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1.

Leise schloss Brooklyn nach einem prüfenden Blick zum Bett die Tür. Endlich schlief der kleine Racker friedlich. Die junge Frau ging in die Küche und räumte den Geschirrspüler aus. Die Reste des Abendessens standen noch auf dem Tisch. Müde beseitigte sie das Chaos, bevor sie sich in ihrem kleinen, aber gemütlichen Wohnzimmer auf die Couch setzte und den Fernseher einschaltete.

Der Tag war anstrengend. Der Wirbelwind hatte ihr heute alles abverlangt. Dessen übersprudelnde Vorfreude auf den morgigen Tag musste anderweitig genutzt werden. Gemeinsam hatten sie die Schultasche gepackt, nachdem sie die Materialien sortiert und beschriftet hatten. Strahlend war er mit der Tasche auf dem Rücken durch die Wohnung gehüpft und hatte mit leuchtenden Augen die Ausstattung betrachtet. Zigmal musste Brook mit ihrem Sohn die Liste durchgehen und alles auf Vollständigkeit überprüfen. Nachsichtig lächelnd und geduldig hatte sie Louis den Willen gelassen. Jetzt stand der Rucksack, fertig eingeräumt, neben der Garderobe und wartete auf seinen morgigen Einsatz. Auch seine Wäsche hatten sie am Nachmittag sorgfältig ausgesucht und bereitgelegt. Brooklyn fuhr ihn am ersten Schultag vor der Arbeit zur Schule. Bereits in den letzten Tagen und auch heute liefen sie den Schulweg gemeinsam ab, damit Louis wusste, welche Strecke und wie lange er gehen musste. Sie hatte ihm auch ausführlich erklärt, an welchen Stellen er besonders aufpassen musste, wie zum Beispiel an der Kreuzung.

Ihr Sohn hatte aufmerksam zugehört und heute war Brooklyn ihm, mit ein wenig Abstand, gefolgt. Danach waren sie in die Einkaufspassage spaziert und hatten sich auf der Terrasse einer beliebten Eisdiele niedergelassen. Louis wünschte sich seinen Lieblingsbecher mit Schokoladeneis und Früchten. Sie selbst gönnte sich ein Aftereighteis. Im Schatten eines Sonnenschirms genossen sie ihr Eis, während Louis erzählte, wie er sich die Schule vorstellte und was er alles lernen wollte. Er konnte seinen kindlichen Enthusiasmus kaum bremsen. Nur wenn der Löffel mal wieder zwischen den roten Lippen verschwand, herrschte für einen Moment Ruhe.

Dann lächelte Brooklyn und betrachtete ihren sechsjährigen Sonnenschein versonnen. Die dunkelblonden Haare umschmeichelten das leuchtende Gesicht und die kindlichen Züge. Blaue Augen funkelten vor Energie und Lebensfreude, während der Mund nie stillzustehen schien, ebenso wie der Rest des kleinen schlanken Körpers. Sitzfleisch kannte Louis nicht. Immer in Bewegung musste er sein.

„Na ihr beiden? Schmeckt das Eis?“ Brooklyn schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Lächelnd drehte sie sich zur Seite und nickte.

„Jemmy!“, tönte Louis erfreut und grinste breit, wobei seine große Zahnlücke sichtbar wurde.

„Hallo, mein Großer. Na, alles klar?“, fragte ihn der dunkelhaarige Mann und strich ihm über den Schopf, während er Brook einen Kuss auf die Wange hauchte. Lässig ließ er sich auf den freien Stuhl neben ihr fallen.

„Ja. Ich hab mit Mummy die Tasche gepackt und dann sind wir den Weg zur Schule gegangen. Ich hab es ganz alleine geschafft und mich nicht verlaufen und ganz dolle auf die Autos aufgepasst. So wie Mum es mir gesagt hat“, erzählte ihr Sohn stolz.

„Wow! Dann darfst du ja bald alleine zur Schule gehen.“ Überzeugt von sich nickte der kleine Mann und schob sich den nächsten Löffel in den Mund.

„Was machst du denn hier?“, fragte Brook neugierig und musterte ihr Gegenüber. Die blonden Haare waren von dunkleren Strähnen durchzogen und die grauen Augen blickten sie schelmisch an. Der athletische Körper wurde durch ein dunkelblaues Muskelshirt betont, während die leicht behaarten Beine in einer blau und weiß karierten Shorts steckten. Ihr bester Freund war schon ein Prachtexemplar von Mann und sehr anschaulich. Muskulös, aber nicht zu aufgepuscht und schöne breite Schultern, die zum Anlehnen einluden. Oft bemerkte sie die begehrlichen und neidischen Blicke der holden Weiblichkeit, wenn sie zusammen unterwegs waren. Jetzt lag der starke Arm auf ihrer Lehne, während Jeremy der Kellnerin seine Bestellung mitteilte.

Als diese endlich verschwunden war, erfuhr Brook auch den Grund für seine Anwesenheit.

„Ich hatte ein Vorstellungsgespräch und war gerade auf dem Weg zum Parkdeck, als ich den Racker hier sah.“ Jerry zwinkerte dem Jungen lächelnd zu. „Du bist sicher schon ganz aufgeregt wegen morgen, oder?“ Dieser nickte eifrig und sein Löffel verschwand abermals zwischen den Lippen. Jeremy lachte leise und reichte ihm eine Serviette.

„Du sollst das Eis doch essen und nicht im Gesicht verteilen!“ Der Kleine nahm die Serviette und wischte sich ernst über das ganze Gesicht, bevor er dem Mann einen fragenden Blick zuwarf. Jeremy nickte anerkennend.

„Hast du jetzt endlich Jemanden passendes für deinen Laden gefunden?“, fragte Brooklyn leise und strich sich eine blonde Strähne ihres langen Haares über die Schulter. Diese hatte sich aus der Spange, mit der das Haar zurückgehalten wurde, gelöst.

„Es sieht schon mal nicht schlecht aus. Mal sehen, ob er das Probearbeiten besteht.“ Erstaunt sah Brook zu ihrem Freund.

„Ein Er? Ich dachte, du wolltest eine Frau einstellen, damit die männliche Kundschaft angezogen wird?“ Jeremy wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

„Ja, aber entweder sehen sie gut aus und haben keine fachliche Kompetenz oder sie besitzen Fachwissen und … na ja, du weißt schon...“, seufzte er. „Außerdem besitzt er nun mal die besten Voraussetzungen von allen Bewerbern. Ich hoffe, das wird etwas mit ihm.“

Seit Monaten suchte Jerry nun schon Verstärkung für sein Sportfachgeschäft, aber bis auf eine Studentin als Aushilfe, die drei Mal in der Woche nachmittags kam, hatte er noch niemanden gefunden. Hoffentlich klappte es mit dem Neuen. Der Laden lief gut und hatte sich etabliert, deshalb suchte Jeremy jetzt seit einiger Zeit eine Vollzeitkraft. Er schaffte es ganz einfach nicht mehr allein. Zwar nahm ihm die Studentin den Verkauf am Nachmittag ab, aber die Zeit brauchte er für die Bestellungen und die Buchhaltung. Trotzdem fand Jeremy noch Gelegenheit, sich um Louis zu kümmern und Brooklyn ein wenig zu unterstützen.

Sie hatte ihn in der neuen Schule kennengelernt. Jerry war zwei Klassen über ihr und somit in seinem Abschlussjahr. Nach langem Zögern nahm sie sein Geschenk der Freundschaft an und er unterstützte sie schon damals, wo er konnte. Wo andere Männer Reißaus nahmen, blieb er und griff ihr kurzentschlossen unter die Arme. Selbst nach Louis Geburt war er ständig und gern gesehener Gast in Haus ihrer Mutter. Wenigstens er schaffte es, den kleinen Schreihals ohne Geschrei ins Bettchen zu bringen, wo selbst ihre Mutter bald verzweifelte. Diese hatte schon die Hochzeitsglocken läuten hören, als Brook volljährig war. Aber in einem ruhigen Gespräch hatte Jerry ihr erklärt, dass zwischen ihnen nie mehr als Freundschaft sein würde. Anfangs war sie doch recht enttäuscht, aber sie musste sich damit abfinden und nun war ihre Mutter froh, dass sie in ihm einen verlässliche Freund gefunden hatte. Schon bevor sie vor zwei Jahren ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und mit ihrem Sohn bei ihrer Mutter ausgezogen war, besuchte Jeremy sie oft und beschäftigte sich viel mit Louis. Er war für den mittlerweile Sechsjährigen eine wichtige Bezugsperson sowie Ersatzvater geworden und auch Brooklyn wäre ohne ihn manches Mal aufgeschmissen. Jerry brachte Humor und Freude in ihr Leben, das sonst in Routine und Chaos versinken würde. Er nahm sie am Wochenende auf Ausflüge mit und in der Woche nahm er den lebhaften Jungen manchmal unter seine Fittiche, damit sie nach dem Job noch Zeit hatte, ihren Haushalt zu ordnen. Häufig holte Jeremy den Kleinen aus der Tagesstätte ab und ging mit ihm zum großen Spielplatz oder er nahm ihn mit in den Laden, wo eine kleine Spielecke mit allerlei Bausteinen und Autos im Büro auf ihn wartete.

Die junge Bedienung stellte den Kaffee ab und Jeremy zückte seine Geldbörse.

„Ich zahle gleich. Für die beiden hier auch!“, bestimmte er und lächelte seiner Freundin zu.

„Das sollst ...“ Doch weiter kam Brooklyn nicht, denn Jerry schnitt ihr mit einer Handbewegung energisch das Wort ab.

„Du weißt, dass ich mache, was ich will!“, grinste er. Brook seufzte leise und ein leises „Leider!“ schwebte zu ihm hinüber. Zügig beglich er die Rechnung, schenkte der jungen Frau ein flüchtiges Lächeln und trank einen Schluck von seinem Kaffee.

„Ähm ...“, druckste Brook. Sie rutsche nervös auf ihrem Stuhl umher und wagte nicht, ihren Freund anzuschauen. Diesem blieb das natürlich nicht verborgen.

„Was ist los?“ Beruhigend legte er seine Hand auf ihre und zwinkerte ihr auffordernd zu. Brooklyn seufzte leise.

„Ich muss morgen bis sechs arbeiten, weil ich doch erst eine Stunde später anfange. Könntest du Louis von der Schule abholen und auf ihn aufpassen? Ich komme auch direkt nach der Arbeit, um ihn abzuholen.“ Ihr war es zuwider, direkt nach Hilfe zu fragen. Leider blieb es ihr dieses Mal nicht erspart. Ihre Mutter war auf Geschäftsreise und sonst hatte sie niemanden, der für Louis da war. Sie hörte Jerrys Seufzen und schluckte. Was sollte sie denn jetzt machen? Louis ging zwar auf eine Ganztagsschule, aber die schloss auch um vier ihre Pforten. Außerdem wollte sie ihn nicht den ganzen Weg allein heimgehen lassen und zu Hause wartete ja auch keiner. Zwei Stunden Warten konnte sie ihm auch nicht zumuten. Dafür war er einfach noch zu klein. Jerry war ihre einzige Hoffnung und wenn dieser jetzt ablehnte, saß sie in der Misere.

Ihr Chef war ein verständnisvoller Mann, der sie seit Beginn ihrer Lehre zur Marketingassistentin unterstützte und hatte Brook nach ihrem guten Abschluss übernommen. Oft gab er ihr Freiheiten, die er sonst keinem seiner Angestellten ließ. Sie konnte früher gehen, wenn sie Louis aus der Einrichtung holen musste, weil sie keinen Babysitter fand oder er aus gesundheitlichen Gründen nicht in dieser bleiben konnte. Überstunden fielen kaum an und wenn doch, gab er ihr rechtzeitig Bescheid, damit sie die Betreuung für ihren Sohn organisieren konnte. Wochenendarbeit gab es für sie gar nicht. Die Arbeitszeit war weitestgehend auf ihren Tagesablauf abgestimmt und ihr Aufgabengebiet umfassend. Die Arbeit machte Spaß und der Lohn stimmte. Brooklyn war mit ihrem momentanen Leben rundum zufrieden. Sie wollte ihren Arbeitgeber jedoch nicht ausnutzen oder verärgern und würde ihn wirklich nur fragen, wenn ihr gar keine andere Möglichkeit blieb. Nachdenklich knabberte sie an ihrer Unterlippe und runzelte leicht die sonst so glatte Stirn.

Jeremy stieß sanft mit seiner Schulter an ihre, um sie aus ihren Gedanken zu holen.

„Mach dir keinen Kopf! Natürlich hole ich den Zwerg ab“, nahm er ihr lächelnd die Sorge ab. Brooklyn atmete erleichtert durch und schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln.

„Danke!“ Am liebsten würde sie ihn umarmen, aber Jerry hatte gerade seine Tasse in der Hand und nippte daran.

„Du weißt, dass ich dir immer helfe! Schließlich kenne ich dich schon lange und dieses Kerlchen schon seit seiner Geburt!“

„Ich weiß, aber manchmal habe ich das Gefühl, ich beanspruche dich und deine Zeit zu viel! Du hast ja gar kein Privatleben mehr und das bisschen Freizeit verbringst du auch noch mit uns“, murmelte Brook unbehaglich.

„Quatsch! Lieber verbringe ich meine Zeit mit euch, als allein in meiner Wohnung! Mit euch macht es viel mehr Spaß. Ich komme an die frische Luft und wenn ich dir damit helfen kann, ist doch alles gut“, erklärte Jerry und drückte ihre Hand, nach der er bei seinen Worten gegriffen hatte.

„Aber du lernst niemanden Neues kennen und eine Beziehung hast du schon ewig nicht mehr gehabt“, widersprach Brook.

„Jemmy?“

„Was denn, Zwerg?“ Jeremy nahm die Gelegenheit, das Thema abzuwenden, wahr und konzentrierte sich auf den dunkelblonden Jungen mit dem Schokoladenmund.

„Ich bin so aufgeregt wegen Morgen. Ich kann bestimmt nicht schlafen und bin dann in der Schule ganz müde, weil ich nicht ausgeschlafen bin.“ Große, blaue Kulleraugen blickten ihn traurig an und die Unterlippe bebte leicht.

„Komm mal her, Großer!“, meinte Jerry und rutschte mit dem Stuhl ein wenig zurück, um den Jungen, der sich um den Tisch geschlichen hatte, auf seinen Schoß zu ziehen. Brooklyn beobachtete ihre beiden Männer. Ihr Sohn kuschelte sich an Jerry, der ihm beruhigend über den Rücken strich.

„Mum erzählt dir beim Zubettgehen noch eine Geschichte und dann schläfst du ganz schnell ein. Morgen, wenn ich dich von der Schule abhole, möchte ich einen ganz genauen Bericht, was du erlebt hast, wie deine Lehrerin und deine Mitschüler sind“, erklärte er dem Jungen und Brook lächelte. Ganz ernst hörte ihr Sohn zu und nickte dann. Sie hoffte wirklich, dass Louis heute Abend müde genug war, um zu schlafen.

„Und du holst mich wirklich ab?“, fragte Louis noch einmal nach.

„Natürlich! Aber jetzt muss ich los. Zu Hause wartet noch ein Stapel Rechnungen auf mich.“ Rasch kletterte der Junge nach einer festen Umarmung von dessen Schoß und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Der junge Mann erhob sich und auch Brook stand auf, um ihren Freund zum Abschied dankbar zu umarmen. Jerry winkte dem Jungen kurz zu, der es breit grinsend erwiderte und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, während sie ihn an sich drückte.

Melancholisch blickte Brooklyn ihm nach, als er über die Treppe aus ihrem Blickfeld eilte. Leise seufzte sie und packte ihr Handy in die Tasche.

„Na komm, Krümel! Wir haben daheim auch noch etwas zu tun!“ Sie fühlte, wie eine kleine Hand sich in ihre schob und lächelte hinunter zu ihrem Sohn. Gemächlich hatten sie sich auf den Heimweg gemacht.

Nun saß sie allein hier und nur der Fernseher unterbrach die Stille des Raumes. Ein Seufzen entkam ihr. Sie sollte ins Bett gehen. Wer weiß, wann ihr Sohn aufwachte und vor Nervosität nicht mehr einschlafen konnte. Dann war ihre Nacht auch vorbei, egal wie viel Schlaf sie bekommen hatte. Brooklyn erhob sich und schaltete das Gerät ab, löschte alle Lichter und ging ins Bad. Nach einer schnellen Dusche und dem Zähneputzen schlüpfte sie in ihr Schlafshirt und warf noch einen prüfenden Blick ins Kinderzimmer. Kurz lauschte sie dem gleichmäßigen Atem des Jungen, der ihr sagte, dass dieser tief und fest schlief, bevor sie in ihr Bett ging.

Einschlafen konnte Brooklyn jedoch nicht gleich. Für ihren Sohn standen umfangreiche Veränderungen bevor und somit auch für sie. Sie bedauerte, dass Louis diese wieder ohne seinen Vater erlebte. Wie konnten sie sich nur aus den Augen verlieren? Das Schicksal hatte schnell und unbarmherzig zugeschlagen. Bevor Brooklyn sich überhaupt bewusst geworden war, was geschehen war, hatte sich alles geändert. Von jetzt auf gleich stand sie allein und schwanger da. Alexander hatte sich für eine gemeinsame Zukunft versetzen lassen und ihre Mutter übernahm unerwartet schnell einen neuen Posten im über 1000 km entfernten Markham Village. Da sie noch minderjährig war, musste sie mit umziehen. Mit Händen und Füßen hatte sie sich gewehrt, aber es blieb ihr schlussendlich keine andere Wahl, als sich mit dem Großstadtdschungel, in den ihre Mutter zog, anzufreunden. Heimlich hatte sie Nachrichten und verzweifelte Bitten an Alexander geschickt. Dieser reagierte jedoch überhaupt nicht und Brooklyn fiel in ein großes Loch der Niedergeschlagenheit. Als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr, hatte sie noch einmal versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ihre Anrufe gingen jedoch ins Leere. Die Nummer war nicht mehr erreichbar. Zutiefst enttäuscht und traurig nahm sie ihr neues Leben in Angriff. Anfangs fiel ihr die Umstellung vom Kleinstadtleben zum Leben in der Großstadt nicht leicht, aber langsam gewöhnte sie sich daran. Vor allem nachts befielen sie Ängste und Zweifel, aber am schlimmsten waren die Träume von Alexander. So manches Mal wachte sie unter Tränen auf und schlief erst im Morgengrauen wieder ein. Alexander hatte sie belogen und allein gelassen in ihrer Not. Auch heute dachte sie mit Tränen in den Augen an ihn und seinen Verrat. Leise Schluchzer, die sie mühsam mit dem Kopfkissen erstickte, verließen ihre Kehle. Nach einer ganzen Weile, in denen sie ihren Tränen freien Lauf ließ, schlief sie müde und erschöpft ein.

2.

Der Morgen begann, wie Brooklyn es erwartet hatte. Ihr kleiner Flummy hatte es seit fünf Uhr nicht mehr in seinem Bett ausgehalten und weckte sie, indem er auf sie kletterte. Sein Gehüpfe und Klatschen riss Brook aus ihrem leichten Schlaf. Noch müde schnappte sie sich den Wirbelwind und zog ihn unter ihre leichte Decke. Ein paar Minuten kuscheln waren noch möglich, wie ihr ein flüchtiger Blick zum Wecker offenbarte. Seufzend schloss sie den kleinen Körper in ihre Arme. Leise grummelnd schloss sie die Augen und gab sich der Ruhe hin. Lange würde diese sicher nicht anhalten. Wie konnte er morgens schon so aufgedreht sein? Von ihr hatte er das ganz sicher nicht! Sie blieb gern einmal länger liegen, wenn es die Zeit erlaubte.

Hach, manchmal hasste Brook es, wenn sie Recht hatte. Keine halbe Stunde später konnte Louis nicht mehr stillliegen und rutschte unruhig hin und her.

„Mummy? Können wir jetzt aufstehen? Ich mag nicht mehr schlafen.“ Seufzend entließ sie den Jungen aus ihren Armen, der sofort aus dem Bett sprang und durch die Tür verschwand. Kopfschüttelnd setzt sich Brooklyn auf und kämpft sich unter der Bettdecke hervor, um aufzustehen.

Gerade als sie sich nach einigen Minuten aus dem Bett quälte, platzte ihr Sohnemann erneut ganz aufgeregt ins Zimmer.

„Mummy! Ich bin fertig und wir können los!“ Fertig angezogen, schon mit den Schuhen an den kleinen Füßen und der Tasche auf dem Rücken, stand er aufgeregt vor ihr. Seine Augen strahlten und er grinste ihr breit entgegen, während er ungeduldig mit den Füßen trippelte.

„Nun mal langsam! Was ist mit deiner Morgentoilette und Frühstück?“ Ertappt blickte Louis sie mit großen Augen und Schmollmund an, während sie sich leise stöhnend erhob.

„Also, Schuhe aus, Tasche in den Flur stellen und dann ganz schnell ins Bad mit dir! Wir haben noch jede Menge Zeit, bis wir los müssen“, befahl Brook liebevoll und schmunzelte, als der Kleine beleidigt und murrend ihrem Befehl Folge leistete.

„Vergiss nicht, dir die Haare zu kämmen!“, rief sie ihm lachend nach, als er im Bad verschwand. Lächelnd schüttelte sie den Kopf und ging in die Küche. Sie bereitete rasch den Tisch für das Frühstück her, setzte die Kaffeemaschine in Gang und erwärmte eine Tasse mit Milch in der Mikrowelle. Während Brooklyn auf ihren Sohn wartete, schmierte sie ihm die Pausenbrote und füllte seine Trinkflasche mit Tee. Noch immer war Louis im Bad. Brook nutzte die Zeit, um die Brotdose und die Flasche in seine Mappe zu packen. Danach ging sie in ihr Schlafzimmer und suchte sich eine schwarze Stoffhose, eine helle Bluse und Unterwäsche heraus. Im Bad würde es, dank der Ungeduld ihres Sohnes, schnell gehen müssen. Geduld war nicht seine Sache.

In der Küche schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein und kippte einen großen Schluck Milch aus der Packung hinzu, bevor sie sich an den quadratischen Tisch mit vier Stühlen darum, setzte. Ihre Küche war nicht groß, aber für sie beide ausreichend. In der kleinen, buchefarbenen Küchenzeile befand sich eine Spüle, ein Kühlschrank mit einem kleinen Gefrierfach, ein Herd und zwei schmale Schränke. Darüber gab es genügend Hänger, in denen ausreichend Platz für Geschirr und Lebensmittel war. Auf der Fensterbank standen zwei Blumentöpfe mit Kräutern, die sie hegte und pflegte.

Dieses kleine Schmuckstück von einer Wohnung mit drei Zimmern und insgesamt sechzig Quadratmetern hatte sie zufällig gefunden. Auch wenn die Räume nicht übermäßig groß waren, hatte sie sich sofort in diese Wohnung verliebt. Die Räume hatte Brook liebevoll mit Jeremys Hilfe renoviert und eingerichtet. Die Miete war für sie bezahlbar und die Gegend war relativ sicher. Die Wohnhäuser waren gepflegt und die Fassaden in dezenten Farben gehalten. Ein Park mit einem großen Spielplatz befand sich in unmittelbarer Nähe. In der Nachbarschaft wohnten meist Familien mit Kindern. Man sah sich, grüßte sich und half sich im Notfall mit Kleinigkeiten aus. Brooklyn fühlte sich hier wohl. Der kleine Balkon war ab dem Frühjahr bis in den späten Herbst ihre kleine Oase. Hier fand zwar nur ein Liegestuhl und ein kleiner Beistelltisch, sowie eine kleine Spielecke für Louis Platz, aber ihr reichte es. Die Brüstung verschwand unter liebevoll bepflanzten Blumenkästen. Brooklyn liebte Blumen und Pflanzen, was sich auch in dem hellen Wohnzimmer zeigte. Nur wenige Möbel, eine dunkelgraue Couch, ein kleiner Tisch, standen in dem Raum sowie zwei ahornfarbene Sideboards an der gegenüberliegenden Wand. Auf dem einen stand der Fernseher und auf dem anderen hatte sie Fotos ihrer kleinen Familie arrangiert. Darüber hingen zwei kleine passende Regale für ihre Bücher. Etliche Grünpflanzen sorgten jedoch für Farbe und Wohlbehagen. Sie war stolz auf ihr kleines Refugium und dass sie ihren Weg bis hierher fast allein geschafft hatte. Vor fast sieben Jahren sah es noch nicht so rosig für sie aus. Von ihrer rosaroten Wolke heruntergeholt, fiel sie in ein dunkles Loch. Erst verschwand Alex ohne Vorwarnung und danach kam ihre Mutter mit dem berufsbedingten Umzug. Sie fühlte sich allein und als Spielball. Nichts konnte sie tun, obwohl sie in ihrer Heimat bleiben wollte. Vielleicht wäre Alex zurückgekommen, so wie er es versprochen hatte, bevor er sich versetzen ließ. Vielleicht hätten sie sich ihre Träume erfüllen können und eine friedliche Beziehung, ohne Angst vor Entdeckung und Verrat, zu führen. Mit seiner Versetzung an eine andere Schule hatte Alex den ersten Schritt getan oder war seine Liebe nicht stark genug und er sah seine Chance, diese zu beenden? Sie wusste es nicht und vielleicht würde sie es nie erfahren. Die Zukunft sah damals in ihren Träumen anders aus. Obwohl sie sich beide der Gefahren und der Konsequenzen bewusst waren, konnten sie es nicht verhindern. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war einfach zu groß. Es gab keine Möglichkeit, sich auszuweichen oder aus dem Weg zu gehen. Täglich sahen sie sich, sprachen miteinander und sie verliebten sich. Anfangs wehrten sie sich gegen die Gefühle und die Sehnsucht. Brook dachte gern daran zurück, auch wenn der Traum schnell geplatzt war und die Realität sie schnell eingeholt hatte. Nur aufgrund ihres Alters musste sie sich in einer völlig neuen Situation allein zurechtfinden.

„Ich hab gar keinen Hunger, Mum!“, riss Louis, der sich gerade zu ihr gesellte, sie aus ihren Gedanken. Um diesen kleine Kobold drehte sich ihr ganzes Leben. Ihm sollte es gut gehen. Er sollte ein behütete Kindheit haben und sie genießen können, auch wenn sie ihm nicht jeden Wunsch erfüllen konnte. Ein leises Grummeln aus seiner Richtung ließ sie grinsen und nach einer Toastscheibe greifen, die sie belegt, auf seinen Teller legte.

„Dein Magen protestiert aber sehr laut. Na komm! Dafür reicht die Zeit ganz gewiss noch und ich muss auch noch ins Bad und mich fertigmachen. Du kannst also ganz in Ruhe deinen Toast essen“, erklärte sie ihm schmunzelnd. Zögernd nahm er das Brot in die Hand und begann widerstrebend zu essen. Brooklyn beobachtete ihn und trank dabei ihren Kaffee. Ein Blick zur Uhr. Sie lagen gut in der Zeit.

„Magst du noch eine Scheibe?“, fragte sie und blickte Louis fragend an. Dieser nickte und kaute weiter. Sie bereitete ihm noch ein Brot vor und legte es ihm auf den Teller. Brook erhob sich und stellte ihre Tasse in die Spüle.

„Ich mach mich schnell fertig, ja? Du kannst in Ruhe aufessen“, erklärte sie und holte sich die bereitgelegten Sachen. Im Bad erledigte Brooklyn ihre Morgentoilette und schlüpfte in die frischen Klamotten, drehte ihre Haare zusammen und fixierte sie mit einer Klammer am Hinterkopf. Um sie offen zu tragen, war es einfach zu warm im Sommer. Brook mochte es nicht, wenn ihr die Haare im Nacken klebten. Ein wenig dezentes Make-up, Lidschatten, Lippgloss, sowie Eyeliner und Wimperntusche aufgetragen und fertig. Sie liebte zarte Farben und ihre Mutter sagte immer: Die am besten geschminkte Frau ist die, bei der man es nicht sieht. Mit einem letzten zufriedenen Blick in den Spiegel drehte sie sich um und ging zurück in die Küche. Louis stand mittlerweile am Fenster und reckte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf die Straße zu erhaschen.

„Schau mal, Mummy! Da laufen schon ganz viele Schulkinder und wenn wir uns jetzt nicht beeilen, kommen wir doch noch zu spät!“ Der Finger streckte sich ermahnend zum Fenster und Brook trat neben ihn.

„Wir sind doch mit dem Auto viel schneller da, als die Kinder, die laufen müssen, Spatz“, erklärte sie ihm geduldig und räumte noch schnell den Tisch ab.

„Du kannst schon mal in deine Schuhe schlüpfen und die Mappe nehmen. Wenn ich hier fertig bin, fahren wir auch!“

Schon war Louis im Flur verschwunden. Brook folgte ihm langsam und gemeinsam verließen sie die Wohnung. Der kleine Kerl natürlich immer zwei Meter voraus. Brooklyn folgte ihm eilig die Treppe hinunter. Vor dem letzten Absatz hörte sie die Eingangstür quietschen und legte noch einen Zahn zu.

Dennoch stand Louis schon am Auto, als sie aus dem Flur trat, und trippelte mal wieder ungeduldig mit den Füßen. Per Fernbedienung öffnete sie ihren kleinen roten Flitzer. Louis saß schon drinnen und schnallte sich eilig an, als sie hinter dem Lenkrad Platz nahm. Nach einem kontrollierenden Blick auf die Rückbank startete sie und reihte sich in den laufenden Verkehr ein. Zügig brachten sie den kurzen Weg zur Schule hinter sich. Nach ein paar Minuten hatte Brook auch einen Parkplatz gefunden, wo sie den Wagen abstellte und ausstieg. Louis angelte sich gerade seine Tasche und wollte Richtung Schulhof stürmen, als Brook ihn am Kragen schnappte.

„Halt! Nicht so schnell!“ ermahnte sie ihn. Brooklyn griff nach der kleinen Hand und gemeinsam gingen sie über den Hof zum Gebäude. Ihr Wirbelwind wurde immer langsamer. Die Nervosität hatte jetzt wohl die Vorfreude ein wenig verdrängt. Immer fester klammerte sich die kleine Hand an ihre und er rückte immer dichter an sie.

„Hey, du schaffst das! Die anderen Kinder sind gewiss genauso nervös wie du und einige kennst du sicher aus deiner Kita“, ermunterte sie den kleinen Jungen, der verzagt auf seiner Unterlippe kaute.

„... und wenn sie mich nicht mögen oder die Lehrerin?“ Mittlerweile glänzten seine sonst strahlenden Augen feucht und er schniefte leise. Brook blieb im Foyer stehen und hockte sich vor ihren Sohn. Sanft hob sie sein Gesicht und wischte mit der Hand die erste entkommene Träne von seiner Wange. Aufmunternd streichelte sie ihm über die Schulter.

„Sie werden dich mögen und deine Lehrerin ist auch ganz nett. Ich habe sie ja schon auf dem Elternabend kennengelernt. Ich bin mir sicher, dass du dich nachher fragst, wovor du überhaupt Angst hattest. Na komm, ich bring dich zu deinem Klassenzimmer!“ Brook reichte ihm ein Taschentuch und Louis schnäuzte sich, während er ihr ein verzagtes Lächeln schenkte. Brooklyn erhob sich und hielt ihm zuversichtlich die Hand hin. Hastig ergriff der Junge diese und gemeinsam folgten sie dem zunehmenden Strom einiger Erwachsener, die ebenfalls aufgeregte Kinder an der Hand hatten. Bunte Wegweiser markierten an den Wänden den Weg zum Klassenzimmer, dessen Tür weit offen stand. Der Pulk im Gang deutete darauf hin, dass sich Jemand die Mühe machte, die Kinder einzeln in Empfang zu nehmen. Freundlich lächelnd und grüßend reihte sie sich in den Pulk ein. Die kleine Hand in ihrer griff jetzt wieder stärker zu, aber der Junge blickte sich neugierig seine neuen Mitschüler an. Ein Blick auf ihre Armbanduhr beruhigte sie. Brook hatte noch genug Zeit, sich von ihrem Wirbelwind zu verabschieden. Ein leichtes Ruckeln an ihrem Arm lenkt die Aufmerksamkeit auf den Jungen.

„Jemmy holt mich doch ganz sicher ab, oder? Der vergisst mich auch nicht?“, fragte Louis schüchtern.

„Natürlich vergisst er dich nicht! Du wartest aber hier im Klassenzimmer auf ihn! Ja?!“, ermahnend blickte sie ihm in die Augen und er nickte gehorsam. Beruhigt blickte sie ihren Sohn an.

Die Menge löste sich langsam auf und gab ihnen den Blick auf die junge Lehrerin an der Tür frei. Sie begrüßte jedes Kind und zeigte ihnen ihren zukünftigen Sitzplatz. Die Sicht ins Zimmer war begrenzt. Brooklyn sah nur die bunt bemalte Tafel und das Pult.

„Guten Morgen und herzlich Willkommen in der Klasse!“, begrüßte die junge Frau Louis und reichte ihm die Hand, die er vorsichtig ergriff.

„Guten Morgen“, grüßte er wohlerzogen und versuchte dann einen Blick durch die Tür in das große Zimmer zu werfen.

„Wie heißt du denn?“, verlangte die Lehrerin seine Aufmerksamkeit.

„Louis Corbin“, antwortete ihr Sohn leise.

„Also Louis Corbin. Mein Name ist Mrs. Harvey und ich bin deine Lehrerin“, antwortete sie im freundlich und reichte nun auch Brook lächelnd die Hand. Diese erwiderte den leichten Händedruck der blonden Mittdreißigerin.

„Mrs. Corbin.“

„Miss, bitte“, berichtigte Brooklyn die Lehrerin höflich, „Louis wird heute von einem Freund hier am Klassenzimmer abgeholt. Die Erlaubnis wird er Ihnen dann mitbringen und ich habe bei der Anmeldung schon die abholberechtigten Personen eintragen lassen“, erklärte Brooklyn. Als die Frau zustimmend nickte, beugte sich Brooklyn zu ihrem Sohn, der schon ganz ungeduldig zappelte.

„Sei brav und viel Spaß, mein Großer!“, verabschiedete sie sich gutmütig lächelnd und gab ihm einen seichten Kaps auf den Hintern, da dieser sich schon auf dem Weg ins Zimmer machte.

„Louis, du darfst dich in die erste Reihe ans Fenster setzen!“, rief Mrs. Harvey ihm noch hinterher. Rasch verabschiedeten sich die beiden Frauen voneinander und Brooklyn eilte, nach einem Blick zum Handgelenk, den Gang zurück zum Ausgang. Ihr Chef würde sie schon erwarten.

 

Eilig betrat Alexander das große Gebäude. Ausgerechnet heute, am ersten Schultag, war er spät dran. Eigentlich kam er immer eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn und konnte so in Ruhe seine Unterlagen herrichten. Leider hatte er jedoch vergessen, seinen Handywecker zu stellen und dabei fast verschlafen. Gut, dass er ein wenig Zeit bei der morgendlichen Hygiene einsparen konnte. Nach einer schnellen Dusche hatte er sich rasiert und die Zähne geputzt. Seine dunkelbraunen, kurz geschnittenen Haare hatte er mit dem Handtuch so trocken wie möglich gerubbelt und mit Haargel fixiert. Der Out- of- Bed- Look stand ihm. Rasch war er in seine bereitgelegten Sachen geschlüpft. Er bevorzugte im Arbeitsalltag den eher legeren Look, wie schwarze Hose oder dunkle Jeans und Hemd oder Shirt. Heute schlüpfte er jedoch in seinen schwarzen Anzug und das weiße Hemd. Eine dezent gemusterte Krawatte komplettierte sein Aussehen, ebenso die schwarzen Schuhe. Sein erster Tag als Direktor an dieser Schule. Da sollte Alexander einen seriösen Eindruck hinterlassen.

Zwar unterrichtete Alex schon seit vier Jahren an dieser Gesamtschule, wobei er zwei davon bereits als Stellvertreter des Direktors agierte. In diesem Schuljahr übernahm er den Posten ganz, da Direktor Benson im August offiziell in Rente gegangen ist. Alexander war erstaunt, dass die Schulbehörde ihm diesen Posten übergab. Er hatte eigentlich eher damit gerechnet, dass ein neuer Kollege diese Stelle zugesprochen bekam. Natürlich erfüllte ihn das Vertrauen in seine Fähigkeiten mit Stolz.

Ein prüfender Blick in den Spiegel und zufrieden eilte er aus dem Haus. Der obligatorische Kaffee fiel heute aus. Die Zeit drängte. Er fuhr los. Da sich der Verkehr in Grenzen hielt, ließ Alex seinen Gedanken freien Lauf. Ja, beruflich ging es ihm glänzend.

Vor sieben Jahren hätte er nicht mal im Traum gedacht, dass er mit 35 den Posten eines Direktors zugesprochen bekäme. Er hatte sich als Lehrer einer Oberstufenklasse wohlgefühlt und war zufrieden. Bis … ja bis er nach seinem Examen diese 11.Klasse zugeteilt bekommen hatte.

Die Schüler hatten ihn gemocht,waren seinem Unterricht aufmerksam gefolgt und auch mit den Kollegen war er gut zurecht gekommen. Manchmal hatten ihn die männlichen Kollegen wegen seiner Beliebtheit bei der Damenwelt aufgezogen, aber dieses belächelte er. Ihm waren die Blicke der Kolleginnen nicht verborgen geblieben und auch die schmachtenden Blicke mancher Schülerinnen, die sich in Grüppchen auf dem Pausenhof versammelt hatten. Manchmal hatte er sich geschmeichelt gefühlt, aber manches Mal auch einfach genervt. Auf offensichtliche Avancen beider Seiten war er jedoch nie eingegangen. Er hatte keine Verwicklungen dieser Art am Arbeitsplatz gewollt. Bis … ja bis er dieses Mädchen in seiner Klasse sitzen hatte.

Von da an war alles langsam, aber sicher aus dem Ruder gelaufen. Sein Leben wurde vollkommen auf den Kopf gestellt. So viel er sich auch gegen die aufsteigenden Gefühle gewehrt hatte und dagegen ankämpfte, nichts hatte geholfen. Er konnte kaum noch schlafen. Seine Konzentration im Unterricht hatte nachgelassen. Er hatte sich nur auf dieses eine Mädchen fokussiert und er hatte gehofft, dass man ihm sein Gefühlschaos nicht anmerkte. Vor allem sie sollte nicht bemerken, wie es um ihn gestanden hatte. Tag und Nacht waren die Gedanken um sie gekreist. Jede Situation mit ihr hatte er sich mehrfach vor Augen geführt und immer war da dieses Kribbeln in ihm. Vor jeder Stunde in der Klasse waren die Schmetterlinge in seinem Bauch erwacht und nur mühsam konnte er sich auf den Unterricht konzentrieren. Heimliche Blicke waren alles, was er sich erlaubte. Bis … ja bis sie allein bei einem Klassenausflug im Museum vor diesem Bild gestanden hatten und über alles Mögliche diskutiert hatten.

Rasch schob Alex die Erinnerungen zur Seite, als er auf das Schulgelände fuhr und den Wagen auf dem Parkplatz abstellte. Einen Moment lang beobachtete er die Eltern, die mit ihren Erstklässlern an der Hand ins Schulhaus strömten. Ein Lächeln huschte über seine schmalen Lippen. Es war schön zu sehen, wie die Kleinen sich auf den Unterricht freuten und begeistert in das große Gebäude stürmten.

Alexander nahm seine Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus. Nachdem er seinen Wagen verschlossen hatte, ging er über den Hof und betrat das Schulhaus. Er durchquerte das Foyer, als eine junge Frau, die vor einem Jungen hockt, seine Aufmerksamkeit weckt. Sie erinnerte ihn an Jemanden. Diese Haarfarbe, die Haltung … schade, dass er sie nur von hinten sah. Im Halbdunkel des Ganges blieb er stehen und beobachtete die Szene. Die junge Frau redete behutsam auf den kleinen Jungen ein. Dieser schien mit den Tränen zu kämpfen. Bewegungslos stand Alex im Schatten. Sein Herz klopfte wild. Er schluckte den Knoten in seiner Kehle hinunter. Es konnte nicht sein! Sah er jetzt Gespenster? Hatten ihn seine Erinnerungen so verwirrt? Seit Jahren dachte er an sie, wollte sie suchen und finden. Doch nach all den Fehlversuchen hatte er aufgegeben und die Hoffnung verloren. Was er auch versucht hatte, er bekam keine Auskunft und die Suche war im Leeren verlaufen. Mit der Hand fuhr er sich durch die Haare. Gerade als er sich abwenden wollte, stand die junge Frau auf und nahm ihren Sohn bei der Hand. Jetzt sah Alex das ebenmäßige, leicht geschminkte Gesicht und den lächelnden Mund. Nein! Ein Trugbild! Ihm stockte der Atem. Sein Herz raste. Bewegen konnte er sich nicht. Wie hypnotisiert starrte er der jungen Frau nach. Langsam hob er den Arm. Ob er sie aufhalten wollte oder sich an der Wand abstützen, konnte er nicht sagen. Seine in Schweiß gebadete Hand lag an der kühlen Wand und stützte seinen Körper. Er konnte den Blick nicht von den beiden abwenden, bis sie um die nächste Ecke bogen. Krampfhaft versuchte er, das Zittern, das ihn erfasst hatte, zu unterdrücken. War sie es wirklich? Wie kam sie hierher und wer war der kleine Junge? Ihr Bruder? Warum war dann ihre Mutter nicht hier? Fragen über Fragen und auf keine fand er eine Antwort. Der Schleier lichtete sich und die Starre löste sich, auch wenn die Gedanken weiterhin um das eben Geschehene kreisten und ihn nicht losließen.

Alexander wankte mehr, als dass er zu seinem neuen Büro lief . Er nahm es zwar erst heute offiziell in Anspruch, aber natürlich hatte er die Vorbereitungen hier schon vorgenommen. Im Sekretariat, das direkt neben seinem Büro lag, war Mrs. Bouvier schon beschäftigt, als er sie begrüßte.

„Guten Morgen!“

„Guten Morgen, Mr. LaCroix. Heute geht es endlich los!“ Die Mittvierzigerin im blauen Kostüm und mit Dutt strahlte vor Energie. Ein Blick zu ihm und ihre Miene wurde besorgt.

„Fehlt Ihnen was? Sie sehen so blass aus“, fragte sie vorsichtig und musterte ihn nachdenklich. Alex schüttelte nur abwehrend den Kopf.

„Mir geht es gut. Ich habe heute nur noch keinen Kaffee gehabt“, erklärte er müde. Die Frau lächelte ihn erleichtert an.

„Na dann bringe ich Ihnen gleich eine Tasse.“

„Danke. Sie sind ein Engel! Ohne Kaffee geht bei mir leider nichts“, seufzte Alexander und begab sich zurück in sein Büro, um die Unterlagen, die er vorbereitet hatte, herauszusuchen. Er ließ sich auf dem Bürostuhl nieder und lehnte sich erschöpft zurück. Er sollte sich auf die Stunde, die vor ihm lag, konzentrieren und nicht den Trugbildern aus der Vergangenheit nachhängen. Mit beiden Händen fuhr sich Alex über das Gesicht. Er drehte sich mit dem Stuhl um und holte seinen Ordner aus dem Aktenschränkchen. Noch einmal blätterte er sie auf Vollständigkeit durch. Mrs. Bouvier stellte ihm eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch.

„Danke. Ach Mrs. Bouvier, wann hat noch mal die erste Klasse heute Schluss?“, fragte Alex gespielt gleichgültig. Seine Finger klopften dabei jedoch ungeduldig auf der Tischplatte und er schluckte hart.

„Beide Klassen können ab zwei von den Eltern abgeholt werden. Die letzten werden aber sicher erst um vier nach Hause gehen“, erklärte die Sekretärin. Alexander nickte verstehend. Hastig nahm er einen Schluck von seinem Lebenselixier, während die Frau sein Büro verließ. Ein Blick zur Uhr sagte ihm, dass er noch fünf Minuten bis zum Läuten hatte. Schluck um Schluck leerte er die Tasse und eilte nach dem ersten Läuten zu seinem Klassenzimmer, wo die Klasse schon auf ihn wartete. All seine Gedanken kreisten nun nur noch um diese Stunde und weitere Störungen ließ er in seinem Kopf nicht mehr zu. Auch wenn sie sich ab und an nur schwer bändigen ließen.

In der Mittagspause übernahm Alex, auf Bitten von Mrs. Harvey, die Beaufsichtigung in der Mensa. Für die beiden ersten Klassen war es immerhin das erste Mahl in diesem Speisesaal und sie mussten erst lernen, wie der Ablauf war. Die beiden Lehrerinnen hatten alle Hände voll zu tun, um die Rasselbande im Zaum zu halten. Nur einmal musste Alexander eingreifen, als ein etwas stämmiger Junge einen Mitschüler zur Seite schubste und aus der Reihe drängte.

Beherzt schob Alex den kleineren Jungen zurück in die Reihe, woraufhin ihn zwei strahlend blaue Augen dankbar anfunkelten und er ein schüchternes „Danke.“ vernahm. Verflucht! Er kannte diese Augen! Freundlich nickte Alexander und hielt dem Übeltäter eine kleine Standpauke, ehe er sich wieder auf seinen Beobachtungsposten begab. Nachdenklich beobachtete er den Jungen. An wen erinnerte dieser Junge ihn nur? Ja, er hatte viel Ähnlichkeit mit der jungen Frau von heute morgen, aber die war nur natürlich, wenn seine Annahme richtig war. Und doch waren andere bekannte Züge bei dem Jungen zu finden. Züge, bei denen er wusste, dass er sie irgendwo schon mal gesehen hatte. Missmutig über seine Gedankengänge schüttelte Alexander den Kopf. Was war hier nur los? Wollte sein Verstand ihn umbringen? Gerade lief sein Leben wieder halbwegs in der Bahn, auch wenn sein Privatleben seit sieben Jahren recht einsam verlief. Alex hatte sich damit abgefunden, dass er seine große Liebe gefunden und wieder verloren hatte. Ob er sich je wieder auf eine Beziehung einließ, wusste nur der Himmel. Alexander suchte nicht mehr. Er wollte mit keiner der Frauen, mit denen er einen One-night-stand hatte, eine Beziehung eingehen. Er wollte sie nicht einmal näher kennenlernen, auch wenn es manche davon darauf abgesehen hatten. Schon wieder drifteten die Gedanken in unliebsame Gefilde ab. Alexander schaute sich in der belebten Mensa um. Als er sah, dass alle Kinder der ersten Klasse einen Platz hatten und mit ihrem Essen beschäftigt waren, nickte er den beiden Lehrerinnen, die nun alles unter Kontrolle hatten, zu und eilte hinaus. Er brauchte frische Luft und musste sich ablenken, sonst würde Alex sich nicht auf seine letzten Unterrichtsstunden konzentrieren können.

 

3.

Eine halbe Stunde vor Geschäftsöffnung betrat Jeremy seinen Laden. Die Lieferung stand schon auf einem Rollcontainer im Gang. Hastig schob er diesen in den vorderen Bereich. Das Kontrollieren, Auszeichnen und Einräumen der Ware würde Jerry mit dem Probearbeiter zusammen erledigen. Dann lernte dieser die ersten Abläufe schon mal kennen. Hoffentlich klappte es endlich mit der Vollzeitkraft. Der junge Mann hatte einen ganz guten Eindruck hinterlassen. Nun musste er beweisen, dass er seine Versprechungen umsetzte und Arbeitswillen besaß. Leise seufzend betrat Jerry sein kleines Büro, wenn man es denn so nennen konnte. Gerade mal ein Schreibtisch mit Computer, ein kleines Sideboard für die geschäftlichen Unterlagen und dem Drucker mit Scanner, sowie Faxanschluss hatten darin Platz. Ein kleines, von außen vergittertes Fenster sorgte für ein wenig Tageslicht. In der Ecke links vom Schreibtisch stand auf einem kleinen Läufer eine Kiste mit Spielzeug für Louis. Der Raum war eigentlich als kleines Lager gedacht, aber da kaum Ware vorrätig gelagert wurde, hatte Jeremy sich hier ein Büro eingerichtet. Was nicht im Laden zu finden war, wurde auf Kundenwunsch beim Lieferanten bestellt und Jerrys Bestände hielten sich so in Grenzen. Es gab neben dem Verkaufsraum mit circa 50 Quadratmetern nur noch einen zweiten kleinen Raum. Dieser wurde als Aufenthaltsraum genutzt. Ein quadratischer Tisch mit vier Stühlen, eine Garderobenleiste für Jacken und Taschen sowie eine minimale Küchenzeile mit Kühlschrank, Spüle und zwei Herdplatten bildeten hier zwar keine gemütliche Atmosphäre, war aber ausreichend für ihre Bedürfnisse. In einem Hänger über der Miniküche fand man das notwendige Geschirr für die Verpflegung in den Pausen. Andrea, seine Minikraft, hatte mit einer Tischdecke und einer kleinen blühenden Grünpflanze für ein wenig Gemütlichkeit gesorgt. Zwei weitere Grünpflanzen auf dem Fensterbrett brachten etwas Farbe in den sonst tristen Raum. Für ihre Bedürfnisse reichte es. Jeremy betrat den Raum, befüllte die Kaffeemaschine und setzte sie in Gang.

Durch ein Klopfen am Hintereingang wurde Jerry aus seinen Gedanken gerissen. Ein Blick zur Uhr bestätigte ihm, dass der junge Mann pünktlich war. Er eilte nach draußen, um ihn hereinzulassen.

"Guten Morgen!", wurde er sofort frohgelaunt empfangen, als Jeremy die schwere Tür öffnete. Er erwiderte den Gruß freundlich und führte den Ankömmling in den Aufenthaltsraum. Ein leichter Duft von frischem Kaffee umschmeichelte schon seine Nase und mischte sich mit einem angenehmen Aftershave.

"Dort kannst du deine Tasche und deine Jacke deponieren", erklärte Jerry und deutete auf die Garderobenhaken. Während Jerry zwei Tassen aus dem Schrank nahm und mit Kaffee füllte, schaute sich der junge Mann neugierig um.

"Wir duzen uns, wenn das für dich in Ordnung ist. Ich bin Jeremy", erklärte er und stellte die beiden Tassen auf den Tisch, wo auch der Zucker und Milch standen. Kurz strich sich der junge Mann durch die dunklen Haare und nickte bestätigend.

"Das ist okay. Logan", murmelte dieser und reichte Jerry die Hand. Kurz schüttelten sie diese einander und setzten sich dann gegenüber an den Tisch. Jerry beobachtete, wie Logan mit seinen langen grazilen Fingern Milch und Zucker in seine Tasse gab und mit einem kleinen Löffel gleichmäßig umrührte. Dabei bewegte er nur das Handgelenk. Der leicht behaarte, muskulöse Unterarm lag ruhig auf dem Tisch. Die Hände sahen eher weich und geschmeidig aus, als dass sie Arbeiterhände waren. Während sie den Kaffee genossen, erklärte Jeremy die Abläufe im Laden und erledigte gleichzeitig die Arbeitsschutzbelehrung. Die Unterlagen und den Arbeitsvertrag würde er später vorbereiten und nach dem Probetag, vorausgesetzt Logan bewährte sich, würde er ihn einstellen. Unauffällig musterte er Logan, der interessiert zuhörte und dabei in seine Tasse schaute. Die etwas längeren, dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht. Am liebsten hätte Jerry diese zur Seite geschoben, um das Gesicht besser betrachten zu können. Mühsam hielt er seine Hände im Zaum, während er den Rest des Gesichtes auf sich wirken ließ. Das kantige Kinn, die roten Lippen, auf denen er nervös herumbiss und die leicht rötlich angehauchten Wangen, auf denen kein Schatten eines Bartes zu erkennen war. Jerry fand ihn interessant und anziehend, auch wenn er sein Wissen aus dem Lebenslauf entnahm. Logan war mit seinen 21 Jahren aus einem kleinen Ort hierher gezogen und auf der Suche nach Arbeit. In seinem erlernten Beruf war er nach der Ausbildung, trotz eines sehr guten Abschlusses, nicht tätig gewesen. Das verwunderte Jeremy ein wenig, denn die meisten Betriebe waren auf der Suche nach fähigen Kräften. Warum hatte sich Logan bei ihm beworben? Ja, es war ein solider Job mit erträglichen Arbeitszeiten, aber ihn interessierte, warum Logan sich nicht in einer der zahlreichen Firmen bewarb. Gute Chancen auf einen dieser wesentlich besser bezahlten Jobs hatte er allemal. Das würde Jerry sicher noch herausbekommen.

Ein Blick zur Wanduhr.

"Wir sollten anfangen. In zehn Minuten schließe ich die Ladentür auf und die Ware muss kontrolliert, ausgepriesen und eingeräumt werden. Damit fangen wir an!", meinte er und erhob sich. Die Tassen stellte er in die Spüle und Logan folgte ihm.

Es war ungewohnt, dass ihm jemand am Hacken hing, der größer als Louis war. An den Kleinen, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, war er längst gewöhnt. Dieser Logan überragte ihn jedoch noch um einige Zentimeter. Dieser leichte Hauch von Aftershave zog ihm erneut in die Nase und ließ ihn tief durchatmen. Ein Kribbeln machte sich in seinem Bauch bemerkbar. Ehe es aber mehr wurde, konzentrierte er sich auf den Rollwagen mit der neuen Ware. Er zog den Lieferschein hervor und drückte ihn dem jungen Mann in die Hand.

"Hast du einen Stift?", fragte Jerry, ohne sich umzusehen. Er sah das Nicken nicht, hörte jedoch das Klicken eines Kugelschreibers.

"Ich sag dir die Artikelnummer, die Menge und den Preis. Wenn alles übereinstimmt, machst du einfach ein Häkchen dahinter", erklärte Jeremy und zog den ersten Karton hervor. In den nächsten Minuten schwirrten die Zahlen und das Rascheln des Papiers, während Logan den angesagten Artikel suchte, durch den Raum. Als auf einmal Musik erklang, unterbrach Jerry seine Tätigkeit und stellte den Karton ab. Er nahm Logan die Klemmmappe ab und drückte ihm dafür einen kleinen Schlüssel in die Hand.

"Schließt du auf? Ich hole schnell das Wechselgeld und mache die Kasse einsatzbereit." Nachdem sich Logan abgewendet hatte und durch den Laden zur Tür ging, begab sich Jerry in sein Büro und holte den Kasseneinsatz mit dem abgezählten Betrag aus dem Tresor. Noch mit dem Schlüssel in der Hand und einem Lächeln auf den Lippen begrüßt er die ersten Kundinnen. Natürlich sind es auch noch junge Mädchen und Jerry blieb abwartend hinter der Ladentheke.

Für sein erstes Verkaufsgespräch stellte sich Logan gar nicht mal so übel an. Die Mädchen himmelten ihn an und alle, von ihm vorgeschlagenen, Sportoutfits verschwanden mit ihnen in der Umkleidekabine. Unsicher schaute der junge Mann zu ihm und erst bei seinem zustimmenden Nicken entspannte Logan sich sichtlich. Weitere Kunden betraten den Laden, um die er sich persönlich kümmerte. Als die beiden Mädchen mit je einer Garnitur Sportsachen an die Kasse kamen, entschuldigte er sich für einen Moment und bat seine Kunden, sich doch erst genauer umzuschauen. Flink, aber ohne Hektik und freundlich kassierte er ab. Jeremy überreichte die vollen Tüten und begab sich nach einem schnellen Abschiedsgruß von der Theke zu seinen Kunden zurück.

Der Vormittag verging schnell. Es gab kaum Momente, in denen man sich mal in Ruhe unterhalten konnte. Danach würde sich auch keine Zeit mehr für ein längeres Gespräch finden, denn der Zwerg ließ ihn meistens nicht aus den Augen. Vielleicht nahm er sich den Moment, wenn sich keine Kunden einfanden und Louis im Büro spielte.

Da es um die Mittagszeit recht ruhig war, räumten sie den Rest der Ware nach der Auszeichnung in die Regale. Morgen würde eine neue Lieferung mit kleineren Fitnesshilfen, wie Hanteln, Widerstandsbändern und kleinen Geräten zum Muskelaufbau eintreffen. Die größeren Geräte nahmen zu viel Platz im Verkaufsraum weg. Deswegen bestellte er diese nur nach Bedarf und als Testgerät stand nur eines im Laden. Damit waren die meisten Kunden auch recht zufrieden, denn die Lieferfrist betrug selten mehr als zwei Tage. Den großen Teil seines Bestandes machten verschiedene Outfits, Badeoden, Schuhe für alle Sportarten, sowie Bälle, Schläger jeder Art und kleine Geräte, sowie diverse Zusatzartikel aus.

Um zwölf schickte Jerry seinen heutigen Assistenten in die Mittagspause. Wenn dieser dann wiederkam, war es schon fast an der Zeit, Louis aus der Schule abzuholen. Bis dahin füllte Jerry den Arbeitsvertrag mit Hilfe der Bewerbungsunterlagen so weit wie möglich aus und legte ihn ins Büro.

Pünktlich nach einer Stunde kam Logan zurück. Im Laden war es wieder ruhig, nachdem zwei zufriedene Kunden gegangen waren.

"Kann ich dich für eine Stunde allein lassen? Ich muss was erledigen", fragte Jerry vorsichtig und atmete erleichtert auf, als Logan nickte.

"Falls irgendetwas ist, kannst du mich anrufen! Meine Handynummer steht auf dem Zettel, der an der Kasse klebt", meinte Jerry und ging nach hinten, um seinen Wagenschlüssel und das Handy zu holen. Ah gut! Brook hatte ihm eine SMS mit der Zimmernummer von Louis geschrieben. So brauchte er nicht durch das ganze Schulhaus irren. Der Kleine würde ihn ganz sicher sehnsüchtig erwarten, um von seinen Erlebnissen zu berichten.

Nach einem ermutigenden Lächeln und einem Nicken verließ er den Laden und eilte in Richtung Tiefgarage, wo sein Wagen auf dem, von ihm angemieteten, Parkplatz stand.

Der Weg zur Schule war nicht lang und so stand er nach zehn Minuten am Straßenrand vor dem Gebäude. Gut gelaunt stieg Jeremy aus und eilte über den Hof zum Eingang. Einige Schüler spielten Fangen, während ihre Taschen auf der Treppe lagen. Andere saßen auf den Stufen und unterhielten sich. Eine Gruppe Mädchen stand etwas abseits und Kichern drang zu ihm, während er die Treppe hinauflief.

Im Foyer schaute er sich suchend um und eilte zum Fluchtplan, der groß an einer Leinwand hing. Rasch suchte er die gewünschte Zimmernummer und prägte sich den Weg ein. Die Gänge sahen ziemlich gleich aus und Jerry hoffte, dass er nicht verkehrt abgebogen war. Kleine Schildchen wiesen ihm zusätzlich den Weg und nach weiteren fünf Minuten stand er vor der gesuchten Tür. Groß prangte ein Plakat mit der bunten "1a" an dieser und so klopfte er leise an.

Auf ein gedämpftes "Ja. Bitte" öffnete er die Tür und schob den Kopf vorsichtig durch den Spalt. Mit einem Blick bemerkte er die rund 25 Augenpaare, die ihn neugierig musterten. Ein Grinsen legte sich auf seine Lippen, als er auf die freudig funkelnden Augen traf und schob die Tür weiter auf, um hindurch treten zu können.

"Guten Tag!", grüßte Jeremy und schloss die Tür, bevor er auf den einzigen Erwachsenen im Raum zu trat. Er reichte dem älteren Herrn im Anzug die Hand. Okay, so alt war er wohl noch nicht. Mitte 30 ungefähr und sah gar nicht mal so übel aus, stellte Jeremy beeindruckt fest. Das dunkelblonde Haar war kurz geschnitten, das Gesicht männlich markant. Auf Kinn und Wangen zeichneten sich erste Schatten seines Bartes ab. An den blauen Augen, die ihn fragend anblickten, blieb Jerry hängen. Er stutzte leicht. Diese Augen, dieser Blick. Es war irgendwie vertraut. Irritiert schluckte Jeremy. Innerlich den Kopf schüttelnd kehrte sein kurzzeitig verschwundenes Lächeln zurück.

"Ich möchte Louis Corbin abholen", brachte er sein Anliegen vor und zwinkerte verstohlen in Richtung des Kleinen, der schon ganz unruhig auf seinem Platz herumrutschte. Seine Unruhe war ansteckend, denn auch die anderen Kinder nutzten die Gelegenheit und tuschelten miteinander.

"Hallo Mr. Corbin! Mein Name ist LaCroix und ich bin der Direktor", stellte sich der Mann nun vor und sein Blick huschte zu Louis.

"Louis? Packst du bitte deine Unterlagen ein! Dann darfst du mit deinem Dad nach Hause und die anderen malen bitte an ihrem Bild weiter!"

Während Louis alles einpackte, wurde er von dem Direktor beäugt. Irgendwie behagte ihm dieser Mann nicht ganz. Er war vertraut, obwohl er ihn nicht kannte oder je gesehen hatte. Jeremy wusste noch nicht einmal, woran er das Gefühl festmachen sollte. Erst jetzt fiel ihm auf, wie Mr. LaCroix ihn genannt hatte. Bevor Jerry ihn jedoch berichtigen konnte, trat Louis zu ihnen und griff nach seiner Hand.

"Auf Wiedersehen, Mr. LaCroix!", verabschiedete sich der Junge höflich und zog an Jerrys Hand. Dieser grinste und hielt Louis fest.

"Stopp, mein Großer! Ich muss mich noch verabschieden", hielt Jerry ihn auf. Louis biss sich verzagt auf die Unterlippe und blickte entschuldigend zu ihnen auf.

"Sorry", murmelte er leise. Jeremy wandte sich wieder dem Direktor zu und verabschiedete sich mit einem kurzen Händedruck, bevor er mit Louis an der Hand den Raum verließ. Louis hüpfte an seiner Hand mit ihm durch den Gang und erzählte ihm von seinen Erlebnissen. Dass die Stunden lang sind und sie heute nur gemalt haben. Die Lehrerin fand er nett, wenn sie auch immer so viele Fragen stellte, obwohl sie das eigentlich selbst schon wissen sollte. Darüber empörte sich der Kleine mächtig und Jerry erklärte ihm lächelnd, warum die Lehrerin das tat. So richtig zufrieden war der Junge nicht, aber er akzeptierte es. Auch erzählte Louis stolz von seiner ersten Begegnung mit dem beeindruckenden Direktor und war richtig erstaunt darüber, wie dieser ihn verteidigt und ermahnt hatte. Jeremy schmunzelte. Selbst auf dem Weg zum Laden stand der kleine Mund nicht still und der ganze Kerl erzählte mit Händen und Füßen. Erst als Louis den neuen Mitarbeiter hinter der Theke sah, schwieg er. Neugierig beäugte er den Fremden argwöhnisch. So lebhaft der Junge sonst auch war, so schüchtern wurde er, wenn er unbekannten Leuten gegenüberstand. Jeremy schob ihn sacht in dessen Richtung. Logan kam hinter der Kasse hervor und blickte ihnen fragend entgegen.

"So! Ich bin wieder da und ich habe diesen kleinen Racker als Verstärkung mitgebracht. Louis, das ist Logan", stellte Jerry sie einander vor. "Logan! Dieser junge Mann hier gehört schon zum Inventar und heißt Louis. Er wird erst gegen Abend von seiner Mum abgeholt und bleibt solange hier!" Logan hockte sich, so dass er mit Louis auf Augenhöhe sprechen konnte und hielt ihm die Hand hin.

"Hallo. Ich hoffe, wir sehen uns öfter." Kritisch musterte Louis den großen Mann und versuchte, diesen einzuschätzen. Jeremy schmunzelte. Auch wenn Logan betont ernst den Kleinen vor sich anschaute, sah Jerry am Funkeln der dunklen Augen, dass dieser sich ein Grinsen verkniff. Die Menschenkenntnis des kleinen Kerls war erstaunlich und nur der erste Eindruck zählte bei ihm. Wenn Louis jemanden nicht gleich mochte, konnte dieser anstellen, was er wollte und bekam trotzdem keinen Boden gut. Entschlossen ergriff der kleine Junge jetzt die Hand und schüttelte sie ernst.

"Bringst du deine Tasche bitte ins Büro?" Louis nickte und trug den Rucksack nach hinten.

"War viel los, als ich nicht da war?", fragte Jeremy nach.

"Nein. Ich habe die letzten Artikel noch einsortiert und frischen Kaffee aufgesetzt", antwortete Logan. Jerry nickte zufrieden.

"Jemmy!", ertönte es und er eilte in sein Büro.

"Was denn?"

"Darf ich mein Bild fertig malen?", fragte ihn Louis und suchte eine Mappe mit Stiften und ein Blatt heraus.

"Na klar! Warte! Ich schaffe dir ein wenig Platz auf meinem Tisch, dann kannst du dich hier breitmachen." Rasch beseitigte Jerry die Unterlagen und räumte die Tischplatte frei. Louis setzte sich stolz auf den Chefsessel und begann konzentriert an seinem Bild zu malen.

"Möchtest du noch etwas zu trinken?", fragte Jerry. Louis schüttelte den Kopf, ohne ihn anzuschauen. Einige Sekunden betrachtete er den Jungen, wie er mit der Zunge zwischen den Lippen jeden Strich nachzeichnete und die Augenbrauen zusammenzog, wenn er überlegte, welche Farbe er als nächstes nahm.

Leise verließ Jerry den Raum, ließ aber die Tür offen, um zu hören, wenn er gebraucht wurde.

Die Ladenglocke ertönte und Jerry beeilte sich, in den Verkaufsraum zu kommen.

Wie erwartet, blieb an diesem Nachmittag kaum Zeit für Gespräche. Entweder wollten Kunden bedient werden oder Louis verlangte Aufmerksamkeit. Selbst die Kaffeepause verbrachten die Männer getrennt, weil immer Kundschaft da war. Erst am späten Nachmittag wurde es etwas ruhiger. Leider wurde nun Louis langsam unruhig und fing an, nachzufragen, wann denn endlich seine Mum kam. Er war selten so lange im Laden. Meist kam er an den Tagen, wenn Andrea nachmittags kam und er nach einer oder zwei Stunden früher Feierabend machte. Dann konnten sie noch eine Stunde auf dem Spielplatz im Park toben bis Brooklyn kam. Doch heute traute sich Jerry nicht, den Neuen allein zu lassen. Seit einer Viertelstunde blieb der Laden leer.

"Komm! Setzen wir uns hinter. Wir hören ja den Gong, wenn Kundschaft hereinkommt. Wir können uns da besser unterhalten."

Gemeinsam gingen sie in den Aufenthaltsraum. Louis hockte noch auf seinem Spielteppich und beschäftigte sich mit den Bausteinen, als Jerry den vorbereiteten Vertrag holte. Ein freudiges Kribbeln erfasste ihn. Endlich! Endlich etwas Entlastung! Zumindest schob er das Flattern in seinem Inneren darauf.

Er reichte die Papiere an Logan weiter, der bereits mit einer Tasse Kaffee am Tisch saß. Beim Abnehmen streiften sich ihre Finger und Jeremy ließ erschrocken, über den kleinen Stromstoß, los. Gerade noch konnte Logan die Zettel festhalten, sonst wären diese über den Boden verstreut gewesen.

"Sorry!" Verlegen wandte sich Jeremy ab und holte aus der Küchenzeile die Utensilien für Louis Snack.

"Du solltest dir alles genau durchlesen! Wenn du Fragen hast, frag ruhig. Ich würde dich gern zum 15. einstellen, falls du mit dem Vertrag einverstanden bist", erklärte Jeremy nach einem Räuspern. Er hoffte, dass der junge Mann seine leicht geröteten Wangen und die plötzliche Verlegenheit nicht bemerkt hatte. So etwas war ihm schon lange nicht mehr passiert und dann ausgerechnet heute bei Logan. Das war peinlich, zumal er nicht einmal wusste, wie Logan tickte. Außerdem trennte er strikt berufliches von privatem. Bisher brauchte er das aber nicht, denn er hatte ja nur Andrea angestellt. Diese dachte, dass er mit Brooklyn zusammen war und sah Louis als seinen Sohn an. Somit war er für sie tabu und darüber war er froh. Viele in ihrem gemeinsamen Bekanntenkreis wussten zwar, dass dem nicht so war, aber er erwähnte es nicht explizit und Fremden konnte es egal sein.

Obwohl er sich manchmal schon die Geborgenheit einer Beziehung und das Fallenlassen wünschte, war er mit seinem Leben bisher zufrieden. Von Brook bekam er alles, was er sich wünschte. Den Rückhalt, die Ermutigung und die Geborgenheit einer Familie. Mit ihr konnte er reden, träumen oder einfach mal an nichts denken. Nur Sex blieb außen vor. Diesen holte er sich in anonymen Clubs und hielt ihn unverbindlich. Für eine Nacht fand sich da immer etwas und die große Liebe hatte seinen Weg noch nicht gekreuzt. Jeremy suchte aber auch nicht danach. Wenn sie irgendwann kam, dann war es okay und wenn nicht, dann auch. So sah er es.

Ein Blick über die Schulter und er sah, dass Logan in den Vertrag vertieft war. Lautlos atmete Jerry durch. Das Sandwich war fertig und er rief nach Louis. Sofort setzte dieser sich an den Tisch und griff sich das Brot. Jerry füllte noch ein Glas mit Orangensaft und stellte es neben den Teller.

"Danke. Jemmy, wann kommt Mum endlich?" Ein Blick zur Uhr.

"Sie müsste gleich kommen, Großer!", beruhigte er den Jungen. Gerade als er sich setzen wollte, erklang die Türglocke und Jeremy ging vor. Der Kunde brauchte nicht lange und als dieser gerade bezahlte, kam Brooklyn herein.

"Hey, Süße!"

"Hey! Sorry, aber der Tag war extrem stressig!", seufzte sie und umarmte ihn. Jerry hielt sie fest, während Brook sich mit geschlossenen Augen an seine Brust lehnte.

"War Louis sehr ungehalten?"

Jerry schüttelte den Kopf.

"Gar nicht. Hab ihn heute kaum bemerkt, weil er gemalt hat. Er sitzt gerade hinten und isst. Brauchst heute also nicht mehr kochen. Warm hat er ja in der Schule schon gegessen." Brook löste sich und lächelte ihm müde zu.

"Mummy! Mummy! Da bist du ja endlich!" Freudestrahlend stürzt sich Louis in die Arme seiner Mutter. Brooklyn streicht ihm sanft durch die Haare.

"Hey mein Spatz! Wenn du aufgegessen hast und dein Saft leer ist, kannst du deine Sachen holen!", gibt sie liebevoll zurück. Der Junge trinkt gleich im Stehen sein Glas leer und hopst dann rüber ins Büro.

"Willst du dich nicht setzen und was trinken?", fragte Jerry und griff nach einer Flasche Wasser. Erschöpft schüttelte Brooklyn den Kopf.

"Ich möchte nur nach Hause. Im Büro war heute die Hölle los!"

Sie musterte den Mann, der mit dem Rücken zu ihr saß und zu lesen schien. Jeremy bemerkte ihren fragenden Blick.

"Ach Logan. Darf ich dir Brooklyn vorstellen? Sie ist die Mum des kleinen Wirbelwindes!" Logan erhob sich und nickte ihr freundlich zu.

"Netten Burschen haben Sie da." Brooklyn erwiderte das Lächeln.

"Manchmal etwas lebhaft. Danke." Jeremy beobachtete Logan unter gesenkten Lidern hervor. Er benahm sich tadellos und flirtete nicht mit Brook. War das ein Zeichen? Jerry spürte Brooks scharfen Blick mehr, als er ihn sah und warf ihr ein verlegenes Lächeln zu. Ein verstehendes Grinsen erschien auf ihren Lippen. Jerry schüttelte fast unmerklich mahnend den Kopf und sie zog nun auch noch die Augenbrauen hoch.

"Ich bin fertig, Mummy!", platzte Louis in ihre nonverbale Unterhaltung.

"Okay, Großer! Dann ab nach Hause mit euch! Duschen und dann ab ins Bett!", nahm Jerry den Spielball an.

"Na ein Trickfilm ist noch drin! Morgen müssen wir wieder früh aufstehen", wiegelte Brooklyn leicht ab.

"Kommst du mich morgen wieder abholen?", fragte der kleine Mann bettelnd. Jeremy blickte die Freundin fragend an.

"Nein, Schatz. Morgen hole ich dich ab. Mummy muss nur bis mittags arbeiten, weil wir heute das meiste schon geschafft haben. Aber übermorgen, wenn es passt, kann Jeremy dich wieder holen." Kurz überlegte Louis und nickte zufrieden.

"Also ich wünsche euch mal einen schönen Feierabend und danke fürs Sitten", meinte Brooklyn und wandte sich zur Tür, um durch den Laden zu gehen. Jerry folgte ihr und hielt ihr die Tür auf. Brooklyn umarmte ihn noch einmal.

"Schnuckliges Kerlchen", flüsterte sie ihm ins Ohr und Jerry spürte einen Knoten im Hals. Sie hatte ihn durchschaut. Er schluckte hart.

"Eher etwas für dich", murmelte Jeremy unbehaglich. Brook grinste nur und schüttelte den Kopf.

"Das glaub ich nicht!" Woher sie das wieder wissen wollte. Jeremy bückte sich, um sich von Louis zu verabschieden. Der Kleine schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor er an der Hand seiner Mutter von dannen zog.

Ein Blick zur Uhr und entschlossen drehte er den Schlüssel um. Feierabend! Er ließ das Sicherungsgitter hinunter. Nur noch die Kassenabrechnung und er konnte nach Hause. Er rief nach Logan und gemeinsam rechneten sie den Tagesumsatz ab. Das Geld verplombte Jeremy und steckte es in die Tasche. Er würde es nachher gleich noch am Bankautomaten im Shoppingcenter einzahlen.

Jerry mochte es nicht, wenn sich große Beträge im Laden befanden. Tresor hin oder her. Nachdem er die Tür zum Büro geschlossen hatte, trat er in den zweiten kleinen Raum. Logan trocknete gerade das wenige benutzte Geschirr ab. Das Wasser in der Spüle lief gerade ab.

"Was sagst du zu dem Angebot?", wollte Jerry wissen. Logan nickte und stellte die Tasse, die er hielt, in den Hänger.

"Es ist okay und ich würde den Job gern annehmen."

"Okay. Dann bring mir in den nächsten Tagen bitte die fehlenden Unterlagen vorbei und am 15. um acht beginnt dein erster Arbeitstag. Herzlich Willkommen im Team", meinte Jeremy lächelnd und hielt ihm die Hand hin. Logan ergriff sie und strahlte. Himmel! Hatte der Kerl funkelnde Bernsteine. Die gehörten glatt verboten! Kleine Stromstöße zogen durch seinen Arm und das Kribbeln erwachte wieder. Hastig ließ er die warme, weiche Hand los. Kurz blitzte so etwas wie Enttäuschung in den dunklen Augen auf, als er den Blick löste, aber da hatte sich Jerry sicher getäuscht. Er griff nach einem zweiten Geschirrtuch und sie beeilten sich, alles fertig zu verräumen.

Vor der Hintertür verabschiedeten sie sich voneinander und Jerry eilte zu seinem Wagen. Hoffentlich hatte er jetzt keinen Fehler gemacht. Logan verwirrte ihn und dabei kannte er ihn noch nicht einmal. Er seufzte. Heute würde er sich einen ruhigen Abend machen und ab dem 15. würde er sich erst wieder mit Logan beschäftigen. Er stieg in seinen Wagen und fuhr nach Hause. 

4.

Ganz so früh, wie gedacht, kam Brooklyn heute doch nicht aus dem Büro weg. Der Tag hatte neue Aufträge gebracht und bei zwei von ihnen musste sie gleich mit der Planung beginnen.

Nun fiel ihr Blick auf die schmale Armbanduhr, die ihr Handgelenk zierte. Die Zeit drängte. Brook hatte ihrem Sohn heute Morgen einen Zettel mitgegeben, dass sie ihn bis 15.00 Uhr holen würde. Ihr blieben ganze 25 Minuten und die würde sie im Berufsverkehr benötigen. Seufzend warf sie ihre Tasche auf den Beifahrersitz und stieg ein. Die Fahrt war die erwartete Hölle. Schichtwechsel in den Betrieben des Industriegebietes, den sie gern vermied. Heute war es nicht zu ändern. Ihr blieb nur, Ruhe und Geduld zu bewahren.

Endlich! Pünktlich hielt sie vor dem Schulhaus. Nachdem sie den Wagen abgestellt hatte, strebte sie über den Hof und durch die Gänge. Vor dem Klassenzimmer, aus dem Gesang zu hören war, blieb sie stehen und atmete noch einmal tief durch. Das lange Haar hatte sie in einem lockeren Dutt gebändigt und strich sich eine gelöste Strähne hinter das Ohr.

Sollte sie noch warten bis das Lied zu Ende war? Oder ...? Die Höflichkeit siegte und Brook trat an das große Fenster gegenüber der Tür. Ihr Blick schweifte über den hinteren Hof der Schule. Eine kleine Fläche aus Asphalt wurde von einer Wiese, an die sich ein Spielplatz mit verschiedenen Geräten und Bänken anschloss, eingerahmt. Ein Platz zum Toben und Spielen. Einfach den Unterricht ausblenden und abschalten. Hier würden die Kinder einen schönen Nachmittag verbringen können, bis sie von den Eltern abgeholt wurden oder sich allein auf den Heimweg machen konnten. Bis 16 Uhr wurden die Schüler betreut und beschäftigt. Am Anfang war mehr Frei- und Spielzeit vorgesehen. Je älter sie aber wurden, desto mehr Angebote, sei es in verschiedenen Sportarten, Musik oder Tanz und Schauspiel ebenso wie in Naturwissenschaften, gab es. Jeder erhielt die Möglichkeit verschiedenste Sachen auszuprobieren und seine Begabung oder Interessen zu finden. Eine gute Sache, wie Brook fand.

Der Gesang verstummte. Stille breitete sich in dem langen Flur aus und Brooklyn trat zur Tür. Auf ihr leises Klopfen hin, musste sie einige Sekunden warten. Bevor sie jedoch ein weiteres Mal mit den Knöcheln ihres Fingers an die Tür pochen konnte, wurde diese schwungvoll geöffnet. Nur ihrer schnellen Reaktion verdankte sie es, dass sie die Tür nicht an den Kopf bekam. Erschrocken war Brook zwei Schritte zurückgewichen.

»Oh ... Entschuldigung! Ich war mir nicht ganz sicher, ob es geklopft hat oder ich mich getäuscht habe.« Die junge Frau vor ihr musterte sie neugierig. Brook kannte sie noch nicht.

»Mein Name ist Brooklyn Corbin. Ich möchte meinen Sohn Louis abholen.« Brooklyn schüttelte die ihr gereichte Hand kurz. Noch immer wurde sie abschätzend angeschaut. So langsam fühlte sie sich unbehaglich. Diese Blicke kannte sie schon. Niemand mutete ihr ein Kind in diesem Alter zu. Viele dachten, dass Louis eher ihr Bruder als ihr Sohn war. Manchmal stellte Brook diese Tatsache richtig, aber manchmal ließ sie die Leute auch in ihrem Glauben. Genauso war es auch mit Jeremy. Oft wurde dieser für den Mann an ihrer Seite und Louis Vater gehalten. Etwas, was so gesehen, nicht den Tatsachen entsprach.

»Ah ja. Ich bin Miss Hardy und ich betreue die ersten Klassen nachmittags. Ich denke, wir werden uns daher häufig sehen. Kommen Sie ruhig rein!« Die junge Frau mit den dunklen, kurzen Haaren drehte sich um und trat wieder in das Klassenzimmer. Mit Blicken suchte sie nach dem Jungen, der an einem der hinteren Tische saß und puzzelte. Zwei Mädchen halfen ihm dabei. Bisher schien er seine Mutter nicht wahrgenommen zu haben, denn er suchte noch eifrig nach passenden Teilchen.

Brooklyn lächelte sanft vor sich hin, während sie Louis beobachtete. Immer wieder lugte die Zunge zwischen den Lippen hervor, wenn er ein Teil einpasste und runzelte die Stirn, wenn es nicht das richtige war. Er war so konzentriert auf seine Tätigkeit, dass ihn nicht mal die beiden Mädchen störten, die lautstark, über seinen Kopf hinweg, miteinander diskutierten. Erst als die Betreuerin seinen Namen rief, reagierte er und schaute sich um. Ein freudiges Strahlen huschte über das kleine Gesicht, als Louis seine Mum erblickte.

»Mummy, schau mal, wie weit ich schon bin!« Brook setzte sich in Bewegung und schlängelte sich durch die Reihen.

»Wow. Da warst du heute aber fleißig«, lobte sie ihren Sohn.

»Darf ich das Puzzle ganz lassen? Sonst muss ich morgen neu anfangen«, fragte Louis und schürzte bittend die Lippen.

»Da musst du Miss Hardy fragen! Vielleicht gibt es ja einen Platz, wo es nicht stört, bis du weiter machen kannst«, erklärte Brook.

Louis stand hastig auf und lief eilig nach vorn zu Miss Hardy. Brooklyn beobachtete kurz, wie er mit dieser plauderte. Ja, aufgeweckt war ihr Kleiner. Schüchternheit kannte er nur selten. Sie nahm den Schulrucksack, packte das Federmäppchen hinein und ging langsam zu ihnen, nachdem sie sich diesen über die Schulter geworfen hatte.

»Die Mädchen puzzeln sicher noch ein wenig. Wenn wir später aufräumen, werden wir mal schauen, wo es bis morgen liegen bleiben kann«, erklärte die junge Frau dem Jungen, der daraufhin breit grinste und sich artig bedankte. Louis strahlte seine Mutter an. Brook legte ihm die Hand auf die Schulter. Beide verabschiedeten sich mit einem »Bis morgen!« und drehten sich dann zur Tür. Brooklyn schob ihren Sohn sanft vor sich her. Bevor sie jedoch die Türklinke ergreifen konnte, wurde diese von außen schwungvoll geöffnet. Erschrocken zog Brook ihre Hand zurück und trat instinktiv einen Schritt zur Seite. Da ihre andere Hand noch auf der kleinen Schulter neben sich lag, folgte Louis automatisch.

Brooklyn hatte keinen Blick für den Eintretenden gehabt, sondern nur geschaut, dass sie nicht im Weg stand. Gerade drei Schritte hatte sie mit Louis an der Hand im Flur zurückgelegt, als eine tiefe Stimme im Zimmer erklang.

»Miss Hardy? Könnte ich Sie bitte kurz sprechen? Es wäre wichtig. Misses Mayers, die die 3. Klasse nachmittags betreut, wird für mehrere Wochen ausfallen und da ich keine Kraft mehr frei habe, muss ich die Klasse aufteilen. Sie haben ab morgen ...«

Ihr Schritt stockte. Diese Stimme. Diese tiefe Stimme. Sie jagte ihr Gänsehaut über den Körper. Ein unkontrollierbares Zittern ergriff Besitz von ihr. Ihr Herz und ihr Atem rasten um die Wette. Das Rauschen in ihren Ohren nahm zu. Sie hörte die Stimme, aber kein Wort erreichte das Gehirn. Das konnte doch nicht sein! In ihren Beinen war Blei. Brook stand wie festgewachsen, konnte keinen Schritt vorwärts gehen. Stur starrte sie auf den Linoleumboden unter ihren Füßen. Brooklyn traute sich nicht, einen Blick zurück zu werfen. Das durfte nicht wahr sein! Eine Täuschung. Es musste eine Täuschung sein! Wenn sie jetzt hinsah, würde Brook sicher lachen können. Dann würde sie sich mit eigenen Augen überzeugen können, dass ihre Sinne sie veralberten. Fast sieben Jahre hatte sie diese Stimme nicht mehr gehört. Nach all den Jahren war es fast unmöglich, dass Brook sich an seine Stimme erinnerte. Er würde sicher nicht hier und jetzt auftauchen! Das wäre ein unglaublicher Zufall und an solche glaubte sie schon lange nicht mehr. Sie hatte sich gewiss getäuscht. Ein leichtes Ziehen an ihrem Arm holte Brook aus ihrer Starre. Fragend und unsicher blickte Louis zu ihr auf. Unmerklich schüttelte sie den Kopf über ihre unsinnigen Gedanken und lächelte den Sohn zaghaft an.

»Na komm! Der Spielplatz wartet.« Aufmunternd drückte sie die Hand des Jungen. Willig verdrängte sie sie unerwünschten Gedanken. Je weiter sie den Gang entlang schritten, desto leichter wurde ihr. Louis half ihr kräftig dabei, da er ihr pausenlos etwas zu erzählen hatte. Wie immer, wenn der Junge etwas zu berichten hatte, kam er selbst kaum zum Luft holen.

Brooklyn versuchte, sich auf die Geschichten ihres Sohnes zu konzentrieren. Dem Drang, einfach zum Klassenzimmer zurück zu rennen und sich Gewissheit zu verschaffen, wollte sie nicht nachgeben. In ihrem Magen grummelte es noch immer. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Der Weg zum Ausgang zog sich gefühlt endlos. In Brook brodelte die Angst, dass der tiefe Timbre hinter ihr erklang und sie aufhielt. Brooklyn wollte sich nicht dieser Stimme stellen. Sie konnte nur enttäuscht werden. Sie konnte die Hoffnung nicht zulassen. Brook wollte ihr Leben, so wie sie es momentan lebte, beibehalten. Sie hatte sich damit abgefunden, dass der Mann ihrer Träume nur eine kurze Rolle in ihrem Leben gespielt hat.

Sie öffnete die Wagentür und ließ Louis einsteigen. Während dieser sich auf der Rückbank anschnallte, verstaute Brook die Tasche im Kofferraum ihres Flitzers und setzte sich dann ans Steuer. Ein kontrollierender Blick nach hinten und Brooklyn startete den Motor.

Gut, dass der Verkehr ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte, so blieb ihr keine Zeit zum grübeln. Vor ihrer Haustür stellte Brooklyn das Auto erleichtert ab. Während sie ihr Zeug auslud und den Wagen verschloss, hüpfte Louis mit seiner Tasche auf dem Rücken schon voraus. An der Haustür blieb er erfahrungsgemäß stehen, da er auf Brook warteten musste.

Brook beeilte sich und öffnete die Haustür. Louis hechtete die Treppe hoch. Kopfschüttelnd folgte Brooklyn ihm etwas langsamer.

»Mummy! Jetzt beeil dich doch mal!«, moserte der Junge ungeduldig und trippelte mit den Füßen.

»Immer langsam mit den Pferden! Wir haben doch Zeit«, erwiderte sie und schloss ihm die Wohnungstür auf. Die Schultasche landete neben der Garderobe und die Schuhe vor dem Regal. Brook holte zwei Tetrapacks mit Saft aus der Küche und verstaute sie in ihrer großen Umhängetasche, die sie immer mit zum Spielplatz nahm. Zwischenzeitlich kam Louis aus seinem Zimmer. Er hatte sich in seine Spielsachen geworfen und schlüpfte schon wieder in seine alten Chucks, die ziemlich fertig aussahen. Da waren im nächsten Monat sicher ein Paar neue fällig. Nachdem auch Brook in ihre Schuhe geschlüpft ist und die Tasche über der Schulter hing, verließen sie das Haus und legten die kurze Strecke zum Spielplatz rasch zurück.

Louis stürzte sich voller Elan auf die Spielgeräte, die schon von zahlreichen Kindern genutzt wurden. Schnell fand er Anschluss. Der Kleine war bei Gleichaltrigen kontaktfreudiger, als bei Erwachsenen.

Brooklyn bewunderte ihren Sohn dafür, dass er aufgeschlossen auf andere Kinder zugehen konnte. Ihr fiel es immer schwer, neue Bekanntschaften einzugehen. Sie ging auch selten auf Menschen zu. Lieber war es ihr, wenn Jemand auf sie zukam. Im Beruf gab es zwar in diesem Bereich nur wenig Probleme, da sie sich dort hinter ihrer Professionalität etwas verstecken konnte. Privat blieb sie jedoch in ihrem vertrauten Umfeld. Die enge Freundschaft zu Jeremy reichte ihr. Er war ihre Stütze, die große Hilfe und die vertrauteste Person in ihrem Leben. In den letzten Jahren hatte er sie am besten kennengelernt und manchmal hatte sie das Gefühl, er wusste alles über sie und ihre Gefühlswelt. Doch einige Geheimnisse hatte sie sich bewahrt, von denen weder Jerry noch ihre Mutter wussten.

Einige Minuten lang beobachtete sie ihren Sohn, der mit einem anderen Jungen lachend das Klettergerüst erklimmte und sich ein Wettbewerb entspann. Wer erreichte zuerst die Rutsche über die Seilbrücke. Wer war zuerst unten und wer kam zuerst am Ausgangspunkt, der Sprossenwand an. Mehrere Runden liefen so ab. Mal gewann der eine und mal der andere. Die Freude an der Bewegung sah Brook beiden Jungs an.

Brooklyn schaute sich nach einer freien Bank in der Nähe um. Vor einer Hecke neben dem Sandbereich fand sie eine freie Bank. Von da konnte sie Louis gut im Blick behalten und er sah sie, wenn er etwas wollte. Sie schlenderte um den halben Platz und stellte ihre Tasche neben sich ab, nachdem sie sich gesetzt hatte. Brooklyn lehnte sich entspannt zurück. Ihr reichte es für den Moment, den Kindern beim Spielen und Toben zuzuschauen und die Sonne zu genießen. Noch wollte sie verstörenden Gedanken keinen Raum geben. Die Erinnerungen würden sie abends sicher ereilen und ihr die Ruhe stehlen. Hoffentlich konnte sie diese Nacht überhaupt schlafen. Noch immer spürte sie dieses Grummeln im Bauch, wenn sie an den tiefen Timbre dachte, der ihre Erinnerungen, die Brook tief in sich vergraben glaubte, schlagartig ans Licht holte.

 

Seit einer Stunde brütete Alexander über dem Einsatzplan. Das Schuljahr war gerade zwei Tage alt und die erste Krankmeldung lag vor. Die Betreuerin der dritten Klasse hatte einen Bandscheibenvorfall. Sie fiel somit für mehrere Wochen aus. Für die heutige Betreuung der Kinder war gesorgt, aber er musste sich dringend für die nächsten Wochen etwas einfallen lassen.

Ihm blieben nicht viele Möglichkeiten, diese Kraft adäquat zu ersetzen. Eine Neueinstellung würde zu lange dauern und sein Budget war ausgereizt. Überstunden waren weder beim Schulamt noch bei den Kollegen gern gesehen. Was sollte er nur tun? Immer wieder schob er die Pläne seiner Leute auf dem Plan hin und her, aber es haute hinten und vorn nicht hin, mit den vorgegebenen Stunden auszukommen. Vielleicht sollte er die Klasse aufteilen. Zumindest die Überstunden konnte er so vermeiden. Wenn die Betreuerinnen fünf Kinder mehr in ihrer Gruppe beaufsichtigten, war sein Problem gelöst. So würde es funktionieren.

Zufrieden nahm er den Klassenplan und teilte die zwanzig zu betreuenden Kinder auf die übrigen Nachmittagsgruppen auf. Nun musste er nur die Frauen informieren. Am besten gleich heute noch. In den Unterlagen schaute Alexander, wer in welchen Räumen die verschiedenen Klassen betreute und machte sich anschließend auf den Weg. Ihm blieb noch fast eine Stunde bis zum Feierabend.

Die erste Klasse war sein Ziel. Miss Hardy hatte diese Stelle erst übernommen, da sie Anfang des Sommers ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und in der Stadt bleiben wollte. Sie war ihm sympatisch, besaß die nötige Kompetenz und so setzte er sich für ihre Einstellung ein.

Ohne innezuhalten klopfte er kurz gegen die Tür und drückte die Tür auf. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine weibliche Person, die rasch einen Satz zur Seite machte, um nicht von ihm überrannt zu werden. Bevor Alex jedoch reagieren konnte, war der Schatten schon im Flur verschwunden. Nur den Jungen, der ihr folgte, sah und erkannte er noch. Sollte er ihnen folgen, um sich zu entschuldigen? Alexander warf einen unsicheren Blick zur Tür. Miss Hardy berührte mit ihren schlanken Fingern seinen Arm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Gedanklich noch bei den beiden, die den Raum verlassen hatten, schaute Alexander sie fragend an. Ach ja. Die Aufteilung. Er seufzte innerlich und konzentrierte sich auf sein Vorhaben.

»Miss Hardy? Könnte ich Sie bitte kurz sprechen? Es wäre wichtig. Misses Mayers, die die 3. Klasse nachmittags betreut, wird für mehrere Wochen ausfallen und da ich keine Kraft mehr frei habe, muss ich die Klasse aufteilen. Sie haben ab morgen für die Dauer der Krankenzeit von Misses Mayers fünf Kinder aus der dritten Klasse zur Betreuung. Die Namen der Kinder habe ich Ihnen notiert.« Alexander reichte ihr den Zettel. Die junge Frau nahm ihn, schaute kurz darauf und legte diesen in ihr Klassenbuch.

»Aber gern, Mr. LaCroix.« Sie strahlte ihn förmlich an. Bevor sie sich jedoch aufs Flirten verlegen konnte, ergriff Alex das Wort. »Ich werde noch die anderen Betreuerinnen informieren, bevor für heute Feierabend ist«, erklärte er förmlich und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken, bevor er eilig den Raum verließ. Ihre unschuldigen Flirtversuche sagten ihm gar nicht zu. Offene Anmachen konnte er abschmettern, aber bei so subtilem Flirten wusste er nicht, wie und wann er seine Meinung kundtun sollte, auch wenn er sich geschmeichelt fühlte.

Die versteckten Blicke und das schüchterne Lächeln von Miss Hardy waren ihm bei der Vorbereitung des Schuljahres zwar aufgefallen, aber Alexander war nicht darauf eingegangen. Ihm war es eher unangenehm. Seit Jahren trennte er Berufliches von Privatem strikt. Alexander ließ sich auf keinerlei Geplänkel dieser Art ein. Eine Beziehung unter Kollegen war nicht verboten, aber Alexander wollte eventuelle Probleme bei sich gar nicht aufkommen lassen. Was die Kollegen untereinander miteinander anfingen, war ihm egal, so lange die Arbeit nicht beeinträchtigt wurde. Nur für ihn war das keine Option. Die ledigen Frauen seiner Altersklasse, die schon länger an der Schule mit ihm zusammenarbeiteten, wussten, wie Alex tickte. Sie ließen ihn nach gewisser Zeit in Ruhe. Bei den meisten war er als eisiger Single in einer schönen Hülle verrufen. Nur bei den neuen Kolleginnen dauerte es meist etwas länger mit der Erkenntnis. Zwei oder drei haben schon versucht, ihn von sich und einer Beziehung zu überzeugen, doch er lehnte dankend ab. Alexander hoffte, dass hinter dem flirtenden Verhalten von Miss Hardy nicht wirkliches Interesse steckte. Die Enttäuschung war vorprogrammiert. Sie entsprach weder seinen Wünschen, noch reizte sie ihn in irgendeiner Form.

Alex hatte aus der Geschichte mit Brooklyn, die ihm privat das Genick gebrochen hatte und die ihm auch beruflich zum Stolpern hätte bringen können, gelernt und seine Konsequenzen gezogen. Er lernte genug Frauen außerhalb seines Arbeitsplatzes kennen. Dafür sorgten seine Freunde schon. Nicht selten versuchten sie, ihn wieder an die Frau zu bringen. Jedoch wurde nie etwas Festes oder Dauerhaftes daraus. Sie verstanden nicht, warum Alex sich auf keine feste Bindung einließ und die jungen Frauen gaben nach einer gewissen Zeit entmutigt auf. Manchmal wurde es ihm zu viel und nach einer Ansprache hatte er wieder für eine gewisse Zeit Ruhe. Was keiner seiner Freunde wusste, war, dass eine sehr junge Frau sein Herz erobert hatte und noch immer gefangen hielt. Selbst nach so langer Zeit verglich er jede Frau mit ihr und noch nie hielt eine diesem Vergleich stand. Dieses offene Lächeln, der liebevolle Blick und ihre Art, ihn zu nehmen brachten sein Herz heute noch ins Stolpern. Noch immer überfielen ihn in den unmöglichsten Situationen die Erinnerungen. Mit ihr konnte er einst lachen und ernste Gespräche führen. Dabei hatte er oft den Altersunterschied vergessen, fühlte sich selbst wie ein Teenager und wenn er sich zu oberlehrerhaft aufführte, holte sie ihn mit nur einem Satz wieder auf den Teppich. Er vermisste die Unbeschwertheit, auch wenn sie nur in seinen vier Wänden und heimlich zum Vorschein kommen durfte.

Eine lange Zeit hatte er gegen seine Gefühle angekämpft, sich das Für und Wider vor Augen gehalten und doch war er ihnen erlegen. Still und leise hatte sie sich in seinem Herzen festgesetzt. Lange war nicht klar, ob sie seine Gefühle erwiderte, aber schlussendlich gab es kein Entrinnen. Ein halbes Jahr schlichen sie umeinander herum und als feststand, dass sie nicht voneinander lassen konnten, suchten sie eine Lösung. Alexander hatte sich nach einer freien Stelle an einer anderen Schule erkundigt. Als das Amt ihm ein Angebot machte, überlegte er nicht lang und griff zu. Zum neuen Halbjahr wechselte er Job und Wohnung. Das Schulamt hatte ihm eine Stelle zugewiesen. Sein neuer Arbeitsplatz war in einer weiter entfernten Kleinstadt und nicht nur an einer anderen Schule im Ort. Es musste alles sehr schnell gehen, weil drei Tage darauf der Unterricht erneut begann. Alex hatte ihr zwar gesagt, was er vorhatte, aber die Einzelheiten erfuhr er selbst erst vier Tage vorher. Da war Brook im Urlaub und per SMS wollte Alexander sie nicht informieren. Wenn er nur geahnt hätte, dass er sie aus den Augen verlor. Aber das hatte er nicht. Noch heute könnte er sich dafür ohrfeigen. Das Schicksal hatte unverhofft hart zugeschlagen. Alexander haderte immer noch.

Alex eilte durch den leeren Gang. Im Foyer hielt er inne. Sein Blick fiel über den Hof zur anderen Straßenseite. Er entdeckte die junge Frau, die dem Jungen die Wagentür aufhielt, und trat an die Glastür. Sie war es tatsächlich. Die Hand schon am eisernen Griff der Tür hielt er inne. Sehnsüchtig und versunken beobachtete Alex die beiden. Sollte er es wagen? Mutlos schüttelte er innerlich den Kopf. Selbst, wenn er sie aufhalten konnte. Was sollte er sagen? Wie konnte er sie ansprechen? Wie viel war zwischen ihnen kaputt? Würde sie ihm überhaupt zuhören? Er fuhr sich entmutigt durch das dunkelblonde Haar. Durfte er es überhaupt wagen? Fragen, auf die er eine Antwort hatte. Durch die Scheibe beobachtete Alexander, wie sie die Wagentüren schloss und selbst auf der Fahrerseite verschwand. Sie sah reifer aus, wenn auch nicht wie 24. War sie überhaupt schon so alt? Alexander kramte in seinen Erinnerungen. Im Mai. Im Mai hatte sie Geburtstag. In seinem Handy war dieser Tag noch immer gespeichert, obwohl er keine Nummer oder Adresse mehr wusste.

Am ersten Tag in der neuen Stadt, verlor Alexander das Handy. Alle Stellen, an denen er an diesem Tag gewesen war, hatte er abgesucht und war die Wege noch einmal abgelaufen. Gefunden hatte Alex es nicht mehr. An diesem Abend verfluchte er seinen Entschluss und ertrank seinen Kummer in Alkohol. Zwei Wochen nach seinem Umzug hatte er sich getraut, auf dem Festnetz anzurufen. Das »Kein Anschluss unter dieser Nummer« hatte er immer noch im Ohr. Alle Vorsicht beiseite schiebend, hatte er kurz darauf seinen besten Freund und Kollegen angerufen. Unter einem Vorwand hatte er sich nach Brook erkundigt. Dessen Antwort war niederschmetternd. Die Familie war in der ersten Schulwoche unbekannt verzogen. Seine Hoffnungen, Brooklyn irgendwie zu erreichen, verloren sich im Nichts. Alex fand weder ihre Adresse, noch ihre Telefonnummer heraus. In den sozialen Medien war sie nur unter einem Pseudonym unterwegs und dieses kannte er nicht. Versucht hatte er es trotzdem immer mal wieder.

Alexander warf einen letzten Blick auf den davonfahrenden Wagen. Sein Blick war trüb und er wischte sich über die Augen. Müde wandte er sich um und suchte die nächste Klasse auf. Auf dem Weg dahin versuchte er, sich zu fangen. Immer wieder schob er die unliebsamen Gedanken beiseite, bemühte sich um Professionalität. Es schien ihm so halbwegs zu gelingen, denn die Kolleginnen schenkten ihm keine mitleidigen Blicke.

Nach dem Rundgang beendete Alex seinen Arbeitstag. Heute wollte er nur noch nach Hause und sich dort seinen Erinnerungen hingeben. Niemanden mehr hören und sehen. Er nahm sich auf dem Heimweg beim Italiener eine Pizza mit und ein Sixpack Bier befand sich noch in seinem Kühlschrank. Hoffentlich gab das Fernsehprogramm etwas Ablenkung, sonst würde er in seiner Melancholie versinken. An Schlaf brauchte er gar nicht erst denken. Entweder wälzte sich Alex schlaflos umher oder er träumte. Beides keine gute Option, um morgen ausgeruht in der Schule zu erscheinen.

Nachdem er sich ein Bier gegönnt hatte und die Pizza verschlungen war, setzte Alex sich an seinen Schreibtisch. Vielleicht lenkte ihn die Arbeit ein wenig ab. Die Unterrichtsvorbereitungen nahmen den ganzen Nachmittag in Anspruch. Immer wieder musste er sich zwingen, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Als die Sonne vor dem Fenster verschwand, hatte er den Unterricht für die nächsten Tage durchgeplant. Zufrieden packte Alexander seine Unterlagen zusammen und verstaute sie. Das Programm am Computer schloss er. Sein Blick blieb auf dem Hintergrundbild des Bildschirms hängen. Eines der wenigen Fotos, die ihn mit der jungen Frau glücklich in die Kamera lächelnd, zeigte. Verliebt strahlten ihn die blauen Augen an, ein Lächeln zierte ihre vollen roten Lippen, während sie mit einer Hand eine zerzauste Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht strich. Ihre Wangen waren ebenfalls leicht gerötet. Alex liebte dieses Bild. Es entstand an einem der letzten gemeinsamen Tage. Sie hatten gerade ein wenig ausgelassen gerangelt und völlig atemlos lagen sie auf der Couch, als sie sein Handy griff und dieses Selfi schoss. Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine Lippen und vorsichtig strich er mit dem Zeigefinger über den Bildschirm, fuhr ihre Konturen nach. Wie viel würde er dafür geben, wieder die Wärme der Haut fühlen zu können. Würde er je dieses Lächeln wieder auf ihrem Gesicht sehen? Oder sah es jetzt dieser andere Mann? Ein Stich in seinem Inneren riss ihn aus der Versunkenheit. Es war zu spät für sie beide. Ihr Kapitel war abgeschlossen und vorbei. Nichts brachte die verlorene Zeit zurück. Entschlossen fuhr er den PC runter. Ihm blieben nur die Erinnerungen und ein paar wenige Fotos. Eine trostlose Nacht lag vor ihm. Bevor Alex ins Bett ging, duschte er und schlüpfte anschließend in seine Schlafshort. Für mehr Kleidung war es zu warm. Selbst das offene Fenster sorgte nicht für Abkühlung. Grübelnd lag er unter seinem Laken und beobachtete die Lichter der vorbeifahrenden Autos. Irgendwann übermannte ihn die Müdigkeit und er schlief erschöpft ein.

5.

Jeremy machte sich Sorgen. Seit zwei Wochen war Brook anders. Immer mal wieder glitt ihr Blick bei Gesprächen ins Leere. So als würde sie gar nicht anwesend sein, sondern in einer anderen Szene sein. Sie war nicht so ausgeglichen und in sich ruhend wie sonst. Eher nachdenklich und traurig kam sie rüber. Das Strahlen in ihren Augen war verschwunden. Irgend etwas beschäftigte seine Freundin und es schien nichts Belangloses zu sein. Brooklyns Verhalten erinnerte ihn an die Zeit, als sich ihre Freundschaft erst langsam entwickelte. Sie kämpfte mit sich und ihren Sorgen. Was hatte Brook nur so aus der Bahn geworfen? Mit dem Job hatte es nichts zu tun, das wusste Jerry. Dass dort alles normal lief, entnahm er ihren Erzählungen. Konnte ein Mann dahinter stecken? Eigentlich erzählte Brook ihm das auch, aber nun war er sich unsicher. Louis gegenüber verhielt sie sich halbwegs normal. Zumindest versuchte sie es, aber der Junge schien zu merken, dass seine Mum teilweise gedanklich abwesend war.

Heute durfte der Kleine nach der Schule allein zu ihm in den Laden kommen. Brooklyn hatte einen auswärtigen Termin und wusste nicht, wann sie wieder zurück war. Also übernahm Jerry die Betreuung. Im Shop war nicht viel los und Jeremy sortierte gerade die Sportshirts im Regal, als Louis eintrudelte.

»Hey, Großer! Na wie war die Schule?«, begrüßte er den Jungen, ohne hinüberzuschauen. Als nicht, wie erwartet, der große Redeschwall des Sechsjährigen einsetzte, drehte sich Jerry verwundert um.

»Hey, Jemmy!« Der Junge ging brummend nach hinten, um wahrscheinlich seine Tasche im Aufenthaltsraum abzustellen. Jeremy ließ den Stapel liegen und folgte Louis. Hier lag etwas im Argen und er wollte herausfinden, was es war. Wie erwartet fand er den Jungen im Hinterzimmer. Die Mappe lag auf einem Stuhl und Louis saß auf einem anderen. Die Arme lagen verschränkt auf dem Tisch und er stützte sein Kinn auf diese. Sein Blick ging ins Leere.

Jerry lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete den Kleinen.

»Was ist los, Großer?«, fragte er leise in den Raum. Ohne seine Haltung zu verändern, zuckte Louis nur schweigend mit den Schultern. Jeremy trat in den Raum und hockte sich neben den Stuhl des Jungen. Langsam drehte Louis den Kopf zu ihm, sodass seine Wange auf den Armen lag und blinzelte leicht. In seinen blauen Kulleraugen sammelte sich Feuchtigkeit. Jerry hob die Hand und fuhr ihm beruhigend durch das verwuschelte Haar.

»Na komm! Erzähl mir, was los ist«, forderte er leise. Louis schniefte kurz und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum.

»Jemmy?«

»Ja?«

Jeremy wartete, während ihn Louis, in Gedanken vertieft, musterte. Ihm lag anscheinend etwas ganz wichtiges auf der Seele, jedoch schien er nicht die richtigen Worte zu finden. Was war nur in der Schule passiert? Bisher lief es doch super. Der Junge lernte fleißig, hatte viel Spaß und neue Freunde gefunden. Vor der Lehrerin und der Betreuerin kamen auch keine Klagen.

»Bist du mein Daddy?« Jeremy zuckte zusammen. Mit dieser Frage hatte er jetzt nicht gerechnet. Zwar wussten er und auch Brook, dass diese Frage irgendwann kommen musste, aber er dachte, sie konnten ihm das zusammen erklären. Leise seufzte der junge Mann. Da musste er jetzt durch. Aufschieben und Rausreden kam nicht in Frage für ihn. Wie sollte er das jetzt, verständlich für den Jungen, erklären?

Langsam erhob sich Jeremy. Mittlerweile taten ihm die Knie vom Hocken schon weh. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich, um mit Louis auf Augenhöhe zu sein.

Der Junge bewegt sich noch immer nicht. Nur seine Augen blickten ihn neugierig und erwartungsvoll an.

»Du weißt, dass es mehrere Arten von Daddys gibt, oder?«, fing Jerry vorsichtig an. Louis nickte.

»Das hat Mummy mir schon mal gesagt. Es gibt die Daddys, die von Anfang an da sind und die, die erst später kommen«, erklärte Louis ernst.

»Weißt du auch, was da der Unterschied ist?«, hakte Jeremy nach. Louis schüttelte den Kopf und die Frage stand in seinen Augen. Unhörbar seufzte Jerry und atmete tief durch. »Okay, dann versuch ich, das mal zu erklären. Also die Mummy hat einen Mann ganz doll lieb und manchmal entsteht aus dieser Liebe ein Baby. Wenn alles gut geht, dann bleiben die beiden zusammen. Das ist der leibliche Daddy, der von Anfang an ein Daddy ist.« Jeremy machte eine kleine Pause und musterte den Jungen, der die Augen zusammenkniff und nachdachte. Langsam nickte er, ohne den Kopf von den Armen zu heben. Also weiter! Jeremy holte tief Luft. »Gut. Manche Eltern trennen sich aber auch, weil sie sich nicht mehr lieben. Wenn die Mummy dann einen neuen Partner findet, dann übernimmt der den Part des Daddys und den nennt man dann Stiefdad. Meistens haben diese Kinder dann zwei Daddys, weil der leibliche Vater immer noch den Kontakt zu dem Kind behält. Das ist aber nicht immer so«, versuchte Jerry zu erläutern. »Okay. Aber dich kenn ich schon immer und ich weiß, dass du schon vor meiner Geburt bei meiner Mummy warst. Also bist du mein leiblicher Daddy«, schlussfolgerte Louis kurzerhand. »Warum sag ich dann nicht Daddy zu dir?«, grübelte der Junge und die Feuchtigkeit kehrte in seine Augen zurück. Jeremy seufzte und strich dem Kleinen mit dem Daumen über die Wange, um eine Träne wegzuwischen.

»Das ist nicht so einfach. Deine Mummy ist vor deiner Geburt mit Granny hier hergezogen. Ich hab sie kennengelernt, da warst du schon in ihrem Bauch. Das wusste aber noch niemand, noch nicht einmal deine Mum. Wir wurden Freunde, so wie du und Pascal, weißt du?«

»Also bist du gar nicht mein leiblicher Daddy?«, hakte Louis noch einmal unsicher nach. Jeremy schüttelte den Kopf.

»Dann aber doch mein Stiefdad!«, folgerte der Junge und grinste ihn schon fast stolz an. »Also kann ich doch Daddy zu dir sagen!«, tönte Louis triumphierend und hüpfte von seinem Stuhl hoch. Rasch kletterte der Kleine auf seinen Schoß. Vorsichtig schlang Jerry die Arme um den Jungen, damit dieser nicht herunterfiel. Die kleinen Arme schlangen sich um seinen Hals und das Gesicht schmiegte sich an seine Schulter.

»Ich hab dich lieb, Jemmy.« Jeremy schluckte. Dieser kleine Kerl hatte sein Herz fest im Griff und er wäre stolz, wenn Louis ihn Daddy nennen würde. Bisher war keiner von ihnen auf diese Idee gekommen. Er war mit »Jemmy« ganz zufrieden.

»Ich dich auch, Zwerg.« Jeremy drückte den Jungen an sich. Er hatte die Vaterrolle freiwillig übernommen und er freute sich, dass Louis ihn als solchen ansah. Brooklyn sprach nie von dem leiblichen Vater des Jungen. Jeremy wusste nur, dass dieser sie schwer enttäuscht hatte und kein Kontakt zu ihm bestand. Am Anfang hatte er sie gedrängt, ihn ausfindig zu machen und ihm von der bevorstehenden Vaterschaft zu erzählen. Später hatte Jerry jedoch damit aufgehört. Brook verzweifelte bei der Suche und mit jedem misslungenen Versuch, Kontakt aufzunehmen, fiel sie tiefer in ein schwarzes Loch. Das wollte er sich und ihr nicht weiter antun und so konzentrierten sich seine Bemühungen dahingehend, ihr die Chancen für ihre Zukunft darzulegen. Nachdem sich Brooklyn aufgerafft hatte, nahmen sie die Zukunft gemeinsam mit ihrer Mutter in Angriff.

Die Ladentür klappte. Vorsichtig löste Jeremy den Jungen von sich und setzte ihn auf seinen Stuhl, bevor er sich erhob. Rasch reichte der dem Kleinen eine Packung Papiertaschentücher. Louis zupfte sich eines heraus und wischte sich über die Wange, bevor er kräftig hineinschnäuzte.

»Da ist Kundschaft. Magst du in deine Spielecke gehen?« Louis schüttelte den Kopf und angelte nach seiner Tasche, um den Malblock und die Stiftmappe herauszuholen. Zufrieden ging Jerry in den Verkaufsraum.

Zwei Kunden sahen sich bereits eifrig um. Es dauerte nicht lange, bis sie fündig wurden. Jeremy kassierte nacheinander und überreichte die Ware. Die beiden verließen zufrieden das Geschäft. Gerade als Jerry wieder nach hinten verschwinden wollte, erklang erneut das leise Läuten der Tür, die einen weiteren Kunden ankündigte. Seufzend machte er kehrt. Mit einem leichten Lächeln wandte er sich dem Mann zu, der mit dem Rücken zu ihm stand und die Auslage interessiert betrachtete. Die Arme hielt dieser im Rücken und in den Händen hielt er einen Ordner.

Als der junge Mann seine Schritte hörte, drehte er sich zu ihm um und Jerry erkannte ihn. Freudig überrascht trat er näher und streckte ihm die Hand zur Begrüßung entgegen.

»Hallo, Logan.« Dieser ergriff seine Hand und drückte sie kurz. Jeremy spürte ein leichtes Kribbeln bei dieser Berührung. Ein Blick in die durchdringenden Augen und ihm lief es heiß den Rücken hinunter. Einen kurzen Moment lang geriet sein Herz ins Stolpern, bevor er sich zwang, geschäftsmäßig zu bleiben. Das leichte Lächeln verschwand von seinen Lippen. Wartend sah er den jungen Mann an.

»Ich wollte dir die fehlenden Unterlagen bringen. Es ist zwar ein bisschen spät, aber ich hab sie erst jetzt vollständig zusammen bekommen. Tut mir leid«, erklärte Logan bedauernd und streckte ihm die Mappe entgegen. Jeremy nahm sie ihm ab. In den letzten Tagen kroch in Jerry schon das beklemmende Gefühl hoch, dass Logan den Job doch nicht antreten würde und er sich erneut auf die Suche machen musste. Vor Erleichterung entwich ihm ein Schwall Atemluft. Logans Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen.

»Sorry. Ich musste die ganzen Unterlagen erst einmal anfordern. Das hat eine Weile gedauert. Ich dachte schon, die kommen gar nicht mehr rechtzeitig an«, erklärte der junge Mann nun doch verlegen. Er schien seine Gedanken zu lesen. Jerry nickte verstehend.

»Dann steht ja dem Arbeitsbeginn nichts mehr im Weg. Die Anmeldung bei den Behörden kann ich am Montag machen. Das ist also kein Problem.«

»Okay. Ich hatte schon Angst, dass der Job für mich gelaufen ist.« Logan seufzte hörbar erleichtert. Ein Schatten, der die faszinierenden Augen verdunkelte und eine gewisse Traurigkeit, die sich in seinen Gesichtszügen zeigte, verschwand langsam. Vorsichtig breitete Freude sich darin aus. Seine Erleichterung war deutlich spürbar. Jeremy musterte ihn neugierig. Was war mit Logan los? Dies war doch nicht der einzige Job in dieser Stadt, für den er geeignet war. Warum wollte er ausgerechnet bei ihm arbeiten? Komisch fand Jerry das schon. Zumal er auch nicht gerade überdurchschnittlich viel zahlen konnte, weswegen es sicher an weiteren Bewerbern mangelte.

»An meiner Situation hat sich nichts geändert, sodass ich immer noch Hilfe hier brauche. Ich erwarte dich also am Montag Punkt acht Uhr hier im Laden!«, erklärte Jeremy. Der junge Mann vor ihm strahlte und Jerry beobachtete die Veränderung in dessen Gesicht. Richtig erlöst und freudig lächelte Logan. Selbst seine bis dahin etwas unsichere Haltung straffte sich. Kerzengerade und mit stolzgeschwellter Brust stand er vor ihm. In Jerrys Magen rumorte es. Hunger konnte es nicht sein, da erst vor einer Stunde gegessen hatte. Dieser junge Mann weckte Gefühle in ihm, die er noch nicht einordnen konnte und wollte. Schon viel zu lange war es her, dass ein Mann diese Gefühle in ihm hervorgerufen hatte. Dabei war Jeremy noch nicht einmal sicher, ob dieser interessante Mann vor ihm auf seiner Seite des Ufers fischte. Noch ließ sich dieses Thema nicht unauffällig ansprechen. Wie konnte er das nur herausfinden, ohne sich in ein Fettnäpfchen zu setzen? Egal. Es war nicht eilig und er würde sich Zeit lassen. Vielleicht war das Herzklopfen auch nur ein Strohfeuer. In der nächsten Zeit würde er Logan besser kennenlernen und dieser stellte sich als eine absolute Niete heraus oder hetero.

»Jemmy!?«, rief Louis aus dem Hinterzimmer und riss ihn aus den Gedanken. Logan zuckte unter dem unerwarteten Ruf zusammen. Auch er schien in seine Gedanken versunken gewesen zu sein. Wie lange standen sie hier schon schweigend? Ein paar Sekunden oder ein paar Minuten? Unwichtig.

»Ja, Moment! Ich komme gleich zu dir«, rief er nach hinten und lächelte Logan entschuldigend zu. Dieser grinste nur.

»Schon okay. Ich werde dann mal los. Wir sehen uns am Montag«, verabschiedete sich Logan und wandte sich zur Tür.

»Okay. Ich wünsch dir ein schönes Wochenende.» Jerry wartete bis Logan den Laden verließ und die Tür sich hinter ihm schloss. Durch die Glasscheibe folgte sein Blick dem schlanken Mann, der sich rasch aus seinem Blickfeld entfernte. Einen Moment lang starrte Jerry ins Leere. Erneut rief Louis nach ihm und er ging nach hinten. Die Mappe legte er auf seinen Schreibtisch.

»Was ist denn los, Kleiner?«

»Meinst du, Mummy gefällt das Bild?« Nachdenklich kaute Louis auf seiner Unterlippe und schaute auf das Blatt vor sich. Jerry trat dichter an den Tisch, um sich das Gemälde des Jungen anzuschauen. Er schluckte. Dieser Zwerg schaffte es immer wieder, ihn zu überraschen. Sonne, das Meer, ein blauer Himmel und ein Strand. Das Farbenspiel beherrschte dieser kleine Mann schon ganz gut. Die gelb-orange Sonne am azurblauen Himmel. Das Meer in verschiedenen Blautönen mit weißen Schaumkronen vor einem hellgelben Strand mit braunen Schattierungen. Das Bild strahlte Ruhe und Freude aus. Eine Familie befand sich am Strand. Jemand mit langen braunen Haaren lag auf einer bunten Decke, während ein Junge und ein blonder Mann mit einem bunten Ball daneben spielten. Damit auch keine Verwechslungen entstehen konnten, standen über den jeweiligen Personen Mummy, Daddy und Louis. Jeremy konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ganz sicher«, versicherte Jerry dem Jungen, der unsicher zu ihm hinauf sah und strubbelte ihm durch die Haare. Erleichtert atmete der Junge auf und räumte seine Utensilien zusammen. Ein Blick zur Uhr. Es wurde Zeit für die Abrechnung. In einer Viertelstunde war Feierabend. Wo Brook nur blieb? Louis saß bei der Abrechnung neben ihm und stapelte die Münzen immer zu zehnt, so dass Jerry dann nur nachzählen musste. Die Münzen kamen als Wechselgeld zurück in die Kasse und wurden mit Scheinen aufgefüllt. Jeremy füllte nach den Zählen noch den Kassenbericht aus und heftete ihn in den dafür vorgesehenen Ordner. Anschließend packte er den Schub mit dem eingezählten Wechselgeld in den Tresor und das Bargeld in eine Ledertasche. Louis packte seine Utensilien in seine Mappe. So! Feierabend! Jeremy schnappte sich den Ladenschlüssel und eilte durch den Laden. Rasch verschloss er die Tür und schloss das automatische Sicherungsgitter. Danach dämmte er das Licht und schloss hinter sich die Tür zum Personalbereich. Louis erwartete ihn schon an der Hintertür. Noch einmal schaute er kurz in allen anderen Räumen nach dem Rechten und löschte die Lichter. Als letztes griff er in seinem Büro nach der Ledertasche, bevor er auch dort das Licht ausmachte. Louis stand nun bereits in der geöffneten Tür und Jeremy trat zu ihm. Sorgfältig verschloss er die Stahltür und reichte Louis die Hand. Vertraut fühlte sich die kleine Hand in seiner an. Er lächelte auf den Jungen herab und zog ihn dann sanft vorwärts. Der Automat für die Bareinzahlung befand sich eine Etage höher. Zehn Minuten später war auch das erledigt. Jeremy fuhr mit Louis nach Hause. Wer weiß, wann Brook kam. So konnte er noch etwas kochen, während sich Louis einen Trickfilm ansah und im Notfall konnte der Junge bei ihm in Gästezimmer schlafen. Das entsprach sowieso schon mehr einem Kinderzimmer, als dem Gästezimmer. Im Regal lagen Spielsachen, Kuscheltiere warteten auf dem Bett und eine gewisse Auswahl an Louis Kleidung fand sich im Schrank. Oft genug nahm Louis dieses Zimmer in Beschlag und übernachtete bei ihm.

Leise schloss Brooklyn die Wohnungstür auf und betrat den kleinen Flur. Aus dem Wohnzimmer schimmerte Licht. Jeremy schlief als noch nicht. Erleichtert schlüpfte sie aus ihren Schuhen und stellte ihre Tasche neben das keine Schränkchen. Müde strich sie sich eine lose Haarsträhne zurück und ging zum Wohnzimmer hinüber. Vorsichtig schob Brook die Tür ein wenig weiter auf. Um hineinzuschauen. Da sie Jerrys Kopf hinter der Couchlehne nicht sah, nahm sie an, dass er darauf lag und fern sah. Ein erschöpftes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Brooklyn schlich um die große Couch und ließ sich auf der Ecke nieder. Jerry lag nicht nur auf der Couch, sondern schlief tief und fest.

Brook lehnte sich zurück und schaute zum Fernseher. Der Abspann des Films lief gerade. Sie war so müde, dass ihr die Augen schon zufielen. Mühsam raffte sie sich auf. Sie würde sich zu ihrem Sohn legen. In den letzten Tagen fehlte ihr die Zeit, sich ausgiebig um ihn zu kümmern. Leise seufzte sie.

»Hey.« Erschrocken zuckte Brooklyn zusammen, als die leise Stimme erklang. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um. Jeremy saß mit verwurschtelten Haaren auf der Couch. Ein verschlafenes Lächeln umspielte seine Lippen. Die Unterarme lagen übereinander auf der Lehne. Er sah so entspannt aus. Brook erwiderte automatisch das Lächeln und schlenderte zurück zur Couch. Sie setzte sich dicht neben ihn. Jerry legte den Arm um ihre Schulter.

»So schlimm?«, fragte er leise. Brooklyn schloss zufrieden die Augen und nickte nur.

»Hm ... Die Sitzung dauerte ewig und dann noch der Stau«, erklärte sie leise und stöhnte genervt. »Aber die Präsentation lief hervorragend. Der Auftrag ist uns so gut wie sicher!«, grinste Brook ihn nun begeistert an.

»Wie lief es mit dem Zwerg?« Jerry blickte sie leicht tangierend an, ehe er zu einer Antwort ansetzte. Brooklyn wunderte sich. Normal kam sein »Super!« recht schnell. Warum zögerte er jetzt? Brook schluckte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Innern aus. Gefasst blickte sie Jeremy in die Augen. Er würde ihr doch nichts verschweigen!

»Na los! Was war los?«, fragte Brooklyn unruhig nach. Zu lange dauerte ihr sein Zögern. Jeremy seufzte leise und strich sich unruhig durch die blonde Mähne, während er nach Worten suchte.

»Es ist nichts Schlimmes passiert! Wir sollten ihm nur langsam unser Verhältnis zueinander und zu ihm erklären.« Jerry musterte sie abwartend.

»Wie meinst du das? Er weiß doch, dass du mein bester Freund bist.« Brook war ratlos. Worauf wollte Jeremy hinaus?

»Er hat mich heute gefragt, warum er nicht Daddy zu mir sagt und ob ich sein Vater bin«, fasste Jerry kurz zusammen.

Brooklyn schluckte. Ja, es war klar, dass sie dem Jungen ihre Situation einmal erklären mussten, aber wie kam Louis gerade jetzt darauf? Hatte Jemand eine Ahnung und ihn auf seinen Vater angesprochen? Vielleicht sogar Alexander selbst? Eigentlich musste dieser nur in die Schulakte schauen und eins plus eins zusammenzählen. Brooklyn würde ihn jedoch nicht mit der Nase darauf stoßen. Sieben Jahre hatte ihn nicht interessiert, was aus ihr geworden war. Ausgerechnet jetzt musste Alex in ihrem Umfeld auftauchen. Ihre Enttäuschung wich der Wut, in die sie sich immer mehr hineinsteigerte. Sie blies die Backen auf und ließ die Luft wieder lautstark entweichen. Sie spürte den Blick ihres Freundes auf sich. Nun würde Brooklyn wohl ihre Geschichte erzählen müssen. Nicht, dass Alexander mal aus Versehen in ein Wespennest stach oder Jerry ahnungslos in eine Falle tappte. Seine Freundschaft war ihr wichtiger, als alles andere und die wollte sie um keinen Preis verlieren. Schon damals hatte er sie gedrängt, nach Alex zu suchen und ihn über ihren Zustand zu informieren. Hatte sie zu schnell aufgegeben? Ein Schatten breitete sich auf ihrem Herzen aus. Wie hätte ihr Leben ausgesehen, wenn ihre Pläne funktioniert hätten? Wären sie heute noch glücklich zusammen? Würden sie ihren Sonnenschein zufrieden großziehen und sich die Verantwortung teilen? Oder wäre alles mit großem Brimborium in die Brüche gegangen? Wahrscheinlich würde sie als unglückliche Hausfrau und Mutter ihr Dasein fristen, würde sich nur um Haushalt und Kind kümmern, während Alex sich seiner Karriere und seiner Schüler widmete. Ein Bild, das ihr einen Schauer nach dem anderen über den Körper jagte. Vielleicht ... vielleicht. Eine Frage, die sie so nie würden beantworten können. Leise seufzte Brook.

»Ich werde mit Louis reden, aber erst muss ich dir etwas erzählen.« Brooklyn schaute über ihre Schulter nach oben. Ja, Jerrys Aufmerksamkeit lag weiterhin auf ihr. Zart drückte er sie an sich und gab ihr so den Mut, weiterzureden.

»Er sieht seinem Vater ähnlich, aber an den Augen erkennt man Vater und Sohn gleich. Dieses Blau ist unverkennbar. Wenn sie lächeln, strahlt es so intensiv wie das Meer. Das war das Erste, was mir an ihm aufgefallen ist und diese Lebensfreude. Man spürte, dass ihm sein Job Spaß machte, auch wenn es nicht immer eicht mit uns war. Wir hatten eine Chaosklasse, aber er hatte uns im Handumdrehen im Griff. Für die Jungs war er ein Vorbild und die Mädchen schwärmten für ihn. Doch er hielt die Grenzen aufrecht. Wenn es sein musste, war er streng, ansonsten hörte er zu, vernahm die Sorgen und Nöte von uns und half uns, wenn wir nicht weiterwussten.« Brook verlor sich in ihrer Erinnerung. Sie spürte an ihrer Wange, wie Jeremy tief durchatmete. Seine Hand, die ihr die ganze Zeit sanft über die Arme strich, blieb bewegungslos liegen. Jerry hatte also eins und eins zusammengezählt. Wieder kam ein Seufzen über ihre Lippen.

»Ja, du liegst richtig. Alex war Lehrer, unser Klassenlehrer.« Brook traute sich nicht, Jerry anzusehen. Zu groß war ihre Angst, Ekel und Ablehnung in seinen Augen zu sehen.

»Ach du Schei...«, murmelte er.

Brooklyn nickte an seiner Brust. Noch immer hatte er sie nicht weggestoßen. Hoffnung machte sich bei ihr breit.

»Wir haben beide dagegen angekämpft! Wirklich! Aber wir konnten nicht widerstehen. Zu tief waren die Gefühle und echt ... zumindest dachte ich das.« Nachdenklich nagte Brook auf ihrer Unterlippe. Noch immer konnte sie nicht glauben, wie naiv sie damals war und wie leichtgläubig sie sich ins Abenteuer gestürzt hatte. Sie war eigentlich nie der Typ, der alle Gebote missachtete. Im Gegenteil. Normalerweise wägte sie ihre Entscheidungen sorgfältig ab und handelte nie unüberlegt.

»Ihr hattet also eine Beziehung? Damit hat er sich aber strafbar gemacht. War euch das egal?«

Brooklyn schüttelte den Kopf.

»Es war uns natürlich klar, was passieren konnte, wenn man uns erwischte. Deswegen hat Alex ja ein Versetzungsgesuch beim Schulamt gestellt und ihm wurde ja auch eine neue Stelle zugewiesen. Wir hatten nur damit gerechnet, dass er im näheren Umkreis oder in der Stadt eine Stelle bekommt. Irgendwie muss da was schiefgelaufen sein. Dummerweise wurde meine Mum auch noch kurzfristig hierher versetzt. Ich wusste nicht, wo Alex war und wie ich ihm Bescheid geben konnte. Es wurde immer komplizierter.«

»Bei euch lief ja eine Menge schief! Aber er hätte dich ja auch finden können, wenn er gewollt hätte. Deine Schule wusste doch sicher, wo sie deine Schulakte hinschicken sollte.«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte es das Schicksal nicht anders.«

»Willst du dich, Louis zuliebe, noch einmal auf die Suche nach ihm machen? Vielleicht finden wir ihn zusammen? Jetzt haben wir mehr Möglichkeiten als damals«, fragte Jerry nun vorsichtig. Brooklyn schluckte und schüttelte den Kopf.

»Nein. Wir brauchen ihn nicht mehr zu suchen!« Mit gerunzelter Stirn schob Jeremy sie ein wenig von sich, sodass er ihr ins Gesicht schauen konnte. Unbehaglich wich sie ihm aus und knetete unruhig ihre Hände.

»Wie meinst du das?«

»Er ist hier! Wahrscheinlich schon seit längerer Zeit«, murmelte Brook. Eine Träne löste sich und widerwillig wischte sie sich diese von der Wange. Nein, sie würde jetzt nicht dem Drang nachgeben! Auch wenn es wehtat.

»Wie? Was? Hast du ihn gesehen oder mit ihm gesprochen?«, fragte Jeremy aufgeregt. Niedergeschlagen schüttelte Brook den Kopf.

»Nein. Ich habe seine Stimme erkannt. Er war in ein Gespräch vertieft und ich hatte keine Zeit. Ich glaube auch nicht, dass er mich gesehen oder erkannt hat«, erklärte sie leise.

»Aber du bist dir sicher, dass er es war?« Wieder konnte sie nur mit dem Kopf schütteln. Sie konnte sich auch getäuscht haben oder die Stimme war seiner nur ähnlich. Im Moment wusste sie gar nichts mehr. Seit Wochen grübelte Brook schon darüber nach. Dabei wäre nur ein kleiner Schritt nötig, um Gewissheit zu erlangen. Doch Brooklyn traute sich nicht. Zu groß war die Angst vor einer Enttäuschung.

»Ach, Süße!«, seufzte Jeremy und zog sie in seine Arme.

»Lass uns schlafen. Morgen reden wir noch einmal und dann werden wir sehen, was wir machen! Na komm! Nicht dass du mir hier noch vor Erschöpfung umkippst.« Jerry erhob sich und zog sie von der Couch hoch.

»Ich kriech zu Louis unter die Decke«, murmelte sie. Die Müdigkeit gewann die Oberhand. Ein Gähnen konnte Brook nicht mehr länger unterdrücken und Jerry schob sie zur Tür des Gästezimmers.

»Schlaf ein wenig!« Nach einem Kuss auf die Stirn ging Jeremy zur nächsten Tür. Leise betrat Brooklyn das Zimmer und orientierte sich im Schein der Flurlampe. Rasch zog sie die Stoffhose aus und schlüpfte vorsichtig unter das Laken. Der kleine warme Körper schien ihre Nähe zu ahnen, denn er kuschelte sich dicht an sie. Zufrieden schloss Brooklyn die Augen. Es dauerte nicht lange und sie war eingeschlafen. Das Schließen der Tür bekam sie gar nicht mehr mit.

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Tag der Veröffentlichung: 17.07.2016

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