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Flug und Trug



So kalt und anonym und, mal abgesehen von den täglichen, kleinlich-lächerlichen Empörungen über unterschiedlich egoistisches Sozialverhalten, ereignislos sind Hochhäuser eigentlich gar nicht.

Wenn man ganz früh morgens, oder besser noch: ganz spät nachts einen Lauerposten am Fenster, oder besser noch: auf dem Balkon bezieht, kann man die unglaublichsten Beobachtungen machen. Erst neulich war da das Treiben eines männlichen Menschen zu beobachten, ein Treiben von solch absonderlicher Eigentümlichkeit, dass der spätnächtliche Balkonschauer, der aus Dingsda, Datenschutz oder so was Ähnlichem lieber nicht namentlich genannt werden mochte, sich geradezu genötigt sah, das Erlebte schriftlich festzuhalten.

Keine Sorge, nicht der taumelig-erschöpfte, frustrierte Kneipenbummel-Spätheimkehrer, der, vor sich hin brummelnd, singend oder grölend, vielleicht ein Breilein aus noch fast ofenfrischer Pizza mit wohligem Ächzen auf dem Asphalt verteilend, seines Weges torkelt, soll hier beschrieben werden. Vielmehr ein Männlein unschätzbaren Alters lugte aus einer sich zaghaft öffnenden Tür eines gegenüberliegenden Hauses. Es wirkte ein wenig schlaftrunken, schien nach Orientierung zu suchen und tapste, es mochte am Licht der städtischen Straßenlaternen und/oder der den Sinnen Streiche spielenden Nachtzeit liegen, gleichzeitig wie völlig nackt und vollständig bekleidet scheinend, auf die Straße. Obwohl die Straße glatt und hindernislos war, stolperte das Männlein plötzlich heftig, fiel aber nicht wie wohl erwartet, zu Boden, sondern verharrte verwundert in einer Art schräger Schwerelosigkeit. Es schien diese Haltung, diesen Zustand sichtlich zu genießen, denn ein vages Glücksgefühl veränderte die Mimik seines lichtblassen Gesichtes. Dieses Gefühl wurde jedoch noch im selben Moment von einem Zweifel an der Möglichkeit des Augenblickes verdrängt. Mit wenig Mühe richtete sich der kleine Nachtwandler auf, tat ein paar Schritte und simulierte, gewissermaßen, ein erneutes Stolpern. Neues Glücksgefühl! Es klappt tatsächlich! Keine Sinnestäuschung! Das spürte der Kleine, das sah der Beobachter vom Balkon. Und mehr noch: der Kleine schien zu überlegen und schon zu versuchen, den gerade, eher augenzwinkernd, gedachten Gedanken des Balkonsehers, ob das Männlein am Ende gar fliegen könne, beweisen und in die Tat umsetzen zu wollen. Erst ganz langsam, sicher wegen der nicht ganz unberechtigten Restzweifel, begann es, die ausgestreckten Arme vorsichtig auf und ab zu bewegen. Dieses instinktive, pragmatisch-folgerichtig wirkende Nachahmen der bei Vögeln selbstverständlichen Bewegungen sah schon recht befremdlich aus und wirkte weniger wie physikalische Notwendigkeit als wie die Erfüllung einer vertraglichen Vereinbarung. So als dürfte er nur fliegen, wenn er so täte, als ob er es könnte. Der Vertrag wurde erfüllt, das Männlein flatterte und flog. Erst nur wenige Meter hoch, dann höher und bald schon mit einer noch etwas unsicheren Kunstfertigkeit. Dabei schien der eindrucksvolle Nachbar laut mit sich selbst zu reden. Die Entfernung war zu groß, als dass der Beobachter hätte hören können, was der Kleine zu sich sagte, jedoch ließen die Umstände und die Bewegung der Lippen des Fliegenden eine naheliegende Deutung des Gesagten zu: dass es ein äußerst erhebendes Gefühl sei, so wie ein Vöglein durch die Lüfte... Zumindest etwas Ähnliches wird es wohl gewesen sein. Endlich landete das Männlein in seinem flugfähigen Übermut auf dem Flachdach eines Nebenhauses. Am Rande des Daches stehend schien ihm seine eben erbrachte Leistung, die Miene verriet es dem Betrachter, nicht mehr so ganz geheuer zu sein. Die Überlegung des Beobachters, in so einer brenzligen Situation doch lieber sicher zu gehen, sich nicht weiter auf die neue Begabung zu verlassen und kleinlaut, aber mit heilen Gliedern den Weg über die Feuerleiter zu nehmen, schien den Flieger zu erreichen und, schon ein wenig nachfühlbar, eine Trotzreaktion zu bewirken. Das Männlein wollte, musste auf dem gleichen Wege zurück auf die Straße, zurück nach Hause. Es wägte die möglichen Konsequenzen ab, und das vorsichtige Wiegen des Körpers, das Auf und Ab seiner Arme ließ darauf schließen, dass es sich im nächsten Moment für das möglicherweise Folgenschwere entscheiden würde. Die Beobachtung des Balkonmenschen wurde durch eine leicht unerträgliche Wahrnehmung ergänzt: so wie das Flugmännlein seine beiläufigen Gedanken aufgeschnappt zu haben schien, schienen sich dessen jetzt quälende Empfindungen auf ihn zu übertragen. So mochten sie beim Abflattern vom Dachrand beide das Gleiche fühlen, nämlich das langsame aber unaufhaltsame Nachlassen der Flugeignung, bewirkt durch ein Schweregefühl, das glauben macht, in der menschlichen Hülle, der Haut, sei statt der herkömmlichen Knochen, Sehnen, Muskeln, des Wassers und Blutes nur noch eine Füllung aus kaltem, nassen Sand; das Ganze von einer nicht zu beeinflussenden Energie gesteuert, deren Ziel und Laune man schlicht ausgesetzt war. Beiden, dem Flieger und dem Beobachter, bemächtigte sich nun gleichzeitig ein panischer Überlebensinstinkt und, wohl bedingt durch den nassen Sand, ein heftiger Blasendruck, der trotz der dramatischen Umstände eine recht kühle Berechnung zuließ: denn Pieseln ist gleich Rieseln, Rieseln macht leichter und leichter lässt sich's leichter fliegen, zumindest das vom Fliegenkönnen noch Verbliebene zu einem nur noch gemäßigt unerquicklichen Ende bringen.


So war's denn am Ende auch. Das Männlein landete erschöpf und sandig-verschwitzt auf der Straße, trollte sich benommen zurück ins Haus, aus dem es gekommen war und der Beobachter legte sich, zweifelnd, obwohl er die Balkontüre sorgfältig verschlossen und sogar einen Sessel vor die selbe gestellt hatte, noch eine Restnachtruhe zu finden, ins sichere Bett.

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Tag der Veröffentlichung: 20.12.2008

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