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Free Climb

Ich war klein, als ich es das erste Mal probierte. Ich war auf einer Geburtstagsfeier meines besten Freundes und hatte zuerst ein wenig Angst, weil ich in den Höhen der Kletterhalle den Seilen nicht so recht traute. Doch ich merkte schnell, dass die Überwindung der eigenen Angst einen weiter bringt, als man es für möglich hält. Man muss sich nur zwingen. Das war eine wichtige Grundlektion beim Klettern für mich. Man darf dabei nur sein Ziel im Auge behalten und der Weg ist reine Überwindung.
Doch nach ein paar weiteren Besuchen in der Kletterhalle, verlor ich das Klettern aus den Augen und ich vergaß beinahe den Adrenalinschub, der einem beim Klettern so einen Spaß gebracht hatte. Bei jedem Blick von der Kletterwand nach unten konnte man ihn spüren und genießen.
Nun war ich mittlerweile 25 Jahre alt und bereits verlobt mit der besten Frau meines Lebens. Alena war selbstbewusst, sehr humorvoll und ein wenig eigensinnig. Doch das war eine gewisse Herausforderung und durchaus in einem Maße, das sympathisch und liebenswert war, denn wer wollte schon eine Frau, die einen auf Schritt und Tritt verfolgte ohne eigenen Kopf? Mir hätte so eine Frau jedenfalls nicht viel Spaß gemacht. Außerdem war Alena lebensfroh, kleiner als ich und hatte braune Haare, die sie gerne zu einem Zopf band. Mit ihr war ich glücklich und zufrieden.
Bis ich eines Tages das Klettern wieder fand. Es war eine Fernsehsendung, die mich auf das so genannte Freeclimbing aufmerksam machte. In der Natur zu klettern musste großartig sein. Sofort bekam ich Interesse und recherchierte im Internet darüber. Es gab tatsächlich einen Verein ganz in der Nähe und da ich gerade das Studium beendet hatte, hatte ich sogar in der nächsten Zeit genug Platz im Terminkalender dafür.
Der nächste Tag war ein Samstag und ich setzte mich schon mittags auf meine kleine Schwalbe und fuhr zu dem „Verein freier Kletterer NRW“. Das Vereinshaus war in einem Industriegebiet und teils mit unschönen Graffiti beschmiert. Die Eingangstür war ein wenig verdunkelt und als ich vor sie trat, konnte ich ein Schild mit Öffnungszeiten ausmachen, auf dem stand: „Mo-Fr: 14-16 Uhr, Sa: 13-15 Uhr“ Ich schaute auf meine Uhr und war erleichtert. Zehn vor Eins las ich, setzte mich auf die verrottete Bank vor dem Gebäude, die so überhaupt nicht ins Industriegebiet passte, und wartete. Keine sieben Minuten später kam eine Frau mit blonden Haaren und einem klimpernden Schlüssel und bat mich herein.
Von ihr erfuhr ich, wie ich Mitglied werden konnte und was die Grundvoraussetzungen dafür waren. Sie bestanden nur darin, dass man am besten keine Höhenangst haben sollte und einen Kletterschein brauchte und die Monatsgebühren für den Verein waren auch nicht besonders hoch. Also schlug ich ein und füllte ein Formular aus, das mich offiziell zum Mitglied machte.
Den Kletterschein, der mir zusprach, dass ich mit dem standardmäßigen Klettermaterial fachgerecht umgehen konnte, bekam ich nach einem halben Tag Schulung und etwa 20 Euro. Er war keine große Sache und dauerte deshalb nicht besonders lange.
Der Trainer, der ihn mit mir gemacht hatte, lud mich daraufhin noch zu einem Treffen am kommenden Mittwochabend ein, das für alle Mitglieder ausgelegt war, und sagte noch extra dazu, dass auch ein paar Anfänger dabei sein würden, ich also nicht der einzige wäre. Ich nahm das Angebot mit Freude an und war erstaunt, wie schnell das alles ging.
Erst zuhause merkte ich, dass ich Alena versprochen hatte, sie am Mittwoch ins Kino zu begleiten. Ich beichtete ihr alles und sie guckte mich schräg an. Sie wirkte fast ein bisschen Vorwurfsvoll, meinte dann aber: „Mach, was du für richtig hältst, aber versuch bitte das nächste Mal nicht, genau unsere Treffen zu ruinieren.“ Sie lächelte wieder und ich wurde erleichtert, dass sie mir nicht böse war.
Das Treffen verlief wunderbar, denn ich traf nette Leute und sogar welche, die am darauf folgenden Tag wieder los ziehen wollten und den Warsteiner Hillenberg beklettern wollten. Da schon ein anderer Neuling dort mitzog, durfte ich auch mitkommen und mein Glück versuchen. Und schon wieder, so dachte ich, hatte ich anscheinend Glück, die richtigen Leute getroffen zu haben.
In der Nacht schlief ich in Vorfreude auf den Donnerstag schnell ein und war am Morgen hellwach. Wie ein kleines Kind fühlte ich mich.
Und dann war es wieder soweit: Ich durfte endlich wieder klettern!
Nach den ersten paar senkrechten Metern dämmerte es mir und einige Meter weiter oben war es mir dann glasklar: ich brauchte diesen Sport! Adrenalin pumpte durch meinen Körper und ein unglaublicher Nervenkitzel durchzog mich. Ein starker Windzug rüttelte an mir und lies mich noch mehr Aufregung verspüren. Ich war frei. Ich war hoch oben und konnte über die Wälder gucken, bis nach Warstein. Ich konnte die Hausdächer ausmachen, die, wie kleine, abstrakte, rote Flecken aussahen. Niemand konnte mich hier herunter holen, denn ich war fest mit dem kalten Gestein verbunden. Ich war eins mit der Natur. Immer weiter suchten meine Hände sich die passenden Nischen und ich kletterte den anderen hinterher, die die Haken in den Fels geschlagen hatten, an denen ich meine Karabinerhaken festmachte und als wir oben angekommen waren, war es ein wahnsinniges Gefühl, mit eigener Kraft hier hoch gekommen zu sein und es machte Spaß, die kleinen Menschen, die unter uns herliefen zu beobachten, wie Ameisen auf einer Terrasse. Keiner von ihnen würde jemals so glücklich sein, wie ich in diesem Moment, begann ich zu glauben. Ich streckte die Arme in beide Richtungen, stieß Jubel aus und drehte mich um meine eigene Achse. Wundervoll, auch wenn die anderen das Ganze nicht so berührte, ich musste den Moment veredeln und jubelte in Richtung Horizont, wie ein Verrückter.
Irgendwie musste meine Vorstellung den anderen dann aber doch gefallen haben, denn sie lachten mit mir, freuten sich ein bisschen mehr als vorher und luden mich zum Schluss sogar zu einem weiteren Mal Klettern ein. Das Glück war mir hold. Wahrhaftig großartig.
In jener Nacht schlief ich wie ein Toter. Ich träumte von mir als Kind, wie ich die höchsten Berge erklomm und an Orte gelangte, die vor mir noch nie einer gesehen hatte. Doch es war in gewisser Weise nicht nur ein Traum. Ich hatte es gefunden: Das Kind in mir, das sich austoben wollte und die Grenzen suchte und wenn ich kletterte, dann war ich dieses Kind.
In den nächsten Tagen gab es immer mehr der Klettertouren und ich war ganz wild darauf wieder loszufahren und mich neuen Herausforderungen zu stellen. Ich wollte immer wieder hoch und jedes Mal ein Stückchen höher. Ich wollte die Bäume von oben sehen, ohne Scheibe dazwischen und ohne festen Boden unter den Füßen. Ich wollte dem Himmel zurufen, ich sei auf dem Weg, er solle Tee bereitstellen und ich wollte dieses Gefühl haben, von der Höhe, die mir das Adrenalin durch die Adern pulsieren lies. Jedes Mal aufs Neue. Ich wurde auch von Mal zu Mal immer besser und konnte bald sogar ganz vorne mitklettern und die Routen suchen. Dann musste ich die ganzen Haken in den Stein schlagen und die kletterbaren Strecken finden. Und dabei blieb es nicht. Ich suchte mir noch zwei andere Teamkameraden heraus, mit denen ich eine Einzelgruppe bildete. Wir fuhren auf eigene Faust in die Gebirge um zu klettern und suchten uns selbst die Herausforderungen. So war das Erfolgserlebnis am Ende umso genießbarer, wenn man es geschafft hatte einen eigens ausgesuchten Berg zu besteigen. Das Glücksgefühl wurde immer großartiger und ich konnte mich immer mehr austesten an immer neuen Herausforderungen. Höher und höher von Mal zu Mal. Und jedes Mal zauberte es mir am Ende ein Grinsen großen Stolzes ins Gesicht.
Doch Alena fand meine Leidenschaft nach und nach immer nerviger und wollte mehr Zeit mit mir verbringen können. Am Freitag der vierten Woche im Kletterverein stellte sie mich zur Rede: „Warum machst du das? Du hast nur noch dein doofes Klettern im Sinn. Ich bin dir völlig egal. Liebst du mich nicht mehr oder was ist mit dir los? Hmm? Sag schon.“
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und sagte: „Ich liebe dich von ganzem Herzen, aber ich liebe auch den Sport. Versteh doch, er gibt mir einen Ausgleich.“ „Ausgleich von was? Schlaf? Was tust du denn noch außer Klettern?“ Und damit hatte sie leider Recht. Ich tat in letzter Zeit nichts anderes mehr, und ich antwortete nur: „Alena, ich liebe dich, ehrlich! Aber im Moment ist mir das Klettern wichtiger.“
Das war das Dümmste, was ich je hätte sagen können. Ich biss mir auf die Zunge und versuchte es wieder gut zu machen: „Nein, was erzähle ich?! Ich meinte…“ „Ach lass mich!“ unterbrach sie mich mit unterdrückter Trauer. „Wenn du es nicht anders willst, dann machen wir eine Auszeit. Dann kann ich meine Zeit auch anders benutzen, als auf dich zu warten, und du kannst schön deiner Kletterei nachgehen, wie es dir Spaß macht. Auf nimmer Widersehen, ich bin weg.“ Und das war sie. Ich sah sie nie mehr wieder.
Tiefe Trauer durchzog mein Herz und lies es sich anfühlen, wie ein Eisklumpen. Ich war wirklich ziemlich gemein gewesen, hatte Treffen einfach sausen lassen und war nicht ans Handy gegangen. Doch die Einsicht kam, wie so oft, leider zu spät. Es tat mir so Leid und ich schlief sehr unruhig in der Nacht. Karabinerhaken stellten sich in meinem Traum zwischen mich und Alena und sie wurde gefesselt von Sicherungsseilen. Ich sah sie schreien, doch ich konnte sie nicht hören und auf einmal stand ich ganz oben auf einem Berg mit meinen Klettersachen an und blickte herunter. Da war Alena, immer noch gefesselt, und ich wollte zu ihr, ging einen Schritt vorwärts und fiel.
Senkrecht saß ich im Bett. Schweißperlen rannen über mein Gesicht. Jetzt wurde es mir erst richtig bewusst. Was hatte ich getan? Ich hatte die beste Frau meines Lebens vernachlässigt. Ich war so dumm gewesen.
Der nächste Tag verlief sehr einsam. Ich versuchte mehrfach Alena auf ihrem Handy zu erreichen, doch sie ging partout nicht dran und ich sprach ihr ungefähr hundert Mal auf die Mailbox in der Hoffnung, sie würde mir dann wieder verzeihen. Doch auch danach meldete sie sich nicht.
Am Nachmittag brauchte ich dann wieder ein bisschen Aufmunterung und ich wusste, dass es eigentlich falsch war, aber ich setzte mich auf meinen Roller und fuhr los. Ich fuhr zu meiner ersten Kletterstelle in freier Natur und schaute hinauf. Ich hatte mich vor knapp vier Wochen so gefreut, oben angekommen zu sein und ich versuchte, dieses Gefühl wieder nachzuempfinden, indem ich den ganzen Weg erneut kletterte.
Ich setzte einen Fuß vor den anderen und tat mit den Händen das gleiche. Immer weiter aufwärts. Doch es war anders als sonst. Es fehlte etwas. Die Sicherungen waren es nicht. Sie waren mir egal und ich kletterte ohne sie. Mir war momentan alles egal und ich war überrascht, wie wenig Spaß Klettern machen konnte, wenn man eigentlich andere Sorgen im Kopf hatte, die zu groß waren, um sie auszublenden. Ich war schon sehr weit oben und konnte über die Bäume bis nach Warstein gucken. Normalerweise wäre der Anblick atemberaubend gewesen, doch er war mir in dem Moment nahezu egal. Es war die Blockade in meinem Kopf, die Alenas Abschied ausgelöst hatte und die das Adrenalin aufhielt. Es wollte nicht über mich kommen. Es wollte mich nicht ablenken, von den Ereignissen. Ich war enttäuscht und setzte meinen Gang fort. Wenn ich fertig war, wollte ich das Klettern für immer beenden. Es spendete keinen Trost mehr und hatte nur Unglück gebracht.
Doch dann auf einmal setzte auch das Adrenalin ein, doch es war ein Schrecken, der es ausgelöst hatte. Der Steinvorsatz, auf den ich meine rechte Hand gestützt hatte, gab nach und zerbröselte. Mein Gewicht verlagerte sich und mein Körper schwang ab von der Wand. Ich rutschte mit den Füßen vom steinernen Halt und hing für einen kurzen Moment nur noch an meiner linken Hand. Dann rutschte ich auch dort vom Vorsatz und fiel. Meine Arme wedelten wild und mein Rücken drehte sich nach unten. Panik überkam mich so heftig, dass ich nicht wusste, was jetzt passierte. Der Himmel entfernte sich erschreckend schnell und ich konnte nichts machen. Ich hatte keine Chance. Alles war vorbei und der Wind zischte mir ein letztes „Tschüsssssss“ ins Ohr.
Dann durchzog mich ein unwahrscheinlicher Schmerz und alles tat schlagartig weh. So weh, wie noch nie. Doch den Bruchteil einer Sekunde später folgte die totale Entspannung und es wurde schwarz um mich.

Impressum

Texte: Sowohl der Text, als auch das Cover sind von mir, Leonard Hanke, und stehen unter meinem Copyright.
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch allen denen, die besessen von etwas geworden sind. Denn Besessenheit hat viel mit Kontrollverlust gemein und der kann einen ruinieren.

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