Cover

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Der Handywecker erklingt, laut und schrill, holt mich aus meinem Schlaf der Gerechten und befördert mich in den tristen, immer gleich ablaufenden, Alltag.

Montag, der Tag nach dem Wochenende, an dem ich mich eigentlich erholen und frische Kraft tanken soll, rollt zur Zeit immer schneller heran.

Ja, das Wochenende war erholsam. So erholsam es in meiner Familie sein kann und Kraft habe ich auch getankt, zumindest auf der Party am Freitag und bei der kleinen Schau am Samstag im Klub. Ja, ein Laufsteg ist für mich Erholung! Ich liebe diesen Trubel und die Aufmerksamkeit. Es sind meist nur kleine Modenschauen und Fotoshootings, an denen ich teilnehme. Diese finanzieren jedoch meine Klamotten und mein Hobby. Einen Großteil lege ich aber für mein geplantes Studium zurück.

Jedoch geht diese dann am Sonntag im Kreise meiner liebreizenden Familie wieder zum Großteil flöten. Ich mag diese Sonntage nicht besonders. Meine 15jährige Schwester nervt immer, wenn es nicht nach ihren Wünschen läuft und meine beiden Erzeuger geben natürlich nach. Also gibt es ihr Lieblingsessen, am Nachmittag einen Ausflug nach ihren Vorstellungen. Ich falle abends völlig fertig in mein Bett, ziehe mir noch einen Film oder meine Musik, natürlich mit Kopfhören, so laut wie möglich rein. Beim Einschlafen gehe ich noch einmal den Plan für die nächste Woche durch und hoffe, dass meine Planung der Wirklichkeit auch standhält und nicht durch irgendwelche Zwischenfälle über den Haufen geworfen wird.

Nachdem der Wecker nun zum zweiten Mal klingelt, erwacht das Leben auch im unteren Geschoss unseres Hauses. Ich schiebe meine warme Bettdecke etwas zur Seite und strecke das Bein suchend zum Boden. Nach einiger Blindsucherei, mit der ich hoffe, mir meine Schlappen, ohne aufzustehen, zu angeln, muss ich mich doch halb erheben. Ich beuge mich über die Bettkante, um nach dem Vermissten zu schauen. Ha! Da! Hab ihn! Zaghaft schiebe ich meinen Fuß über den Boden in die richtige Richtung und schlüpfe flink hinein, ehe er womöglich wieder Reißaus nimmt.

Gemächlich erhebe ich mich und rutsche auch flink mit dem zweiten Fuß in den bereitliegenden Schlappen. die Sachen für den heutigen Tag suche ich aus meinem Schrank heraus.

Okay ... Unterwäsche, Socken, die enge schwarze Jeans, das rosa T-Shirt und falls es doch kühler wird, die schwarze Lederjacke ... ja das passt. Dazu kommt das schwarz-weiß- karierte Schaltuch.

Zufrieden mit meiner Auswahl verdrücke ich mich ins Bad, ehe meine Schwester auf den selben Gedanken kommt und für mich gerade noch Zeit für eine Katzenwäsche bleibt.

Den Schlüssel herumgedreht. So! Jetzt stört mich keiner mehr! Der Wasserhahn der Dusche ist rasch eingestellt und die Nachtwäsche in den dafür vorgesehenen Korb geworfen. Dann schlüpfe ich unter das angenehm warme Wasser der Dusche.

Sanft rieselt das Nass über meinen noch verschlafenen Körper und mit nach vorn gefallenem Kopf genieße ich dieses mit geschlossenen Augen ein paar Minuten lang. mit Shampoo schäume ich meine zerzausten blonden Haare ein. Ich lege meinen Kopf in den Nacken, streiche mit den Handflächen den Schaum aus und widme mich meinem Körper. Das Duschbad verteilt einen angenehmen Duft auf meiner zarten, weichen Haut und nachdem ich damit fertig bin, drehe ich das Wasser ab. Ich greife nach meinem Duschtuch und trockne mich sorgfältig ab. Ich trete aus der Kabine auf den weichen Vorleger und rubbel noch die Füße schnell trocken, ehe ich in die Klamotten schlüpfe.

An der Tür ertönt schon das ungeduldige Klopfen meiner nervigen Schwester, die nun auch unbedingt und sofort ins Bad muss... grrr. Nicht mal am Morgen hat man seine Ruhe!

Also bürste ich schnell die halblangen Haare und werfe den Föhn an. Eine Weile wird sich meine Schwester noch gedulden müssen. Erst wenn ich mit meinem Aussehen zufrieden bin, werde ich diesen Raum verlassen. Während der Föhn meine Haare trocknet, putze ich mir einhändig die Zähne. Alles eine Frage der Übung. Das Glätteisen bringt meinen schulterlangen Bob in Form. Make-up, Eyeliner, Wimperntusche und ein Hauch roséfarbener Lippgloss gekonnt aufgetragen, vervollständigen mein Gesamtbild. Ich schaue in den Spiegel und bin zufrieden.

„Wurde ja Zeit!“, tönt es mir grummelig entgegen, als ich die Tür öffne und das Bad freigebe.

Noch so eine Frohnatur am Morgen.

Gemächlich schlendere ich mein Zimmer und überprüfe meine Mappe noch einmal auf ihre Vollständigkeit. Ich steige dann die Treppe hinunter, um mir noch einen schönen, starken, heißen Kaffee zu gönnen, bevor ich mich in die Öffentlichkeit stürze.

Ein Blick zur Wanduhr und die halbe Panik bricht aus. Kaffee hinunterkippen, schnell in meine heißgeliebten pinkfarbenen Chucks steigen und die Tasche greifen. Kurzer Check: Schlüssel, Handy, Kopfhörer... alles da und ab geht die Post!

 

Im Laufschritt erreiche ich meinen Bus noch. Völlig außer Atem zeige ich dem netten Mann hinter dem Steuer meine Monatskarte, während mein Blick schon auf der Suche nach einem freien Platz umherschweift.

Puh ... Da hinten ist tatsächlich noch ein Plätzchen für mich übrig. Ich zwänge mich, unterm Anfahren, bis dahin und lasse mich nieder. Flink die Kopfhörer aufsetzen und meine Musik erklingt.

Ich bin auf dem Weg zum täglichen Wahnsinn.

Langsam gleitet mein Blick durch die Reihen und ich betrachte die mitfahrenden Leute erst einmal genauer. Okay ... die Frau in den Dreißigern fährt jeden Tag mit und auch der glatzköpfige Mittvierziger kommt mir bekannt vor. Meistens sind es die gleichen Leute, die mit mir in diesem Bus sitzen.

Schon huscht mein Blick weiter, bis er auf die blaugrauen Augen drei Reihen vor mir trifft. Sie sind eine Mischung aus meerblau und schiefergrau, je nachdem wie das Licht fällt. Jedes Mal lässt mich ihr Glitzern erschauern und automatisch wende ich mich verlegen, mit einer leichten Röte im Gesicht dem Fenster neben mir zu. Irgendwie kann ich meinen Blick aber nicht bei der Aussicht behalten und unter gesenkten Wimpern schiele ich immer wieder zu ihnen. Manchmal erkenne ich auch ein kleines, belustigtes Lächeln auf den blassroten, schön geschwungenen Lippen und dann weiß ich, dass mein Lunschen nicht unbemerkt geblieben ist.

Ich kenne ihn nicht. Vielleicht ist er neu in der Stadt oder so, aber er fasziniert mich. Er sitzt immer schon im Bus und steigt drei Stationen vor mir wieder aus. Das Alter schätze ich mal so auf 21 und er muss um die 1,80m sein. Die dunklen Haare sind modisch kurz geschnitten und seine Muskulatur ist zwar zu sehen, aber nicht übermäßig ausgeprägt. Fast perfekt für mich.

Das geht nun schon seit in paar Wochen so. Auch heute ist es unser Spiel. Meist treffen sich unsere Blicke noch einmal, wenn er ausgestiegen ist und sich noch einmal umdreht. Ganz als würde er genau wissen, dass ich nur darauf warte. In diesem Moment lächelt er, bevor er in der Menschenmenge verschwindet.

Angesprochen hat er mich noch nicht. Ich weiß nicht, ob er sich für mich interessiert oder ob es ihm gleichgültig ist. Ich traue mich aber auch nicht. Zu groß ist die Angst vor einer Blamage, wenn ich mehr hineininterpretiere, als wirklich da ist. Also beobachte ich ihn weiterhin versteckt hinter meinem Pony, der glücklicherweise meine dunklen Augen fast vollständig unter sich begräbt und träume offenen Auges vor mich hin.

Und wieder hält der Bus. Leute steigen eilig aus und wieder ein. Noch hat er zwei Stationen vor sich und ich drei mehr, bevor sich unsere Wege für heute trennen.

Ich spüre seine Blicke auf mir und traue mich nicht, aufzublicken. Ich weiß genau, dass ich in diesen durchdringenden Augen versinken werde und meine sonst recht gesunde Gesichtsfarbe vor Verlegenheit in ein saftiges Rot wechselt.

Es ist soweit. Der Bus biegt zu seiner Haltestelle ein, hält und die Türen öffnen sich. Er steht schon im Gang und wartet darauf, dass die vor ihm Stehenden sich in Bewegung setzen. Einen kurzen Blick wirft er noch zu mir, ehe er ebenfalls zum Ausgang strebt.

Draußen angekommen, dreht er sich auch heute wieder in Richtung Bus und sucht meinen Blick. Als er ihn einfängt, gleitet ein sanftes Lächeln über sein Gesicht. Seine Augen strahlen und auch ich merke, wie sich die Freude darüber in meinem Gesicht abzeichnet, ein Lächeln meine vollen Lippen ziert.

Zufrieden, eine Reaktion von mir erhalten zu haben, hebt er zum Gruß kurz die Hand und setzt sich gleichsam mit dem Bus in Bewegung.

Seufzend wende ich mich wieder dem Ausblick zu. Ich nehme nicht viel um mich herum wahr, sondern verliere mich in meiner Träumerei. Die Aussicht kenne ich ja auch zur Genüge. Immerhin fahre ich diese Strecke seit zwölf Jahren zwei Mal täglich und fünf Mal wöchentlich. Das wird auch noch das folgende Jahr so bleiben. Dann habe ich endlich das Abitur in der Tasche. In den letzten Jahren haben nur die Mitfahrer mehrmals gewechselt und manchmal taucht eine Baustelle oder eine Umleitung auf.

Ups ... ich muss ja jetzt aussteigen. Die beiden Haltestellen waren fast unbemerkt vorübergezogen und der Bus nähert sich nun endlich der meinen. Ein Blick auf mein Handy, wobei ich auch gleich die Musik abstelle, sagt mir, dass wir nur wenige Minuten Verspätung haben. Ich habe noch genügend Zeit für meinen kurzen Fußweg, um nicht zu spät zu kommen. Das bedeutet in der Regel kein Lob, sondern eher unliebsame Folgen, die ich mir gern erspare.

Also packe ich meinen Kram und schlängle mich durch den Gang zur Tür. Die letzte Stufe überspringe ich einfach, blicke noch einmal zum Fahrer und lächle ihm kurz zu. Das mache ich jeden Tag und er dankt es mir mit einem freundlichen Nicken. Will ja schließlich höflich sein. Er bringt mich dafür auch jeden Morgen heil zu meinem Ziel.

Ich rücke meine Tasche noch einmal zurecht und mache mich frohen Mutes auf den Weg. Meine Freunde werden sicher schon warten. Sie fahren mit einer anderen Linie, die früher da ist.

Auch das ist jeden Morgen so und ich bin zufrieden damit, da auf meine beiden Besten Verlass ist.

 

Da stehen meine Beiden ja einträchtig miteinander plaudernd. Noch sind sie so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie mich nicht bemerken. Bestimmt werde ich, sobald ich dicht genug dran bin, mit Fragen bombardiert oder um meine Meinung gebeten. Worum es auch immer geht, denn noch verstehe ich ja nichts.

Je näher ich komme, um so mehr Wortfetzen dringen an mein Ohr. Oh ... die Zwei sind heftig am Diskutieren. Noch immer habe ich keine Ahnung, worüber. Naja, werde ich ja gleich erfahren. Prompt entdeckt mich Jenny und winkt mir aufgeregt zu.

„Morgen, Vivy! Hast du gestern den Film gesehen? Mann, war der geil!“, tönt es mir entgegen. Missmutig verziehe ich angesichts dieses Kosenamens das Gesicht. Ich werde ihn ihr aber nicht mehr abgewöhnen können, obwohl ich Jenny schon mehrfach darauf hingewiesen habe, dass ich kein Hund bin. Es reicht schon, dass ich zu Hause so gerufen werde. Das ist peinlich genug. Leider nennt sie mich seit dem Sandkasten so. Film? Ich konnte keinen schauen, da ja mein Schwesterchen unbedingt die Musiksendung mit irgendeiner Boyband sehen wollte. Also habe ich mich in mein Reich begeben und mir die Ohren mit meiner Musik zugedröhnt.

Kurz gebe ich Dave Highfive und ziehe Jenny in eine freundschaftliche Umarmung. Sie ist nur unwesentlich kleiner als ich, so dass ich mich kaum hinunterbeugen muss.

„Morgen!“, nuschele ich in ihre schulterlangen braunen Haare, die nach Pfirsich duften und tausche einen fragenden Blick mit Dave.

Kurzerhand entlasse ich ihre grazile Gestalt aus meiner Umklammerung und frage verständnislos, welchen Film sie eigentlich meint. Vielleicht kenne ich den ja schon. Sonntags laufen ja meist Wiederholungen.

Den Titel, den sie mir so begeistert nennt, kenne ich nicht. Aber das ist kein Wunder. So selten, wie ich fernsehe oder mal ins Kino gehe. Die einzigen Filme, die ich schaue, sind Musikfilme oder aufgezeichnete Konzerte. Der Rest interessiert mich einfach nicht. Okay, das ist untypisch für jemanden in meinem Alter, aber Actionfilme ohne Handlung mit Ballereien ohne Sinn und Verstand oder Fantasystreifen, die ja nun mal fern jeder Realität spielen, reizen mich nicht. Mein Geld stecke ich lieber in sinnvollere Sachen. Ich gehe lieber auf ein Konzert oder leiste mir aus dem Internet DVD´s mit Konzerten meiner Lieblingsband. Mit dieser Musik können nur sehr wenige Leute in meinem Umfeld etwas anfangen, da sie hier nur wenig bekannt ist und noch weniger gespielt wird. Deshalb trifft man mich auch kaum in einem Club, denn dort läuft diese Musik nicht.

Ich schüttle nur verneinend den Kopf und lächle Jenny entschuldigend an.

„Wann schaut Viv mal fern? Das wäre dann schon fast eine Premiere“, murmelt Dave grinsend und kassiert dafür von mir einen Hieb in die Seite. Jenny schaut auf ihre Uhr und seufzt.

„Wir müssen los, Leute!“, ermahnt sie uns und wir legen die restlichen Meter zum Schulgebäude zügig zurück. In den Gängen verabschieden wir uns voneinander und verabreden uns für die Mittagspause im Schulhof, da wir heute nur getrennte Kurse haben.

Ich sitze meine Stunden im Unterricht mehr oder weniger ab. Manchmal ist der Stoff recht interessant und dann kann sich der Lehrer meiner Aufmerksamkeit sicher sein. Bei manchen Fächern schalte ich dagegen ab und träume vor mich hin. Der heutige Vormittag verläuft unspektakulär und vergeht zudem noch schnell. In der großen Pause eile ich zu unserem Treffpunkt. Ha! Heute bin ich mal erster. Ich setze mich auf die Bank unter der großen Eiche, strecke meine langen Beine von mir und betrachte meine schwarz-pink lackierten Fingernägel. Geduldig warte ich auf meine beiden Besten. Es vergehen ein paar Minuten, bis ich sie unter den anderen Schülern entdecke und beobachte, wie sie sich mir langsam nähern. Ich vernehme Jennys Lachen und sehe ihr strahlendes Gesicht. Sie genießt den Tag. Manchmal beneide ich sie um ihren Frohmut. Mit Jenny wird es nicht langweilig und sie lockt auch mich aus der Reserve. Meine Schüchternheit steht mir oft im Weg, so dass ich mich mit neuen Bekanntschaften oder Freundschaften sehr schwer tue. Wer es jedoch in mein Umfeld schafft, der hat in mir die treueste Seele gefunden. Mit mir kann man Pferde stehlen und Spaß haben, wenn man nahe genug an mich herankommt. Das schaffen nicht viele. Gerade einmal Dave und Jenny gehören zu meinen Freunden, aber sie stehen treu zu mir und hinter mir. Auf diese Beiden verlasse ich mich zu hundert Prozent, auch was mein Geheimnis betrifft.

„Hey, Vivy! Hast du heute den heißen Typen aus dem Bus endlich angesprochen?“, fragt Jenny und plumpst recht unelegant neben mir auf die Bank. Mein Mund verzieht sich schmollend, als ich an die Busfahrt denke. Seine Aufmerksamkeit habe ich schon, aber was soll ich nun machen? Ihn einfach ansprechen? Nein! Das traue ich mich einfach nicht. Schon schüttle ich den Kopf.

„Wie lange willst du denn darauf warten, dass er dich einmal anspricht? So wird das doch nichts!“, schimpft Jenny mit mir. Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt, seufzt sie leise.

„Ach, Vivy! So wirst du nie eine Chance auf die Liebe bekommen! Warum ergreifst du nicht mal die Initiative?“ Ich blicke auf meine Hände hinab und suche nach den passenden Worten.

„Weißt du? Es ist für mich nicht so einfach. Zum einen traue ich mich nicht und zum anderen habe ich einfach Angst vor einer Zurückweisung. Ich kann das nicht so wie du!“, murmle ich. Ich spüre, wie sie mich in ihre Arme zieht. Es ist ihre Art, mir zu sagen, dass sie mich versteht und ich erwidere erleichtert ihre Umarmung. Es fühlt sich gut an. Nur Jenny nimmt mich ab und an in den Arm, spendet mir Trost oder zeigt mir so, dass sie mich gern hat. Ich genieße die Herzlichkeit und die Wärme, ziehe Kraft aus ihr.

Als ich zu Dave hinüberschaue, bemerke ich sein schelmisches Grinsen und ahne schon, was kommt. Er macht einen Schritt zu uns und beugt sich hinunter. Schon hat er seine kräftigen Arme um uns beide geschlungen. Er lacht. Ich kann mir ein Glucksen nicht mehr verkneifen und Jenny schaut uns verdutzt an, ehe sie in das Lachen einfällt. So langsam beruhigen wir uns wieder und auch das Gruppenkuscheln beenden wir. Es hat gut getan, aber unsere Pause ist zu Ende und so schlendern wir gemeinsam zum Schulhaus. Ich fühle mich zufrieden und konzentriere mich auf die letzten beiden Unterrichtsstunden.

 

Endlich nach Hause! Hastig eile ich zur Bushaltestelle. Viel Zeit bleibt mir nicht, wenn ich den Bus erwischen will. Der nächste bedeutet über eine Stunde Wartezeit, die ich lieber vermeide. Jenny und Dave haben noch zwei Stunden Unterricht vor sich, da sie Sport, im Gegensatz zu mir, nicht abgewählt haben. Ich bin nicht unsportlich, wirklich nicht, aber dem Schulsport kann ich nichts abgewinnen. Also habe ich die erste Gelegenheit wahrgenommen, um das Fach abzuwählen. Dafür gehe ich jeden Tag, wenn es meine Zeit erlaubt, joggen. Manchmal fahre ich mit meinem Rad in die Schwimmhalle, um ein paar Runden zu drehen. Mit meiner Figur bin ich trotzdem zufrieden. Bei meinem Gewicht von 55 Kilo bei 170 Zentimetern Körpergröße bin ich doch recht schlank. Manche behaupte sogar, ich bin zu schlank. Dafür kann ich jedoch nichts, denn ich esse mehr als genug. Laut meiner Mutter, die mir immer wieder vorwirft, ihr die letzten Haare vom Kopf zu futtern.

Apropo Hunger! Hoffentlich hat Mum heute schon gekocht. Mir knurrt der Magen. Den kurzen Fußweg von der Haltestelle bringe ich schnell hinter mich und vor der Haustür krame ich meine Schlüssel aus der Tasche. Die Wohnung scheint verlassen, denn mir kommt keine neugierige Mum oder zickige Schwester entgegen. Auch der Duft von Essen strömt mir nicht entgegen. Also bin ich allein. Auf meine Art liebe ich es, in eine ruhige Wohnung zu kommen und die Stille zu genießen. Das ist nach dem Trubel in der Schule sehr angenehm.

Rasch werfe ich meine Tasche neben die Flurkommode, bevor ich mich der Jacke und Schuhe entledige. In der Küche schaue ich nach etwas Essbarem, aber Mum war wohl noch unterwegs. Naja, ein Brot tut es für den Moment auch. Also mache ich mir schnell eines, bevor ich in mein Zimmer gehe. Nebenbei greife ich mir auf dem Flur meine Tasche. Vielleicht schaffe ich es, meine Hausaufgaben fertig zu bekommen, bevor meine Schwester heimkommt und nervt.

Der Nachmittag vergeht ruhig. Nach den Schulaufgaben gehe ich eine Runde joggen. Da bekomme ich den Kopf frei und meine Portion frische Luft, auf die immer so viel Wert gelegt wird. Klar ist es draußen angenehm, aber ich muss jetzt nicht jeden Tag über Stunden die frische Luft genießen. Als kleines Kind ist es schön, auf dem Spielplatz mit den anderen Kindern zu spielen und zu toben. Aber je älter man wird, desto weniger zieht es einen an die frische Luft. Waldspaziergänge oder durch den Park schlendern sind mir definitiv zu langweilig. Da habe ich echt keine Lust drauf. Mit dem Fahrrad eine Runde aus der Stadt düsen und mir den Wind um die Ohren sausen zu lassen, ist da eher etwas für mich. Leider zeigt aus meiner Familie keiner Ambitionen dazu, mir Gesellschaft zu leisten und meine beiden Besten haben daran auch kein Interesse. Allein mag ich auch nicht mit dem Rad unterwegs sein. Nur manchmal zieht es mich hinaus und dann genieße ich es.

Nach meiner Joggingrunde dusche ich schnell, denn meine Mum rumort fleißig in der Küche. Das heißt, dass es bald Abendessen gibt und das möchte ich ungern verpassen. Als ich in die Trainingshose schlüpfe, erschallt von unten schon der ersehnte Ruf und das Türklappen bedeutet, dass wir heute alle am Tisch sitzen werden. Im Gehen werfe ich mir das T-Shirt über.

Der Tisch ist gedeckt und es riecht lecker. Ich setze mich nach einem kurzen Blick in die Runde auf meinen Stammplatz.

„Vivy, wie schön, dich mal ohne deine Kriegsbemalung zu sehen“, stichelt mein Dad von der Stirnseite. Meinen zornigen Blick erwidert er unerschrocken. Ja, mich sieht man selten ungeschminkt. Für meinen Vater ist es schwer, mich voll gestylt zu sehen. Ist ja nicht so, als würde ich mich erst seit gestern so herrichten. Am Anfang war es sicher irritierend für ihn und er findet sich immer noch nicht damit ab. Es ist nun einmal so. Mir gefällt es und ich fühle mich wohl. Innerlich seufze ich und zwinge meinen aufsteigenden Ärger hinunter.

„Dad! Das gehört eben zu mir“, gebe ich genervt zurück. Es ist immer dieselbe Diskussion. Meine Mum unterbindet die sich anbahnende Debatte, indem sie die Schüsseln mit dem Essen auf den Tisch stellt.

Meine Schwester erzählt die Erlebnisse ihres Tages und ich esse schweigend. Ihr Gelaber kann nerven, aber sagen darf ich ja nichts. Sonst heißt es gleich, dass ich eifersüchtig auf sie bin. Bin ich aber gar nicht. Ich bin froh, wenn ich meine Ruhe habe, vor ihr und auch meinen Eltern. Sollen sie ihr ruhig die Aufmerksamkeit schenken, die sie braucht. So lange meine schulischen Leistungen stimmen, habe ich meistens meinen Seelenfrieden. Außer meinem Dad fällt wieder ein, dass es mich noch gibt und ich nicht ganz in seine Vorstellung passe. Wie vorhin.

Nach dem Essen helfe ich meiner Mum in der Küche und räume den Geschirrspüler ein, bevor ich mich in mein Zimmer zurückziehe. Den Abend verbringe ich mit den Kopfhörern auf und dem Laptop in meinem Bett. Ich lasse mich von meiner Musik zum Träumen verleiten und in den Schlaf wiegen. Die Gedanken kreisen um den gutaussehenden Kerl im Bus und Vorfreude macht sich in mir breit. Morgen früh sehe ich ihn wieder. Ich gebe die Hoffnung, dass er mich einmal anspricht, noch nicht auf. Irgend etwas ist da zwischen uns. In mir prickelt es, wenn er mich anschaut. Jeden seiner Blicke bemerke ich, spüre sie förmlich auf meiner Haut. Es fühlt sich wie sanftes Streicheln an und es durchläuft mich ein kleiner Schauer, wenn sich unsere Blicke begegnen. Ein komisches Gefühl, aber ich finde es angenehm. Automatisch umspielt ein Lächeln meine Lippen bei den Gedanken an ihn.

2.

Ein bescheidener Morgen.

Ich stehe seit circa zehn Minuten an der Haltestelle und der Bus kommt einfach nicht. Seit meinem letzten Blick auf die Armbanduhr überlege ich, ob ich nicht zu Fuß gehe. Leider komme ich dann definitiv zu spät. Ein resigniertes Seufzen entweicht mir, während ich sehnsüchtig die Straße hinunterschaue. Ausgerechnet heute scheint sich auch noch Regen anzukündigen. Hoffentlich hält es noch eine Weile aus. Ich möchte nicht unbedingt durchgeweicht, wie ein Pudel ausschauend im Unterricht sitzen. Sorgenvoll blicke ich in den grauen Himmel und ziehe meine Jacke über, die ich bisher nur um die Hüften gebunden habe.

Es wäre ja zu schön, wenn mal an einem Morgen alles rund läuft. Wow, der Bus kommt! Hastig richte ich meine Tasche auf der Schulter und stelle mich nahe an den Bordstein. Hinter und neben mir gesellen sich drei jüngere Teenies dazu. Die beiden Jungs und das Mädchen sind nicht älter als meine Schwester, die die Realschule besucht. Müssten die nicht eigentlich mit einer anderen Linie fahren? Egal. Aber normal stehe ich hier allein, um auf meinen Bus zu warten und gesehen habe ich sie in meiner Schule noch nicht. Die Drei rangeln ein wenig, aber ein genervter Blick reicht und schon treten sie ein wenig zurück. Ich bin genervt. Nicht mal hier habe ich meine Ruhe, menno!

Der Bus hält und schon mit einem Blick erkenne ich, dass hier etwas aus dem Ruder läuft. Der Bus ist voll! Das ist er sonst nie. Heute bekomme ich mit Sicherheit keinen Sitzplatz mehr. Ich hasse es! Die gezwungene Körpernähe mit völlig Fremden kann ich nicht haben. Gerüche von verschiedenen Deodorants martern meinen Geruchssinn und der Geräuschpegel erinnert mich regelmäßig an das Geschnatter einer Herde Gänse. Normalerweise meide ich Fahrstühle und andere Orte mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von Menschenansammlungen. Doch heute habe ich keine andere Wahl. Platzangst! Himmel, hoffentlich bekomme ich die aufsteigende Panik in den Griff. Schon jetzt, beim Einsteigen, grummelt es in meinem Bauch. Ich verschaffe mir einen Überblick. Wie ich es mir gedacht habe. Ich dränge mich in den Bus, halte meine Monatskarte gequält lächelnd hoch und schiebe mich widerwillig weiter. Die Kids hinter mir lassen mir keine andere Wahl. Ein Stoß in den Rücken, ein Tritt auf den Fuß und ich verkneife mir ein genervtes Schnauben. Ich greife nach der Haltestange, direkt vor mir, als der Bus anfährt. Mein Blick wandert direkt nach draußen, um so die Leute, die sich hinter mich drängen, auszublenden. Die Aussicht gaukelt mir ein wenig Raum und Platz vor, so dass ich das aufsteigende Gefühl der Enge verdrängen kann. Nur nicht nach rechts und links sehen! Ich krame meine Kopfhörer aus der Tasche und blende mit meiner Musik das Geschehen um mich herum, aus.

Haltestelle um Haltestelle zieht an mir vorüber. Heute achte ich nicht auf meine Umgebung, warte nur auf den bekannten Anblick meiner Haltestelle. Bei einer Bremsung werde ich mit meinem Oberkörper gegen die Stange gedrückt. Fremde Hände greifen nach meinen Hüften. Vielleicht um mich zu halten, vielleicht um Halt zu finden. Ich weiß es nicht, aber hastig straffe ich mich. Ich spüre Wärme an meinem Rücken und ein angenehmer Duft steigt mir in die Nase. Hm … Schoko! Lecker! Tief inhaliere ich und ich kann ein Grinsen nicht unterdrücken. Warmer Atem streift mein Ohr und mich durchläuft ein Schauer, als ich die Stimme vernehme.

„Sorry!“ Wow ... tief, männlich und ein weiterer Schauer durchläuft mich, als ich die Vibration des Brummens spüre. Soll ich mal schauen? Vorsichtig riskiere ich einen kleinen Schulterblick und erstarre fast. Die grünen Augen liegen genau auf meinem Gesicht, mustern mich neugierig. Mir verschlägt es den Atem. Kein Wort bringe ich über die Lippen. Ich kann nur nicken. Meine Zähne graben sich in die Unterlippe. Verlegenheit breitet sich in mir aus und ich laufe rot an. Wo ist ein Loch? Hastig senke ich den Kopf, um seinem direkten Blick auszuweichen. Ich habe das Gefühl, er schaut direkt in mein Inneres, sieht mich. Der Bus hält und die Doppeltür öffnet sich. Gleichzeitig verschwinden die Hände von meiner Hüfte und die Wärme aus meinem Rücken. Einerseits bin ich erleichtert, dieser Enge zu entrinnen, aber ein unerklärliches Gefühl des Bedauerns über den Verlust brandet in mir auf. Was ist das nur? Ich kann es mir nicht erklären. Draußen dreht er sich, wie jeden Tag, um und lässt seinen Blick in den Bus gleiten. Bis seine Augen auf die meinen treffen. Ein Lächeln umspielt seine schmalen Lippen und er zwinkert mir zu, ehe er sich umdreht. Der Bus setzt sich erneut in Bewegung. Eigentlich leert sich das Gefährt etwas, aber noch immer finde ich keinen Sitzplatz. Egal! Ich werde diese Fahrt schon irgendwie überleben. Ich schaue weiter aus dem Fenster und ignoriere die Leute. Meine Gedanken kreisen um die bevorstehenden Unterrichtsstunden und vor meinen Augen ziehen die Häuser, Straßen und Bäume vorbei. Immer wieder hält der Bus und wird endlich immer leerer. Ich atme erleichtert durch und schaue mich im Bus um. Heute sind wirklich ungewohnt viele Jugendliche mit dieser Linie unterwegs.

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, hält der Bus an meiner Station und die Türen öffnen sich. Ich warte kurz, ehe ich mich zur Tür schiebe. Der ganze Pulk Jugendlicher stürmt schnatternd und lachend hinaus. Kopfschüttelnd folge ich ihnen. Wie kann man nur so laut am frühen Morgen sein? Eilig strebe ich fast im Laufschritt durch den Park zum Gymnasium, wobei ich die Horde ungeachtet überhole. Ich komme zu spät! Na super. Wieso muss der Morgen so bescheiden laufen?

Beim Durchschreiten des Tores fallen mir noch vereinzelte Mitschüler auf. Scheint so, als käme ich gerade noch rechtzeitig. Schon höre ich das mahnende Klingeln und haste über den Hof. Im Schulhaus muss ich nur eine Treppe höher. Die Gänge sind zwar lang, aber da ich in das erste Klassenzimmer muss, stört es mich gerade nicht. Ich atme erleichtert auf, als ich die Tasche an meinem Platz fallen lasse und mich auf den Stuhl. Rasch krame ich die benötigten Unterlagen heraus und lasse dann meinen Blick durch den Raum wandern. Ein ganz normales Klassenzimmer erwartet mich. Tische und Stühle sind nicht die neuesten, aber ausreichend. Die Tafel im Sichtfeld müsste auch mal wieder Farbe sehen und das grau der Wände wird durch vereinzelt aufgehängte Bilder aufgelockert. Alles in allem ein trister Raum. Mein Blick huscht über meine Kurskameraden. Diese beachten mich kaum, aber das ist nicht weiter verwunderlich. Mit den meisten von ihnen habe ich wenig zu tun. Ich sehe sie im Unterricht, aber in meiner Freizeit will ich keine Zeit mit ihnen verbringen. Einige kenne ich seit der Grundschule und andere erst seit ich auf dieses Gymnasium gehe. Am Anfang haben sich ein paar für mich interessiert, aber als sie merkten, dass ich nicht das bin, was sie sich vorstellen und auch meine Interessen in eine andere Richtung gehen als ihre, ist das Thema Freunde schnell beendet. Mich stört es nicht weiter. Ich habe ja Jenny und Dave. Meine Grübeleien werden durch den eintretenden Lehrer unterbrochen und der Unterricht beginnt. Ich sitze also mal wieder meine Stunden ab und bin aufmerksam dabei. Das Abitur will ich so gut wie möglich abschließen, sonst kann ich meinen Traum abhaken.

Mein Traum. Tja, auch so eine Eigenheit von mir. Ich liebe es, aus einem unscheinbaren Gesicht mit kosmetischen Mitteln alles herauszuholen, die Vorteile betonen und die Schwächen zu kaschieren. Ein möglichst makelloses Antlitz zu erschaffen. Mein liebstes Übungsobjekt bin natürlich ich selbst. Wenn ich ungeschminkt aus dem Haus gehe, erkennt mich nicht einmal der Nachbar. Obwohl, dazu gehört nicht nur das Schminken, sondern auch mein Styling. Unscheinbar, langweilig und ein Allerweltsgesicht. So komme ich mir dann vor. Ich gehe in der Masse unter. Seit meinem 15. Lebensjahr bemühe ich mich, aus der Masse hervorzutreten und individuell zu erscheinen. Am Anfang wollte ich nur die Auswirkungen der Pubertät verstecken und nicht wie alle anderen in meinem Alter mit Pickeln, unreiner Haut und fettigen Haaren umherrennen. Selbst im Spiegel konnte ich mich nicht anschauen, ohne mich vor mir zu erschrecken. Die Stimmungsschwankungen taten ihr übriges dazu. Immer wieder stritt ich mit meinem Dad und Mum schlichtete, sprach immer wieder mit uns. Zwar ließen die Streitigkeiten nach, aber ein entspanntes Verhältnis haben wir heute noch nicht. Das liegt aber jetzt nicht mehr an den Stimmungsschwankungen, sondern an meiner Art, die mein Dad nicht akzeptieren kann. Ich bin nun mal nicht der typische Teenager und das möchte er nicht wahrhaben. Dabei weiß er noch nicht einmal alles. Meine Zukunftspläne stoßen bei ihm ganz sicher auch nicht auf Zustimmung. So langsam erkennt er aber, dass ich meine Ziele hartnäckig verfolge und mir seine Meinung relativ egal ist. Wenn mein Dad wüsste, dass ich seit meiner Volljährigkeit als Fotomodell arbeite und auch bei Modenschauen laufe, würde er wohl ausrasten. Ich bin froh, dass er sich für so etwas überhaupt nicht interessiert. Auch der Rest der Familie weiß nicht, was ich in meiner Freizeit treibe und das ist auch gut so. Ich gehe meinen Weg allein. Zu oft fühle ich mich im Haus meiner Eltern einsam und unverstanden oder wie ein unliebsames Anhängsel, auch wenn meine Mum alles tut, damit ich mich wohlfühle. Aber durch meine Andersartigkeit funktioniert das nicht wirklich. Darum werde ich nach dem Abschluss der Schule auch ausziehen und in einer anderen Stadt ein neues Kapitel meines Lebens aufschlagen. Noch ahnt niemand, was ich vorhabe. Nicht einmal meine Freunde, obwohl ich sie so langsam darauf vorbereiten sollte. Ein bisschen Unbehagen bereitet mir der bevorstehenden Trennung schon. Immerhin sind die beiden meine einzigen und besten Freunde, die das Geheimnis kennen und hüten. Sie sind meine Vertrauten in fast allen Belangen und sie stehen zu mir, so wie ich bin. Das ist ja nicht selbstverständlich, wie ich selbst schon gelernt habe. Es wird mir nicht leicht fallen, ausgerechnet diese beiden zu enttäuschen und zu verlassen. Ich hoffe, dass ich den Kontakt zu ihnen aufrecht erhalten kann und sie auch mal besuchen. Ganz verlieren möchte ich sie nicht. Dafür sind sie mir zu wichtig.

Die Schulglocke holt mich aus meinen Überlegungen und ich beobachte, wie die anderen Schüler hastig aufspringen und ihre Unterlagen in den Taschen verschwinden lassen. Bedächtig erhebe ich mich ebenfalls. Langsam packe ich meinen Kram in die Schultertasche. An der Tafel, vor dem der Lehrer noch gegen die Lautstärke ankämpft, um die Hausaufgabe zu benennen, steht noch die Zusammenfassung des Stoffes.

Mister Leroy hält mich an der Tür auf. Ich unterdrücke nur mühsam ein genervtes Aufstöhnen und wende mich zu ihm um.

„Ja?“, frage ich erwartungsvoll und hoffe, dass er sich kurz fasst. Meine Mittagspause ist mir schließlich auch heilig und meine Freunde warten unten auf mich.

„Mir fehlt noch Ihre Zusage zur Abschlussfahrt.“ Ich zucke mit den Schultern. Bock hab ich keinen auf diese einwöchige Fahrt nach Italien. Außerdem fallen einige Aufträge in diese Zeit, die mir eine Menge Geld einbringen. Na gut, aber ich verdiene lieber Geld, als dass ich es ausgebe und je mehr ich spare, desto länger kann ich mich ohne Aufträge über Wasser halten. Immerhin muss ich mich in der neuen Stadt erst einmal orientieren und mir einen Namen machen.

„Ich werde nicht mitfahren.“ Ich beobachte den Mann vor mir, sehe wie ihm das Gesicht vor Unglauben entgleist. Er scheint ratlos zu sein, sucht nach Worten. Ich kann es an seinem Gesicht erkennen. Bevor er überhaupt zu einer Erwiderung ansetzen kann, drehe ich mich um und gehe nach einem kurzen Gruß aus dem Raum. Ich habe einfach keine Lust, mit ihm über meine Teilnahme, beziehungsweise deren Absage zu diskutieren. Meine Gründe gehen ihn einfach nichts an und derer habe ich genug. Wenn ich genauer darüber nachdenke, fallen mir sicher noch mehr ein, aber das habe ich jetzt nicht im Sinn. Mich zieht es nach draußen. Ich will die letzten Sonnenstrahlen genießen, denn der Herbst macht sich schon bemerkbar. Die Blätter auf dem Boden vermehren sich langsam, ebenso die Farbvielfalt dieser. Von grün über gelb, orange, rot und braun ist alles dabei. Noch hält sich der feuchte Nebel im Morgengrauen zurück und die Sonne kämpft tapfer. Trotzdem liegt der Herbst in der Luft und lange wird sich der Sommer nicht mehr halten können.

Endlich erreiche ich die breite Ausgangstür und verlasse das triste Schulgebäude. Schlagartig ändert sich die Stille, die noch im Gebäude herrscht, in rauschendes Summen und quirliges Leben. Mein Blick gleitet über den gepflasterten Hof, der mit Zäunen umrandet ist. Hier ist kaum grün zu sehen. Nur am linken Rand ist eine kleine Rasenfläche um eine alte Linde unter der eine alte, verwitterte Bank steht. Dort entdecke ich meine beiden Besten in ein Gespräch vertieft. Mein Blick bleibt bei ihnen, während ich langsam über den Hof in ihre Richtung schlendere.

Sie würden ein schönes Paar abgeben, stelle ich für mich fest. Jenny, rank und schlank, ist sehr aufgeweckt und plappert ständig. Ihre Interessen sind sehr vielseitig. Stille Momente gibt es selten bei ihr. Neugierig stellt sie die Fragen, die ihr in den Kopf schießen und sie nimmt auch kein Blatt vor den Mund. Ihre Meinung tut sie auch ungewünscht kund. So manchen Lehrer bringt Jenny damit in Verlegenheit und manchmal nicht nur diese.

Fast mein ganzes Leben kenne ich sie und noch immer schafft sie es, mich zu verblüffen. Sie nimmt mich in Schutz, auch wenn es mehr als peinlich wird. Sie ermuntert mich und steht uneingeschränkt zu mir. Eisern, fest und unerschütterlich weist Jenny jeden zurecht, der mich auch nur schief ansieht oder gar beleidigend wird. Das traut sich in ihrer Gegenwart keiner mehr. Nur leider ist sie nicht rund um die Uhr bei mir. Nach den ersten Attacken und Beleidigungen versuchte ich, diejenigen zu meiden. Natürlich ein hoffnungsloses Unterfangen. Bei jeder Begegnung erklingen neue und alte Tiraden, die jedoch an mir abprallen. Ich gebe mir nicht die Blöße, darauf zu reagieren oder sie noch mehr zu provozieren. Meine Art ist es eher, alles zu ignorieren. Das fällt mir manchmal, ehrlich gesagt, schwer. Dann beiße ich mir auf die Zunge und denke an etwas erfreuliches.

Noch ehe ich die zwei erreiche, spüre ich mein Handy in der Hosentasche vibrieren. Seufzend fische ich es umständlich aus dieser und als ich sehe, wer mich anruft, bleibe ich verblüfft stehen.

Verflucht! Er soll mich doch vormittags nicht anrufen! Das weiß er ganz genau! Außerdem ist Montag. Termine für das Wochenende teilt er mir eigentlich per SMS im Laufe der Woche mit. Verwundert runzle ich die Stirn und nehme den Anruf entgegen.

"Ja", grummel ich und drücke mir das Gerät fester ans Ohr.

"Sorry, dass ich dich störe, aber es ist dringend!", tönt es mir atemlos entgegen. Genervt seufze ich, obwohl ich weiß, dass mein Gegenüber es hört.

"Dann schieß los, aber kurz bitte! Ich hab nicht ewig Pause", verlange ich murrend und hoffe, dass er sich daran hält.

"Also pass auf! Ich hab ein Angebot für ein Shooting, aber für heute am späten Nachmittag! Das könnte dich interessieren und du wärst dafür wie gemacht, Viv, und das Beste daran ist, dass es eine Möglichkeit ist, dich bekannter zu machen! Die Bilder sind für eine landesweit bekannte Zeitschrift", schwärmt Hannes, mein Agenturchef. Ich schweige und überlege. Es wäre eine Möglichkeit, mich für eine Agentur interessant zu machen. Nur will ich das jetzt schon? Mir bleibt noch fast ein Dreivierteljahr bis zum Abitur und somit genug Zeit. Andererseits stellt sich die Frage, ob sich so eine Gelegenheit noch einmal ergibt. Unschlüssig kaue ich auf meiner Unterlippe. Das ist eigentlich die Chance! Ich sollte sie nutzen!

"Viv?! Ich brauch deine Zusage! Das ist deine Chance und der Verdienst ist auch nicht zu verachten! So ein Angebot lehnt man nicht ab!", beschwört er mich nahezu und er hat Recht! Wer weiß, wie schnell sich so eine Ablehnung rumspricht und einen negativen Eindruck in der Branche hinterlässt. Wenn ich mir die Kosten für mein Studium damit verdienen möchte, brauche ich die Jobs. Da gilt keine Absage!

"Okay. Sims mir Ort und Zeit!", stimme ich zu und lege schnell auf, bevor ich mir weitere Gedanken darum mache und vielleicht meinen Prinzipien treu bleibe. Normal nehme ich Shootings und Veranstaltungen nur am Wochenende wahr. Da fällt es meinen Herrschaften nicht auf, denn Freunde und Ausgehen bieten gute Ausreden. Nur ob das heute auch hinhaut? Keine Ahnung, wann meine Leute daheim sind oder meine kleine, nervige Schwester nicht doch in einer dieser Zeitschriften blättert. Noch habe ich die Hoffnung, dass sie nur an diesen Jugendjournalen interessiert ist. Sonst ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass meine Nebenjobs auffliegen. Die Bedenken zur Seite schiebend bewege mich weiter auf meine Freunde zu.

Mein nachdenklicher Blick fällt Jenny sofort auf, als ich zu ihnen trete.

"Was ist los? Gab es Ärger im Kurs?", poltert sie gleich, halb erhoben und mit geballten Fäusten, los. Entschuldigend lächle ich sie an und schüttle den Kopf. "Nein, alles gut", beruhige ich sie und lasse mich neben ihr auf der Bank nieder. "Nur der Leeroy geht mir mit der Abschlussfahrt auf den Senkel", murmle ich und mein linker Arm wandert automatisch auf die Banklehne.

"Hast du immer noch nicht die Einverständniserklärung abgegeben?", fragt Dave. Es wird Zeit, ihnen endlich reinen Wein einzuschenken.

"Ich habe nicht vor, mitzufahren", lasse ich die Bombe platzen. Ruckartig dreht sich Jenny zu mir. In ihrem Gesicht sehe ich pures Entsetzen und auch Dave schaut mich ungläubig an. Bis dato dachten beide, ich fahre mit, habe nur noch nicht meine Zettelwirtschaft vollständig beieinander. Jenny fasst sich als erstes und boxt empört gegen meine Brust.

"Das ist nicht dein Ernst, Viv! Du musst mitfahren! Das ist doch das Erlebnis schlechthin und außerdem unsere letzte gemeinsame Fahrt!" Dave nickt eifrig zustimmend.

"Sorry, wenn ich euch jetzt enttäusche, aber mich interessiert diese Fahrt einfach nicht! Außerdem hab ich mit den ganzen Leuten eh nichts am Hut und ihr beide könnt ja die Reise gemeinsam genießen", begründe ich meine Entscheidung, auch wenn sie es nicht verstehen werden.

"Wer sagt denn, dass wir sie ohne dich genießen?", widerspricht mir Jenny und der Trotz bringt das Funkeln in ihre Augen zurück, jedoch nicht vor Freude, sondern eher vor unterdrückter Wut.

"Jenny! Mein Entschluss steht fest und diese eine Woche werde ich mich ganz sicher nicht langweilen. Ich habe einige Termine, die ich auch nicht mehr verschieben kann oder werde. Auf meine Anwesenheit legt ja eh keiner Wert. Nur ihr beide. Ihr schafft das auch ohne mich! Sicher habt ihr da sogar mehr davon, als wenn ich dauernd an euch klebe und für Turbulenzen sorge", erkläre ich und wünsche mir, dass sie es verstehen. Ich will ihnen doch nicht die Freude verderben oder sie ärgern, sondern einfach nur mein Ding machen. Für heute, denke ich, habe ich genug Unmut verbreitet.

"Du bist dir wirklich sicher?", fragt Jenny leise und unsicher, wie ich sie bisher nur selten erlebt habe. Das schlechte Gewissen plagt mich nun doch ein wenig und so ziehe ich sie tröstend in meine Arme.

"Du weißt doch, dass ich es keine ganze Woche mit diesen Idioten aushalte und die Schwierigkeiten gehen doch schon vor der Abfahrt los. Die Raumverteilung ist das Nächste. Doppelzimmer gibt es nicht und außer mit dir oder Dave teile ich mir ungern ein Zimmer. Die Probleme muss ich nicht haben." Ich vernehme das leise Seufzen meiner Besten und drücke sie noch einmal fest an mich, ehe sie sich zurücklehnt. Das Läuten beendet unsere kleine Debatte. Noch fünf Minuten bis zur nächsten Stunde. Langsam erheben wir drei uns und schlendern gemütlich Richtung Schulhaus. Der Andrang verzieht sich und wir beeilen uns ein bisschen mehr. Im Foyer trennen sich unsere Wege erneut. Wir verabreden uns für nach Unterrichtsschluss an unserer üblichen Stelle, bevor jeder in seinen Kurs eilt.

Die vier verbliebenen Stunden sind endlich um und ich kann mich endlich meiner Freizeit widmen. Ich packe mein Zeug nun rascher ein und verlasse eilig den Raum. Dieses Mal hält mich niemand auf, sodass ich ziemlich früh an unserem Treffpunkt stehe. Die anderen beiden lassen noch auf sich warten. Ich krame mein Handy aus der Tasche. Sicher wird Hannes mir schon die SMS geschickt haben. Okay. Um vier in der Agentur. Der Fotograf wartet dort auf mich zum Vorgespräch. Na mal sehen, wie das abläuft. Hoffentlich dauert das nicht all zu lange. Zum Abendessen um sieben sollte ich lieber zu Hause sein, sonst dreht mein Dad am Rad. Sein heiligstes Ritual darf nicht geschwänzt oder ignoriert werden. Da kann er grantig werden und ich hab schon Hausarrest bekommen, weil ich fünf Minuten zu spät kam. Jetzt haben wir es kurz nach zwei und ich kann nicht mehr lange mit Dave und Jenny plaudern. Ich muss den Bus um halb kriegen, sonst wird die ganze Sache zeitlich zu knapp. Immerhin muss ich mich noch umziehen und mein Make up noch mal ausbessern, bevor ich in die Agentur fahre.

Seufzend beobachte ich, wie die beiden blödelnd auf mich zukommen. Manchmal komme ich mir wie das dritte Rad am Wagen oder ein Störfaktor vor, wenn ich sie beobachte. Sie wären ein schönes Paar. Vielleicht läuft zwischen ihnen schon längst was. So wenig Zei mit ihnen verbringe, wäre es nichts neues, wenn ich nicht alles mitbekomme. Ich unterdrücke mein Seufzen dieses Mal. Gern würde ich öfter mit ihnen was unternehmen, aber mir fehlt einfach die Zeit. So oft fragen sie, ob ich am Wochenende mit ihnen um die Häuser ziehen möchte oder mit ihnen ins Kino gehe und jedes Mal muss ich ihnen einen Korb erteilen, weil ich ausgebucht bin. Ob ich die letzten Monate bis zum Abschluss kürzer treten und mehr mit ihnen unternehmen soll? Viel Zeit bleibt uns ja nicht mehr, bis die Paukerei für die Prüfungen beginnt. Ich muss mal schauen, ob ich mir icht mal einen Tag pro Wochenende freihalten kann. Irgendwie werd ich das schon auf die Reihe kriegen. Ich will noch etwas Zeit mit meinen Freunden genießen, ehe ich verschwinde.

3.

"Was habt ihr heut noch vor?", frage ich neugierig, als mich die beiden endlich erreichen. Jenny kichert noch immer über etwas, was Dave unterwegs zu ihr gesagt hat.

"Nicht mehr viel. Ich muss die Hausarbeit noch schreiben und meinen kleinen Bruder hüten. Das reicht fürs Erste", erklärt er mit säuerlicher Miene und zuckt mit den Schultern. Auch Jennys Lachen verstummt und sie zieht die kleine Stupsnase kraus. Immer wieder ein lustiger Anblick und ich muss mich zusammenreißen, nicht zu grinsen.

"Erinner mich doch nicht daran!", grummelt sie und rammt ihm ihren Ellenbogen unsanft in die Seite. Mit seiner rechten Schulter stupst er eher spielerisch zurück und verkneift sich ein Grinsen, als Jenny hörbar nach Luft schnappt. Ehe sie zu einer Schimpftirade ansetzen kann, legt Dave ihr den Arm um die Schulter und drückt ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen. Darüber bin nicht nur ich erstaunt, wie ich sogleich bemerke. Auch Jenny schaut völlig verdattert und bekommt kein Wort heraus. Wie ein Fisch auf dem Trocknen schnappt sie nach Luft und schaut Dave verblüfft an.

"Hey, Süße, krieg dich wieder ein! So schlimm sollte ein Schmatzer von mir eigentlich nicht sein!", versucht er abzuwiegeln. Empört blickt Jenny ihn an. Ihre Augen funkeln regelrecht, als sie endlich ihre Sprache wiederfindet.

"Du Idiot! Erstens war das ein Kuss und kein Schmatzer! Zweitens kannst du mich nicht einfach hier so küssen und drittens war es nicht schlimm, sondern nur überraschend!" Ihre Fäuste in die Hüften gestemmt steht sie da und wird tatsächlich bei den letzten Worten immer leiser. Vor Verlegenheit, wie ich sie von ihr gar nicht kenne, wird sie rot und kann Dave kaum in die Augen schauen. Wow! Er schafft es, die sonst so quirlige Jenny sprachlos zu machen.

"Jenny, komm runter! Es war doch wirklich nur ein Miniküsschen unter Freunden!", beschwichtigt er. Um von seiner Enttäuschung abzulenken, wendet er sich mir zu. Ich weiß gerade nicht so recht, was hier vor sich geht und wundere mich nur stumm. Wenn ich jetzt etwas dazu sage, treffe ich garantiert ein Fettnäpfchen, das hier irgendwo rumsteht. Ich schweige lieber.

"Du hast deine Ausarbeitung sicher schon fertig, wie ich dich kenne." Ich nicke und lasse Jenny nicht aus den Augen. In ihr arbeitet es. Das sehe ich ihr an. Unentwegt kaut sie auf ihrer Unterlippe herum und sie blickt kaum vom Boden auf. Die Stille ist ungewohnt, denn sonst plappert sie immer und findet ein Thema, über das man sich unterhalten kann.

"Dann könnten wir ja noch einen Kaffee trinken gehen, bevor ich Babysitten muss", schlägt Dave freudig vor und blickt erwartungsvoll in unsere kleine Runde. Jenny schaut mich ebenso hoffnungsvoll an. Normalerweise wäre das kein Thema, wenn mir der Termin nicht in die Quere gekommen wäre.

Bedauernd schüttle ich den Kopf. "Sorry, Leute, aber ich kann nicht. Ich hab nachher noch einen Termin."

"Ach … Mensch Vivy! Ich dachte, wir können noch mal über die Abschlussfahrt reden! Nie hast du mal Zeit!" Jenny schürzt enttäuscht die Lippen. Ich seufze. Das weiß ich doch selbst! Mein schlechtes Gewissen plagt mich und ihre Vorwürfe sind berechtigt, aber heute geht es wirklich nicht!

"Wir holen das nach, versprochen!", murmle ich zerknirscht. Jenny streckt den Rücken durch und ist dadurch glatt fünf Zentimeter größer. Sie wird mich festnageln! Ich kenne sie. Das lässt sie sich nicht nehmen.

"Okay! Verlegen wir das Ganze auf den Samstag Abend im Club "Dusk". Dann kann ich mir endlich mal eine Modenschau ansehen und danach feiern", schlägt sie begeistert vor. Mir bleibt die Luft weg. Himmel, nein! Nicht doch! Warum nicht einfach nach der Schule ins Café? Mein Herz rast und mein Hirn rattert. Wie komme ich, um Himmelswillen, da raus? Was soll ich bloß tun?

"Samstag? Da ist doch dort immer die Hölle los! Erst Recht, wenn eine dieser Shows läuft!", stöhnt Dave und rettet mir damit unbewusst den Hintern. Vielleicht habe ich Glück und Jenny entscheidet sich für einen anderen Tag und Ort. Dann wäre ich aus dem Shneider.

"Tzzz … die paar Leute! Außerdem will ich das mal sehen! Reden kann man ja dort auch. Gibt doch sicher ruhige Eckchen und vielleicht Pausen." Warum kann das Leben nicht einmal wie geplant laufen? Immer gibt es Hürden, Fallen oder Umwege! Dummerweise kann ich Jennys Vermutungen nur bestätigen, denn ich kenne die Location und auch die Abläufe an solchen Abenden zur Genüge. Für mich bedeutet das jedoch Arbeit und nicht Vergnügen. Noch immer versuche ich, mir nichts anmerken zu lassen. Anscheinend funktionieren meine Gesichtsmuskeln nicht ganz so gut, wie ich meine, denn Jenny blickt mich misstrauisch an.

"Vivy!", faucht sie mich förmlich empört an. Hab ich schon mal erwähnt, dass sie in mir lesen kann, wie in einem offenen Buch? Ich staune selbst, dass sie das mit meinen Nebenjob bisher noch nicht herausgefunden hat. Ja, nicht einmal etwas davon ahnt. Auch wenn ich ihr bedingungslos vertraue, erzähle ich nicht alles von mir. Keine Ahnung, warum das so ist.

"Sag jetzt nicht, du hast da auch keine Zeit! Das nehm ich dir nicht ab! Du musst ml raus aus deinen vier Wänden, sonstlernst du nie jemanden kennen! Außerdem besteht das Leben nicht nur aus Lernen und die beste Zeit zum Abschalten ist ein Samstagabend im Kreise deiner Freunde!", erklärt sie mir enthusiastisch. Abschalten … im Kreis meiner Freunde … ja, gern, aber warum ausgerechnet am Samstag, wo ich die meisten Aufträge habe? Ich kann nicht so einfach mal absagen, wenn ich fest gebucht bin und schon gar nicht so kurzfristig! Ich brauche das Geld und es sind nun mal die Tage am Ende der Woche, die ich dafür zur freien Verfügung habe. Gut, ich habe das mit meinem Agenten extra abgesprochen, damit mir unter der Woche die Zeit für Hausaufgaben und Lernen bleibt. Leider haben die beiden vor mir davon ja absolut keine Ahnung und denken, dass ich ein Mauerblümchen bin, das sich nicht aus dem Haus begibt. Ich seufze dieses Mal laut.

"Mensch Vivy! Nun komm mal raus aus deinem Schneckenhaus! Das wird bestimmt ein lustiger Abend ", versucht Jenny, mich erneut zu überzeugen. Mir bleibt keine Zeit mehr, um zu agumentieren und mir Ausreden einfallen zu lassen. Mein Bus fährt gerade auf die Haltestelle zu.

"Sorry Leute, aber ich muss los!", verabschiede ich mich hastig. Selbst die obligatorische Umarmung muss ausfallen. Ich schultere meine Tasche und sprinte los. Ich höre noch, wie Jenny mir etwas hinterherruft, verstehe es aber nicht, da ich nur den Bus im Visier habe. Kurz hebe ich den Arm, ohne mich umzudrehen und lege noch einen Zahn zu.

Völlig außer Atem erreiche ich die Haltestelle im letzten Moment. Gut, dass nicht nur ich einsteigen möchte, so dass ich ruhig durchschnaufen kann, ehe ich als Letztes die Stufen ins Innere des Buses erklimme.

Gequält lächelnd zeige ich dem Fahrer meine Karte, die er grinsend zur Kenntnis nimmt. Surrend schließen sich die Türen. Ich hangel mich von Haltestange zu Stange auf der Suche nach einem freien Platz. Ziemlich weit hinten werde ich fündig und setze mich in die letzte freie Bank. Meine Tasche platziere ich auf dem Sitz neben mir. Da wird sie sicher nur bis zur nächsten Haltestelle stehen. Im Moment stört es mich aber nicht. Zufrieden lehne ich mich an das Fenster und lasse meinen Blick nach draußen schwenken und meine Gedanken schweifen.

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Tag der Veröffentlichung: 18.11.2014

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