Herr Loderer
Im Sommer sind die Tage lang und wer aus Mangel an Gelegenheit nichts zu tun hat, füllt diese langen Tage, so wie ich, halt mit Nichtstun aus. Das heißt, nicht mit Nichtstun im absoluten Wortsinn, denn das geht ja schließlich sowieso gar nicht, sondern mit Müßiggang im Zusammenhang mit der fehlenden Möglichkeit, einen passenden Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten zu können. Egal.
Jedenfalls führte mich diese Bewandtnis einmal mehr durch die Straßen unseres Städtchens, untergeordnet im Gemüt die Hoffnung, irgendwas Brauchbares zu erleben oder etwas Entsprechendem zu begegnen. Die Hoffnung erwies sich als fruchtbar: in vielleicht fünfzig Metern Entfernung entdeckte ich einen alten Bekannten, Herrn Loderer und kaum eine Sekunde später war es offensichtlich, dass auch er mich entdeckt hatte. Schon standen wir uns gegenüber, schüttelten einander, wie es sich unter alten Bekannten gehört, mit einem geradezu angenehmen, verhaltenen Argwohn die Hände. Schnell war's geklärt, dass wir beide nichts Bestimmtes vorhatten und so beschlossen wir, ungeachtet der Tatsache, dass äußerst zurückhaltendes Wirtschaften angesagt war, weil unsere Volksvertretung im Verein mit guten Freunden aus einflussreicher Unternehmerschaft einen Großteil unserer ohnehin recht kargen Einkünfte abgezweigt hatte, um ihn für die Kompensation von Missmanagement und den Komfort wenigstens einer kleinen, ausgewählten Minderheit bereitzuhalten, auch ungeachtet des Ärgers, den uns diese verdammten Dreckshalunken damit bescherten, uns in einem Café an einer Tasse würzigen, wenn auch teuren Kaffees gütlich zu tun. Kaum dass wir Platz genommen hatten, legte Herr Loderer auch schon mit einer Geschichte los, die ich, letztes Mittel, sie wieder loszuwerden, endlich aufschreiben möchte:
Er sei nun mal ein Mensch, der den Dingen auf den Grund zu gehen pflege, leitete er mit bemüht vielsagendem Blicke sein Erlebnis ein. Das zehnte, vielleicht zwölfte Mal in seinem doch erst achtundvierzig Jahre andauernden Leben habe es ihn neulich - na gut! - im Schlaf ereilt, jenes Unglück mit tagelang nachhallendem Schrecken. Kaum dass er - ist doch erst mal egal - eingeschlafen und in eine Art übergeordnetes, wachsames Bewusstsein übergewechselt sei, sei es wieder los gegangen. Im Mund, mit den Zähnen. Einer zwingenden Ahnung folgend habe er mit der Zunge, soweit sie es erreichen konnte, sein Gebiss prüfend betastet und auch gleich, noch vereinzelt, dessen Lockerung festgestellt. Ein erster Schrecken habe ihn dabei wie ein schwülwarmes Windchen gestreift. Weiteres Testen war nun unumgänglich. Seine gesamte Konzentration in den Muskel der Zunge gelegt, stieß er mit dieser von hinten an die oberen Schneidezähne und riss auch schon, mit einem stummen Schrei plötzlichen Entsetzens den Mund weit auf. Er hatte die Zähne aus ihrer, wenn überhaupt noch vorhandenen, dann völlig morschen Verankerung gestoßen. Ein scheuer, kurzer Test mit der unseligen Zunge brachte die trostlose Bestätigung. Und, nein, nicht nur das: alle noch vorhandenen Zähne, und das seien immerhin, bis auf einen irgendwann mal gezogenen, wirklich alle, die man von der Natur bereitgestellt bekommt, befanden sich nun losgelöst, irgendwie wie Erbsen durcheinander kullernd und nach Essig schmeckend, in seinem - warum eigentlich? - inzwischen vorsorglich-verkrampft geschlossenen Mund. Zu allem Überfluss plagte ihn die Überlegung, ob er die Zähne lieber ausspucken oder runterschlucken sollte. Es sei, wie gesagt, das zehnte oder zwölfte Mal in seinem Leben gewesen, doch immer wieder sei es ein an Qualen und Schrecken und Verzweiflung kaum zu überbietendes Unbehagen. Diesmal aber auch noch ganz besonders heftig, so dass er noch im - na und? - Traum beschloss, am nächsten Morgen etwas gegen diese Heimsuchung zu unternehmen. Gut, an diesem nächsten Morgen seien alle seine Zähne, bis auf diesen einen gezogenen, wieder festverwurzelt an ihren angestammten Plätzen im Zahnfleisch gewesen, doch was heißt das schon! Er habe sich gleich nach dem diesmal besonders zaghaft und unsicher gekauten Frühstück auf den Weg zu seinem Zahnarzt gemacht, um bei diesem einen Sondertermin zu vereinbaren. An einen Nachttermin habe er gedacht, habe er zur Rezeptionskraft des Zahnarztes gesagt, nachdem er ihr kurz das nächtliche Grauen geschildert hatte. Dass man doch auf diesen modernen Behandlungsstühlen liegen und also auch schlafen könne und dass es dann doch kein Problem sein dürfte, mal eben in den Mund eines Kassenpatienten zu schauen. Die Arzthelferin habe jedoch mit - typisch für diese Mädels! - spöttischer Überheblichkeit abgelehnt und wollte sich auf gar keine weitere Debatte einlassen. Da er, Herr Loderer, aber ein Mann sei, der sich nicht so mir nichts, dir nichts, abwimmeln, der nicht locker lasse (obwohl, wenn er in Bezug auf “locker” an letzte Nacht denke!), aber egal, habe er nun verlangt, dem Herrn Doktor sein Problem persönlich vorzutragen. Zufällig sei ein für jetzt gerade bestellter Terminpatient nicht erschienen, so dass der Zahnarzt, wenn auch nicht eben wohlwollend, Herrn Loderers Ausführungen lauschte. Dass er von etwas Derartigem noch nie gehört habe, nuschelte der Mundmediziner abgehoben und dass er den Leidtragenden deshalb bestenfalls mit einer unverbindlichen Kurzdiagnose, etwa “Gesundheitsreform-Neurose” bedienen könne. Wie angewurzelt (ausgerechnet!) habe Loderer im Flur gestanden und den fortschwebenden Doktor noch nuscheln hören, dass man dafür über kurz oder lang ein geeignetes, kostenpflichtiges, weil nicht von der Kasse zu übernehmendes Mittelchen auf den sehr aufnahmefreudigen Pharmamarkt werfen werde. Dann habe er sich, zwar nicht abgewimmelt, aber doch im Regen stehen gelassen, missgelaunt getrollt.
Was ich von der ganzen Geschichte eigentlich halte, fragte er mich, nachdem wir den Kaffee ausgetrunken und auch schon bezahlt hatten, wie befürchtet. Zum Glück hatte ich mir in dieser kurzen Zeitspanne schon eine passende, eine Ausweitung des Themas verhindern sollende Antwort zurecht gelegt: er solle es vielleicht mal mit so einer Haftcreme, Kukident oder so, versuchen. Wir gingen dann, in entgegengesetzten Richtungen unserer Wege und für den Hauch einer Sekunde befiel mich ein leiser Pflichtgewissensbiss, diesem leidenden Herrn Loderer doch ein wenig zu wenig mitfühlend begegnet zu sein. Diesen Gewissenswurm konnte ich aber mühelos mit einem alten Ohrwurm aus dem Webefernsehen, nämlich “Wer es kennt nimmt Kukident!” beseitigen.
Tag der Veröffentlichung: 07.01.2009
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