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Er war anders. Die einzige Situation, in der seine Eltern so etwas wie Intuition zu spüren schienen, zumindest was ihn und sein Leben betraf, war die Idee, wie sie ihn zu nennen gedachten.

Sie nannten ihn Anders.

Damit hatten sie so ziemlich ins Schwarze getroffen, obwohl sie es zu diesem Zeitpunkt -seine Mutter war im sechsten Monat mit ihm schwanger -noch nicht wissen konnten. Schon als Säugling konnte er keine Nähe ertragen, ihm erschien die Brust seiner Mutter als etwas riesiges, Bedrohliches.
Immer wieder drückte sie seinen kleinen Kopf an dieses rosige etwas, an dem er saugen sollte.
Er wehrte sich so gut er konnte und lernte schnell, seine zunächst unkoordinierten Bewegungen zielgerichtet einzusetzen.

Zunächst war es den Staubmilben und kleinsten Fruchtfliegen zu verdanken, die sich nächtens gerne auf seine Zunge setzten, die er erst dann verspeiste, nachdem sie ihm Geschichten aus der Insektenwelt erzählt hatten, dass er nicht verhungerte.
Er aß sie auch nicht ganz, sondern nahm stets soviel, wie die kleinen Tierchen ihm freiwillig zu geben vermochten, ohne sterben zu müssen.

Schnell verstand er es, seinen Metabolismus dahingehend zu ändern, dass er für seine Insektenfreunde sehr anziehend roch, für die verabscheuten Menschen aber so erbärmlich stank, dass diese auf Abstand blieben.
Was ihm nur recht war.

Etliche Untersuchungen musste er über sich ergehen lassen, Tests seiner Reflexe, die er zu kontrollieren geübt hatte und seiner Intelligenz, die er zu verbergen wusste.
Bald wurde er als Autist eingestuft und zwar als hoffnungsloser Fall, ohne jegliche soziale Kompetenz, weltfremd.
Von den Psychologen wurde er als Idiot betitelt, denn sie glaubten, er könne sie nicht verstehen. „Der Dummkopf kann ja noch nicht mal seinen Namen buchstabieren.“ , sagte einmal ein besonders aufdringlicher Vertreter seiner Gattung, dessen Ehrgeiz ihn hartnäckig antrieb, Anders mit allen Mitteln zu bearbeiten, dass dieser endlich menschliche Nähe zuließ, lesen, schreiben und sprechen lernte, um als Koryphäe in die Psychologenwelt einzugehen.
Wie er diese Egoisten verabscheute! Dabei hatten die wenigsten begriffen, woher die Worte eigentlich kamen, mit denen diese „gebildeten“ Menschen gerne um sich warfen.

Anders, mit seinem fotografischen Gedächtnis, fiel es hingegen leicht, Sachverhalte blitzschnell aufzunehmen, Zusammenhänge zu erkennen, um diese mit den Weisheiten der Natur zu verbinden. Fand doch jede Frage der Menschheit ihre Antwort in der Natur.

Im Anstaltsgarten, indem sich Anders am liebsten aufhielt, senkte einmal die alte Rotbuche ihre Äste, um ihm den Aufstieg zu erleichtern und ihm von ihrem köstlichen Harz zu trinken anzubieten, erfuhr er, dass es eben diese Gattung Baum war, die den Menschen die Buchdruckkunst ermöglicht hatte. Daher stammten schließlich die Begriffe „Buch“, „Buchstaben“ und „buchstabieren“, wie ihm die Buche vergewisserte. Die Ignoranz und Respektlosigkeit, mit der die Menschheit mit seinesgleichen und anderen Lebewesen umging, ärgerte Anders maßlos.
Er weigerte sich weiterhin, mit Menschen zu sprechen. Viel lieber ahmte er das Summen der Insekten nach, das ächzende Knarren der Bäume, oder komponierte zusammen mit dem Wasserelektronen Orchester die leise Melodie der Atome im fließen des Wassers. Stets bekam er von allen Tieren und den Elementen lehrreiche Auskunft zu all seinen Fragen.

Auf fast alle Fragen.

Die dringendste Frage, die mit gewisser Reife tief in seinem sehnsüchtigen Herzen Gestalt anzunehmen vermochte, ob er jemals im Leben einen Menschen treffen würde, der zu lieben imstande war, der zuhören konnte, für den es sich lohnen würde menschliche Worte zu gebrauchen, um mit ihm sein Wissen über die Zusammenhänge der Welt zu teilen, blieb unbeantwortet.

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Tag der Veröffentlichung: 29.06.2011

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