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Das Haus der alten Wenharts war stilvoll dekoriert und durch ein verschneites Fenster konnte man eine große, fröhliche Familie beobachten. Alle, so schien es, waren zum großen Fest zusammengekommen. Der Großvater saß zugedeckt in einem Lehnstuhl. Er wirkte etwas verwirrt, denn seit geraumer Zeit litt er an seniler Demenz, dem sogenannten Alzheimer.
An seinen Beinen lehnte Leon, sein kleinster Enkelsohn. Leon ließ, sichtlich zufrieden, seinen neuen Roboter blinken und im Kreis fahren. Als sein Onkel Sepp das Wort ergriff, fuhr der kleine Junge erschrocken zusammen.

„Ich erinnere mich noch genau. Unser Vater hat uns an Heiligabend einmal mitgenommen in den Wald. Wir sollten den besten Weihnachtsbaum von allen aussuchen. Johann“, er deutete auf den Großvater, „hatte sofort ein Prachtstück im Auge. Es war eine riesige Blautanne, die nie im Leben in unser Wohnzimmer gepasst hätte.“

Der Onkel lachte lauthals und fuhr fort: „Vater versuchte ihm einen anderen Baum einzureden, doch mein starrköpfiger Bruder hatte sich schon festgelegt! Der und kein anderer musste es sein. Also“, bedeutsam schaute er in die Runde, „kletterte Vater etwa zwei Meter an dem eingeschneiten Baum hoch und sägte dort ab. Von einem Schwall Schnee begleitet, sank das Teil zu Boden. Wie die Schneemänner schleppten wir den gut drei Meter langen Koloss heimwärts. Mutter staunte nicht schlecht, als wir damit ankamen.“

Alle hörten aufmerksam zu, als der Onkel fortsetzte: „Nachdem das gute Stück einigermaßen trocken war, stellte Vater es im Zimmer auf und steckte die Sternspitze an. Unser Christbaum sah jetzt schon wunderschön aus! Trotzdem schmückten wir ihn natürlich mit etlichen Glaskugeln, Lametta, Süßigkeiten und mit den kleinen Engelchen, die Mutter so liebte. Ich glaube, es war der schönste Weihnachtsbaum, den wir je hatten.“ Sichtlich gerührt und in Erinnerungen schwelgend beendete der betagte Herr seine Erzählung.

Da ergriff gleich Andreas, Leons Vater, das Wort: „Ja ja, gute Bäume hat Vater auch später immer ausgesucht. Obwohl wir als Kinder doch mehr darauf achteten was unter dem guten Stück lag!“ Wissend lächelte jeder vor sich hin, als Andreas weiter ausführte: „Ich kann mich da an ein besonderes Geschenk erinnern, das sozusagen mein ganzes Leben beeinflusst hat. Damals, wir Kinder warteten schon sehnsüchtig auf die Bescherung, lag unter dem Christbaum ein Paket, das viel größer war, als alle anderen. Das Tolle daran war, dass da mein Name draufstand.“

Alle hörten gespannt zu, so auch der Großvater. Für ihn war auch diese Geschichte neu, denn er hatte so ziemlich alles aus seiner Vergangenheit vergessen.

Sein ältester Sohn erzählte weiter: „Wie auch heute noch war es unser Brauch, die Päckchen zu öffnen, wenn es draußen dunkel wurde. Die Christbaumbeleuchtung wurde eingeschaltet und und das kleine Glöckchen gab das Startsignal. Schon stürmten wir das Zimmer und plünderten die Gaben. An diesem besagten Abend riss ich ungeduldig das Geschenkpapier von meinem Paket und enthüllte meine erste elektrische Eisenbahn! Das war etwas, sage ich euch.“

Liebevoll legte Andreas den Arm um seines Vaters Schultern. „Unverzüglich bauten wir inmitten des Zimmer die Schienen zusammen. Natürlich wollte ich die schwarze Lok und ihre beiden roten Personenwagen sofort starten lassen, aber Vater war schneller. Er ließ die Bahn in die Runden rasen, hielt behutsam in den Stationen, hob und senkte die Schranken. Es war ein Riesenspaß! Doch als Mutter uns zum Essen rief, war ich sehr erleichtert. Endlich konnte ich das erste Mal selbst ran.“, grinste der Lokführer spitzbübisch.

Alle lachten noch ausgelassen, als Anna Wenhart das Wort übernahm. „Beim Essen hielten wir die Tradition aufrecht, Gänsebraten mit Rotkraut und Kartoffelsalat zu servieren. Mein lieber Mann“, lächelte die alte Dame dem Großvater im Lehnstuhl gefühlvoll zu, „hat uns auch in mageren Jahren eine Gans nach Hause gebracht. Manchmal war es mir ein Rätsel, wie er sich das leisten konnte.“

Ihre Augen wurden glasig und nach einem kurzen Gedanken an vergangene Zeiten fuhr sie fort: „Während die Kinder ihre Spielzeuge ausprobierten, deckten wir den Tisch mit dem Porzellangeschirr und feinen, bestickten Stoffservietten. Jahr für Jahr tranchierte Johann feierlich den Festbraten und dann schlemmten wir, bis alle richtig satt waren.“

Johann Wenhart hörte angestrengt zu und musterte seine Gattin, als ob sie ihm zum ersten Mal über den Weg liefe.

Karin, die Tochter des alten Ehepaares reichte eine Schüssel Weihnachtskekse herum. Währenddessen begann sie mit einer neuen Anekdote, der alle aufmerksam lauschten.

„Als ich etwa acht Jahre alt war, wünschte ich mir von Herzen eine Puppe; so eine, wie meine Freundin hatte. Es war nicht irgendeine Puppe! Nein, es war die hübscheste Puppe überhaupt und sie konnte sogar singen. Zumindest, wenn man ihr die kleinen, runden Platten aus Plastik einlegte.“

Karins Augen glänzten. „Wochenlang erzählte ich unseren Eltern von diesem Spielzeug und hoffte es zu Weihnachten zu bekommen. Als Mutti mir dann klarmachte, dass das Geld dafür in diesem Jahr wohl nicht reichen würde, war ich unheimlich traurig. Es gab nichts, worauf ich mich bei diesem Weihnachtsfest hätte freuen können.

Gedrückt suchte ich am Weihnachtsabend nach dem Päckchen, auf dem mein Name stand. Voller Unmut öffnete ich die Schachtel und hielt total überrascht in meinen Händen, wovon ich so lange geträumt hatte.“

Die attraktive Frau küsste ihren Vater behutsam auf die Stirn und sagte: „Vati hat dafür jede Menge Überstunden gemacht, um mir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich werde es ihm nie vergessen!“

Der alte Mann betrachtete still seine Tochter, als sich der kleine Leon zu Wort meldete. „Irgendwie bin ich jetzt richtig traurig!“, raunzte der Vierjährige. „Ich habe gar keine so schöne Geschichte zu erzählen. An keines meiner Weihnachtsfeste kann ich mich erinnern!“

Plötzlich räusperte sich sein Großvater: „Da haben wir wohl etwas gemeinsam.“, brummelte er mit belegter Stimme. „Ich habe scheinbar all meine Erinnerungen verloren, doch für ungewisse Zeit habt ihr eure mit mir geteilt. Ich bin sehr glücklich und euch unbeschreiblich dankbar für dieses schöne Weihnachtsfest!“

Impressum

Texte: Coverbild: Paul Georg Meister / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2010

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