Das sanfte Zusammenschlagen ihrer schimmernd bunten Flügel macht kein Geräusch in dieser schweigenden Nacht. Es ist eine Nacht, in der alle abermillionen Sterne wie abermillionen Augen auf einen herunterstrahlen und man aufpassen muss, dass man sich nicht in ihrer Tiefe und ihrer Anmut verliert, wie es ihr schon oft passiert ist. Ihr passiert es häufiger, dass sie sich in dem Anblick des Liebespaares Dunkelheit und Licht verliert. Bis dann das Morgengrauen anbricht, die Sonne wie ein Lächeln die kargen Hügel und dunkelgrünen Baumspitzen küsst. Doch heute muss sie sich konzentrieren, darf sich nicht in eine Mohnblüte kuscheln und der Stille lauschen, darf nicht übermütig vor Freude zu einem Sturzflug Richtung See ansetzen, mit ihren Fingern durch das kalte Wasser fahren, sodass es spitzt und dabei freiheraus kichern. Denn sie hat eine Aufgabe – eine wichtige Aufgabe. Drei Aufgaben, um genau zu sein. Drei wunderbare, einzigartige, unermesslich wertvolle Aufgaben, zu denen sie gerade gesittet und sturzfluglos flattert.
Ihre silbernen Haare, die anmutig im Wind wehen, kommen dem vollen Mond gleich, ihr Kleid ist kaum zu beschreiben, denn es besteht aus reinen weißen Blumen, die sich um ihren zierlichen weißen Körper ranken. Der goldene Schmetterling auf ihrem Kopf gleicht einer Krone. Doch das auffallendste an der Fee ist die Leier, die für ihre grazile Hand viel zu schwer aussieht. Jedoch hält sie das geschwungene Instrument voller Leichtigkeit und mit einer überraschenden Zärtlichkeit. Sie hat sie von ihrer Schwester der Regenbogenfee geschenkt bekommen, weshalb jede ihrer Saiten eine andere Farbe hatte, Farben, die noch niemand außer den beiden gesehen hat. Manchmal wird eine der Saiten von einer Windbö, die unsere kleine Fee immer um ein paar Zentimeter in der Luft zurückwirft, zum Klingen gebracht. Bei jedem dieser Töne – und das wissen die wenigsten – wird eine Raupe zum Schmetterling und man erzählt sich, dass diese Schmetterlinge bis zum Mond fliegen können.
Die Fee jedoch hat nun etwas Anderes im Kopf als Schmetterlinge, denn die ersten spitzen Häuserdächer erreichen ihre Sicht. Die Fee fliegt noch ein bisschen schneller und sieht sich dabei genau um. Manchmal brennt Licht in den quadratischen Fenster oder es ertönen Stimmen durch die dünnen Wände, die zwar weiß sind, aber unserer Fee nicht weiß erscheinen. Erschrocken nimmt sie die zurechtgestutzten Büsche und die akkurat angelegten Blumenbeete wahr. Was für eine Qual für diese armen grünen Lebewesen! Was für eine Qual für sie selbst! Hoffentlich würde dies nie ihre Tante die Freiheitsfee sehen!
Schnell wendet sie den Blick ab. Sie versucht, die Gedanken an die grausame Stadt, in der alle Häuser gleich aussehen und die Pflanzen gefoltert werden, zu verdrängen, denn gleich geht es los. Vor ihr liegt ein Haus, das ebenso aussieht wie das Haus, das aussieht wie die anderen. Nur etwas ist anders: Das Fenster im zweiten Stock ist einen Spalt breit geöffnet. Dieser Spalt ist genug für sie und sie sie huscht hinein ins Haus. In ein Kinderzimmer, um genau zu sein. Der Boden ist aus weichem Teppich, ein Kaktus steht zwischen zwei Spielzeugautos auf dem Regal und eine Hose liegt falsch herum über dem Fußende des Bettes. Und in diesem Bett liegt zusammengerollt mit tränennassem Gesicht die Aufgabe unserer Fee.
Es ist ein Junge mit großen, traurigen Augen, schmalen Schultern und dünnen Armen, die sich an einen alten Stoffhasen klammern. Nun kann man natürlich aufzählen, was dieser kleine Junge alles hat: ein echte Staffelei, tausend Bilderbücher, die neuesten Baukästen, ein randvolles Sparschwein. Man sollte jedoch lieber erwähnen, was er nicht bekommen hat: einen Gute-Nacht-Kuss. Und das schon seit zwei Jahren. Zwei kalten Jahren für den frierenden kleinen Jungen. Die Eltern sind nur mit sich beschäftigt, machen ihr schlechtes Gewissen mit Geschenken und Geld wett und vergessen, was ihr Kind am allermeisten braucht.
Und genau deswegen ist unsere kleine, gute Fee heute da. Sie will nicht, dass der Junge mit Tränen in den Augen unglücklich einschläft. Sie möchte, dass er wenigstens nachts dahin entfliehen kann, wo er alles haben kann, was er will. Er ist ihre erste Aufgabe.
Der Junge macht große Augen, als er sie vor ihm flattern sieht. Erst zuckt er vor ihr zurück, drückt den zerknautschten Stoffhasen noch fester an seine Brust, blinzelt mehrmals . . . und dann lächelt er sie an. Sie lächelt glücklich zurück und lässt sich auf seinem Nachttisch nieder. Es sind keine Wort nötig, denn alles, was Kinder und Feen brauchen, um sich zu verständigen, ist ein ausgetauschtes Lächeln.
Der Junge legt sich auf den Rücken, der Stoffhase liegt nun locker in seinen Armen. Er betrachtet noch einmal voller Erstaunen und Entzücken die Fee, die immer noch lächelt, dann schließt er die Augen. Unsere kleine Fee erhebt sich wieder in die Lüfte und schwebt direkt über dem jetzt gänzlich entspannten Gesicht des Jungen. Und dann hebt sie ihre Leier, schlägt einige Seiten an und beginnt zu singen.
„Streichle ihm die Wange, Wind!
Diese Nacht ist zauberhaft,
eine Nacht, die Zauber schafft,
eine Nacht mit Zauberkraft,
Träum' süß, liebes Kind.“
Und ein lauer Wind schleicht sich durch den Fensterspalt und trocknet die Tränen.
Unsere Fee senkt ihren Kopf und gibt dem Jungen einen liebevollen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange.
Sie wirft ihm eine letzten Blick zu, schwingt sich in die Luft und lässt ihn schlafend zurück, allein mit seinen Träumen.
Ihre erste Aufgabe hat sie erledigt und das Glück, das das Lächeln im Gesicht des Jungen bei ihr ausgelöst hat, glimmt in ihr weiter wie ein Feuerfunke. Voller Vorfreude schwebt sie über leere Straßen und Parkplätze hinweg. Ihr nächstes Ziel ist nicht weit, nur um die nächste Ecke.
Schon als sie in die Straße einbiegt, sieht sie das schwache Licht in dem Zimmer, wo sie gebraucht wird.
Weil sie schon einmal dort war, muss sie sich in dem quietschpinken Zimmer gar nicht erst umsehen, sondern kann sich gleich dem Mädchen zuwenden. Dem Mädchen mit dem erschreckend alten Gesicht für ihre jungen Jahre. Mit den Augen voller Verzweiflung und dem Herz voller Hass. Der Hass gilt den Erwachsenen, mit denen sie zusammen wohnt. Die sie regelmäßig schlagen, sie benutzen und verachten. Doch als diese Augen die Fee wahrnehmen, werden sie plötzlich groß, weich und verletzlich und füllen sich vor Erleichterung, ihre Freundin zu sehen, mit Tränen. Sie kullern ihr über das Gesicht wie ein Regenschauer. Aber die Fee hätte nicht die Regenbogenfee zur Schwester, wenn sie nicht Sonne erschaffen könnte. Sie setzt sich neben sie auf das Kissen, das hart und unnachgiebig ist und wartet geduldig, bis die Tränen versiegen. Das Mädchen wischt sich über das Gesicht und lächelt die Fee unsicher an. Die Fee, ergriffen und selbst fast den Tränen nahe, lächelt zurück, zieht die dünne Decke über den zitternden Körper des Mädchens und wartet, bis sie erwartungsvoll die Augen schließt. Dann beginnt sie, die Leier zu spielen und singt:
„Streichle ihr die Wange, Wind!
Diese Nacht ist wundervoll,
eine Nacht, die wundern soll,
eine Nacht in Wundermoll,
Träum' süß, liebes Kind.
Und ein lauer Wind schleicht sich durch den Fensterspalt und trocknet die Tränen.
Unsere Fee senkt ihren Kopf und gibt dem Mädchen einen liebevollen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange.
Beschwingt huscht sie hinaus in die frische Nachtluft. Alle Sterne am Himmel scheinen sich mit ihr zu freuen. Der Feuerfunke in ihr wächst zu einem wahren Feuertanz heran, der sie von innen wärmt, und sie genießt ihn jede Sekunde ein Stück mehr, in der sie zu ihrer letzten Aufgabe fliegt.
Ja, die letzte Aufgabe, darauf hat sie schon den ganzen Abend gewartet. Sie hat den Jungen schon mehrmals besucht und sie sorgt sich um ihn. Träume sind für ihn etwas Wunderbares und Tolles und sie sind für ihn schon so etwas wie eine Abhängigkeit geworden. Das Besondere an ihm ist noch, dass er älter ist als die anderen Kinder: schon fünftausendneunhundertundvier Tage. Sechzehn Jahre und sechzig Tage. Trotzdem braucht er die Träume noch. So etwas ist noch nie vorgekommen.
Unsere kleine Fee schwebt nachdenklich auf sein kleines Häuschen zu. Es ist heruntergekommen, eingeengt zwischen all den hohen, kastenförmigen, von außen perfekten Bauwerken, die am Himmel zu kratzen scheinen. Das Haus sieht aus wie immer, aber etwas ist anders. Es ist eine stille Nacht. Aber eine Stille, der man nicht lauschen kann.
Das Fenster zum Kinderzimmer, das sonst sperrangelweit offen steht, ist verschlossen. Der Raum ist dunkel; man kann nicht hineinsehen. Unsere Fee wundert sich sehr, aber sie gibt nicht auf. Sie fliegt auf das Dach und sieht den altmodischen Kamin. Ohne zu zögern lässt sie sich in den Backsteinschacht fallen, flattert hilflos mit den Flügeln, während Wände an ihren Augen vorbeirasen – und landet dann auf ihren Knien im Aschestaub. Sie rappelt sich auf, rückt den Schmetterling auf ihren schmutzigen Haaren zurecht und sieht sich um. Niemand, der auf sie wartet. Seltsam.
Doch da! Da liegt ja ihr liebes Kind in seinem Bett. Die Fee kann es gar nicht mehr erwarten, sie braust durch die Luft zu dem Jungen, der zu ihrem Erstaunen schon die Augen geschlossen hat und schläft. Im Mondlicht kann man es nur notdürftig erkennen, aber sie ist nicht umsonst eine Fee. Und dennoch kann sie es nicht fassen, dass er nicht auf sie gewartet hat, um ihm einen schönen Traum zu schenken, in dem der Himmel blau, die Sonne hell und der Mensch frei ist. Etwas traurig zupft sie an den Regenbogensaiten ihrer Leier und singt leise:
„Streichle ihm die Wange, Wind!
Diese Nacht ist . . . „
Unsere Fee bricht ab. Sie weiß es jetzt. Und das Feuer in ihr erlischt und die Saiten ihrer Leier verstummen. Das Herz des Jungen schlägt nicht. Er schläft nicht, er ist tot. Seine Gesichtszüge sind vollkommen reglos und entspannt, kein Atem belebt seine Lippen, keine Farbe sein Gesicht. Irgendwann musste es passieren. Nicht alle Herzen halten den Kummer im Leben aus, der im Traum nicht existiert. Manchmal beschließt das Herz einfach, dass es sinnlos ist weiterzumachen und hört auf. Unsere Fee ist todtraurig. Tränen strömen ihr aus den Augen und kein Windhauch trocknet sie. Sie hat ihn an den ewigen Schlaf verloren.
Sie beugt sich zu ihm herunter, gibt ihm einen letzten Gute-Nacht-Kuss und flüstert:
„Träum' süß, liebes Kind. Für immer.“
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2011
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