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1.

Müde und geschafft kamen wir in unserem Appartment an. Ein anstrengeder, aber sehr erfolgreicher Tag lag hinter uns. Die Premiere unserer Weltournee im heimischen Stadion war gelungen. Es war gut, wenn auch nicht perfekt, gelaufen. Der neu veröffentlichte Singletrack brach Rekorde mit dem Musikvideo. Schon die Vorbestellungen der angekündigten Albums deuteten darauf hin,während wir in den Tourvorbereitungen steckten. In den letzten drei Wochen vor einer Tournee oder einem neuen Comeback blieb uns keine Zeit für die Medien und wir wurden nur durch die Angestellten unseres Labels über die Vorgänge dort informiert. Wir konzentrierten uns nur darauf, unseren Fans eine perfekte Show auf der Bühne zu bieten, denn sie waren es, die in den letzten Jahren für unseren enormen und unerwartet riesigen Erfolg gekämpft haben und sie verdienten unser Bestes. Es war das Einzige, was wir ihnen zum Dank zurückgeben konnten.

Das Stadion leerte sich nach dem Kozert langsam und wir nutzten diese Zeit, um zu duschen und uns umzuziehen. Wir hatten mit der gesamten Crew auf den gelungenen Start mit Wasser angestoßen und ihnen für ihren unermüdlichen Einsatz gedankt, ehe wir uns im Bus zu unserem Wohnkomplex zurückfahren ließen. Alkohol war in dieser Zeit strikt untersagt und das war okay. Die Stimmung war ausgelassen und wir noch voller Adrenalin. Nur unser kleiner Perfektioninist wurde immer ruhiger. Sonst ein Sonnenschein, immer zu Scherzen aufgelegt und um unser Wohlergehen bemüht, saß still da und schaute in die Dunkelheit hinaus. Immer öfter glitt mein prüfender Blick zu ihm. Ich sah die Tränen, die über seine Wangen liefen, im Spiegel des Glases. Es tat weh, ihn so traurig zu sehen. Am liebsten würde ich mich zu ihm setzen und ihn in den Arm nehmen, ihn trösten und aufmuntern. Doch das ging im Moment nicht. Auch die Jungs bemerkten, dass die Stimmung zu kippen drohte. Wir alle wussten, was an ihm nagte und hatten schon während der Show versucht, ihn von dem drohenden Sumpf aus Selbstzweifeln fernzuhalten. Doch nun schien er darin zu versinken. Sein Sitznachbar wollte ihn umarmen, doch er wehrte ihn widerspenstig ab. Verstohlen wischte er die Tränen weg und blickte sich kurz um. Ihm waren die besorgten Blicke der Jungs nicht verborgen geblieben. Rasch schob er sich die Kapuze seines schwarzen Sweeters über den Kopf. Ob er sich vor unseren Blicken schützen oder verbergen wollte, wusste ich nicht, aber ich vermutete letzteres. Nach sieben Jahren des Zusammenlebens kannten wir alle Facetten der anderen. Wir waren sieben Brüder, die alle Höhen und Tiefen miteinander erlebt und durchgestanden hatten. Beste Freunde, die alle Marotten kannten und wussten, wie der andere tickte. Selbst unsere eigenen Blutsverwandten wussten nicht so viel von uns wie wir voneinander.

Die Müdigkeit kam nach dem Adrenalinschub. Als wir ausstiegen und zu unserer Wohnung liefen, senkte sich Stille über uns. Wir alle wollten nur noch ins Bett. Morgen ging es weiter und bis dahin mussten wir uns erholt haben. Für mich würde es eine kurze Nacht werden. Ihm ging es schlecht und ich wollte für ihn da sein. Innerlich zerriss es mich förmlich, wenn ich ihn so still leiden sah. Ich wollte in seiner Nähe bleiben, falls er mich brauchte.

Kaum im Flur zog er die Schuhe aus und verschwand in einem der beiden Doppelzimmer. Seit wir nicht mehr zu siebt in einem Raum schliefen, teilte er sich einen mit einem Mitglied der Gruppe. Sein Mitbewohner folgte ihm mit traurigem Blick und einem leisen Seufzen. Eigentlich war er der Spaßvogel unserer Truppe, aber selbst ihm war bei diesem Trauerspiel das Lachen vergangen. Fragend schaute er zu mir. Mit einem Nicken gab ich ihm mein Einverständnis. Er würde heute Nacht in meinem Bett schlafen. Nach und nach verschwanden alle in ihren Zimmern. Nur ich stand noch grübelnd im Flur. Ich ging in die Küche und holte zwei Flaschen Wasser aus dem Schrank.

Keine zwei Minuten später betrat ich das Zimmer. Hatte er mich bemerkt? Es war und blieb still im Zimmer. Nur das Rauschen des Windes in den Vorhängen und auch ein leises Schluchzen war zu hören. Ziemliche Dunkelheit lag über dem Raum. Nur die Straßenlaterne warf ein wenig Licht das Fenster, da die beigefarbenen Vorhänge offen waren, sodass ich die Konturen sah. Das linke Bett war noch unbenutzt. Auf dem rechten lag er zusammengekrümmt wie ein Baby. Die Schultern bebten leicht. Nicht einmal die Klamotten hatte er ausgezogen. Auf leisen Sohlen und mit pochendem Herzen näherte ich mich ihm. Würde er meine Nähe zulassen oder mich wegschicken? In seinem Gemütszustand war alles möglich.

Vorsichtig setzte ich mich auf die Bettkante und berührte ihn sanft an der Schulter. Er zeigte keine Abwehrreaktion. Nur die Beine zog er noch ein wenig mehr an, sodass er wie ein Fötus im Schutz des Mutterleibs eingerollt auf dem Bett lag. Langsam und auf jede Regung achtend rutschte ich hinter ihn, schob meinen linken Arm unter seinen Kopf, passte mich seinem Körper an und schloss ihn mit dem rechten ein. Eine gespenstische Ruhe lag über uns. Selbst von den Jungs war nichts zu hören. Normalerweise gab es hier immer eine gewisse Geräuschkulisse, seien es leise Schritte, die durch die Räume schlichen, das Klicken sich schließender Türen oder auch das Rauschen von Wasser aus den Nebenzimmern. Doch nichts davon war heute zu vernehmen. Ich wusste, sie machten sich alle Sorgen um ihn und doch war diese Stille ungewöhlich für uns.

Langsam versiegte das Schluchzen und er entspannte sich etwas. Jedoch änderte er seine Lage nicht. Mein linker Arm schlief schon fast ein und doch wollte ich ihn nicht hervorziehen. Mein Atem streifte seine hellbraun/ grau gefärbten Haare. Sie waren ebenso weich, wie sie aussahen und die Farbe stand ihm richtig gut. Für mich glich sein Anblick einem Engel, ebenso seine Stimme und vielen Fans ging es ähnlich. Mit seiner einmaliger Stimmfarbe brachte er so manches Mädchenherz zum Stolpern und, wie wir bemerkt hatten, fiel auch so mancher Mann ihm zum Opfer. Diese Stimme war so einzigartig, dass sie überall hervorstach. Wenn er sang, hatte jeder sein Bild vor Augen und man konnte sie mit niemandem anderen in Verbindung bringen, erst recht nicht, wenn er seine höchsten Töne in die Menge warf. Da war immer so ein Gänsehautgefühl und Ehrfurcht in der Menge zu spüren. Wenn er dann noch dazu tanzte, gab es kein Halten mehr. Er fing Herz für Herz damit ein. Seine Bewegungen waren so elegant, wie fließend und harmonierten perfekt mit Musik und Gesang. Neben ihm kam ich mir manchmal wie ein Elefant vor. Auch wenn ich sehr gut tanzte und mir noch so sehr Mühe gab, war diese natürliche Anmut, die für ihn normal war, für mich unerreichbar. Er war ein Meister seines Stils. Eleganz, Sexieness, viel Gefühl und starker Ausdruck stachen hervor. Leider konnte er seinen Stil nicht sehr oft zeigen, umso wertvoller waren seine Solos. In ihnen steckte all seine Persönlichkeit, seine Träume und Wünsche. Unser Leader hatte sie ihm auf den Leib geschrieben und an den Texten hatte er fleißig mitgeschrieben. Ihm lagen die Balladen. Sie brachten seine weichen Seiten zum Glänzen. Hart war er nur zu sich selbst.

Wie lange wir regungslos aneinandergeschmiegt dalagen, wusste ich nicht. Meine Hand strich unermüdlich beruhigend über seinen Arm. Unsere Körpertemperatur hatte sich angeglichen und unser Herz schlug im gleichen Takt. Ich hielt ihn in einem Kokon aus Wärme, Ruhe und Geborgenheit, der ihm gleichzeitig Schutz bot. Schutz vor sich selbst.

Er dachte, ich hätte nichts mitbekommen. Doch da täuschte er sich! Wenn man an sieben Tagen der Woche über Jahre hinweg zusammenlebte, blieb einem nichts verborgen! Da konnte er noch so viel gute Laune versprühen, in seinen Augen las man die wahren Gefühle. Sie glühten nicht nicht vor Freude und Spaß, vielmehr war ihr Glanz versiegt. Er grübelte wieder viel zu viel, kämpfte seinen Kampf mit sich und schuf eine unsichtbare Mauer um sich, die niemand durchdringen konnte. Nicht nur zu mir, auch zu den anderen. Unser Leader hat mich schon gefragt, ob wir uns gestritten haben. Ich verneinte nur. Er, der immer dafür sorgte, dass wir uns wohlfühlten, sich unsere Sorgen, Träume und Wünsche anhörte und sie manchmal auch, wenn es in seiner Macht lag, erfüllte, litt allein. Ich ahnte, welcher Kummer ihn bedrückte, fühlte mich jedoch nicht dazu in der Lage, ihm diesen zu nehmen. Im Moment strömte zu viel auf uns ein. Schon seit Wochen standen wir unter Strom. Wir waren im Studio, um die neuen Lieder aufzunehmen. Täglich standen wir über mehrere Stunden im Probenraum und tanzten uns die Seele aus dem Leib, um die neuen Choreografien zu perfektionieren. Auch die Tour musste geplant und vorbereitet werden, ebenso die Solos, die nun jeder von uns hatte, waren nicht einfach. Es blieb kaum Zeit für persönliche Gespräche oder um mal zur Ruhe zu kommen. Nun hatten wir die Tour eröffnet und das neue Musicvideo war auf Rekordjagd. Morgen wartete noch ein Konzert, ehe es etwas ruhiger wurde. Natürlich liefen die Promotionauftritte und die Vorbereitungen für die nächsten Wochen weiter auf Hochtouren, aber jetzt ging es in einem für uns normalen Tempo weiter. Trotz harter Abeit blieb wieder mehr Zeit für uns.

"Ich hab Mist gebaut!" Unmerklich verkrampfte ich mich und biss die Zähne zusammen. Automtisch schlossen sich meine Arme fester um ihn. Er hatte doch nichts verkehrt gemacht! Das seine Stimme ab und an mal kippte, war kein Weltuntergang. Das sahen unsere Fans nicht anders. Durch die Anspannung, die harten Proben und den damit verbundenen Stress gab es bei ihm immer mal Kicks in seiner Stimme oder er kam an seine höchsten Töne nicht heran. In diesen Momenten verfluchte er sich selbst mehr und war sein größter Kritiker. Wir alle kannten das, doch sein Wahn nach Perfektionismus hemmte ihn. Je mehr er sich darauf konzentrierte und es unbedingt für die Fans und uns wollte, desto problmatischer wurde es. Er war nicht locker und ließ es nicht auf sich zukommen, sondern forderte sich selbst, über seine Grenzen zu gehen. Doch noch mehr verkrafteten seine Stimmbänder nicht. Das sagte auch sein Gesangstrainer, nur sah er das nicht ein.

"Du weißt doch, dass das passieren kann, wenn du dich so unter Druck setzt!", murmelte ich an seinem Kopf. Ich spürte sein erneutes Verkrampfen.

"Diese Katastrophe heut war nur ein Tropfen auf den heißen Stein", flüsterte er mit gebrochener Stimme. Seine Finger suchten meine Hand und verschlangen sich mit meinen. Der Druck war sehr stark, so als würde er versuchen, mich festzuhalten. Was war noch passiert? Was ging in seinem Kopf nur vor? Was hatten wir nicht mitbekommen?

Ich schluckte und schloss meine Hand um seine Finger. Ich würde ihn jetzt nicht loslassen!

"In den letzten Nächten hab ich viel getrunken und nachgedacht", flüsterte er leise. Er konnte sein Zittern nicht unterdrücken und ich ahnte mehr, als ich es sah, dass die Tränen wieder über seine Wangen liefen. Gott! Nicht! Dass es so schlimm mit dem Stress war, hatte ich nicht bemerkt! Wie konnte das sein? Warum hatte er mit keinem der Jungs darüber geredet? Er drängte sich noch dichter an mich, obwohl das schon kaum mehr möglich war. Schämte er sich? Das war typisch für ihn. Ich seufzte leise.

"Warum?" Vielleicht half es ihm ein wenig, wenn er darüber sprach. Manchmal verstand ich ihn einfach nicht. Was setzte ihm so zu.

"Ich hab Angst … Angst zu versagen, Angst vor der Zukunft und auch Angst davor, nicht mehr mit euch mithalten zu können", kam zögerlich von ihm. Wie konnte das sein? Er war es doch, der uns alle vorwärts trieb. Wie oft nahmen wir ihn zum Ansporn und uns seinen Ehrgeiz zum Vorbild? Unzählige Male.

"Das ist Quatsch! Das weißt du doch!" Energisch widerspach ich ihm. Traurig blickte er nach oben. Die Qual in seinen Augen traf mich mitten ins Herz. So niedergeschlagen hab ich ihn noch nie erlebt. Was war denn nur los? Es konnte nicht nur an dem Auftritt liegen! Dagegen sprach auch sein Geständnis. Was zog ihn nur so herunter? Noch vor wenigen Wochen war doch alles noch in Ordnung!

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Tag der Veröffentlichung: 31.08.2018

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