Karim marschierte ungeduldig durch den Zollausgang und hoffte, dass Peter bereits draußen auf ihn wartete. Der Flug war alles andere als angenehm gewesen und am liebsten wollte er nur noch direkt in sein Hotel. Die Ankunftshalle des Flughafens war mit roten Girlanden, goldenen Kugeln und jeder Menge Lichterketten geschmückt. „Ach ja“, dachte Karim, „hier ist ja gerade Weihnachten.“ In dem Getümmel konnte er seinen deutschen Kollegen gar nicht ausmachen, deshalb suchte er sich erst einmal ein ruhigeres Plätzchen. Da kam ihm die Telefonzelle ganz gelegen. Erschöpft suchte der junge Maschinentechniker in seiner Tasche nach dem Mobiltelefon, als eine ihm Unbekannte sich ungestüm auf das Grünzeug über ihm stürzte. Temperamentvoll pflückte sie die letzte weiße Beere des Gewächses und drückte Karim unbedarft ein Küsschen auf die Wange. Als sie bemerkte, dass der gutaussehende Südländer sie entgeistert musterte, stieg ihr die Röte ins Gesicht. „Oh, diesen Weihnachtsbrauch kennst du wohl nicht, oder?“ Skeptisch antwortete der junge Mann: “Scheinbar nicht“, und frech lächelnd fügte er noch hinzu: „Aber womöglich sollte ich manche dieser Bräuche schnell kennenlernen.“
Verlegen überging die hübsche Rothaarige diese Aussage und stellte sich vor: „Ich bin Tanja, Peters Assistentin. Ich bringe dich ins Hotel und anschließend möchte sich Herr Haider gleich mit dir treffen.“
Auf dem Weg zum Wagen und während der Fahrt unterhielten sich die beiden ein wenig über ihr Projekt. Karim kannte das Deutschland-Team bisher nur von Telefonaten und Internetkonferenzen. Der Projektleiter, Karl Haider, war ihm immer sehr freundlich und kompetent erschienen. Trotzdem war Karim eigentlich nicht begeistert gewesen, als der Konzernleiter ihn als ihren Ansprechpartner auswählte. Doch letztlich war er nun hier und musste das Wochenende so gut wie möglich hinter sich bringen.
Während sich der Fremde in seinem Hotelzimmer rasch frisch machte, wartete Tanja im Foyer. Immer noch war ihr der Zwischenfall auf dem Flughafen ziemlich peinlich. Was musste er bloß von ihr denken? Gedankenversunken spielte sie mit ihrem Schlüssel, als Karim todschick in Anzug und Krawatte die Treppe herunterkam. Er bedankte sich höflich für das Warten, half Tanja in ihren Mantel und schlüpfte in seinen eigenen. Sie hatte ein sehr ansprechendes Äußeres, doch neben diesem Herrn fühlte sich die Zwanzigjährige in ihren Jeans gar nicht wohl.
Bevor sie die Eingangshalle des Hotels verließen, blieb Karim stehen und begutachtete den Tannenbaum, der in einer Ecke aufgeputzt wurde. Wie auf dem Flughafen wurden auch hier Kugeln als Schmuck aufhängt. Lametta und kleine Figuren aus Holz und Schokolade zierten bereits den prächtigen Nadelbaum. „Der Baum wird für morgen geschmückt. Da ist Heilig Abend!“ erklärte seine Begleiterin rasch. „Ah, noch so ein Weihnachtsbrauch!“, neckte Karim schelmisch und Tanja spürte, wie ihre Wangen sich erneut röteten.
Mittlerweile hatte es zu schneien begonnen und die Stadt versank leise in der Dämmerung unter einer weichen Schneeschicht. Tanja war entzückt, als sich die kalten Flöckchen in ihr Gesicht setzten. Auch Karim war begeistert. Schließlich war es sein erstes Schneeerlebnis. In seiner Heimat gab es niemals Schnee. „Wie es aussieht bekommen wir endlich weiße Weihnachten!“, gluckste Tanja und drehte sich vor Freude im Kreis. Karim beobachtete eine Weile, wie ihr langes Haar im Schneegestöber tanzte. „Ein interessantes Mädchen.“, dachte er und hakte bei ihr unter. Arm in Arm schlenderten sie nun zum Firmengebäude, das nur ein paar Minuten entfernt lag. Tanja wurde ein wenig nachdenklich und erzählte schließlich: „Normalerweise habe ich Weihnachten immer mit meiner Familie verbracht. Doch kürzlich haben sich meine Eltern zerstritten und keiner möchte heuer mit dem anderen zusammen feiern. Schade, nicht? Dabei ist es doch unser großes Familienfest.“ Karim hörte schweigend zu. Als sie den Fahrstuhl des großen Jugendstilhauses betraten, waren beide in Gedanken versunken.
„Ich freue mich, Sie bei uns empfangen zu dürfen!“, durchdrang die Stimme des Projektleiters die Stille. Überschwänglich schüttelte er der dem Gast die Hand. „Ich hoffe Sie hatten eine gute Reise und sind noch ein wenig fit. Ich verspreche, mich so kurz wie möglich zu fassen!“, lachte er. Korrekt begrüßte auch Karim Herrn Haider und alle anderen anwesenden Mitarbeiter der deutschen Mannschaft. Nach einigen Worten der Höflichkeit, begannen sie sogleich die wichtigen Themen durchzunehmen. Der orientalische Techniker war einer der besten auf seinem Gebiet. Er hatte sich sehr gut vorbereitet und konnte dadurch alle Unklarheiten rasch klären und Fragen beantworten. Nach zweieinhalb Stunden war die Sitzung dann offiziell beendet. Morgen vormittags würden sich Herr Haider und Karim treffen, um die restlichen Unterlagen und Pläne durchzusehen. Der Rest des Teams würde frei haben.
Während Karim seinen Laptop und die mitgebrachten Papiere einpackte, gesellte sich Tanja wieder zu ihm. „Peter ist leider krank geworden,“ berichtete sie, „und weil ich nichts Besseres vorhabe, werde ich dir assistieren.“ Obwohl der junge Mann sie kaum kannte, freute er sich, dass er sie morgen noch sehen konnte. „Fein“, grinste er in Tanjas Richtung, „dann kannst du mir ja noch mehr von euren Bräuchen erzählen.“ Unerwartet stand er auf und hob den sauber gebundenen Adventskranz vom Tisch über seinen Kopf. „Was bekomme ich denn zum Beispiel für dieses Weihnachtsgewächs?“ Tanja musste lachen und schüttelte den Kopf: „Tut mir wirklich Leid für dich, aber der Adventskranz ist nur Dekoration. An den vier Sonntagen vor Weihnachten wird jeweils eine Kerze nach der anderen angezündet, bis an Heilig Abend dann alle vier Kerzen brennen.“
Das fröhliche Mädchen musste immer noch lächeln, als sie den Arbeitsplatz verlassen hatten. Nachdem Karim zum ersten Mal in Deutschland war, beschlossen die beiden noch eine kleine Runde durch die Innenstadt zu machen. Die Schaufenster waren festlich gestaltet und die Menschen eilten hektisch umher, vielleicht um noch das eine oder andere Geschenk zu besorgen. Idyllisch spazierten Tanja und Karim durch die Straßen, ohne sich von der Unruhe ihrer Umgebung anstecken zu lassen. Im Gegenteil, sie unterhielten sich angeregt bis spät in die Nacht. Auf dem Rückweg, zurück zu Hotel und Wagen, durchquerten sie den Rathauspark, der ebenfalls märchenhaft dekoriert war. „Schau mal“, rief Tanja plötzlich. „Dort gibt es kandierte Äpfel!“ Aufgeregt wie ein Kind zog sie Karim in Richtung Weihnachtsmarkt. Bei den aufgebauten Ständen konnte man die verschiedensten Dinge kaufen. Obwohl der Markthändler eigentlich gerade schließen wollte, bekam Tanja noch schnell zwei glänzende, rote Äpfel. Wer konnte der sprühenden Rothaarigen schon etwas abschlagen?
Bei Tanjas Wagen angelangt, bedankte sich Karim für die großartige Touristenbetreuung und verabschiedete sich freundlich. Ziemlich verlegen, aber sehr glücklich machte sich das Mädchen auf den Heimweg. Karim war etwas aufgedreht und wollte noch nicht in sein leeres Hotelzimmer. Deshalb setzte er sich noch ein wenig in das Café an der Ecke und trank eine Tasse heißen Tee. Gemütlich unterhielt er sich noch einige Zeit mit einem anderen Gast, der ihm noch so einiges über Weihnachten erzählte. Karim glaubte auch an Jesus als Propheten, jedoch war es in seiner Kultur nicht üblich, Geburtstage von Propheten zu feiern. „Manche Familienmitglieder treffen sich das ganze Jahr über nicht; nur Weihnachten ist für alle ein Pflichttermin.“, schloss der alte Mann seine Erklärungen und erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl. Für Karim war es nun auch Zeit eine nächtliche Pause einzulegen.
Nach ein paar Stunden Schlaf riss das Klingeln des Telefons den jungen Mann unsanft aus den Träumen. „Einen schönen guten Morgen!“, meldete sich die Stimme des jungen Rezeptionisten. „Sie wollten um sieben Uhr geweckt werden.“ Verschlafen bedankte sich Karim und blinzelte zum Fenster hinaus. Tanjas Wunsch hatte sich erfüllt. Die weißen Weihnachten waren ihr sicher. Rasch duschte und rasierte er sich und verließ wenige Minuten später bereits das Zimmer. „Falls jemand nach mir fragt: Ich muss noch schnell etwas besorgen. Bin gleich wieder da!“, rief er dem Hotelmanager im vorbeigehen zu und trat hinaus in die Kälte. Nachts hatte ihm der Schnee besser gefallen. Es war so romantisch gewesen. Oder lag das etwa nicht am Schnee?
Als Karim durch die Drehtüre des Hotel zurückkehrte, sprang ihm Tanja bereits entgegen. Ihre unbändige, rote Mähne umrahmte ihr zierliches Gesicht. Sie sah einfach umwerfend aus! Gemeinsam schlenderten die Kollegen, wie am Vortag, zum Konferenzraum ihres Arbeitgebers.
Die Abschlussbesprechungen verliefen nach Plan, sodass Herr Haider bald das „Dienstliche“, wie er es nannte, für beendet erklärte. Nach einem anständigen Austausch von Komplimenten über die erfolgreiche Arbeit, einigen Grüßen an diverse Mitarbeiter und was sonst noch zu sagen war, trennten sich die Herren kollegial.
Unterdessen bereitete Tanja lustlos ihren eingeschneiten Wagen für die Fahrt zum Flughafen vor. Sie bedauerte, dass Karim schon heute zurückfliegen musste. Er war ihr sehr sympathisch und sie hätte ihn gerne noch ein bisschen besser kennengelernt.
Es ging nur langsam voran, weil die Straßen durch den Neuschnee sehr rutschig waren. Dadurch blieb genügend Zeit die Vorgärten der umliegenden Häuser zu erforschen. Bei einigen schien der Weihnachtsmann die Fassade hochzuklettern. Fast alle wurden, obwohl helllichter Tag war, in strahlende Lichterketten gehüllt. Man musste direkt in Weihnachtsstimmung kommen.
Nach einer Weile brach Tanja das Schweigen und erzählte, dass ihre Eltern sich am Vorabend versöhnt hatten. Nun gab es doch noch eine Familienfeier. Eigentlich war sie darüber recht froh, denn Tradition ist schließlich Tradition. Die Familie war Karim besonders wichtig, deshalb freute auch er sich sehr für Tanja.
Auf dem Flughafengelände war reger Verkehr; sowohl motorisiert, als auch zu Fuß. Karim wunderte sich, dass es so viele Menschen in die Ferne zog, wo doch heute ihr großes Fest war. Die geliehene Assistentin blieb geduldig an Karims Seite, bis der Aufruf für seinen Flug aus den Lautsprechern hallte.Flott zog Karim ein kleines Päckchen aus der Manteltasche. Er streckte es Tanja entgegen und lächelte einnehmend. Mehr als überrascht und total gerührt fragte sie: „Für mich?“ Doch anstatt auf diese Frage zu antworten, bedankte er sich liebenswürdig für all ihre Bemühungen und die schöne Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte. Zur Verabschiedung streckte er ihr die Hand entgegen und nach einem empfindsamen Händedruck steuerte er den Schalter der Passkontrolle an. Er drehte sich noch einmal um und rief: „Im März komme ich wieder. Bewahre den Inhalt des Päckchens bis dahin gut auf!“ Von Neugier getrieben entfernte Tanja hurtig das hübsche Weihnachtspapier. Sie musste Lächeln, als sie einen Mistelzweig mit vielen, vielen weißen Beeren enthüllte. Was für ein Weihnachtsgeschenk!
Texte: Text und Bilder © by Doris Salam
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2010
Alle Rechte vorbehalten