte die Kutsche durch eine schmale Seitenstraße bis hin zu einem großen Platz, dessen Boden ziemlich schief mit Steinplatten ausgelegt worden war.
Hayato legte den Kopf schief. „Ich glaube die Leute hier wussten nicht, dass man Erde glattstreichen kann, bevor man Steinplatten darauflegt“, mutmaßte er.
„Sie wussten wohl auch nicht, dass man Häuser gerade bauen muss“, murmelte Sayu, die die schiefen Häuser betrachtete.
„Nun denn“, rief der Kutscher, während er die Kutsche anhielt. „Willkommen im Dorf!“ Er sprang von der Kutsche und half Sayu und Hayato aus der Kutsche, wobei er vor jedem eine theatralische Verbeugung machte, die Sayu wie Spott erschien.
Er warf einen raschen Blick auf seine Taschenuhr, ehe er lächelte. „Wir liegen gut in der Zeit. Lasst euch für die Besorgungen ruhig Zeit. Sobald ihr fertig seid, kommt bitte wieder hier her auf den Marktplatz“ Er verbeugte sich abermals und wandte den beiden Kindern den Rücken zu. Achselzuckend ging Hayato über den Platz, Sayu folgte ihm verwirrt.
„Das ist ein komischer Mann oder?“, wandte sie sich an ihn.
Das Nicken von Hayatos Kopf bestätigte ihr, dass er derselben Meinung war.
Ohne nachzudenken folgte Sayu Hayato in eine schmale, etwas ansteigende Straße, die von dem Platz fortführte. Einige kleine Läden umsäumten sie. Es gab einen Laden, der Lebensmittel verkaufte: Reis, Fisch, Tee… In einem weiteren gab es Stoffe und Garne, und andere Utensilien, die zum Nähen verwendet wurden. Etwas weiter oben in der Straße verkaufte ein alter Mann Metallgegenstände, solche wie Messer, Zangen oder auch Äxte. Schräg gegenüber befand sich ein Schumacher, der soeben einen Lederstiefel weich klopfte, als Sayu einen Blick in den Laden hinein warf. Sayu hatte die Liste herausgeholt und zerrte Hayato in ein Geschäft nach dem anderen, um die Einkäufe zu verrichten.
Der Geruch von Gewürzen stieg Sayu in die Nase, als sie ein Geschäft verließen. Ihr Blick folgte einer Frau, die vielerlei Beutel um die Hüfte trug. Sie hinkte durch die Straße, während sie sich auf einen Stock stützte.
„Sie sieht aus wie eine Hexe“, murmelte Hayato ehrfürchtig. „Völlig abgesehen davon, dass es keine Hexen gibt…“
Sayu brachte gelegentlich ein Kopfnicken zustande, ehe etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht weit von ihr entfernt stand ein Mädchen, nicht viel älter als sie selbst, im Zugang zu einer schmalen Seitenstraße. Ihre Haut war weiß, weiß wie der Schnee, der auf den Hausdächern lag. Ihre Haare, welche einen goldblonden Farbton innehatten, waren zu zwei Zöpfen gebunden, die in großen, spiralförmigen Locken um ihr Gesicht wallten. Bekleidet wurde sie von einem dunkelrosa Mantel unter dessen Saum die Rüschen eines hellrosa Kleides herausblickten. Sie hatte den Kopf leicht schräg gelegt und blickte unschuldig unter einem rosa Sonnenschirm hervor, der sie vor den sanften Strahlen der Wintersonne schützte. Sie sah Sayu an – schien geradezu durch sie hindurch zu blicken. Wie angewurzelt blieb Sayu stehen und schaute zurück. Eine merkwürdige Aura ging von dem Mädchen aus, etwas Beunruhigendes und Vertrautes zugleich. Etwas, das sie nicht zu beschreiben vermochte. Das Mädchen streckte eine Hand nach ihr aus und winkte sie sanft zu sich her. Doch ihre Augen bohrten sich in die Augen Sayus, während eine unsichtbare Hand nach dieser zu greifen schien. Sayu spürte einen Drang auf das Mädchen zuzugehen, obwohl sie gleichzeitig den Wunsch verspürte davonzulaufen. Mit ruckartigen Schritten folgte sie dem Mädchen in die Seitenstraße, als zögen unsichtbare Bänder an ihr. Ihr Blick war fest auf die großen, puppenartigen Augen des Mädchens gerichtet, welche in unergründlichem Blau strahlten. Das Mädchen öffnete den Mund, doch anstatt von Worten drang nur ein kühler Windhauch an Sayu heran, der ihre Haare umherwirbeln ließ. Plötzlich erfasste sie Schwindel. Sie wollte sich lösen, wollte verschwinden, doch es gelang ihr nicht. Ihre Beine, schwer wie Blei, gehorchten ihr nicht. Sie konnte sich nicht bewegen. Weder die Arme heben, noch den Kopf drehen. Ihr Herz begann zu rasen, während Sayu versuchte den Mund zu öffnen, um einen Hilfeschrei auszustoßen, doch auch dies schien ihr verwehrt zu sein. Eine fremde Macht schien sie zu halten, schien ihren Körper zu kontrollieren. Langsam schritt das Mädchen auf sie zu. Sie hatte die Arme nach Sayu ausgestreckt. Diese wollte zurückweichen, fliehen, doch noch immer schien ihr Gehirn keinerlei Befehle an ihren Körper weiterzuleiten. Mit kalten Händen packte das Mädchen Sayu an den Handgelenken. Ihr griff war fest und schmerzhaft. Es fühlte sich an, als versuche sie auf diese Weise ihre Arme mit den bloßen Händen zu zerbrechen. Das Mädchen zog die Hände zurück. Plötzlich fühlte Sayu einen Schmerz, zuerst stechend, dann brennend, der sich ihre Arme empor zog. Sie blickte hinab und starrte auf zwei lange Schnitte, die sich an ihren Handgelenken befanden. Sie keuchte auf, als warmes Blut ihre Handflächen hinab lief. Erneut versuchte Sayu sich zu bewegen.
Ich muss hier fort!, rief eine verzweifelte Stimme in ihrem Inneren. Ich muss verschwinden!!! Doch etwas Schweres, Undurchdringbares hatte sich um sie gelegt, eine Art Barriere, die sie nicht zu durchbrechen vermochte. Eine Art unsichtbare Fessel, die sie an dem Ort gefangen hielt, an dem sie sich befand.
Erneut legte das Mädchen ihre Hände auf Sayus Handgelenke. Sie drückte auf die Wunden, als wolle sie diese am Bluten hindern. Sayu wollte ihre Arme wegziehen. Vergeblich dachte sie daran sich zu rühren, irgendetwas zu tun. Doch nichts schien ihr zu gelingen, gelegentlich ihre Augen konnte sie bewegen. Sie konnte sehen, wie sich die Hände des Mädchens so fest um ihre Arme schlossen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Ein erneuter Anflug von Schwindel befiel Sayu. Sie verspürte ein leichtes Gefühl der Betäubung, welches von ihrem Kopf ausging. Fühlte erste Anzeichen von Schwäche in ihren Beinen, die langsam ihren Körper empor kroch. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, erst langsam, dann schneller. Angestrengt versuchte sie sich auf das Mädchen zu konzentrieren, aus Angst, sie könnte die Orientierung gänzlich verlieren.
Was tut sie da? Was tut sie nur mit mir?!, dachte Sayu angestrengt. Und warum kann ich mich nicht bewegen?! Die Augen des Mädchens veränderten sich. Ihr strahlendes Blau wurde zunehmend trüb, als läge ein Nebelschleier über ihnen. Allmählich kroch Kälte in Sayu empor. Ihre Arme wurden taub und fühlten sich an, als hätte sie sie in einen gefrorenen Bach getaucht.
Gefroren… Bilder von der Leiche eines gefrorenen Jungens schossen Sayu in den Kopf. Ein Junge mit Schnitten am Bauch, ein Junge ohne Körperwärme…
„…wenn jemand stirbt, dann ist er zuerst noch ganz warm, so als würde er noch leben - deswegen wissen manchmal Menschen nicht, ob jemand nur bewusstlos oder tot ist - und erst nach einiger Zeit wird der Körper dann richtig kalt. Aber…, dass der Körper innerhalb von so kurzer Zeit so kalt ist, dass eine Träne sofort gefriert – das ist in der Tat selten“, hallte auf einmal Katos Stimme in Sayus Kopf wieder. Plötzlich, ohne dass Sayu es recht begriffen hatte, war ihr eine Erkenntnis gekommen.
Sie ist die Mörderin des Jungens!
Sayu spürte, wie ihre Kraft zunehmend schwand. Langsam, wie ein Schatten, legte sich ein schwarzer Schleier über sie. Zunächst war er nur am Rande ihres Blickfeldes, wie ein schwarzer, undurchsichtiger Vorhang. Doch allmählich schien er sich zuzuziehen und ihr die gesamte Sicht zu verhüllen.
Ich verliere das Bewusstsein, stellte sie fest, während sie spürte, wie die Kälte in ihrem Körper zunahm. Ihr Atem wurde langsamer, schwerer, als wäre ihre Lunge gefroren. Es knirschte jedes Mal, wenn sie einen weiteren Atemzug tat.
Nein, dachte sie und ein Gefühl, als flögen tausend Bienen in ihrem Magen, breitete sich in ihr aus. Nein, bitte nicht! Nein!
NEIN!, dachte plötzlich eine entschlossene Stimme in ihrem Hinterkopf.
Wut flammte in ihr auf. Eine Entschlossenheit, wie Sayu sie nie zuvor gespürt hatte. Sie hörte es knirschen, als zerplatze eine Schicht von Eis, während sie tief die kalte Winterluft einsog. Und dann kam es wieder, das Gefühl, das sie am Morgen bereits verspürt hatte. Das Gefühl, als öffne sich ein Tor in ihrem Inneren, ein Tor zu einer verborgenen Energiereserve.
NEIN!!!, dachte sie, während ihr Geist gegen die unsichtbare Blockade hämmerte, als könne er diese durchbrechen.
Du bekommst mich nicht!!!
Die Stimme in ihrem Inneren tobte, sie wütete wie ein wildes Tier. Unaufhörlich drosch sie auf die um sie errichtete Barriere ein, während sie allmählich an Energie zurückerlangte. Plötzlich durchströmte sie eine Welle der Hitze. Der schwarze Vorhang, welcher schützend über ihren Augen gelegen hatte, riss zur Seite und grelles, weißes Licht blendete sie, während Sayu die Arme aus dem Griff des Mädchens zu ziehen versuchte.
NEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEIN!!!
Ein harter Schlag traf sie in die Brust, als hätte ihr jemand dagegen getreten. Die Hände des Mädchens wurden fortgeschlagen und Sayu wurde wuchtig zurückgeschleudert. Sie flog, drehte sich und prallte mit dem Rücken auf den Boden, während ihr Hinterkopf hart auf die Pflastersteine prallte. Alle Luft wurde aus ihren Lungen gequetscht und für einen Moment hatte Sayu das Gefühl, als wären all ihre Rippen nur noch Trümmer und Splitter, die sich in ihre Organe bohrten. Noch immer prickelte die Hitze in ihrem Körper, während sich ihre Brust stoßweise hob und senkte. Jeder Atemzug schmerzte. Allein der Gedanke an einen Atemzug schmerzte bereits. Sie fühlte eine merkwürdige Wärme am Hinterkopf und wusste mit unangenehmer Sicherheit, dass sie eine Kopfverletzung erlitten hatte.
Ich muss aufstehen, dachte sie schwach. Doch die Erschöpfung war zu groß. Ihre Kraft war aufgebraucht. Und wieder zog sich langsam der schwarze Vorhang über ihr zu, hüllte sie ein und wiegte sie in einen sanften, willkommenen Schlaf…
15. März 1982
Ich fühle mich schlecht, schlechter denn je. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich dachte, ich sei ein nettes Mädchen, doch bekomme ich mehr und mehr den Eindruck, ich würde zu gegenteiligem werden. Mir ist, als würde ich eine grausame Seite in mir ins Leben gerufen haben, die danach trachtet anderen Menschen zu schaden.
Heute ist etwas wirklich Schreckliches passiert. Mami wollte mir helfen meine Haare zu kämmen, aber sie waren so verknotet, dass es schrecklich wehtat. Ich wollte eigentlich nur, dass sie aufhört, aber anstatt dass ich ihr dies sagte, stieß ich sie fort. Jedoch stieß ich sie nicht einfach. Ich versetzte ihr einen derartigen Stoß, dass sie durch die halbe Ankleidekammer flog und anschließend mit dem Kopf gegen die Fensterbank schlug. Nun hat sie eine Platzwunde am Kopf und es geht ihr sehr schlecht. Ich weiß nicht, warum ich dies getan habe; ich weiß nicht einmal, woher ich die Kraft für diesen starken Schlag genommen hatte. Doch es tut mir unendlich Leid und ich bitte darum, dass sie mir nicht böse sein möge. Ich mag sie doch; sie ist wie eine Freundin für mich!
(Aus den Tagebüchern der Sonoko Akamatsu)
Nachdenklich blickte Yushi Kato an die Decke seiner Kammer und beobachtete die Schatten, welche die vorüberziehenden Wolken auf die unebene Putzschicht warfen. Wie flinke Wiesel huschten sie von einer Ecke zur nächsten und schienen dort dämonenartig zu lauern, bis sie einen weiteren vorbeifliegenden Schatten überfielen und mit in ihre Ecke zerrten. Er betrachtete den hellen Schimmer des Mondlichtes, der sich in der Glühbirne, die von der Decke hing, spiegelte und seufzte gedehnt. Den gesamten Nachmittag hatte er damit verbracht nach der entwendeten Akte zu suchen oder Anhaltspunkte zu finden, wer sie an sich genommen haben könnte, jedoch völlig erfolgslos. Weder Fingerabdrücke noch sonstige Hinweise auf einen Einbruch in seinem Zimmer waren zu finden gewesen.
Schnaubend wandte sich Kato zur Wand und zog die Bettdecke über den Kopf. In dieser Nacht würde er wohl keinen Schlaf finden. Er begann in Gedanken bis einhundert zu Zählen in der Hoffnung einschlafen zu können.
Plötzlich zuckte er zusammen. Hatte er nicht eben etwas gehört? Angestrengt, den Atem anhaltend, lauschte er auf die Geräusche seiner Umgebung und da hörte er es tatsächlich. Ein sanftes Knacken, gefolgt von einem Schleifen, als bewege jemand einen hölzernen Gegenstand. Kato versuchte so leise wie möglich zu atmen und blieb unweigerlich liegen. Ein leichter Luftzug durchfuhr das Zimmer, der einige Papiere von seinem Schreibtisch zum Bett herüber wehte und Kato einen kalten Schauer den Rücken hinab jagte. Er lauschte weiterhin. Leise drangen Geräusche an sein Ohr: das Wehen von Stoff oder das Rascheln einer Hose bei leisen, vorsichtigen Schritten. Und dann ganz deutlich vernahm Kato Atem. Leisen, sanften Atem, der sehr kontrolliert und gleichmäßig floss. Das Herz des jungen Polizisten schlug schneller.
Jemand ist hier, dachte er entsetzt. Jemand ist in meinem Zimmer!
Vorsichtig blickte Kato an die Wand, an der sich ein großer, dunkler Schatten abzeichnete. Die Person, deren Abbild Kato nur schemenhaft sehen konnte, hob einen Arm, als wolle sie ihn greifen. Hastig wandte sich der Polizist um, sprang aus dem Bett und wollte nach der Person greifen, die hinter ihm stand, doch diese war flinker, als er erwartet hatte. Mit einer schnellen Handbewegung schlug sie Kato gegen die Schläfe, sodass diesem schwindelig wurde und er zurück aufs Bett taumelte. Unter einem Anflug von Schwindel musste er mit ansehen, wie die in einen schwarzen Umhang gehüllte Person, eine geschickte Umdrehung vollführte und mit unglaublicher Leichtfüßigkeit auf das Fenster zu sprang. Dort blieb sie stehen und wandte sich noch einmal zu Kato um. Für einen Moment konnte dieser deutlich spüren, wie sie ihn unter einer schwarzen Kapuze heraus finster anstarrte. Obgleich ihr Gesicht von Finsternis umhüllt war, glaubte Kato ein paar glitzernde Augen erkennen zu können, ehe die Person sich abwandte und aus dem Fenster sprang. Dies riss Kato aus seiner Starre.
„Halt!“, schrie er. Hastig stürmte er zum Fenster. Er wollte sich ebenfalls aus dem Fenster hechten, konnte sich jedoch gerade noch am Fensterrahmen halten, als ihm bewusst wurde, dass sich sein Zimmer im vierten Stockwerk des Hauses befand. Von leichtem Schwindel gepackt blickte der Polizist in die Tiefe. Er erwartete auf dem verschneiten Boden einen zertrümmerten Körper vorzufinden, doch dem war nicht so. Unversehrter Schnee erstreckte sich unterhalb seines Fensters.
Ich verstehe das nicht, dachte er verwirrt. Was ist nur los mit diesem Waisenhaus?
Ein Geräusch riss ihn aus den Gedanken. Er wandte den Kopf nach oben und sah gerade noch, wie etwas großes, schwarzen auf ihn zu raste. Zwei Hände packten ihn am Hals und während sie sich feste um seine Kehle schnürten, zerrten sie ihn aus dem Fenster hinaus. Kato zappelte und schlug um sich, als ihm bewusst wurde, dass er soeben den Boden unter den Füßen verlor.
„Lass mich!“, krächzte er angestrengt. „Lass mich!“
Die Luft wich aus seinen Lungen und allmählich verdunkelte sich das Bild vor seinen Augen. Für einen Augenblick konnte er deutlich ein leichtes Lächeln unter der finsteren Kapuze sehen, doch genau in demselben Moment ließ die Gestalt ihn los. Einen gellenden Schrei ausstoßend fiel Kato in die Tiefe. Über ihm schwebte, einem Todesengel gleich, die Gestalt gehüllt in einen nachtschwarzen Mantel. Gellendes Lachen begleitete ihn, während er fiel. Gellendes Lachen hallte in seinen Ohren, als er mit dem Kopf auf den zugeschneiten Steinboden prallte.
Das erste, was Sayu verspürte, waren Schmerzen im Kopf, als ihr Bewusstsein zurückkehrte. Langsam, träge drehte sie sich um. Ihr war kalt; fürchterlich kalt, als wäre all die Wärme ihres Körpers entflossen. Mühsam hob sie den Kopf und öffnete die Augen, um ihre Umgebung zu identifizieren. Finsternis lag über dem Zimmer, in dem sie sich befand, wie der schwarze Schleier einer trauernden Witwe und verbarg dessen Gestalt. Nur an einer Ecke der Räumlichkeit war Licht zu sehen; ein leichtes Flackern wie von prasselndem Feuer, das die Schatten an den Wänden tanzen ließ.
Wo bin ich…?, überlegte Sayu, während sie sich in eine sitzende Position brachte. Um sie herum war alles verschwommen. Ihre Umgebung drehte sich und sie selbst hatte den Eindruck, ihr Kopf zöge sie unaufhörlich gen Boden. Schwankend, benommen ließ sie den trüben Blick durch das Zimmer gleiten. Sie konnte nicht sagen, wie groß es war, dazu war ihre Wahrnehmungsfähigkeit zu sehr beeinträchtigt. Vergeblich versuchte sie sich aufzurichten, doch ihre Beine und Arme waren zu schwach, als dass sie sie hätten tragen können. Mühsam kroch sie voran, auf die Lichtquelle zu. Der Boden war hart und kalt, sodass ihre Knie bereits nach wenigen Metern schmerzten und weitere Frostschauer ihren Rücken hinabliefen. Doch je näher sie der Lichtquelle kam, desto mehr verspürte sie die Wärme, die sie ausstrahlte. Als sie nahe genug war, konnte sie einen großen, mit Steinhauereien verzierten Kamin erkennen in dem ein gewaltiges Feuer prasselte. Sayu hielt inne, zog die Beine nahe an den Leib und genoss das warme Licht des Feuers. Es prickelte auf ihrer Haut und schien ihr neue Kraft zu geben. Schon bald klarte ihr Blick auf und sie konnte genauere Details erkennen. Oberhalb des Kamins hing ein Gemälde von einer dreiköpfigen Familie: ein blonder Mann, in einem dunkelgrünen Gewand, stand neben einer schönen, jungen Frau, deren rotgelocktes Haar über ein gelbes Kleid wallte. Vor ihnen saß ein Mädchen auf einem Stuhl. Ihr rotes, lockiges Haar war zu Zöpfen gebunden und stach sich etwas mit der Farbe ihres lila Kleides. Interessiert betrachtete Sayu das Gemälde. Die Familie wirkte glücklich und friedevoll, das gefiel ihr. Erneut durchlief ein Kälteschauer ihren Körper. Fröstelnd kroch sie noch ein wenig näher an das prasselnde Feuer heran, um sich wärmen zu können. Plötzlich hielt sie inne. Etwas saß vor dem Kamin, etwas, das ihr bekannt vorkam. Nach genauerem Hinsehen, erkannte sie ihre Puppe; blass und schön, mit feuerrotem Haar und einem dunkelgrünen Kleid.
„Was…“, flüsterte Sayu, die nicht glauben konnte, ihre Puppe an solch einem merkwürdigen Ort vorzufinden. Verwundert streckte sie ihre Hand nach ihr aus und wollte sie greifen. Doch wie sie im Begriff war, die Puppe zu berühren, begann diese sich plötzlich zu bewegen. Sie stand auf, griff nach dem Saum ihres wallenden Kleides und begann zu tanzen. Sie drehte sich hin und her, wirbelte im Kreis und kam näher und näher an das Feuer heran. Plötzlich stoben, auf unnatürliche Weise, Feuerfunken aus dem Kamin, prasselten auf die Puppe nieder, entzündeten ihre Haare, ihr Kleid… Flammen begannen sie zu zerfressen, während sie sich noch immer drehte, als hoffte sie mit ihren schnellen Bewegungen das Feuer, welches sie befallen hatte, zum Erlöschen zu bringen. Sayu wandte den Blick ab, sie drehte sich herum und ein Schock traf sie, der sie beinahe umzuwerfen drohte. Ihre gesamte Umgebung stand in Flammen. Menschen, schemenhaft, nur erkennbar als Umrisse im Flammenmeer, stolperten vorwärts, schreiend, wimmernd vor Schmerz, während Flammen ihr Fleisch zerfraßen. Panik packte Sayu, während sie sich ihrer Lage bewusst wurde. Da erschien eine Gestalt inmitten der Flammen, ein Mann in einem wallenden, schwarzen Gewand, dem die Flammen nichts anzuhaben schienen. Dunkles, schulterlanges Haar umrahmte sein Gesicht, welches vom Feuerschein rötlich erleuchtet wurde. Er hob den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen. Ein rotes Auge, über welches sich quer eine Narbe erstreckte und ein dunkles, braunes Auge musterten Sayu eingehend, während sich sein schmaler Mund zu einem höhnischen Lächeln verzog.
„Komm zu mir“, sagte er süßlich, jedoch mit einem Unterton, der ihr Furcht bereitete. Er streckte eine blutverschmierte Hand nach ihr aus. „Komm zu mir meine Kleine!“
Sayu schrie auf. Sie wich zurück, doch hinter ihr züngelten plötzlich gewaltige Flammen aus dem Kamin, die sich zu Armen verwandelten, als sie nahe genug an Sayu herangekommen waren. Diese schrie erneut auf, als eine der Flammenhände ihre Arme packte und sie mit sich in den Kamin zu ziehen drohte.
„Nein!“, kreischte sie panisch. „Hilfe!“
„Die Flamme soll dich verzehren!“, erklang plötzlich die kalte Stimme einer Frau. Sayu wandte sich um, doch sie konnte keine Frau erkennen, nur den dunkelhaarigen Mann, der ihr noch immer die Hand entgegenstreckte.
„Komm zu mir!“, rief er nun nahezu panisch. „Komm!“
Doch Sayu konnte sich nicht bewegen, die Hände begannen ihre Füße zu umschlingen, ihre Arme, ihren Kopf. Verzweifelt trat sie um sich und versuchte sich aus dem Klammergriff zu befreien, doch vergebens, unaufhaltsam zerrten die Flammenhände sie näher an die Glut.
Die Flamme soll dich verzehren…!
„Sayu-chan? Sayu-chan!“
Etwas Hartes traf sie am Kopf. Benommen öffnete Sayu die Augen und blickte in die großen, braunen Augen Yumis, die sich besorgt über ihr Gesicht beugte. „Sayu, geht es dir gut?“
Verwundert blickte sich diese um. „W-Wo bin ich…?“
„Im Krankenzimmer“, antwortete eine männliche Stimme. Hinter Yumis Zöpfen kam Hayato zum Vorschein, der seine Brille gerade rückte. „Nachdem Du im Dorf zusammengebrochen bist, sah ich mich dazu gezwungen, Dich sofort in Mami-sans Hände zu übergeben. Wir hatten uns vielleicht Sorgen um Dich gemacht…“, beteuerte er, während ein breites Grinsen auf seinem Gesicht Gestalt annahm. „Ich bin heilfroh, dass es Dir wieder gut geht“
„Und ich erst mal“, verkündete Yumi. „Ich saß nun ganze drei Tage bei Dir am Bettrand und habe darauf gewartet, dass Du wieder aufwachst. Wir hatten bereits Befürchtungen, Du könntest gar nicht mehr zu dir kommen…“
„Genau“, beteuerte Hayato. „Und das hätte uns zutiefst unglücklich gestimmt“
Yumi warf ihm einen bösen Blick zu, der wohl in gewisser Weise bedeuten sollte, dass sie es bevorzugte, die einzige zu sein, die sich um Sayu sorgte. Hiervon nahm diese jedoch keinerlei Kenntnis.
„Was…“, begann Sayu, deren Erinnerung an die Geschehnisse der letzten Tage noch nicht recht zurückgekehrt war.
„Was ist denn überhaupt passiert?“, nahm Yumi ihr die Worte aus dem Mund, jedoch richtete sie diese Frage an Sayu selbst, sodass diese nachdenklich den Blick zu Hayato schweifen ließ. Sie konnte sich nicht mehr wirklich erinnern. Nur düster kam eine schemenhafte Erinnerung zurück, die jedoch nicht wirklich greifbar war.
„Du musst wohl ausgerutscht sein“, erklärte Hayato mit einem leichten Anflug von Stolz, da er Bescheid wusste. „Du hattest Dir heftig den Kopf am Boden gestoßen, sodass Du bewusstlos wurdest und dann…“
Bewusstlos… den Kopf gestoßen…
Plötzlich begann sich Sayus Wahrnehmung wieder zu verschleiern. Das Bild vor ihren Augen, zunächst klar und deutlich, wurde verschwommen und begann sich zu drehen. Bilder und Eindrücke prasselten auf sie ein; Realitäten, die sich mit Traumvorstellungen vermischten und zu einer imaginären Wirklichkeit verschmolzen. Plötzlich erschien ihr das blonde Mädchen mit den eisblauen Augen wieder. Sie spürte deren kalte Hände auf ihren Armen; fühlte die Hitze ihres Blutes, das aus ihren Adern quoll. Und da war er wieder, der Gedanke, der ihr auch damals gekommen war.
Sie ist die Mörderin von Sakai-kun…!
Sayu spürte, wie ihre Kraft zu schwinden begann, wie die Kälte Überhand gewann und ihre Beine schwach wurden. Hektisch bewegten sich ihre Pupillen hin und her, während sie im Geiste versuchte dem Griff des Mädchens zu entkommen.
„Nein“, wisperte sie nahezu tonlos. „Nein…“
Yumi und Hayato warfen sich unsichere Blicke zu, während sie ihre Freundin beobachteten. Ratlosigkeit sprach aus ihren Mienen, welche Hayato durch ein schlichtes Schulterzucken unterstrich. „Vielleicht hat sie einen Albtraum“, überlegte er laut. „Oder eine Halluzination. Mami-san sagte, dass so etwas passieren könnte…“
„Sayu?“, sprach Yumi leise zu ihr, während sich eine tiefe Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen abzeichnete. „Sayu?!“
Doch diese hörte sie nicht. Zitternd blickte sie ins Nirgendwo während sie mit sich selbst zu ringen schien.
„Nein!“, rief sie plötzlich energisch. „NEIN!“
Sayu kippte nach vorne und hätte Hayato nicht schnell reagiert, wäre sie vornüber vom Bett gefallen. Sicher fing er sie auf und drückte sie zurück in die Kissen. Er wollte sich entfernen, doch Sayu griff nach seinem Ärmel und hielt ihn fest. Tonlose Worte kamen über ihre bebenden Lippen, die nicht ablesbar waren.
Hayato blickte sie verwirrt an. „Wie bitte?“
„Sie hat Sakai-kun ermordet“ Leiser als ein Wispern kamen die Worte über Sayus trockene Lippen. Da sie in den letzten Tagen wenig Flüssigkeit zu sich genommen hatte, schien ihre Stimme plötzlich eingetrocknet zu sein. Hayato starrte sie entsetzt an, doch er konnte nicht sicher gehen, ob er Sayus Worte richtig verstanden hatte.
„Hier trink etwas“, schlug Yumi vor und reichte Sayu ein Glas Wasser, welches diese dankend annahm. Mit einem einzigen Zug leerte sie den Inhalt des Glases vollkommen.
„Sie hat Sakai-kun ermordet“, wiederholte sie nun mit brüchiger, jedoch hörbarer Stimme.
„Wer?!“, platzte er nun hervor.
„Das Mädchen!“ Sayu schrie es heraus, sodass es sicherlich im gesamten Krankenzimmer zu hören gewesen war. Noch ehe Yumi oder Hayato etwas erwidern hätten können, wurde der Vorhang zur Seite gerissen und Oberkrankenschwester Mami trat ein.
„Was ist hier los?! Was soll der Radau?!“, ihre schroffe, laute Stimme klingelte in den Ohren nach.
„Ich… wir…“, begann Yumi, die sich nicht zu artikulieren wusste.
„Sayu hat den Mörder von Sakai-kun gesehen“, erklärte Hayato ruhig. Misstrauisch beäugte Mami zuerst ihn und dann Sayu, die mit Schweißperlen auf der Stirn, zitternd im Krankenbett saß und die Beine an den Leib drückte.
„Die Mörderin“, korrigierte sie im Flüsterton, was jedoch überhört wurde.
„Sayu hat hohes Fieber, sie redet Unsinn“, stellte Mami klar. „Und außerdem benötigt das Mädchen Ruhe! Wie soll sie sich denn ausruhe, wenn Tag und Nacht irgendwelche Leute an ihrem Bett sitzen?! Raus mit euch beiden und zwar sofort!“
„Aber es stimmt!“, wandte nun Sayu ein, die plötzlich wieder über ausreichend Kraft verfügte, um sich gegen Mami aufzubäumen. Missbilligend blickte die Oberkrankenschwester das Mädchen an.
„Ach ja?“, hakte sie mit emotionsloser Stimme nach. Wenn Mami etwas nicht leiden konnte, dann war es die Tatsache, dass es jemand wagte, sich ihrer Befehle zu widersetzen. Sayu blickte auf Yumi, die heftig den Kopf schüttelte, um ihrer Freundin klar zu machen, dass sie den Mund halten solle. Doch Hayato nickte aufmunternd, was Sayu auf eine gewisse Weise belustigte und ermutigte.
„So ist es. Als wir im Dorf waren, hat mich ein Mädchen angegriffen. Ich habe sie wieder erkannt – sie trug auch diesen Schirm bei sich und hatte dieselbe Statur wie die Person, die ich hier im Waisenhaus gesehen habe! Sie wollte mir die Energie entziehen. So, wie sie es mit Sakai-kun gemacht hat!“, erklärte Sayu hastig, wobei sie mit jedem Satz etwas lauter sprach.
Mami blickte noch immer missbilligend, Yumi erstaunt und Hayato beeindruckt.
„Die Energie entziehen?“, murmelte Yumi verständnislos vor sich hin.
„Das ist vielleicht eine Geschichte“, äußerte Mami nüchtern, jedoch mit leichtem, kaum vernehmbarem Erzürnen in der Stimme. „Solche Märchen hat mir schon lange niemand mehr aufgetischt. Und gerade von Dir, Sayu, hätte ich das nicht erwartet!“
„Aber ich kann es beweisen!“, protestierte Sayu, die sich noch nicht geschlagen geben wollte. „Habt ihr nicht meine Wunden gesehen? Die Schnitte an meinen Armen?! Sie hat mir die Arme aufgeschnitten, um mir durch mein Blut die Energie zu entziehen!“
Für einen Moment stutzte die Oberkrankenschwester und Sayu glaubte bereits, sie würde nun einlenken, doch erreichte sie genau Gegenteiliges.
„Du hattest keine Wunden an den Armen“, erwiderte die Krankenschwester knapp.
„Doch!“, rief das Mädchen beharrlich aus. „Sie hat mir die Arme aufgeschnitten! Ich kann es euch zeigen!“ Mit zitternden Händen zerrte Sayu den Ärmel ihres Nachthemdes hoch, um den anderen ihren linken Arm zu zeigen.
„Bei allem Respekt, Sayu, das geht zu weit“, fauchte Mami. „Ich habe Dich behandelt und habe nicht einmal Narben von irgendwelchen Wunden an Deinen Armen gesehen. Willst Du mir etwa unterstellen, ich hätte nicht genau genug nachgesehen?“
„Ich-“ Sayu brach ab. Die Stelle, an der sie eine tiefe Schnittwunde oder zumindest einen kleinen Kratzer erwartet hatte, war vollkommen unversehrt. Weder eine Kruste noch eine Narbe war dort zu sehen. Es sah aus, als hätte niemals jemand die Haut ihres Armes verletzt. Verwirrt schob Sayu den Ärmel weiter nach oben und betrachtete ihren Arm von allen Seiten. Als auch dort nichts zu finden war, begutachtete sie auch ihren rechten Arm, doch auch dieser wies keinerlei Verletzungen auf.
„Das kann nicht sein“, flüsterte sie verständnislos. „Das kann nicht sein! Ich habe es gesehen! Ich habe es gespürt! Sie hat mir die Arme aufgeschnitten!“ Mit der Zeit verwandelte sich Sayus Flüstern mehr und mehr zu einem hysterischen Geschrei, was verdeutlichte, wie sehr ihre Nerven durch die kürzlich geschehenen Ereignisse strapaziert worden waren.
„Sayu…“, flüsterte Yumi entsetzt.
„Ich hatte große Stücke auf Dich gehalten, Sayu, aber uns solche Lügen aufzutischen und nun noch so einen Aufstand zu machen, das ist eine maßlose Unverschämtheit. Wenn man eine Lüge erzählt, dann bittet man um Vergebung aber beharrt nicht auf seiner Rechthaberei! Dies ist nicht die Erziehung, die wir hier in diesem Waisenhaus anstreben und so benimmt sich keine Ordnungshelferin!“ Mamis Kopf, der ohnehin stets etwas rosig war, hatte sich mittlerweile ins Dunkelrote verfärbt.
„Ich bin keine Lügnerin!“, schrie Sayu, die sich nun nach und nach ihrer Situation bewusst wurde. Als ob es nicht schon ausreichend gewesen wäre, dass sie von ihren Klassenkameraden als Lügnerin und sogar als Mörderin beschimpft wurde, hatte sie nun auch ihr Ansehen bei Oberkrankenschwester Mami eingebüßt. Was würde wohl als nächstes kommen? Würden nun auch Yumi und Hayato an ihr zweifeln? Oder würden sie ihr treu bleiben? Und aus welchem Grund hatte sie derartiges Pech in den letzten Tagen?
„Was geht hier vor sich?!“
Eine ruhige, klare, jedoch dennoch kräftige Stimme hallte durch das Krankenzimmer und ließ plötzlich jegliche Geräusche verstummen. Sayu blickte hoffnungsvoll auf, während Mami sich, wie in Zeitlupe, umdrehte und zum Vorhang blickte. Dort, hinter Yumi und Hayato stand Frau Tanaka, die Leiterin des Waisenhauses. Wie meistens, wenn sie ihre Wohnung verließ, trug sie einen mittelgrünen Kimono, der sie nicht unbedingt schlanker erscheinen ließ, jedoch gut ihre ruhige, freundliche Art unterstrich.
„Was geht hier vor sich?“, wiederholte sie erneut, nachdem sie keine Antwort erhielt. „Matsumoto-san hat mich gerufen, weil es einen Tumult im Krankenzimmer gäbe und nun sehe ich, dass in diesen Tumult die Oberkrankenschwester und drei meiner Ordnungshelfer integriert sind. Daher meine Frage: was soll das?“
Mami holte Luft zur Antwort, doch Sayu kam ihr zuvor. „Yumi und Hayato-kun haben nichts mit dieser Sache zu tun“, stellte sie rasch klar. „Es ist alles meine Schuld“
„Das erste vernünftige Wort, das heute aus Deinem Mund kommt“, brummte Mami verächtlich.
„Deine Schuld?“, wiederholte Frau Tanaka verwirrt.
Sayu nickte. „Ja. Ich habe die Mörderin von Sakai-kun gesehen und sie hat mich angegriffen, aber mir glaubt niemand“
„Weil es auch nicht stimmt!“, beharrte Mami. „Oder zumindest nicht ganz“, fügte sich kleinlaut hinzu, als sie Frau Tanakas harten Blick spürte.
„Das Mädchen hat meine Arme aufgeschnitten, aber nun sind keine Wunden mehr zu sehen“, führte Sayu aus. „Daher glaubt mir keiner. Aber ich kann auf jeden Fall mit Sicherheit sagen, dass sie mich angegriffen hat. Sie wollte mich umbringen. Mir meine Energie entziehen“
„Und schon wieder fängst Du an mit diesem Unsinn“, fuhr Mami Sayu an. „Wie soll Dir jemand die Energie entziehen?! Das klingt als hättest Du das aus einem zu fantastischen Roman aufgeschnappt!“
„Aber ich habe das doch gespürt! Warum bin ich denn ohnmächtig geworden? Warum konnte ich mich tagelang nicht rühren, nicht sprechen…? Wenn man nur ausrutscht und sich den Kopf stößt, dann passiert so etwas doch nicht!“
„So wie Du Dich aufführst wäre es nicht unwahrscheinlich, dass Du Dein Gehirn ordentlich durcheinander gebracht hast“, knurrte Mami erbost.
„Jetzt reicht es!“, entschied Frau Tanaka. „Lasst mich mit Sayu alleine“
Schnaubend trampelte die Oberkrankenschwester davon, während sie böse Blicke um sich schoss. Yumi und Hayato verbeugten sich zum Abschied vor Frau Tanaka und verließen so schnell wie möglich Sayus Bett. Diese ließ den Kopf hängen und verwünschte ihre Erlebnisse, indessen setzte sich Frau Tanaka auf den Stuhl neben ihrem Bett.
„Sayu-chan“, sprach sie. „Ich bitte Dich nun ganz ehrlich zu sein: was ist passiert?“
Für einen Moment dachte sie nach. Was sollte sie Frau Tanaka nun antworten? Sollte sie die Wahrheit sagen oder sollte sie von ihrer Wahrheit abrücken, um nicht als Lügnerin dazustehen?
Wenn ich jetzt mit einer Lüge beginne, dann wird auch nichts besser, denn als Mörderin werde ich ohnehin schon bezeichnet. Und wenn ich nun sage, ich sei doch nur ausgerutscht, dann wirkt es so, als wolle ich mich in den Vordergrund drängen oder so, als wäre ich vollkommen verrückt geworden. Am besten ist es, wenn ich die Wahrheit sage, auch wenn sie keiner glauben wird…
„Es ist so gewesen, wie ich erzählt habe“, verdeutlichte Sayu und erzählte Frau Tanaka die ganze Geschichte von Anfang an.
Diese blickte nachdenklich drein, nachdem Sayu geendet hatte. Nun, da sie Sayus Geschichte gehört hatte, wirkte sie nicht mehr verwundert, als vielmehr traurig. Als Sayu dies bemerkte, legte sie die Stirn in Falten. „Tanaka-san?“, fragte sie vorsichtig.
Die alte Frau lächelte matt. „Sayu-chan, Du hast wahrlich viel durchgemacht in den letzten Tagen. Ruhe Dich nun besser aus und mache Dir nicht zu viele Gedanken“ Mit einer Hand strich sie Sayu über den Kopf, ehe sie sich umwandte.
„Aber… Sie glauben mir doch oder?“, rief Sayu ihr nach.
„Ja. Ich glaube Dir, Sayu. Ich glaube Dir…“
Auch nachdem Frau Tanaka den Raum verlassen hatte, starrte Sayu noch eine Weile auf den Fleck, an dem sie zuvor gestanden hatte.
Tanaka-san hat sich äußerst seltsam verhalten, überlegte sie. Ob sie mir wirklich glaubt? Oder sagt sie das alles nur daher, weil sie nicht möchte, dass ich mir Sorgen mache? Nachdenklich betrachtete sie ihre unverwundeten Arme.
Wo sind nur diese Schnitte hingekommen? Sie können doch eigentlich nicht so schnell verheilt sein! Sie biss sich auf die Lippen, während ihr erneut Bilder von dem blauäugigen, blonden Mädchen in den Sinn kamen.
Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu – das kann alles gar nicht sein…! Sie schloss die Augen und massierte sich mit den Zeigefingern die Schläfen, um ihre Kopfschmerzen zu verscheuchen.
Allmählich habe ich das Gefühl, verrückt zu werden…
„Es geht ihr ziemlich schlecht oder?“, wandte sich Yumi an Hayato, als sie aus dem Krankenzimmer schritten. Hayato blieb stehen und sah sie direkt an. „Ich bin mir nicht so sicher…“
„Aber sie hat Halluzinationen, hast Du gesagt“
Hayato nickte. „Ja, das ist das, was Mami will, dass wir sagen. Aber vielleicht ist es doch nicht so. Sayu ist kein Mädchen, das sich Geschichten ausdenkt. Vielleicht hat sie tatsächlich Sakai-kuns Mörder gesehen und steht daher unter Schock. Denn unter Schock steht sie definitiv und das kommt nicht von einer Platzwunde am Kopf, wenn man ausgerutscht ist“
Yumi nickte langsam. „Sie sprach von einer Mörderin“, korrigierte sie Hayato. Dieser blickte sie überrascht an. „Du bist gar nicht so unaufmerksam wie ich dachte“, rutschte ihm über die Lippen, ehe er sich recht darüber bewusst war, was er soeben sagte.
„Vielen Dank für dieses überaus liebe Kompliment!“, schnaubte Yumi leicht beleidigt.
„Nein, ehrlich! Das ist mir nicht aufgefallen; dabei nenne ich mich selbst immer den Beobachter!“ Er senkte nachdenklich den Blick.
„Beobachter ist eben nicht gleich Zuhörer“, konterte Yumi trocken. „Ich nenne mich immer den Zuhörer. Mit meinen großen Hasenohren kann ich das auch äußerst gut“ Yumi zog an ihren Zöpfen, als ob es sich dabei um Hasenohren handelte.
„Da hast Du wohl recht“, bestätigte Hayato. Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen, als er Yumi erneut ansah. „Yumi-chan, ich glaube, ich habe mich gewaltig in Dir geirrt. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich dachte, Du seist ein gewöhnliches Mädchen, aber Du bist, ebenso wie Sayu, ein sehr aufmerksamer Mensch und das ist wirklich toll!“
Doch anstatt Hayato eine Antwort zu geben, legte Yumi einen Finger auf die Lippe und bedeutete ihm somit zu schweigen. Hayato blickte sie fragend an, doch sie schüttelte nur den Kopf und deutete in eine Richtung des Ganges, aus dem plötzlich Schritte zu hören waren.
„…und wie soll das bitte schön passiert sein?!“, erklang eine gereizte, männliche Stimme.
„Ich sage Ihnen doch, dass er behauptet gestoßen worden zu sein, was vollkommener Blödsinn ist“, ertönte eine weibliche Stimme, die den Mann zu beruhigen versuchte.
„Kohara-san“, stieß Yumi hervor.
„Äh… ich heiße Hayato“, erwiderte Hayato, der sich angesprochen fühlte. Yumi warf ihm einen bösen Blick zu.
„Nein, Du Idiot, ich meine die Stimme gehört Kohara-san!“
Hayato lauschte weiterhin, obwohl er nicht ganz glauben konnte, dass Yumi tatsächlich so gut hörte.
„…seine Türe war verschlossen, er kann von niemandem gestoßen worden sein!“, beharrte die weibliche Stimme, die deutlich näher kam. Plötzlich packte Yumi Hayato und zerrte in eine dunkle Nische, sodass sie vom Gang aus nicht mehr zu sehen waren. Bereits im nächsten Moment erschien Hauptaufseherin Kohara in ihrem Blickfeld, der ein schwarzhaariger Mann in einem langen Ledermantel folgte.
„Das ist tatsächlich Kohara-san“, flüsterte Hayato anerkennend.
„Sage ich doch“, äußerte Yumi leicht beleidigt. „Aber wer ist der Mann…?“
„Das ist einer der beiden Polizisten, die wegen Sakai-kuns Tod hierher kamen“, erklärte Hayato leise. „Ich bin den beiden die ganze Zeit hinterhergeschlichen und habe mir die Gesichter ziemlich gut eingeprägt“
„Nicht schlecht…“, murmelte Yumi, deren Aufmerksamkeit dem Gespräch von Kohara und dem Polizisten galt, die nun vor den Türen des Krankenzimmers standen.
„Yagami-san, Sie können nicht zu ihm, es geht ihm wirklich sehr schlecht und-“
Der Polizist, Ryo Yagami, packte Kohara feste am Kragen und funkelte sie böse an. „Kato-san ist mein Kollege, mein Freund und mein Gehilfe und wenn ich ihn sehen möchte, dann möchte ich ihn sehen – ist das klar?!“
Yumi und Hayato hielten die Luft an. Für einen Moment wirkte es, als würde er Kohara zurückstoßen wollen, denn er legte seine Hände auf ihre Schultern und blickte ihr feste in die Augen. Doch dann sprach sie mit klarer, freundlicher Stimme und noch nie zuvor hatten Yumi und Hayato sie mit einer derartigen Stimme sprechen hören.
„Nein, das ist kein Problem, Yagami-san. Gehen Sie ruhig in das Krankenzimmer“
Währenddessen lächelte sie das freundlichste Lächeln, das Yumi und Hayato jemals gesehen hatten.
Yagami ließ die Frau los und öffnete, ohne sich zu bedanken, die großen, schweren Holztüren zum Krankenzimmer. Kohara hingegen stand noch einige Zeit still, ehe sie sich plötzlich umsah und mehrmals den Kopf schüttelte, als wolle sie gegen Müdigkeit ankämpfen, die sie plötzlich befallen hatte. Hektisch sah sie sich um, ehe sie fluchend und schimpfend von dannen eilte.
„Das war vielleicht merkwürdig…“, fand Hayato, als er mit Yumi aus der Nische kroch.
„Allerdings“, pflichtete diese ihm bei. „Als hätte der Polizist Kohara-san hypnotisiert“
Hayato nickte. „Ja. Vielleicht hat er es auch, wer weiß…“
„Natürlich“, äußerte Yumi mit deutlich ironischem Unterton in der Stimme.
„Nein, mal ganz ehrlich, Usa- Yumi! Nachdem was Sayu uns erzählt hat, kommt mir das alles gar nicht mehr so komisch vor“, erzählte Hayato. „Als ich sie gefunden habe, lag sie in blutverschmiertem Schnee. Unter ihrem Kopf befand sich eine große Blutlache aber ihre Ärmel waren deutlich auch voll von Blut. Zuerst dachte ich, sie hätte vielleicht versucht die Arme auf ihre Wunde zu drücken, aber wenn ich nun darüber nachdenke, dann war sie wahrscheinlich nach ihrem Sturz, bei dem sie sich die Kopfwunde zuzog, gleich bewusstlos. So konnte sie also gar keinen Ärmel mehr auf ihre Kopfwunde drücken. Wenn das Blut nun also nicht von ihrer Kopfwunde stammt, woher stammt es dann? Die einzige Möglichkeit wäre dann nur, das, was Sayu selbst erzählt“
Yumi nickte langsam. „Das klingt ja alles schön und gut, aber wieso hat Sayu dann keine Wunden mehr an ihren Armen?“
„Wieso kann ein Polizist Kohara-san hypnotisieren?“, konterte Hayato grinsend.
„Keine Ahnung. Vielleicht ist er darin besonders begabt“
„Gutes Argument. Dann wäre Sayu besonders begabt darin, Wunden schnell verheilen zu lassen“
Yumi schüttelte den Kopf. „Das ist unlogisch und idiotisch, Hayato-kun!“, beharrte sie.
„Schon möglich. Aber wie logisch ist es, dass Sakai-kun im Gewächshaus tot aufgefunden wird - verblutet, aber er kein Blut verloren hat?! Wie logisch ist es, dass im Zimmer des Polizisten Kato in der letzten Nacht über das Fenster eingebrochen wurde und das obwohl er im vierten Stock wohnt?“
„Woher“, formte Yumi tonlos mit den Lippen.
„Woher ich das weiß? Ganz einfach: ich beobachte Leute. Und ich spioniere etwas herum. Hier im Haus gibt es viele Geheimgänge, die Matsumoto-san nicht kennt, die ich benutzte, um mich aus dem Jungenflügel zu schleichen, ohne dass sie mich bemerkt“ Ein selbstgefälliges Grinsen breitete sich auf Hayatos Gesicht aus. „Gut oder?“
Doch Yumi blickte eher bedrückt drein, als dass sie irgendeinen Stolz auf Hayato zum Ausdruck brachte.
„Denkst Du, dass Sayu irgendwie in Gefahr sein könnte?“, fragte sie schließlich besorgt.
„Das weiß ich nicht, aber es ist durchaus möglich“
Yumi sah auf. „Sollten wir dann nicht-“
„-auf sie aufpassen?“, beendete Hayato ihren Satz etwas plump. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das wird nicht nötig sein. Denn wenn ich mich nicht täusche, dann hat diese Aufgabe bereits jemand anderes übernommen…“
„Jemand anderes?!“
Ein leises Knacken verriet die Anwesenheit eines Fremden, der sich der kleinen Kammer näherte, in der sich Noguchi befand. Es stand zur Wand gedreht, wo sich eine kleine Lüftung befand, die jeden Ton, der im Krankenzimmer gesprochen wurde, übertrug. Dieser Raum war einer der vielzähligen Verstecke, von deren Existenz die wenigsten im Waisenhaus wussten. Noguchi suchte ihn oftmals auf, um wichtige Gespräche im Krankenzimmer zu belauschen und sie anschließend Frau Tanaka mitzuteilen.
Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, als ihm der Duft des Parfüms von Frau Tanaka in die Nase stieg. Er schloss die Lüftung, sodass die Verbindung zum Krankenzimmer verschlossen wurde, um zu verhindern, dass jemand ihr Gespräch belauschen könnte.
„Glaubst du mir nun endlich?“, fragte er leise, während er sich zu der alten Dame umwandte. Diese blieb in der Mitte der Kammer stehen, wo ein Tisch stand, um den herum drei Kissen lagen. Ächzend ließ sie sich auf eines der Kissen fallen und schloss erschöpft die Augen.
„Was heißt glauben…“ Sie begann sich die Schläfen zu massieren, während sie die Augen geschlossen hielt. „Ich kann es zumindest nicht länger leugnen, auch wenn ich es nicht wahrhaben möchte“
Noguchi nickte. „Das ist erfreulich. Vor allem zeigt es deutlich, dass meine Dienste hier im Haus noch immer erforderlich sind“
Frau Tanaka sah auf. Für einen Moment musterte sie den alten Hausmeister still, dann schüttelte sie den Kopf. „Daran habe ich niemals gezweifelt, Noguchi. Ich hatte mir nur gewünscht, wir würden nicht nochmals Probleme mit den Magiern bekommen“
„Und dieses Mal ist es noch schlimmer“, murmelte Noguchi. „Sie beobachtet Sayu“
„Sie?“, wiederholte Frau Tanaka, deren Erschöpfung etwas nachgelassen hatte.
Noguchi nickte. „Das Mädchen. Sie ist eine Eismagierin. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen, geschweige denn etwas von ihr gehört. Sie muss eine der Neumächtigen sein; eine jener, die erst in den letzten Jahren zu solch immenser Macht gelangt sind. Außerdem muss sie einen Kampf gehabt haben vor nicht allzu langer Zeit, denn sie hat nahezu all ihre Magie eingebüßt. Ehe sie Sakai-kun überfallen hat, hat sie beinahe keine Energie verströmt, sodass ich ihre Präsenz nicht hatte spüren können. Doch nun nehme ich sie wahr. Sie ist auch jetzt hier; nicht weit von unserem Waisenhaus entfernt und lauert“
„Und worauf lauert sie?“, wollte Frau Tanaka wissen. „Was glaubt sie hier zu finden?“
„Macht“, antwortete Noguchi leise. „Sayu ist die mächtigste Energiequelle in dem ganzen Waisenhaus. Würde ich jemandem Energie abzapfen wollen, ich würde auch sie nehmen“
„Wie gut, dass du ausreichend Energie hast…“, murmelte die alte Frau. „Wirst du Sayu schützen können?“
Noguchi zuckte mit den Achseln. „Ich werde es versuchen. Jedoch bin ich in meiner derartigen Gestalt sehr eingeschränkt…“ Er verwies mit einer allumfassenden Geste auf seinen Buckel und seinen gebrechlichen Körper. „In meiner natürlichen Gestalt wäre ich bei weitem von größerem Nutzen“
Die Leiterin legte den Kopf schräg, während sie ihren guten Freund betrachtete. „Noguchi, du weißt, dass ich es nicht gut finde, wenn du mit deinem Jugendgen angibst“, mahnte sie ihn. Doch dann lächelte sie freundlich. „Allerdings würde ich es an deiner Stelle ebenfalls tun, wenn ich denn ausreichend Energie dazu hätte, meine Gestalt zu wandeln. Ich erlaube dir, dich zu verjüngen, Noguchi, damit du auf Sayu achtgeben kannst und wir unseren Schwur gegenüber der Herrin einhalten können, dass Sayu nichts passieren wird“
Noguchi lächelte breit. Er schloss die Augen und für einen Moment wirkte es, als leuchte seine Haut in silbrigem Glanz. Das Strahlen wurde stärker und stärker, bis es zu einem grellen Scheinen wurde, das Frau Tanaka in den Augen schmerzte. Sie schloss die Augen und senkte den Kopf, um nicht geblendet zu werden. Dann plötzlich nahm es abrupt ab bis es ganz verschwand. Die alte Frau blickte auf und willkürlich umspielte ein Lächeln ihre Lippen, als sie den jungen, blonden Mann mit den hellgrünen Augen vor ihr stehen sah. Seine makellose Haut war weiß wie Porzellan und umrahmt von hellblondem, glattem Haar, das ihm bis über die Schultern reichte. Aus hellen, lindgrünen Augen blickte er Frau Tanaka schelmisch an. Noguchis wahre Gestalt war von solcher Schönheit, dass sogar der alten Dame die Röte ins Gesicht schoss und sie hastig den Blick abwandte.
„Nun gut, Noguchi“, sagte sie mit fester Stimme. „Gib auf Sayu Acht und begehe keine Dummheiten“
Noguchi nickte. „Ich würde niemals Dummheiten begehen, Tanaka-san. Soll ich Ryo Bescheid geben, dass wir es hier wieder einmal mit einem Magier zu tun haben?“, erkundigte er sich vorsichtig.
Doch die alte Frau schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat genügend Probleme mit seinem verletzten Kollegen. Außerdem ist Ryo kein Dummerchen; er wird dies bestimmt bereits bemerkt haben. So wie ich ihn kenne hat er sicherlich schon sämtliche Akten der magischen Verbrechen der letzten zehn Jahre studiert und weiß über mehr Bescheid, als er zugeben wird. Das ist bei ihm immer so…“
Noguchi seufzte. „Ja, letztes Mal war es genauso…“
Der Hausmeister erinnerte sich zurück an die Geschehnisse von neun Jahren zuvor. Yumi Inugami war in das Waisenhaus gekommen und plötzlich nahmen komische Dinge ihren Lauf. Die Aufseherin, die sie gefunden hatte, war zwei Tage später von Magiern getötet worden, jedoch auf grauenvolle Weise, sodass es schwer gewesen war, sie zu identifizieren. Kurze Zeit später hatte ein Feuermagier versucht Yumi zu entführen und dabei einen Großteil des Mädchenflügels in Brandt gesetzt. Zum Glück war damals bereits Ryo Yagami im Einsatz gewesen, der den Brandt mit Eismagie löschte und den verängstigten Kindern das Gedächtnis an diesen Vorfall löschte. Einige Zeit später wollte eine dubiose Frau Yumi adoptieren, die jedoch kurz nach ihrem Auftreten ermordet worden war, sodass beinahe nicht von einem Zufall gesprochen werden konnte. Ryo Yagami war damals nicht sonderlich weit mit seinen Ermittlungen gekommen; er konnte sagen, dass definitiv Magier versuchten Yumi Inugami etwas anzutun, beziehungsweise verhindern wollten, dass sie das Waisenhaus verlässt, allerdings konnte er nicht herausfinden, wer hinter den Angriffen steckte. Allerdings deutete er stets Vermutungen an, die er niemals aussprach, sodass noch immer nicht bekannt war, was Yagami damals in den Sinn gekommen war. Jedoch war ersichtlich, dass in Yumi mehr steckte, als das Auge sehen konnte. Auch Noguchi spürte eine starke energetische Aura bei ihr, allerdings nicht so stark wie bei Sayu. Es war nicht zu bezweifeln, dass Yumi aus einer Magierfamilie stammen musste, doch wusste niemand tatsächlich, woher sie kam. Am selben Tag wie auch Sayu, wurde Yumi im Waisenhaus abgegeben. Noguchi nannte es kein Wunder, dass die beiden sich so gut verstanden, da sie in gewisser Weise doch ein ähnliches Schicksal zu haben schienen. Beide lebten in größerer Gefahr, als ihnen bewusst war.
Er seufzte leise.
Hoffentlich werde ich dich beschützen können, Sayu…
Katos Haut war weiß, nahezu so weiß wie der Verband, der um seinen Kopf gewickelt war. Die Blässe in seinem Gesicht hatte schon nahezu einen Blauton inne, sodass Yagami ihn für einen Toten gehalten hätte, hätte sich nicht seine Brust stoßweise gehoben und gesenkt. Die Augen des jungen Polizisten waren geschlossen, sodass es schien als würde er selig ruhig schlafen.
„Kato?“, flüsterte Yagami vorsichtig.
„Was flüsterst Du denn? Ich habe Kopfschmerzen und keine Ohrenschmerzen“, murmelte Kato als er den Kopf zu Yagami wandte und ein Auge öffnete, um diesen anzublicken. „Du bist doch sonst nicht so rücksichtsvoll“
„Ich dachte Du schläfst“, erklärte Yagami trocken.
Ein ironisches Lachen entwich Katos Kehle. „Schlafen?! Als ob ich hier in diesem verhexten Waisenhaus noch einmal ein Auge zubekommen würde! Hier weiß man doch nie, wann das nächste Attentat auf einen verrichtet wird!“
„Attentat?!“, wiederholte Yagami interessiert.
Kato setzte sich etwas in seinem Bett auf, um besser mit seinem Kollegen sprechen zu können.
„Natürlich. Oder warum glaubst Du, bin ich aus dem Fenster gefallen?!“ Er stöhnte auf, als er seinen Kopf zu weit nach oben hob und ließ sich zurück auf die Kissen fallen. „Ich bin nicht gefallen, Yagami, ich wurde rausgezogen! Zum Glück haben wir so viel Schnee da draußen, sonst wäre mein Kopf jetzt Matsch und du müsstest dir einen neuen Partner suchen…!“
Yagamis Miene blieb ausdruckslos, doch in seinen silbrigen Augen konnte man ein Funkeln erkennen, das sonst nicht zugegen war. „Erzähl mir alles“, bat er sachlich, während er einen Stuhl an Katos Bett zog, um sich hinzusetzen.
„Alles begann nach unserem Telefongespräch. Sakai-kuns Akte, die ich aus dem Archiv verwendet hatte, war nicht mehr in meinem Zimmer, als ich zurückkehrte. Gestern Nacht ist dann jemand bei mir ins Zimmer eingebrochen, Yagami, im vierten Stockwerk!“, betonte Kato mit einer Mischung aus Empörung und Entsetzen. „Ich wollte den Einbrecher schnappen, da sprang er aus dem Fenster. Als ich zum Fenster trat, war er nicht im Hof zu sehen und auch sonst nirgendwo. Ich wollte soeben vom Fenster wegtreten, als mich zwei Arme packten und in die Tiefe stießen. Im Fallen habe ich ihn gesehen – er schwebte über mir in der Luft in einem weiten, schwarzen Kapuzenmantel!“
Yagami nickte langsam. „Verstehe…“, murmelte er.
„Du verstehst?!“, wiederholte Kato mit einem Anflug von Hysterie in der Stimme. „Gar nichts verstehst Du! Der Typ schwebte vor dem Fenster und er wollte mich ermorden!“
Mit einem harten Blick gebot Yagami Kato zu schweigen. „Schrei nicht so herum“, befahl er. „Ich verstehe mehr als Du Dir vorstellen kannst und ich werde Dir das alles zu gegebener Zeit erklären. Aber nicht hier und jetzt. Das Wichtigste ist, dass wir erst einmal von hier verschwinden“
„Aber ich habe eine Kopfverletzung und Mami-san hat gesagt-“
„In Momenten wie diesen ist es nicht wichtig, was Mami-san sagt. Wenn Dir etwas an Deinem Leben liegt, dann kommst Du jetzt mit mir mit“
Yagami erhob sich und ging auf den Vorhang zu, der Katos Krankenbett umgab. „Kommst Du jetzt oder willst Du auf ein weiteres Attentat warten?!“
Hastig sprang Kato auf und humpelte Yagami hinterher.
„Mami-san wird uns töten wenn sie uns entdeckt“, murmelte er vor sich hin, während Yagami ihn aus dem Krankenzimmer führte.
„Das kann sie mal versuchen…“, knurrte Yagami vor sich hin.
Sie durchquerten unzählige Gänge des Waisenhauses, ehe sie auf den Hof hinaus traten. Doch anstatt, dass Yagami Kato zu einem Auto führte, brachte er ihn zu einer dunkelroten Kutsche, die auf dem Hof stand.
„Was…“, begann Kato verdutzt.
„Erkläre ich Dir drinnen“, antwortete Yagami knapp und half seinem Kollegen die Stufen empor zu steigen. Im Inneren der Kutsche ließ sich Kato auf die, mit Samt gepolsterte Bank fallen und lehnte den Kopf an die hölzerne Kutschwand. „Kannst Du mir nun sagen, was los ist?“
Brummend zog Yagami die dunklen Samtvorhänge zu und nahm ebenfalls Platz, während ein sanftes Schaukeln die Tatsache vermittelte, dass sich die Kutsche nun in Bewegung gesetzt hatte.
„Es gibt ein paar Dinge, die ich Dir nicht erzählt habe, bei denen es aber vielleicht doch wichtig gewesen wäre, sie Dir zu erzählen“, begann Yagami nachdenklich.
„Ach ja? Und das fällt Dir jetzt ein?!“ Kato klang beleidigt und zum ersten Mal erkannte er in Yagamis Gesicht so etwas wie Bedauern oder auch Mitleid – er konnte es nicht wirklich zuordnen.
„Es tut mir Leid, Kato-kun. Ich dachte ich erspare Dir viel Unannehmlichkeiten, wenn ich Dir nichts davon erzähle, aber ich sehe, dass Unwissenheit nicht immer ein Schutz ist, daher werde ich Dir nun Dinge berichten, die Du vielleicht nicht glauben wirst. Doch ich werde sie Dir nun erzählen, denn nur so kannst Du mir bei den Ermittlungen behilflich sein.“
Yagami machte eine Pause und stecke sich eine Zigarette an. Erst nachdem er drei Züge genommen hatte, fuhr er fort. „Die Geschichte, die ich Dir nun erzähle beginnt vor langer, langer Zeit in einer kalten, stürmischen Herbstnacht. Ein fremder Mann wurde an Land gespült irgendwo im Norden, in der Nähe des heutigen Sendai. Er war schwer verletzt und bewusstlos, sodass ihn Fischer mit in ihr Dorf nahmen. Sie pflegten ihn gesund und als er wieder zu sich kam, fragte er die Fischer, wie er ihnen danken könne. Da erwiderten die Fischer, dass er ihnen nicht danken brauche und sie gerne Menschen in Not helfen würden. Denn die Tatsache, dass der Mann genesen sei, wäre für sie bereits erfreulich genug. Doch der Mann gab sich nicht zufrieden damit und wollte ihnen Geld schenken, Schmuck und wertvolle Stoffe. Die Fischer jedoch verneinten abermals, sie bräuchten nichts von einem armen Mann, der vom Sturm an Land gespült worden sei. Da erwiderte der Mann, er sei kein armer Mann, er sei ein Magier aus Nordengland und besäße viel an Reichtümern in seiner Heimat. Doch die Reichtümer interessierten die Fischer nicht, sie wollten mehr über die Magie erfahren. Da der Magier in der Schuld der der Fischer stand, erklärte er ihnen die Magie und erklärte ihnen ebenfalls, dass nicht jeder Mensch dazu in der Lage wäre, Magie zu entwickeln. Er testete die Fischer und unter sieben von ihnen fand er magisches Potential, diese sieben bildete er aus und schuf durch sie die sieben ersten Magier Japans. Sie sind die sieben Urmagier, die unser Volk hier in Japan gegründet haben. Seither begannen sie durch Japan zu reisen, Menschen mit magischem Potential ausfindig zu machen und zu unterrichten. Doch diese Arbeit war mühsam und kostete viel Zeit. Bereits nach kurzer Zeit waren es zu viele Menschen, als dass die sieben Magier sie hätten unterrichten können und so gründeten sie eine Akademie, die „Meijiakademī“.Dort wurden seither alle Magier ausgebildet. Doch dies blieb nicht lange so, denn schon bald wurden die ersten Menschen neidisch, weil sie selbst keinerlei magisches Potential besaßen. Sie begannen damit, Gerüchte um die Magier zu spinnen; sie als gefährliches, egoistisches Volk zu bezeichnen, das eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte. Zunächst glaubte ihnen niemand, doch schon bald begannen die ersten Menschen diese Ansicht zu teilen und es dauerte nicht lange, ehe es die ersten Verbünde gegen Hexen und Magier gab. Die Menschen wollten die Magier aus Japan vertreiben und begannen damit, Magier anzugreifen oder zu töten. Die Magierakademie war kein sicherer Ort mehr und den Magiern blieb nichts anderes übrig, als zu fliehen. Sie zogen sich zurück und verschwanden von der Bildfläche, sodass sie im Laufe der Jahre in Vergessenheit gerieten. Heimlich gründeten sie einen magischen Ort, an dem sie fortexistierten. Natsuyama – die Stadt des ewigen Sommers. Es ist ein geheimer Ort, den Normalsterbliche nicht sehen können. Niemand weiß, wo er liegt, außer jene, die ihn kennen. Dort wurde eine weitere große Akademie gegründet – die Natsuyama Akademie. Dort werden alle heutigen Magier ausgebildet. Doch Natsuyama hat strenge Regeln und wer sie nicht befolgt, wird aus Natsuyama verbannt und zum Aussätzigen. Aussätzige werden mit einem magischen Zeichen gebrandmarkt, sodass jeder, der die Gabe dazu besitzt, sehen kann, dass er ein unehrenhafter Magier ist. Magier, die ein sehr schlimmes Verbrechen begehen, werden jedoch nicht einfach verstoßen; diese werden „entkräftet“ – das heißt, ihnen werden sämtliche magischen Fähigkeiten genommen – und dann werden sie nach kuroi yama, dem schwarzen Berg, gebracht. Das ist das größte Gefängnis für Hexen und Magier in ganz Asien. Dort werden sie eingesperrt und die meisten von ihnen werden nie wieder raus gelassen.“
Yagami machte eine weitere Pause und blickte dem Rauch seiner Zigarette nach, der aus dem Fenster der Kutsche waberte. Aus den Augenwinkeln sah er Kato, dessen Gesicht noch blasser geworden war als zuvor. Der junge Polizist schien zu verstehen, warum Yagami ihm von Magiern berichtete; er schien die Verknüpfung zu dem Einbruch in seinem Zimmer herzustellen und zu verstehen, dass er sich die Erlebnisse des vorherigen Abends nicht eingebildet hatte.
Nun ist genau der richtige Zeitpunkt, um Kato einzuweihen, dachte Yagami. Nun wird Kato mir Glauben schenken und mich ernst nehmen, bei dem, was ich ihm erzähle… Er wandte den Blick vom Fenster ab und fixierte Kato direkt. Dieser hingegen blickte mit gesenktem Haupte auf seine Hände, als schäme er sich für irgendetwas oder fände diese Erzählung überaus unangenehm.
„Kuroi yama ist ein Hochsicherheitstrakt, sicherer als jedes Gefängnis und jede Psychiatrie, die man hier auf der Welt finden wird – niemand kann dort hinein oder hinaus. Das Gefängnis wird von den besten Magiern der ganzen Welt bewacht, denn es wird unterstützt von der IFM, der International Federation of Magic, die sich mit allen internationalen magischen Gewaltdelikten befasst“, fuhr Yagami fort. „Und hier komme ich mit ins Spiel: ich bin Teil dieser Organisation. Meine Aufgabe besteht daraus, Undercover, getarnt als gewöhnlicher Polizist, nach magischen Verbrechern zu suchen, diese ausfindig zu machen und der IFM zu melden, sodass diese sie zur Rechenschaft ziehen kann. Wie Du Dir denken kannst, erzähle ich Dir dies nun nicht aus Spaß, sondern mit einem guten Grund. Der Junge, Sakai-kun, ist der Sohn einer alten Magierfamilie und er wurde nicht auf natürliche Weise ermordet, sondern mithilfe von Eismagie.“
Kato stieß zischend die Luft aus, ehe er nach neuer schnappte. „Magie“ Das Wort klang wie eine Feststellung aus Katos Mund, doch hing dies eher damit zusammen, dass er soeben mit sich selbst rang. Tausend Dinge schossen ihm durch den Kopf und er konnte selbst nicht wirklich begreifen, in welche Richtung ihn das Karussell seiner Gedanken soeben trug.
„Dann war das gestern ein Magier in meinem Zimmer? Deswegen konnte er fliegen, richtig? Er konnte auch nur deswegen in mein Zimmer von außen einbrechen und durchs Fenster kommen – das hätte ein Normalsterblicher nicht geschafft, richtig? Und… wieso wurde Sakai-kun ermordet? Sind wir nun in Gefahr? Bin ich nun in Gefahr? Bist du auch ein Magier? Oder-“
Yagami hatte die Hand erhoben, um Kato Einhalt zu gebieten.
„Warte bitte, ich werde dir alles Schritt für Schritt erklären“
Kato nickte verständnisvoll und zog entschuldigend das Genick ein.
„Gestern war tatsächlich ein Magier in deinem Zimmer und du kannst von Glück sagen, dass dir nichts Schlimmes passiert ist. In Gefahr bist du nur insofern, da der Mörder von Sakai-kun nun weiß, dass du etwas weißt, was du nicht wissen sollst. Irgendetwas, was in dieser Akte stand, die du aus dem Archiv entwendet hattest, beinhaltete Informationen, die für uns sehr hilfreich gewesen wären und die uns sehr viel weitergebracht hätten. Dein Angreifer wusste nicht, dass Du diese Stelle nicht gelesen oder gar nicht verstanden hast, aus diesem Grund hält er Dich für eine potentielle Gefahr und wird versuchen Dich zu finden und mundtot zu machen. Daher schaffe ich dich auch von hier fort“
„Und wo bringst Du mich hin?“, fragte Kato leicht schockiert.
„In den Verband der Hexen und Magier in Nagano. Dort werden wir für einige Zeit Unterschlupf finden und ich werde abklären, wie wir nun mit dir verfahren werden“
Mit verständnislosem Gesicht blickte Kato seinen älteren Kollegen an. „Wie meinst du das?“
„Es ist so“, begann Yagami zu erklären. „Wir Magier führen eine heimliche Existenz. Kein Mensch weiß von uns oder darf von uns wissen, das ist eines unserer wichtigsten Gesetzte. Ich habe dieses Gesetz gebrochen, jedoch halte ich es für den richtigen Weg, denn es wäre töricht, dich unnötigen Gefahren auszusetzten, indem ich dich unwissend lasse. Der Verband der Hexen und Magier verbietet allerdings, dass Menschen von unserem Tun in Kenntnis gesetzt werden, daher muss ich mit dem Vorsitzenden des Verbandes, Koyama-sama, sprechen und um Erlaubnis bitten, dir ein Sonderrecht zuzuschreiben, auf dass ich dich weiterhin zu den Ermittlungen mitnehmen kann“
„Und wenn er das nicht erlaubt?“, hakte Kato unsicher nach.
Yagami sah ihm in die Augen und ein Ausdruck der Besorgnis trat in seine Züge. „Wenn Koyama-sama das nicht erlaubt, gibt es verschiedene Verfahrensmöglichkeiten. Sie können dir die Erinnerung an diese Vorfälle und Tatsachen löschen und dich wieder ins normale Leben hinausschicken, ohne, dass du eine Veränderung wahrnimmst. Dies wäre jedoch eine sehr gefährliche Möglichkeit, da du dann ohne Schutz und ohne Erinnerung vor Magiern stehen würdest, die dich gerne aus dem Weg schaffen würden, da sie dich für einen Mitwisser halten. Eine zweite Möglichkeit wäre, dich einzusperren, diese wird weniger oft angewandt, da unsere Verließe ohnehin bereits überfüllt sind. Die Möglichkeit, die sie am häufigsten anwenden in solchen Fällen ist „der Unfall“. Menschen, die zu viel über Magier wissen, erleiden oftmals einen tragischen Unfall, der sie plötzlich aus dem Leben scheiden lässt“
In Katos Gesicht stand nun eindeutig Angst geschrieben.
„U-Unf-fall?!“, stieß er hervor, während sich die Fingernägel seiner rechten Hand in den linken Handrücken bohrten. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und seine Unterlippe begann leicht zu zittern. Dieses Bild amüsierte Yagami und er konnte das Lachen, das bereits seit Minuten in ihm kitzelte, nicht mehr unterdrücken.
„Das war ein Witz, Kato!“, beruhigte er diesen und klopfte ihm auf den rechten Oberschenkel. „Natürlich macht der Verband so etwas nicht, das wäre nicht legal“
Allmählich kroch die Farbe zurück in Katos Gesicht und er schluckte einen dicken Klos herunter, der sich in seinem Hals festgesetzt hatte, ehe er sprach: „Was machen sie denn dann?“
„Manchmal wird tatsächlich zu der Variante des Gedankenlöschens gegriffen, denn diese ist in manchen Fällen wirklich die einfachste, auch für die Betroffenen. Doch leider geht das in Deinem Fall wirklich nicht. Menschen, bei denen diese Möglichkeit nicht infrage kommt, werden oftmals unter einen magischen Eid gelegt. Sie müssen schwören, ihr Wissen nicht preiszugeben, denn ansonsten wird die Magie des Eides sie töten – und dies ist ausnahmsweise einmal keine Lüge, Kato. Viele dieser Menschen ziehen sich zurück und die meisten derer treten in den Dienst des Verbandes und arbeiten dort. Sie brechen die Kontakte zu den Menschen ab, um nicht versucht zu sein, etwas über ihr Wissen preiszugeben und leben unter den Magiern. Oder sie verpflichten sich einem Magier zu Diensten“
„Heißt das, ich müsste dann für immer dort bleiben? An einem Ort, an dem nur Magier sind?“, wollte Kato wissen.
„Ja und nein. Du würdest dort leben; jedoch dürftest Du auch hinaus aus diesem Ort. Allerdings nur mit Begleitung eines Magiers und du dürftest nicht an Orte gehen, an denen man dich kennt und auch nicht zu Menschen, die dich kennen oder dir einmal nahe standen…“
Nachdenklich und eindeutig beunruhigt biss sich Kato auf die Unterlippe, ehe er zögerlich nickte. „Ich verstehe…“, murmelte er geistesabwesend. „Dann werde ich also möglicherweise meinen Job an den Nagel hängen müssen und nur noch mit dir zusammen auf Jagd nach magischen Verbrechern gehen müssen“
Yagami nickte bestätigend. „Eventuell. Vielleicht aber auch nicht. Wir werden sehen, was im Verband entschieden wird. UInd außerdem jage ich nicht nur Verbrecher; ich habe weitaus interessantere Tätigkeiten zu tun...“ Yagami lächelte geheimnisvoll, doch Kato ignorierte dies vollkommen.
Katos Herz hämmerte, als er den Blick aus dem Fenster wandern lies. Er betrachtete die Bäume, wie sie an ihm vorbei zogen und hatte das Gefühl, er würde diese niemals wieder sehen. Auch wenn er möglicherweise bis zu diesem Zeitpunkt die Ernsthaftigkeit seiner derzeitigen Situation nicht begriffen haben sollte, zu diesem Zeitpunkt verstand er plötzlich, dass sich sein Leben von nun an verändern sollte. Doch was er nicht wusste, war, inwiefern es sich verändern würde…
Es schüttete in Strömen, als der ältere, leicht untersetzte Mann über die Straße huschte. Die Kapuze seiner Regenjacke hatte er tief ins Gesicht gezogen, sodass nur seine schmalen, blassen Lippen zu sehen waren. Er hinkte leicht, wenn er schnell lief; ging er jedoch, fiel das Hinken nicht auf. Nach Atem ringend bog er in eine schmale Seitengasse ein, in der es des Regens wegen derartig finster war, dass man ihn nur als dunklen Schatten wahrnehmen konnte. Vor einem Briefkasten blieb er stehen. Für einen Moment blickte er den Kasten an, als ob er sich frage, ob er nun einen Brief hineinwerfen solle oder doch nicht. Dann plötzlich riss es ihn aus seiner Starre und er fummelte hastig an dem Reißverschluss seiner Regenjacke herum. Sobald er diesen geöffnet hatte, griff er in seine Innentasche und brachte einen Brief zum Vorschein. Es war ein leicht zerknittertes Couvert, welches bereits einige Flecken aufwies, als hätte der Mann es bereits über längere Zeit mit sich herumgetragen. Zögerlich hielt er den Brief in den Händen, als fehle ihm der letzte Ansporn, ihn durch den Briefschlitz zu schieben. Die Regentropfen fielen auf den lädierten Umschlag und drohten das Papier zu erweichen. Er blickte nochmals auf die Anschrift und las stumm: „An: Inugami Yumi, Tanaka Waisenhaus…“
Er schreckte hoch, als er ein Geräusch in nächster Nähe vernahm. Hastig schob er den Brief in den Briefschlitz und drehte sich um, ohne die Adresse noch ein letztes Mal auf ihre Korrektheit zu überprüfen. Wie ein in Angst versetztes Tier flackerten seine Pupillen hin und her, als er die finstere Straße entlang blickte. War jemand dort? Jemand, der ihm etwas antun könnte? Jemand, der um seine Identität wusste? Jemand, der wusste, was er getan hatte? Er wandte den Blick gen Himmel, um festzustellen, dass sich auch von oben niemand auf ihn herunterstürzen konnte.
„Hand guck in die Luft – ein europäisches Märchen, wenn ich nicht irre…“, säuselte plötzliche eine Stimme. Der Mann schrak erneut zusammen und blickte zurück auf die Straße. Dort, nicht weit von ihm, stand ein großer, schlanker Mann in einem schwarzen, langen Mantel. Eine Melone, wie man sie in England im späten 19. Jahrhundert getragen hatte, schütze seinen Kopf vor dem Regen. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, während seine runden Brillengläser gefährlich funkelten und seine dahinterliegenden Augen im Verborgenen ließen.
„W-Wer…“, stotterte der dicke Mann ängstlich, wobei er sich unwillkürlich immer weiter rückwärts bewegte, bis sein Rücken an die Hausmauer stieß.
„Das soll nicht deine Sorge sein, Inugami-san“, höhnte der Mann. „Vielmehr sollte dich das wasinteressieren. Waswerden wir nun mit dir tun… ich denke dies sollte deine größere Sorge sein…“
„Ihr?“ Der dicke Mann, dessen Nachname Inugami lautete, blickte sich panisch um, als befürchte er noch weitere bedrohliche Gestalten in der Finsternis vorzufinden.
„Aber während du dir über das was Gedanken machst, mache ich mir Gedanken über das warum“ Der Mann kam einen Schritt auf Herrn Inugami zugeschlendert. „Warum bist du zu solch später Stunde hier draußen, Inugami? Warum sitzt du nicht in deinem Hasenloch und verkriechst dich mit der Schande, die über dich kam?“
„I-I-Ich…“, stotterte Inugami. Seine Zähne klapperten, halb vor Kälte, halb vor Angst, während der fremde Mann noch immer langsam näher kam.
Noch ist Zeit zum Davonrennen, dachte Inugami, noch haben sie mich noch nicht eingekesselt… Doch in nicht allzu weiter Entfernung konnte er bereits die Präsenz weiterer Magier spüren, die sich rasch näherten.
Ich würde es nicht schaffen…, dachte der alte Mann traurig, während er sein lahmes Bein ansah, welches ihm bereits seit vielen Jahren zu schaffen machte.
„Was ist, Inugami, hat es dir die Sprache verschlagen?“, hakte der Mann nach, der nun direkt vor dem alten Herrn stand. „Soll ich deiner Zunge auf die Sprünge helfen?“
Inugami spürte einen leichten Zug an seiner Zunge und obgleich niemand daran zog, spürte er deutlich, wie sie sich nach vorne bewegte und plötzlich hinter seinen Lippen hervor kam. Immer weiter aus dem Mund wurde sie gezogen, bis es wehtat. Inugami keuchte auf, als er spürte, dass nun der Punkt angelangt war, da es nicht weiter ging. Tränen quollen ihm in die Augen, als der Zug konstant blieb und er das Gefühl hatte, als würde seine Zunge sogleich herausgerissen werden. Da hörte der Zug plötzlich auf; jedoch ließ sich die Zunge noch nicht wieder zurück in den Mund ziehen.
„Meinst du, du kannst nun besser sprechen?“, erkundigte sich der Mann süßlich lächelnd.
Inugami nickte hastig. Der Zug an der Zunge ließ abrupt nach. Inugami schnappte nach Luft, doch ehe er sich erholen konnte, presste ihn eine unsichtbare Macht an die Wand, als drücke ihm jemand mit einem starken Arm gegen die Brust.
„Und jetzt sage mir, was du hier verloren hast!“, befahl der fremde Mann schroff.
Inugami schnappte nach Luft. „Ich… ich…“ Durch den Druck auf seiner Brust konnte er nahezu nicht atmen und nur mit Mühe und Not einige Worte hervorpressen. „Spaziergang!“, japste er.
„Ein Spaziergang? Mit deinem kaputten Bein?!“ Der Mann lachte auf. „Das ist der schlechteste Witz, den ich je gehört habe!“ Eine unsichtbare Hand traf Inugami im Gesicht und schlug seinen Kopf gegen die Hauswand, sodass ihm kurzzeitig schwarz vor Augen wurde. Hätte ihn nicht die Energiewelle gegen die Hauswand gedrückt, wäre er wohl an ihr zu Boden gesunken. „Ich wollte…“, begann Inugami, doch dem Mann fehlte allmählich die Geduld. Schnaubend trat er auf den dicklichen Alten zu und packte seinen Kopf zwischen seine Hände.
„Sieh mich an!“, befahl er kalt.
„N-Nein…!“, begann Inugami, dem es widerstrebte, dem Fremden in die Augen zu sehen. Doch es war aussichtslos. Der Fremde packte sein Genick und hielt ihn so fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Hinter den Brillengläsern begann plötzlich etwas zu funkeln, ein helles Licht, das aus den Augen des Mannes zu kommen schien und sich in die Augen Inugamis zu bohren schien. Es war grün, helles grün und plötzlich hatte Inugami das Gefühl, er würde fallen. Er verlor den Boden unter den Füßen und fiel… doch wusste er nicht wohin. Für einen Moment war alles durchflutet von grünem Licht, ehe er plötzlich etwas erkennen konnte. Er sah eine Straße, eine dunkle Gasse; die Straße durch die er zuvor gekommen war und da war auch er, wie er panische Blicke um sich werfend durch die Nacht hinkte. Er steuerte auf den Briefkasten zu und war schließlich, nach kurzem Zögern den Brief an seine Enkeltochter, Yumi, ein.
Yumi… Gedanken an sie überfluteten seinen Geist. Gedanken daran, wohin er sie eingeladen hatte, was er mit ihr vorhatte,…
Vielen Dank für diese Informationsfülle, hallte plötzlich eine Stimme in Inugamis Kopf. Er schreckte hoch und öffnete die Augen. Vor ihm stand der fremde Mann, dessen Gesicht von einem selbstgefälligen Grinsen geziert wurde.
„Yumi… sie wird mir sicherlich gefallen…“, säuselte er, während er sich auf die Lippe biss. „Vielleicht ist sie sogar noch besser als du…“ Er warf den Kopf über die Schulter. „Kommt her, hier haben wir eine kleine Energiespende – auch wenn er nur ein Passivo ist, hat er dennoch genug Energie, sodass ihr satt werden könnt von ihm!“
Zwei Männer kamen aus dem Hintergrund auf ihn zu geschritten. Zwei Männer, die ihn lüstern anlächelten. Doch Inugami wusste, was sie wollten – sie wollten ihm die Energie abziehen und ihn somit seines Lebens berauben. Und als nächstes würden sie dasselbe mit Yumi machen, sie würden ihr auflauern und dann, dann würden sie sie töten. Während die beiden glatzlöpfigen Schränke auf ihn zu kamen, schloss er die Augen und sandte seinen Geist aus – auch als Passivo, ein passiver Magier ohne magische Fähigkeiten, hatte er gewisse magische Gaben und wenn jemand sensible Aufnahmefähigkeiten hätte, würde er ihn sicherlich hören…
Hilfe!, rief sein Geist in die Nacht hinaus. Helft mir! Doch es war bereits zu spät. Er spürte bereits die kalten Hände der Männer an seinen Armen, genauso, wie sich Hände um seinen Hals schlossen. Es brannte kurz, als sie seine Haut durchdrungen, dann spürte er, wie seine Energie allmählich wich…
17. März 1982
Heute bin ich einer merkwürdigen Frau begegnet. Sie trug einen Kimono und obwohl es in Strömen regnete, wurde sie nicht nass. Als ich an ihr vorbei ging stolperte ich und fiel in ihre Richtung. Für einen Moment hat mich ihre Hand berührt und ich habe einen Berg gesehen auf dem ganz viele Kirschbäume standen. Es sah wunderschön aus. Doch sobald sie mich los lies, waren die Bäume verschwunden. Ich weiß nicht, was das für ein seltsamer Tagtraum gewesen war, aber irgendwie war mir nicht ganz geheuer dabei.
(Aus den Tagebüchern der Sonoko Akamatsu)
Texte: Ayana Ito
Bildmaterialien: Ayana Ito
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für all jene, die noch zu träumen wagen...