Der Erste Kuss zwischen zwei Menschen verbindet auf ganz spezielle Weise.
So klein er auch sein mag, so groß kann der Schaden sein, den er anrichtet.
Prolog.
Feuer und Schnee kämpften um mich herum. Sie führten einen Kampf um Leben und Tod. Einer von Beiden, würde verlieren.
Qualvoll drückte ich meinen Rücken durch und stöhnte laut auf. Die Hitze in mir die sich immer wieder in Kälte verwandelte machte mich verrückt. Die schrecklichen Schmerzen in meinem Körper, die Angst und die Erlebnisse verstärken diese Verrücktheit nur noch mehr.
Was war passiert?
Ich war zu meiner Großmutter gefahren und wollte dort einen normalen Geburtstag feiern. Zufällig traf ich Zhara – ein Mädchen voller Geheimnisse und anderes als alle anderen – die völlig verstört wirkte. Wir hatten wieder einmal unsere ganz normalen Auseinandersetzungen. Als sie ging – und damit mich zurückließ – fing erst das ganze Schlamassel an.
Ich war in Gedanken verloren die Straßen entlang gegangen. Dachte über Zhara nach. Darüber, warum sie mich nicht an sich heran ließ. Ich wusste, dass sie für mich etwas empfand. Doch wollte sie sich dies nie eingestehen.
So als würde mein Blick auf dem Boden kleben, starrte ich nach unten auf die Straße. Als mich plötzlich ein Mädchen ansprach.
Sie sah schmutzig aus, wie eine Obdachlose. Ihre Kleidung war zerfetzt, ihr Gesicht dreckig und sie trug mehrere Wunden an ihrem Körper.
Sie fragte mich nach dem Weg und ich beschrieb ihn ihr. Mit einem Lächeln – das mir ehrlich gesagt ein wenig Angst einjagte – bedankte sich das Mädchen und forderte mich auf, mich zu ihr hinunter zu beugen. Ich tat es und wurde sogleich von ihr angegriffen.
Die Straßen waren leer, sodass mich keiner sah wie ich von einem kleinen Mädchen – das fast zehn Zentimeter kleiner war als ich aber tausendmal stärker – in den Wald gezogen wurde. Nachdem wir beide im Gestrüpp verschwunden waren, fing das Mädchen an zu zittern und an ihrer Stelle stand auf einmal ein kleiner dunkelgrauer Wolf.
Er fing zu knurren und zu fachen an als ich einen Schritt auf ihn zu ging. Bevor ich mich versah, waren seine scharfen Zähne in meinem Oberschenkel vergraben und Blut floss. Den Schmerz spürte ich erst Sekunden später und fiel dann zu Boden. Mit einem Kläffen – das sich angehört hatte wie ein Lachen – packte mich der Wolf am Bein und schleifte mich mehrere Kilometer weiter in den Wald hinein. Schließlich als es schon anfing zu dämmern bleib er stehen und kratze sich am Ohr.
Panisch hatte ich mich umgesehen und gemerkt, dass wir nicht alleine gewesen waren.
„Wie geht es ihm, Mister Conner?“, fragte eine besorgte Mädchenstimme die ich nicht einordnen konnte. Alles um mich herum hörte sich so dumpf an. Als sei ich in einem Sarg.
Erneut stöhnte ich auf als meine Beine wieder anfingen zu gefrieren. Als das Loch in meiner Brust größer zu werden schien und als das Feuer in meinen Kopf gelang.
„Nicht gut. Er ist noch ziemlich instabil. Hat deine Großmutter schon etwas erzählt, etwas was uns weiterhilft?“, hakte ein Mann nach – höchstwahrscheinlich Mister Conner - dessen Stimme mir eigenartig bekannt vorkam.
„Nein, sie stellt sich stur. Sie meint, dass sie sich an nichts mehr von ihrer Verwandlung erinnern kann“.
Leise seufze Mister Conner und legte seine kalten Finger an meinen Hals. Kurz zuckte ich zusammen, bevor ich meine Lippen aufeinander presste um nicht los zuschreien.
Ich wusste nicht was mit mir gerade passierte. Ich verstand einfach nicht, was passiert war.
Als ich gemerkt hatte, dass das Mädchen und ich nicht alleine waren kamen auch schon mehrere Wölfe aus den Bäumen hervor. Sie sahen alle völlig unterschiedlich aus. Jeder war anderes.
Schließlich und ganz am Schluss trat ein großer Mann aus der Dunkelheit heraus. Sein Haar war feuerrot und ganz unten in den Spitzen waren sie schwarz gewesen. Sein Gesicht war schmal und lang. Über seine rechte Gesichtshälfte zog sich eine lange Narbe die er bestimmt vor vielen Jahren zugefügt bekam.
Mit einem süffisanten Lächeln war er auf mich zu gegangen und war kurz vor mir stehen geblieben. Mit Freude in den Augen stellte er seinen Fuß auf mein verletztes Bein und verlagerte sein Gewicht darauf. Ein lautes Knacken ging von meinem schon so verletzten Bein aus.
Als der Mann mit den roten Haare seinen Mund öffnete und mit mir anfing zu sprechen, wurde mir erst bewusst, dass er mich einfach so töten könnte. Um uns herum waren um die zehn Wölfe, die wiederum Menschen waren und mich mit einem bloßen Blick dem Tod näher bringen könnten.
Obwohl ich absolut nicht verstand was da gerade vor meine Augen passierte, war mir klar geworden, dass all die Mythen die ich für Schwachsinn gehalten hatte Wirklichkeit waren.
Ich wusste nicht, wie lange ich schon hier lag und mich nicht traute mich zubewegen. Ich hatte Angst, dass mich eine einzige Bewegung zerstören könnte. Eine unglaubliche Macht durchströmte meinen Körper und ließ ihn zittern. Selbst meine Augen konnte ich nicht einmal öffnen.
Ich konnte meinen jetzigen Zustand nicht beschreiben doch ähnelte er einem Koma. Obwohl ich alles verstehen konnte um mich herum, schien ich auf alle anderen eher halb tot zu wirken. Leicht zuckte ich zusammen als mich Jemand an der Hand berührte. Die Berührung war kalt und doch liebevoll gewesen. Sicher wurden meine starren Finger liebkost.
„Du wirst wieder“, hauchte wieder diese Mädchenstimme die ich noch immer nicht einordnen konnte. „Das verspreche ich dir“.
Am liebsten hätte ich ihr geantwortet. Sie gefragt, was passiert war und warum ich hier lag. Völlig bewegungsunfähig und starr.
„Ich weiß nur nicht, wie du reagieren wirst. Dein ganzes Leben wird sich ändern, wenn du aufwachst“, redete sie weiter und klang völlig niedergeschlagen. Eine tiefe Last lag ihr auf dem Herzen. „Du hast dein Leben für mich geopfert und das Gleiche werde ich auch für dich tun. Mister Conner hat erzählt, dass mein Blut auch starke Wunden und vielleicht sogar Tode „heilen“ kann. Wenn es also dazu kommen sollte, dass du im sterben liegst werde ich mein Leben lassen um dich zu retten“.
Kräftig presste ich meine Zähne aufeinander und probierte die Hände zu Fäusten zu ballen. Die Hitze in meinem Körper durchflutete mich erneut und gelang schließlich in meinem Kopf. Ein schrecklicher Druck sammelte sich hinter meinen Augen und schienen sie aus meinen Augenhöhlen drücken zu wollen.
„Ich weiß, dass du mir nie verzeihen wirst. Doch habe ich schreckliche Angst dich zu verlieren“, schluchze nun die Stimme neben mir und ein leichter Druck bildete sich auf meiner Brust. „Ich habe dich fast verloren und in diesem Moment wurde mir klar, dass...“. Plötzlich sprang eine Tür auf und Schritte ertönten. Sie hallten von den Wänden wieder und kamen mit voller Kraft auf mich zu.
„Zhara, du kannst nicht die ganze Nacht hier bei ihm sein“, sprach ein Junge wahrscheinlich in meinem Alter. „Du musst etwas essen“.
„Nein“, gab sie zurück und klang nun gar nicht mehr weinerlich, sondern ernst und entschlossen. „Ich brauche nichts zu essen. Ich bleibe bei Damian. Lass mich einfach in Ruhe Luca“.
„Was ist bloß aus dir geworden?“, stammelte der Junge – der wohl Luca hieß – entsetzt. Leise seufze Jemand und der Druck auf meiner Brust verschwand.
„Damian ist beinah wegen mir gestorben und du fragst mich, was aus mir geworden ist? Ist wegen dir schon mal ein Familienmitglied gestorben und zwei andere Menschen beinah auch?“.
„Nein, aber...“.
„Kein Aber. Du hast einfach keine Ahnung“. Ein leichter Windstoß blieb mir ins Gesicht und Schritte erklangen. Nun viel leise und weiter entfernt hörte ich ein letztes mal ihre Stimme.
„Du magst mich? Dann respektiere meine Entscheidung“, zischte sie wütend und schlug laut die Tür zu.
Am liebsten hätte ich jetzt meine Augen verdreht und leise geseufzt. Noch immer die Alte.
„Du!“, aufgebracht kam Luca auf mich zu und legte mir beide Hände an die Schultern. Seine Berührung brannte und ließ mich gleichzeitig frösteln. Nie endender Schmerz durchzuckte meinen Körper und stieß direkt in meinen Kopf. „Du bist allem Schuld. Wärst du nicht gewesen, wären Zhara und ich jetzt ein glückliches Paar. Wir würden unser Leben leben und du deines. Aber nein, du musstest ja den Helden spielen“.
Hektisch probierte ich den immer stärker werdenden Druck auf meinen Schultern zu ignorieren und mich auf das Brennen zu konzentrieren. Konnte dieser Vollidiot nicht seine Griffel von mir lassen?
„Aber keine Angst ich werde dir nichts tun. Du wirst schon ganz alleine an deiner neuen Situation zerbrechen“. Obwohl alle für mich in Rätseln sprachen, hatte ich schon schlimme Befürchtungen. Was würde mit mir passieren, wenn ich „aufwachen“ würde?
Mit einem höhnischen Lachen verschwand die Last auf meinen Schultern und die Tür öffnete und schloss sich wieder.
Schweiß, Schmerzen, Angst und Todesgedanken.
Ich wollte schreien und konnte nicht. Ich wollte sie alle anflehen mich zu töten. Mir den Kopf abzureißen oder mich gleich bei lebendigen Leib zu verbrennen, denn das würde ich wahrscheinlich nicht einmal merken. All die Schmerzen die ich bestimmt schon über Tagen erlitt waren nichts gegen die, die ich gerade spürte. Mir stand der Schweiß auf der Stirn und lief mir immer wieder die Schläfen hinab. Meine Körper kochte und schien wahrhaftig in Flammen zu stehen.
Ich hatte keine Erklärung dafür, aber konnte ich mich seit kurzer Zeit wieder bewegen. Seit knapp einer viertel Stunde warf ich mich von der einen Seite auf die Andere, drückte mein Becken in die Höhe und ballte die Hände zu Fäusten. Obwohl ich meinen Körper wieder bewegen konnte, waren mein Gesicht noch immer wie versteinert. Außer eine bloße Lippenbewegung, die mich dazu bracht wie verrückt auf meine Unterlippe zu beißen, waren meine Gesichtszüge versteinert. Meine Augen geschlossen und die Angst noch immer da.
Wann würden diese Höllenqualen endlich aufhören? Wann würde ich mich endlich wieder ohne Schmerzen bewegen können?
Wenn es eine Hölle gab, dann durchlebte ich sie gerade. Könnte ich sprechen oder mich auf irgend eine Art und Weise verständigen können, würde ich darum beten mich umbringen zu lassen.
„Wie lange muss er noch so leiden?“, schrie Zhara wieder an meiner Seite und klang weinerlich. Ich hatte seit beginn der Höllenqualen ihren Anwesenheit gespürt. Eigentlich war sie ständig bei mir gewesen. Manchmal – so selten, dass es eigentlich nicht zählbar gewesen war – verschwand sie und kam nach wenigen Sekunden wieder zu mir und entschuldigte sich dafür, dass sie gegangen war. Auch wenn sie in der Zeit nichts gesagt hatte in der sie neben mir gesessen hatte, hörte ich sie. Ihren Atem, ihr Zittern, ihr Schluchzen und ihren Magen der jeden Tag lauter wurde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie nichts aß. Immer wieder boten ihr Stimmen – die ich nicht erkannte. Manchmal eine Frau aber auch manchmal ein Mann – Essen an, doch sie lehnte immer wieder ab oder ignorierte ganz den köstlichen Duft von Essen der neben meiner Nase stand. Sie hatte oft geweint in der Zeit, in der ich mich nicht bewegen konnte. Sie hatte mit mir gesprochen und entschuldigte sich andauernd für das, was sie getan hatte. Aber seit ich mich wieder bewegen konnte und damit jedem zeigte, wie sehr ich litt, schrie sie nur noch. Ein Weinen hatte ich nicht mehr gehört seit diesem Zeitpunkt. Ganz so, als sei jegliche Träne vergossen. So, als hätte Zhara keine Tränen mehr, die sie vergießen konnte.
„Ich weiß es nicht. Deine Großmutter weigerte sich etwas zu sagen und ist zurück nach Fort McPherson gefahren. Sie kann oder will einfach nicht erzählen, wie es bei ihrer Verwandlung war“, entgegnete Mister Conner ruhiger aber hörte ich den besorgten Unterton in seiner Stimme heraus. „Weiß dein Vater denn nicht mehr?“.
Kurze Stille herrschte, bevor Zhara dem Mann mit den wenigen Haare auf dem Kopf und dem Bart antwortete. Woher wusste ich wie Mister Conner aussah?
„Nein, er kann sich leider an nichts mehr erinnern. Er hatte nur erzählt, dass Großmutter sofort in ihr Schlafzimmer gegangen sei und erst am nächsten Morgen wieder zurück war“.
„Also, keine neuen Anhaltspunkte. Es ist schon ein Wunder. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so früh zu einem...“, abrupt stoppte der alte Mann in hielt inne. Ich konnte hören wie Zhara ihre Zähne aufeinander geschlagen und sich einen Schritt von mir entfernt hatte. Warum wollte sie nicht, dass ich hörte was mit mir passiert war? Warum wollte sie, dass alle in Rätseln für mich sprachen? War sie sich bewusst, dass ich sie hören konnte?
„Gehen wir raus und reden dort weiter. Ich glaube, ich muss mich nochmal an die frische Luft begeben“, flüsterte sie und öffnete schon die Tür. Kurze Zeit später war ich alleine. Der Doc hatte nichts mehr gesagt und war schweigend dem Mädchen mit den blonden – beinah weißen – Haaren gefolgt.
Eigentlich hätte ich mich jetzt entspannen wollen. Doch durchzuckte mich ein Taubheitsgefühl, das von meinem Zehen aufwärts kroch. Panisch schnappte ich nach Luft und bog meinen Rücken durch. Ich probierte mit aller Macht die Taubheit wieder hinunter zudrücken, sie aus meine Füße zu bekommen. Doch war sie stärker als ich. Bevor ich zum dritten mal hektisch nach Luft schnappen konnte, waren meine Beine schon vollkommen taub. Obwohl es noch unangenehmer war als das Brennen, erlosch die Kälte und die Wärme und völlige Taubheit blieb zurück.
Immer weiter kletterte die Benommenheit in meinem Körper hoch. Nach meinen Beinen kam meine Hüfte, danach mein Bauch, der Oberkörper, die Hände, die Arme und schließlich gelang es an meinen Hals. Schwerfällig schluckte ich und probierte meinen Mund zu öffnen. Mein Unterkiefer zitterte. Immer wenn meine Zähne aufeinander schlugen erklang ein eigenartiges dumpfes Geräusch. Ein letztes mal schnappte ich hysterisch nach Luft und stöhnte auf, als die Taubheit auch den letzten Rest meines Körpers befallen hatte. Nach nur wenigen Sekunden war mein Körper wieder bewegungsunfähig. Doch dieses mal fühlte ich nicht dieses schreckliche Brennen oder diese unangenehme Kälte. Ich spürte rein gar nichts. Kein Feuer, kein Eis. Das einzige was sich langsam bemerkbar machte, war das kleine Kribbeln in meinen Zehen. Ich konnte dieses Kribbeln nicht einstufen. War es das Feuer oder die Kälte, die zurückkehrte und mich wieder in die Hölle schmiss? Ich wusste es einfach nicht. Das Gefühl war noch zu schwach um dafür überhaupt Wörter zu finden. Doch als es an mein Fußgelenk ankam, spürte ich die enorme Kraft die es hatte. Jede einzelne Pore, jedes Haare und jede Zelle in meinem Fuß wurde auf einmal zehnmal so stark. Meine Knochen gewannen an stärke und schienen gar nicht mehr zerstörbar zu sein. Das Kribbeln war reine Macht die - wie die Taubheit gerade eben – meinen Körper hinauf robbte. Je weiter so kam, desto mehr Geschwindigkeit erlangte sie. Sie durchbrach jede Anspannung in meinem Körper, jede Stelle die mir gerade eben noch weh getan hatte, heilte sie und hinterließ ein wohltuendes Gefühl. Diese Macht heilte mich von ihnen hinaus.
„... nicht verstehen, wie man so dickköpfig sein kann. Es geht mir einfach nicht den Kopf. Interessiert sie es gar nicht, dass Damian beinah gestorben ist und wir noch immer nicht wissen, ob er es überhaupt schafft?“. Wütend hörte ich Füße auf dem Laminatboden aufstampfen und das klirren von Gläsern, dass bestimmt nicht beabsichtigt gewesen war.
„Ich würde auch nicht so reagieren, wie deine Großmutter. Aber glaub mir Zhara. Sie meint es nicht böse. Vielleicht hat sie genau das durchlebt, was Damian auch gerade durchlebt?“, fragte Jemand zurück. Ich erkannte die Stimme, es war der Mann. Der Mann dessen Stimme ich nicht kannte. Für die ich zu mindestens keinen Namen in meinem Gedächtnis fand.
„Sie hat nicht das Gleiche durchlebt. Oder hast du auch ganz zufällig einen Zwilling, Dad?“, zischte Zhara wütend und erneut klirrten Gläser. Wo waren Zhara und ihr Vater? Ich hörte sie, doch waren sie nicht vor dem Zimmer in dem ich lag. Wenn sie davor sprachen, flüsterten sie meistens und ihre Stimmen hallte ab und zu von den Wänden wider.
„Nein, trotzdem sei nicht so streng mit ihr“.
Stille.
Zum ersten mal, seitdem ich die Beiden gehört hatte, konnte ich mich wieder auf meinen Körper konzentrieren. Das Kribbeln war nun schon bis zu meinen Schultern gelangen und fühlte sich so an, als würden tausende von Ameisen in meinen Händen, Armen, Beinen und Füßen krabbeln. Ameisen die Superkräfte hatten und diese auf mich übertrugen.
„.. wenn das so ist, dann tut es mir leid. Aber ich werde mich nicht für das was ich ihr gesagt habe entschuldigen. Ich bleibe bei meiner Meinung. Auch wenn sie nicht genau mehr alles weiß, sie könnte uns ein paar Anhaltspunkte geben, ein paar Hinweise. Wie lange muss Damian zum Beispiel noch leiden?“.
Ich hatte mich so auf das Kribbeln konzentriert, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie Zhara und ihr Vater weitergesprochen hatten. Die unglaubliche Macht sog jetzt in jede Zelle meines Gehirns ein und brannte es anscheinend durch. Das Kribbeln, das eigentlich nicht schmerzte, brachte mich jetzt zum schluchzen. Mein Kopf pochte in regelmäßigen Abständen und ließ sich alles drehen. Auf einmal wusste ich nicht einmal mehr, wo ich mich befand. Lag ich noch oder war ich schon auf den Boden gefallen? Konnte ich noch hören? Es schien so, als würde mein Körper für diese paar Minuten – vielleicht auch nur Sekunden – abgeschaltet worden sein. Ich konnte nichts hören, nichts riechen, nicht einmal richtig denken. Das einzige was ich wahrnahm, war die Macht, die Stärke, die immer mächtiger und größer wurde. Die mich von innen ausfüllte und wieder ins Leben rief. Es war so, als würde ich in die Tiefe stürzten. Immer weiter und weiter. Und plötzlich – wie aus dem Nichts – erscheint ein blaues Etwas vor meinen Augen. Eine Art Seil. Ich greife nach diesem Etwas und schaffe es zu packen. Ich will mich festhalten und verhindert, dass ich weiter falle doch reißt das Seil. Mit einmal mal falle ich wieder, doch dieses mal bestimme ich das Fallen. So als sei ich der Herrscher. Das blaue Seil war verschwunden und nur noch die Macht war da. Und diese Macht, war auf mich übergegangen. Sie hatte sich in mich und in die letzte Ecke meines Körpers gedrückt, damit es nicht wieder hinaus konnte. Es krallte sich fest und war zufrieden, als es sich sicher fühlte.
So plötzlich, wie die Erscheinung des Seils, schnappte ich laut nach Luft und fuhr senkrecht hoch. Meine Hände zitterten und warne klitschnass, als ich auf sie starrte und die einzelnen Schichten des Schweißes in den Linien meiner Hände sah. Die Flusen der Decke, die ich anscheinend umgriffen hatte, da diese völlig zerknittert war. Als ich meine Hände langsam – beinah in Zeitlupe – umdrehte, sah ich den Dreck unter meinen Fingernägeln. Ich konnte ihn riechen. Es war Erde, Moos und auch Blut. Leicht zog ich die Nase kraus und blickte von meinen Händen auf. Der Raum in dem ich lag, sah genau so aus, wie ich ihn mir vorstellt hatte. Beinah leer, nur mit dem Nötigsten ausgestattet und schlicht. Seine Wände waren weiß - makellos weiß – und auch die wenigen Möbel waren von einem schönen Perlenweiß. Die einzigen Farbtupfer die ich in diesem Zimmer entdecken konnte, waren die bunten Kissen die auf einem Stuhl nur wenige Meter von mir entfernt lagen und die Bettdecke, auf der ich lag. Die Zimmerdecke lag weit über mir und wirkte unendlich weit entfernt. Der Geruch von Schweiß, Angst und geschmorten Fleisch lag in der Luft und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich hatte schrecklichen Hunger. Gerade, so als wollte mein Körper diesen Satz unterstreichen, zog sich mein Magen zusammen und ließ ein lautes, bedrohliches Knurren los. Noch nie in meinem Leben hatte ich solchen Hunger gehabt.
Vorsichtig schwang ich meine Beine von der Bettkante und stellte die Zehnspitzen auf den Boden. Ich konnte noch immer das Gespräch von Zhara und ihrem Vater hören, doch war es eher ein Hintergrundgeräusch. Der Hunger und das Magenknurren war das Einzige, was jetzt wichtig war. Mich interessierte es nicht einmal warum ich in einem fremden Bett lag, das in einem für mich fremden Haus stand und warum Zhara und ihr Vater nur paar Räume von mir entfernt waren. Mich interessierte einfach nur noch die Lösung, wie ich mein Verlangen nach Essen stillen konnte.
Leise und noch immer auf Zehnspitzen, schlich in „meinem“ Zimmer umher und legte schließlich die Hand auf die Klinke. Sie war kalt und glatt. Noch einmal horchte ich bevor ich die Tür leise öffnete und hinaustrat. Das Gespräch war nicht verstummt, also hatte mich Niemand gehört. Wie eine Katze tapste ich durch ein Haus das mir völlig fremd war und erreichte schließlich eine Tür die anscheinend nach draußen führte. Es war eine Glastür die hinter sich die Freiheit bot. Ein Wald mit großen, dunklen Bäumen streckte sich vor mir und war der perfekte Ort um etwas zu essen zu suchen. Natürlich hätte ich in die Küche marschieren und dort etwas essen können, doch verlangte mein Körper nach etwas anderem als Brot und Gemüse. Er wollte Fleisch und Blut.
Mit großen Augen und einem schnell schlagendem Herzen, das immer stärker gegen meinen Brustkorb hämmerte, trat ich hinaus in den Schnee der vor der Tür lag und stellte mit Erstaunen fest, dass die kleinen Eiskristalle nicht kalten waren. Sie fühlten sich wie eine weiche Decke an, die unter meinem Gewicht ein wenig fester wurde, aber nicht kalt. Mit hochgezogenen Brauen, schaute ich mich ein letztes mal um, atmete tief ein und rannte über die kleine Wiese, die, wie alles andere mit Schnee bedeckt war, und verschwand im Wald.
Obwohl meine Glieder eher steif und starr sein sollten von dem langen Liegen, war ich erstaunlich beweglich und fit. Ohne große Probleme rannte ich durch den Wald und schaute nur gerade aus. Ich hatte die Ohren gespitzt und hob immer wieder den Kopf an um besser riechen zu könne. Es war so, als würde ich in einem neuen Körper stecken. Ich war so viel stärker und konnte schneller laufen als ich es in der Erinnerung hatte. Meine Füße flogen beinah über den Boden.
Nachdem ich ein paar Minuten ohne große Anstrengung gelaufen war, stoppte ich abrupt, als ich einen Geruch in die Nase bekam. Er erinnerte mich an etwas Vertrautes, etwas was ich nur zu gut kannte. Ich hörte zwei Stimmen die immer lauter wurden. Sie kamen mir näher.
„... uns verlaufen. Wir können nicht richtig sein. Ich dachte, du weißt wo lang wir müssen“. Es war eine Frau die dort sprach. Sie klang quengelig und seufze leise, als ein Mann ihr antwortete.
„Schatz, beruhige dich. Ich weiß wo lang ich gehe. Wir müssen … da lang“.
Mit angehaltenen Atem, machte ich einen Schritt nach vorne und schloss die Augen, sog die Luft in mir ein und wusste genau wo die Beiden waren. Gegen die kleine Stimme die in meinem Inneren schrie, rannte ich erneut los und sprang über große Äste hinweg. Schnee wirbelte unter meinen Füßen auf, so als würde ein kleiner Sturm herrschen. Immer näher kam ich den beiden Menschen die sich höchstwahrscheinlich verlaufen hatte.
„Benjamin, ich habe keine Lust zu erfrieren. Du hast keine Ahnung wo lang wir gehen und jetzt gib es endlich zu“, schrie die Frau und blieb stur stehen. Sie stampfte mit dem Fuß auf und atmete mit offenem Mund.
„Lisa, ich gebe gar nichts zu. Ich weiß wo wir sind und ich weiß auch, wo lang wir müssen“, probierte der Mann sie zu besänftigen. „Komm einfach mit und bleib nicht stehen, sonst frierst du noch mehr“.
Mein Herz machte ein Sprung, als ich die beiden Personen nur ein paar hundert Meter vor mir entdeckte und ignorierte das Grummeln in meinem Magen.
„Mehr frieren als jetzt kann ich gar nicht, Liebling“, sagte Lisa sarkastisch und schnalzte mit der Zunge. Ein eigenartiger Drang durchfuhr mich. Auf einmal blitzen mir Bilder vor den Augen auf, die so brutal und abartig waren, dass ich würgen musste. Ich hatte das Verlangen, Lisa und Benjamin zu mir zu locken, zu töten und zu fressen. Wieder würgte ich und stütze mich auf meinen Knien ab. Was war mit mir los? Seit wann hatte ich das Verlangen Menschen zu töten und sie auch noch zu verspeisen?
„Lisa, sei doch nicht immer so schlecht gelaunt und … schau mal dort“, entgegnete Benjamin und verstummte. Schnell sah ich auf und schluckte den bitteren Geschmack, der sich auf meine Zunge gelegt hatte, hinunter. Mit großen, neugierigen Augen sahen mich die Beiden an und wandten sich mit dem Oberkörper zu mir.
„Junge, alles in Ordnung?“, rief Lisa mir zu und kam schon auf mich zu gerannt. Ihre kleinen Füße machten Stapfgeräusche und hinterließen Abdrücke im Schnee. Die leichte Windböe, die die doppelte Geschwindigkeit von Lisa hatte, kam auf mich zu und schlug mir ihren atemberaubenden Duft ins Gesicht. Sofort krümmte sich mein Magen wieder zusammen und gab ein ohrenbetäubendes Geräusch von sich. Bevor Lisa bei mir ankam, hielt ich meinen Bauch mit beiden Armen umklammert und fluchte vor mich her.
„Junge?“, fragte sie liebevoll und legte mir eine Hand auf die Schulter. Vor ihrer Berührung zuckte ich zusammen und schaute langsam auf. Mein Kopf brummte und schien gleich in kleine Stücke zu zerspringen. Alles an was ich nur noch denken konnte, war der Geschmack von Lisas Fleisch.
„Ich habe solchen Hunger“, hauchte ich und musterte die kleine Frau mit den braunen Augen vor mir. Ihre Haare hingen ihr in langen, schwarzen Wellen die Schulter hinunter und wippten leicht im Wind.
„Wir haben ein paar Sandwiches. Möchtest du eines?“, hakte sie nach und lächelte schwach, als sie den Blick von meiner gekrümmten Haltung nahm und mir in die Augen sah. Bevor ich antworten konnte, kam auch Benjamin zu uns und atmete schwer als er mich erblickte.
„Was ist los, Lisa?“, fragte er nach und zog die Brauen hoch.
„Der Junge muss am verhungern sein. Schau dir nur die dunklen Ringe unter seinen Augen an oder hör doch“. Gespannt lauschten die Beide und schnappten nach Luft, als mein Magen ein sterbendes Geräusch von sich ab. Wenn ich noch langer warten würde, würde er abfallen oder verkümmern. Ich brauchte etwas zu essen.
„Du hast recht. Junge? Magst du Schinken?“, fragte mich dieses mal Benjamin und zog sich schon den Rucksack vom Rücken. Waren die Beiden wandern gewesen? Bestimmt hatten sie sich ab dem Fluss abwärts verirrt. Das passierten den meisten Wanderer hier in der Gegend.
Stumm nickte ich und sah zu, wie Benjamin und Lisa über dem Rucksack hingen und nach einem Sandwich für mich suchten. Nach ein paar Sekunden fingen sie schon wieder an zu streiten.
„Hast du schon wieder alle mit Schinken aufgegessen?“, fauchte die zierliche Frau und warf mir einen kurz über die Schulter zu. Sie machte sich wohl Sorgen, dass ich gleich umfallen würde.
„Nein, gerade eben – vor einer Stunde – waren noch welche da gewesen“.
Heftig schlug ich meine Zähne aufeinander und krallte meine Hände in mein Shirt. Wieder durchzuckte mich dieses Verlangen, dass mir sagte, dass ich Lisa und Benjamin umbringen sollte. Ich schloss die Augen und versuchte gleichmäßig zu atmen. Das Brennen in meiner Lunge zu verdrängen und den Hunger ebenso. Ich wusste nicht woher, aber wusste ich, dass ein Sandwich mein Hunger nicht stillen würde.
„Da ist es doch“, trällerte der etwas übergewichtige Mann, der so gar nicht zu Lisa passte, und drehte sich wieder zu mir um.
Noch immer hatte ich meine Augen geschlossen, als ich den Geruch von Majonäse, Gurken, Salat und Schinken wahrnahm. Er kitzelte in der Nase doch brachte er mich eher zum würgen, als zu einem glücklichen Lächeln.
Krampfhaft ballte ich die Händen zu Fäusten und fing an zu zittern.
„Junge, alles in Ordnung? Du siehst blass aus. Was machst du überhaupt so weit hier draußen? Hast du dich auch verlaufen?“, ich wusste nicht, wer von den beiden mich angesprochen hatte aber war mir das auch egal. Ich musste mich konzentrieren und dieses Brennen in meinem Augen versuchen wegzubekommen. Es schien, als würde ich weinen. So sehr brannten meine Augenlider.
„Ich, ich, ich …“, stammelte ich und drückte meine Augen noch ein wenig fester aufeinander. Gespannt horchten Lisa und Benjamin, ob ich noch etwas sagen würde. Dann legte sich wieder die kleine Hand auf meine Schulter und strich meinen Arm hinab.
„Was ist bloß mit dir passiert? Du bist völlig verwirrt, was?“. Lisas Stimme war nur noch ein Hauchen für mich. Neben dem Brennen in meiner Lunge und meinen Augen, begann jetzt auch noch mein Kopf an zu pochen. Es war so, als würde mein Körper mich dazu zwingen, irgendetwas zu tun um das, was mein Körper haben wollte, zu bekommen.
„Ich glaube, der Junge ist krank. Sieh dir alleine an, wie er hier herum rennt. Er trägt nur ein Shirt und eine dünne Jogginghose. Bestimmt ist er völlig unterkühlt“, sagte Benjamin und klang nun auch besorgt. Warum konnten die Beiden nicht einfach verschwinden? Warum war ich überhaupt hier zu ihnen gerannt?
„Nein, er ist ganz warm. So als sei er gerade aus dem Bett gestiegen“, gab Lisa zurück und hauchte mir ihr Atem ins Gesicht. Sie war ein Schritt näher an mich heran getreten und strich mir nun auch noch die Wange auf und ab.
Leise begann ich in mich hinein zu kichern. Lisa hatte nicht einmal Unrecht mit dem, was sie dort sagte.
„Was ist denn jetzt so lustig?“, hakten die Beiden fast gleichzeitig nach. Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht und schluckte hörbar. Das Pochen in meinem Kopf war nun zu einem dichten Nebel geworden, der sich in jede kleine Ecke meines Kopfes drängte. Er benebelte mich und ließ mich nicht mehr klar denken.
Immer lauter hallte mein Kichern von den Bäume wider. Mich selber erschreckte es zu tiefst, was gerade mit mir passierte. Es war ganz so, als sei ich nur noch ein Zuschauer und mein Körper übernahm jetzt die Kontrolle über das was gerade passierte.
„Eigentlich nichts …“, flüsterte ich dunkel und richtete meinen Kopf auf, stellte mich gerade hin und atmete tief durch. Meine Augen hatte ich weiterhin geschlossen.
„Was ist dann …?“, fing Lisa an und brach ab, als ich meine Augen öffnete und sie anschaute. „Deine Augen!“. Es war ein klarer, lauter Schrei gewesen der Lisa und Benjamin beinah wieder gleichzeitig aus der Kehle entfloh.
Bevor ich mir überhaupt Gedanken darüber machen konnte, was mit meinen Augen falsch war, sprang ich auf die Beiden zu und riss Lisa zu Boden. Mit all meiner Kraft hielt ich sie unten und lächelte sie bösartig an, als ich sie tötete.
Texte: Die Rechte des Textes liegen beim Autoren.
Tag der Veröffentlichung: 27.03.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Vielen Dank an riedel die mir wieder einmal so ein wunderschönes Cover gezaubert hat :) <3