An machen Tagen kommen mir Personen so aus dem Nichts in den Sinn und erfüllen mich mit einem verklärenden Gefühl der Dankbarkeit. Diesen Menschen bin ich in besonderer Weise verbunden, weil sie prägenden Einfluss hatten, mir Werte vermittelten. Leider habe ihnen ich nie dafür gedankt, weil ich ihren Wert erst entdeckte, als sie schon lange tot waren. Diesen möchte ich ein Denkmal setzen oder meinen Lieblingsstraßen ihren Namen geben.
Der mir heute als erster in den Sinn gekommen ist, war Erich Paas, mein damaliger Lehrer in der Metall-Gewerblichen Berufsschule in Düsseldorf. Erich Paas unterrichtete neben Technischem Zeichnen, noch die Fächer Werkstoffkunde sowie Metallbearbeitung. Ich musste heute an ihn denken, weil ich ein Gewinde auf einer Schraube nachschneiden musste. Ich tat es mit den bescheidenen Möglichkeiten, die eine heimische Werkstatt eines Häuslebauers eben bietet. Die im Verlaufe der Zeit angesammelten Werkzeuge waren ausreichend, um die anfallenden Reparaturarbeiten im eigenen Hause ohne fremde Hilfe auszuführen.
Die bevorstehende Reparaturaufgabe bestand darin, die Befestigung einer abgefallenen Hälfte eines Plastikscharniers an einem mannshohen Video-Stativ wieder herzustellen. Dem „Unfall“, d.h. dem Eintreffen eines nicht-voraussehbaren Ereignisses, vorangegangen war, dass eine hochwertige, neue Videokamera meines Sohnes nach Senkrechtstellung mithilfe dieses Scharniers aus eben diesem einfach zu Boden stürzte und einen beträchtlichen Schaden erfuhr. Nun galt es, dieses Scharnier in seinen Funktionen wieder herzustellen, um eine Wiederholung eines solchen Un-Falles zukünftig zu vermeiden. Der eigentliche Ursache war, dass sich eine Schraube plus Mutter, die die beiden Scharnierhälften zusammenhielten, irgendwie und unsichtbar, unabsehbar „verflüchtigt“ hatten.
Die Arbeit umfasste die Suche nach einer passenden Schraube, im richtigen Durchmesser, richtiger Länge und der Vorkehr, dass sich diese nicht von selbst löst. Bei den Überlegungen wie ich denn nun diese Arbeit vernünftig ausführen sollte, kramte mein Gedächtnis in seinen vielen Schubladen herum, um die richtigen nächsten Schritte zu tun.
Über irgendwelche vernetzte Hirnwindungen wurde ein Pfad zu einem meiner früheren Lehrer hergestellt und bums ich befand ich mich plötzlich mental in die damals lähmenden Unterrichtsstunden von Erich Paas hineinversetzt. Es tönte fast in meinem Hirn: „a)Bitte nennen Sie mir lösbare Metall-Verbindungen und wie sie gegen Selbstlösung gesichert werden?“ „b)Nennen Sie die Vorteile und Nachteile dieser Verbindungsarten“, „c)Nennen Sie Einsatzfälle solcher Verbindungen“; ja, dies waren die Fragen, die mir donnernd ins Gedächtnis schossen. Fragen aus den Klausuren, die Paas damals unangekündigt schreiben ließ. Ja, das waren noch die einfachen Fragen, nicht die, nach ISO-Pass-Fassungen, Steigungen von Witworth-Feingewinden.
Wo hatte man als damals 18-jähriger diesbezügliche Erfahrungen her? Ehrlich gesagt hatte ich weder Vorwissen, noch praktische Erfahrung dazu, nichts. Also musste man das ganze Wissen aus Büchern schöpfen, auswendig lernen, einbläuen oder mir in den äußerst langweiligen Unterrichtsstunden merken oder wenigstens aufschreiben. Es war schon eine Vorstufe zu dem, was mich später in meinem Studium erwartete: Wissensaufnahme ohne den praktischen Bezug zu kennen bzw. zu erahnen.
Jetzt also tauchten Fragmente dieses versunkenen, angelernten Wissens auf, und boten sich irgendwie freundlich als ein Hilfestütz meines Langzeitgedächtnisses für die gerade aktuellen Probleme an. Das Hirn hatte eine Schublade aufgezogen, auf der stand: Metallbearbeitung. Diesmal mit einer anderen Interessenslage, nämlich, Informationen über praktisch auszuführende Arbeiten zu erhalten und nicht, um eine in der Klausur gefragte Frage richtig zu beantworten. Es war diesmal ganz anders, weil ich nun in der Verantwortung stand: Meine hier auszuführende Reparatur musste so angelegt sein, dass sich ein solcher Vorgang nicht wiederholte, ja, die Reparatur sollte auch nicht den Gebrauchswert, die Funktionen des Stativs mindern. Letztlich ging es darum, ein Werk zu vollbringen, mit dem man die Verantwortung für das Ergebnis übernehmen musste.
Verantwortung, ja das war das Schlüsselwort. Hinter dem Ergebnis zu stehen. Leuten, die dies gebrauchen, die nicht viel Gedanken machen, ob nun die Schrauben angezogen waren. Diese wollen aufstellen. Es ist so eine nicht ausgesprochene Erwartung, dass alles seinen Dienst, seine Funktion hat und tut. Wie ein Zug, der voller Technik ist, einfach erscheint, ohne dass dazu Überlegungen angestellt werden, ob denn seine Räder wirklich breit genug sind für die Schienen, die Räder die ausreichende Dimensionierung haben, diesen Wagen oder die Lok zu tragen. Hochkomplexe Technik hat ihren Dienst zu tun. Aber ich schweife ab, Erich Paas hat sich also zurückgemeldet, der alte Kotzbrocken; „nicht für die Schule, sondern fürs Leben“ raunte es in mir.
Zurück zur anstehenden Reparatur: Nachdem ich also die Schublade mit dem Wissen über lösbare und unlösbare Verbindungen gezogen hatte, die darin liegenden Lösungen auf Übernahme für den konkreten Fall überprüfte, schien es mir so, als ob Erich Paas unsichtbar, aber doch fühlbar erschien, in seinem weißen Kittel, seine wenigen Haare auf die Kopfhaut streng gekämmt und mit einer Stimme sprach, die mein inneres Ohr hören konnte. Er sagte, „Schön dass ich sehe, Herr Leopold, dass Sie sich doch noch erinnern an meinen Unterricht. Es befriedigt mich, dass ich nun nicht ganz umsonst gelebt habe“. Er wurde richtig milde, dieser sonst so unerbittlich harte Knochen, der einem eine vier minus geben konnte, wenn man in einer umfänglichen technischen Zeichnung eine innere Kante eines gezeichneten Werkstücks mit eine Strichstärke 0,8 Millimeter gezeichnet hatte, statt 0,6 Millimeter. Und dies als einzigen Fehler. Also Erich Paas schien milde geworden zu sein!
Eigentlich war ich jetzt erst, nach fast 40 Jahren dankbar, dass Erich Paas so ein Ekel war. Ja, er hat mich gelehrt, dass sauberes Denken, sauberes Arbeiten, zu sauberen Ergebnissen führen. Späte Einsichten, die erst gekommen sind, nachdem ich selbst Verantwortung übernehmen musste. Danke Erich Paas. Danke, dass Sie mein Lehrmeister gewesen sind. Auch war er verantwortlich dafür, dass ich als späterer Vorgesetzter und Ingenieur immer wieder den Praktikern, d.h. Meistern und Gesellen, mit Respekt begegnet bin.
Nach so etwa einer Stunde Arbeiten war das Ergebnis meiner Reparatur war perfekt: Ein M6-Gewindebolzen fand ich in meiner Kramkiste, der abgesägt werden musste. Das Gewinde musste nachgeschnitten werden, mit Rapsöl (Paas,:“Na ja, geht grad“) als Schmiermittel. Die unlösbar-lösbare Verbindung wurde mit Sprengscheiben realisiert und die Gegenkonterung der zwei Schrauben (Schlüsselweite 10 Millimeter). Das ganze gesichert gegen Verletzungen durch eine Kronenmutter (Paas: „ sehr gut“).
Paas meldete sich etwas brummelig wieder, also so ganz befriedigt ihn diese Gesamt- Lösung nicht, weil statt der 2 Muttern und 2 Sprengringe lediglich eine Stoppmutter hätte eingesetzt werden müssen; 4 Punkte Abzug. Dieser Paas ! Mein Einwand: „Es ist doch mehrfach gesichert“, begegnete er mit dem Hinweis: „ Handwerklich nur die zweitbeste Lösung wegen erhöhtem Material- und Arbeitsaufwand“. „ Lieber Herr Paas“, begegnete ich ihm forsch, „wenn dies von einer neutralen Stelle aus beurteilt würde, würde diese, meiner Lösung, voll zustimmen, weil es auch so sicher genug ist“. Paas stemmte seine Arme in die Seite, sein Scheitel sah noch strenger aus, irgendwie erschien er noch massiger, als er fast beleidigt schnaufend sagte: „Sicher genug zwar, reicht eben nicht aus, eine deutsche Handwerksarbeit muss „absolut sicher“ sein“.
Weiter entgegnete ich innerlich empört:“Lieber Erich Paas, ich würde meiner Lösung, meiner Arbeit, selbst eine 2 plus geben“. Paas blinzelte durch seine kleinen Augengläser und sagte: „Sie bekommen von mir eine drei minus, weil dies den Unterschied ausmacht, zwischen „genug“ und „absolut“.
Ich schmunzelte in mich rein und sagte:“ Herr Paas, sie haben sich nicht verändert“. Er meinte „leider doch, wissen Sie“, sagte er, „als Ingenieur-Praktikant hätte ich ihnen eine vier minus gegeben müssen, aber da Sie sich an meinen Unterricht erinnert haben, bin ich bereits etwas nachsichtiger geworden“. „Aber“, sagte er, „nutzen sie meine diesmalige Milde nicht aus. Werden sie absolutund korrekt bei Ihren Arbeiten und achten darauf, ob sie es verantworten können“. Er schaute dabei über seine viel zu kleinen Augengläser drüber hinweg und ich sah den Menschen Erich Paas dahinter und ich bekam feuchte Augen, denn ich sah dahinter einen traurig-wissenden, aber durchaus den ernsthaft-väterlichen Blick.
Ich wachte aus diesem inneren Dialog auf, als mein Sohn polternd in die Werkstatt kam und sagte, „Na Alter, was machen deine Fortschritte?“. Ich gab ihm wortlos das reparierte Stativ als er nachfragte: „Was hast du eigentlich gemacht?“
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2012
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