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Kapitel 1

Ivy ÒCeallaigh

(13.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

„Egal, was geschieht, wir gehören jetzt zusammen. Ich liebe dich und wir werden einen Weg finden. Und wenn wir allein fliehen müssen. Das verspreche ich dir.“

Mit geweiteten Augen sah sie ihn an: „So weit muss es nicht kommen. Ich sorge schon dafür. Gib mir nur noch ein bisschen Zeit.“

Besorgt ergriff er ihre Hand: „Bitte. Ich kann nicht länger warten. Wenn der Schnee noch tiefer wird, kann ich nicht mehr herkommen. Der Gedanke, dich nicht zu sehen, macht mich wahnsinnig. Lass uns einfach weggehen.“

Tränen stiegen ihr in die Augen. Mit erstickter Stimme flüsterte sie: „Nein, ich kann meine Familie nicht einfach so verlassen. Und woher sollten wir das nötige Geld nehmen? Vertrau mir doch! Bis Weihnachten kläre ich alles mit meinem Vater. Und wenn du bei ihm um meine Hand anhältst, ist alles so, wie es sich gehört.“

Er erwiderte nichts, sondern küsste sie nur stürmisch. Sie lächelte und errötete: „Ich muss jetzt gehen. Ich lasse dir Bescheid geben.“ Mit diesen Worten drehte sie sich schnell um und eilte mit gerafften Röcken durch den Schnee davon, bevor er etwas einwenden konnte.

Im Schutz der schneebedeckten Bäume gelangte sie ungesehen bis zu einem dunkel gepflasterten Weg, der vom Schnee befreit war. Er führte zwischen den Bäumen hindurch bis auf eine Art Hof, auf dem nur eine Schneise vom Schnee befreit worden war. Vor einem riesigen Haus standen mehrere abgedeckte Kutschen. Die Reste des nassen Schnees sorgten für schmatzende Geräusche, die ihre Schritte begleiteten. Sie wurde langsamer, richtete sich gerader auf und strich das Haar zurück, das sich aus ihrer Steckfrisur gelöst hatte. Vor dem wuchtigen Portal blieb sie stehen und atmete tief durch. Der Bau war rechteckig und grau, die meisten Fensterläden geschlossen. Ihr Blick glitt über die Verzierungen und blieb an dem Wappen über der Tür hängen. Es zeigte ein riesiges, rundes Auge mit einem seltsam starren Blick. Es war von Dornenranken umschlungen. Doch das Seltsamste waren die Lilienblüten, die den Ranken entsprossen. Unter dem Wappen war in schon fast verwitterten Buchstaben ein Achtzeiler eingemeißelt:

 

Das Auge bewacht,

         was dies Haus ausmacht.

Wer schüren will alten Zorn,

         der spürt tief den Dorn.

Denn niemand soll je erschauern,

         der lebt hinter diesen Mauern.

So gedeiht die Familie

         Unter dem Wappen der Lilie.

 

Ivy hatte nie die Symbolik hinter dem Wappen verstanden und ihr Vater schien dementsprechend auch keine Erklärung zu haben, aber von dem Spruch behauptete er immer, er sei bei einem Neuaufbau des Hauses entstanden. Angeblich war es bei einem Nachbarschaftsstreit zwischen den Familien abgebrannt, woraufhin man diesen Schutzspruch eingemeißelt hatte, doch in keiner der Familienchroniken war etwas Derartiges erwähnt. Ivy vermutete eher, dass einfach jemand dichterisch ziemlich unbegabtes versucht hatte, das Wappen zu erklären.

Noch während sie über die Gestaltung des Hauses nachsann, erklang das Klappern von Pferdehufen. Als sie sich umdrehte, kam die Postkutsche über den Vorplatz und hielt auf das Haus zu. Der Kutscher brachte die Pferde zum Stehen, sprang ab und verschwand im hinteren Teil. Ivy trat vorsichtig zu den Pferden. Sie liebte den warmen Lufthauch, der einem die Hände wärmte, wenn man über ihre Nüstern strich. Doch bevor sie ausreichend Nähe zu den Pferden hatte, sprang der Kutscher wieder aus der Tür und reichte ihr einen dicken Briefumschlag. „Für Mrs. ÒCeallaigh.“, waren seine einzigen Worte. „Danke, ich werde ihn überbringen.“, bedankte Ivy sich höflich, obwohl der Kutscher schon wieder auf seinen Kutschbock gesprungen war. Er grüßte noch kurz, dann wendete er das Gefährt und fuhr davon. Mit dem Briefumschlag in der Hand betrat das Mädchen das Haus.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, verstummte das Rauschen des Windes in den Bäumen schlagartig. Stille umfing sie. Dann trat aus einer der seitlichen Türen Henry, der Hausdiener. Ohne ein Wort nahm er ihr den feuchten Mantel ab und übergab ihr dafür einen wollenen, denn auch im Haus war es meist windig und kalt. Dann verschwand er wieder durch die Tür, wahrscheinlich um wichtigere Dinge zu erledigen. In der Vorhalle war es frostig, sodass Ivys Atem in weißen Schwaden in der Luft hing. Die Fackeln an der Wand spendeten nur ein dürftiges Licht. Schnell eilte sie über die breite Treppe ins obere Geschoss. In ihren Gemächern war es warm, da vom Morgen noch die Feuer in den offenen Kaminen brannten. Sie legte den Hausmantel ab und ließ sich seufzend in einen der Sessel sinken.

Was sollte sie nur tun? Ihr Vater würde nie einen ÒFlaherty als ihren Mann  akzeptieren.

Erst da fiel ihr der Briefumschlag in ihrer Hand wieder ein. Er war braun und sie konnte mehrere Lagen Papier ertasten. In eleganter Handschrift war vorn der Name ihrer Mutter geschrieben. Seine Reise musste lang gewesen sein, denn der Umschlag war beschmutzt und an den Ecken zerknickt. Vorsichtig drehte Ivy ihn herum.

Plötzlich fielen einige Blätter heraus. Rasch hob sie sie wieder auf, und faltete sie  ordentlich zusammen. Dabei rutschten kleinere Zettel dazwischen heraus. Bei ihrer Betrachtung entfuhr ihr ein leiser Schrei des Erstaunens.

Es waren Karten für eine Überfahrt nach Europa!

Was wollte die anständige Mrs. ÒCeallaigh denn im wilden Europa?

Von Fassungslosigkeit und Neugierde getrieben entfaltete Ivy ein Blatt aus dem Brief ihrer Mutter. Sie schien das Ende in der Hand zu halten:

„hoffe, dass die Unterkunft auf dem Schiff trotz ihrer Einfachheit angemessen ist. Natürlich werde ich ihrem Wunsch nachkommen, den Kindern und Mr. ÒCeallaigh gegenüber nichts zu erwähnen, auch wenn es mir schwer fällt ihren hochgeschätzten Gatten im Unklaren zu lassen.

Ihr hochverehrter Freund“

Dann folgte eine kaum lesbare Unterschrift, die Ivy nur zu gut kannte. Sie gehörte ihrem Patenonkel. Er hatte beinahe noch mehr Geld als ihr Vater und zog damit beständig um die Welt. Auch seinen Patenkindern schrieb er oft, berichtete von Erfahrungen oder schickte die eine oder andere Kleinigkeit. Gesehen hatte Ivy ihn allerdings, soweit sie sich erinnern konnte, noch nie. Und nun hatte er ihrer Mutter eine Reise nach Europa organisiert, ohne dass es ihre Familie bemerken sollte. Noch während Ivy über diese Ungereimtheit nachsann, klopfte es an ihre Tür.

Schnell und hastig stopfte sie alle Blätter zurück in den Umschlag und legte ihn auf den Tisch bevor sie zur Tür hastete. Im Flur stand ungeduldig wartend ihr einziger Bruder, Tilor. Er war fast zwei Jahre älter, als sie und trotz ihres unterschiedlichen Wesens verstanden sie sich relativ gut. Manchmal führten sie recht interessante Diskussionen und sonst hatten sie eben wenig miteinander zu tun. Er war einfach zu revolutionär für ein sanftes Mädchen wie Ivy.

„Möchtest du reinkommen?“, fragte diese höflich. „Nein, ich bin gleich wieder weg. Aber ich soll dir Bescheid geben, dass wir heute gemeinsam in der großen Halle zu Abend essen. Wir haben Besuch.“ Nun wurde Ivy neugierig: „Wer ist es denn?“ Tilors Antwort klang, als wäre er schon wieder abwesend: „Ein Wissenschaftler möchte mit Vater über Förderung für neue Forschungen verhandeln. Er ist einfach brillant. Vater muss das begreifen und endlich anfangen unser Geld sinnvoll zu investieren.“ Ivy zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Sie musste nur Tilors Begeisterung sehen, um zu wissen, dass ihr Vater ganz und gar dagegen war Geld in „neumodischen Schnickschnack“, wie er es nannte, zu investieren.

Tilor war schon wieder im Gang verschwunden. Das Mädchen schloss die Tür wieder. Je ablehnender Vater etwas gegenüber stand, desto begeisterter war ihr Bruder davon. Er musste einfach immer gegen Vater protestieren. Ivy seufzte.

            Was sollte sie nur an einem solchen Abend anziehen?

 

*

Kapitel 2

Tilor ÒCeallaigh

(13.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

Tilor ging ungeduldig in seinen Gemächern auf und ab.

            Er musste seinen Vater überzeugen.

Der schon ältere Mann war jedoch sehr starrsinnig und hatte genaue Vorstellungen davon, was für seine Familie gut war. Und er setzte sie strikt durch! Er verweigerte Tilor als ältestem und einzigem Sohn sogar die Führung. Der Junge schnaubte verärgert durch die Nase.

Er würde die Familie weiter voranbringen, als sein Vater es sich je ausmalen konnte. Wenn der Alte sich doch endlich besinnen würde. Er könnte seinen Ruhestand mit allen möglichen Annehmlichkeiten genießen, aber nein, er musste sich störrisch an die Führung klammern.

Ungeduldig sah Tilor nach draußen. Die Abenddämmerung nahm den Bäumen langsam die Farbe.

Endlich! Nun konnte er sich zum Abendessen aufmachen! Dieser Tag würde       einen neuen Anfang markieren. Sie würden endlich Geld in Forschungen investieren.

Er warf einen letzten Blick in den Spiegel bevor er schnellen Schrittes in den Flur lief und sich auf den Weg zur großen Halle machte. Henry hielt ihm die große Tür auf und nahm ihm den Hausmantel ab, denn die Halle war gut geheizt worden. Die lange Tafel war bereits eingedeckt. Nur Mrs. ÒCeallaigh war schon da. Sie begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln, als er sich hinter seinen Platz neben dem Kopfende des Tisches ihr gegenüber stellte. Auch seine Schwester traf kurz darauf ein. Sie trug ein langes blaues Kleid mit weit fallenden Ärmeln, das eine ihrer Schultern unbedeckt ließ. Ihre langen blonden Haare waren hochgesteckt. Sie war wunderschön, aber schließlich war sie auch eine ÒCeallaigh. Sein Vater erschien zum Schluss. Er trat ein, setzte sich an das Kopfende und forderte auch sie danach auf, sich zu setzen.

Nur der Forscher fehlte. Tilor fiel auf, dass er nicht einmal wusste, wie er hieß.

Nun ja, das würde sich schon klären. Wenn er doch nur endlich erscheinen würde!

Seine Mutter begann beschwingt über das Wetter zu plaudern und seine Schwester beteiligte sich eifrig. Doch Tilor nahm es nur am Rande wahr.

            Wo blieb nur dieser Forscher?

Da endlich ging die Tür auf und ein junger Mann trat ein. Er sah blendend aus! Leicht verstrubbeltes Haar fiel in schwarzen Locken über unglaublich helle braune Augen. Mit einem strahlenden Lächeln trat er ein. Unter dem allgemeinen Hausmantel trug er einen gut sitzenden Frack. Als er zum Tisch trat, neigte er leicht den Kopf. „Ich entschuldige mich für die Verspätung. Ich fürchte ich habe mich immer noch nicht an den hiesigen Stand der Sonne gewöhnt.“

Tilor blickte zu seinem Vater. Dieser sah mehr als nur verärgert aus und so atmete der Junge erleichtert auf, als seine Mutter die Initiative ergriff. „Guten Abend. Ich freue mich sie endlich unseren Kindern vorzustellen. Das ist Mr. Baeyer. Er kommt aus dem bezaubernden Europa und führt höchst interessante Forschungen durch. Er wird für die nächste Zeit unser Gast sein. Mr. Baeyer, dies ist unsere Tochter Ivy ÒCeallaigh und unser Sohn Tilor ÒCeallaigh, der von ihrem Vorhaben übrigens sehr begeistert ist. Aber setzen sie sich doch bitte.“

Tilor spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss, als der junge Mann ihn musterte. Trotzdem wünschte er sich plötzlich nichts sehnlicher, als dass der Fremde nie wieder wegsehen würde. Doch als dieser sich gesetzt hatte, trug Henry den Vorgang und den Wein auf. Für eine Weile herrschte Stille am Tisch, da alle mit Essen beschäftigt waren.

Tilor sprach den ganzen Abend kaum ein Wort. Er hatte das Gefühl, er würde nur Belangloses von sich geben. Fast beneidete er seine Mutter um ihre Vertrautheit mit Mr. Baeyer. Sein Vater hingegen schwieg ebenfalls fast die gesamte Zeit und wenn, sprach er nur seinen Sohn an. Ein einziges Mal versuchte Tilor so das Gespräch auf das für die Forschung benötigte Geld zu lenken, doch es war, als wisse niemand wovon er sprach, denn alle lenkten sofort wieder von dem Thema ab.

So verging das Essen, ohne dass etwas Nennenswertes geschah.

Sobald die Regeln des Anstands es erlaubten, zog sich Mr. Baeyer zurück und auch Tilor und seine Schwester begaben sich in ihre Gemächer. Sie verließen den Saal gemeinsam. Höflich hinter seiner Schwester gehend schwieg der Junge. Doch auf der Hälfte des Weges drehte sie sich um und sprach ihn an: „Hat Mutter nicht mit dir gesprochen, Tilor? Oder missachtest du ihren Rat absichtlich?“

Überrascht sah er sie an: „Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Schwester.“ Prüfend sah sie ihn an: „Dann hat sie wohl wirklich nicht mit dir gesprochen. Verzeih, dass ich so mutmaßte. Mutter bat mich, das Thema des Geldes vorerst ruhen zu lassen. Vater ist noch viel zu verfahren. Sie hält es für sinnvoller zu warten und ihn zum richtigen Zeitpunkt darum zu bitten. Und wir werden sie natürlich unterstützen. Auch du, denn ihr ist sehr daran gelegen, dass diese Gelder bewilligt werden.“

Nun verstand Tilor das seltsame Verhalten am Tisch.

Aber warum war seiner Mutter daran gelegen, einem Fremden Gelder der Familie zu bewilligen? Für die Forschung interessierte sie sich wohl kaum. Und warum sollte sie sich gegen ihren Mann stellen?

„Aber findest du Mutters Interesse nicht ein bisschen seltsam? Warum wohl will sie diesem Fremden helfen?“ Tilor sprach die Worte mehr zu sich selbst, als zu seiner Schwester. Für einen kurzen Augenblick wurde ihr Gesichtsausdruck nachdenklich und zweifelnd, doch das war nur ein vorüberhuschender Schatten, denn sie hatte sich schnell wieder im Griff.

„Das hat uns nun wirklich nicht zu interessieren, Bruder.“, brachte sie hervor bevor sie sich schnellen Schrittes entfernte.

Auch Tilor ging nachdenklich auf sein Zimmer. Das wohlgeformte Gesicht des jungen Forschers ging ihm nicht aus dem Kopf.

Eigentlich war es doch egal, was seine Mutter antrieb, Hauptsache dieser Mann bekam, was er verlangte. Dafür würde er schon sorgen.

 

*

Kapitel 3

Ivy ÒCeallaigh

(13.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

Ivy streifte ziellos durch die kalten Gänge des Hauses. Sie hatte das Gefühl, Gedanken und Ahnungen würden wie Nebelfetzen durch ihren Kopf schweben. Wenn sie versuchte, sie festzuhalten, lösten sie sich auf und nichts, mit dem sie etwas anfangen konnte, blieb zurück. Schon der Gedanke, in ihr geheiztes Zimmer zurückzukehren und sich vom Kammermädchen Liwyn umsorgen zu lassen, machte sie immer unruhiger. Also ließ sie sich durch das Gewirr der Gänge treiben bis sie zum Dach kam. Sie liebte das alte Haus mit den vielen Zimmern, aber das Ungewöhnlichste war bei weitem das begehbare Dach. Sie war schon lange nicht mehr hier oben gewesen, da es oft windig und fast immer eiskalt war, aber heute würde keine Gesellschaft mehr eine makellose Frisur von ihr erwarten.

Als sie an der steinernen Brüstung lehnte, war es erstaunlich windstill, doch der Himmel war völlig schwarz und ohne ihre Gaslaterne wäre sie völlig blind gewesen. Die Wolken und die schneidende Kälte versprachen noch mehr Schnee. Das ließ sie unwillkürlich an Ian denken.

Sie musste ihren Vater einfach überzeugen ihn als Verlobten zu akzeptieren.  Der richtige Zeitpunkt war das Wichtigste!

Die Stimmung von Mr. ÒCeallaigh wechselte oft.

            Wann nur war ein verlässlicher Anlass für gute Stimmung?

Ivy grübelte bis ihr die Kälte unter den Mantel kroch. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich es musst ein festlicher und familiärer Zeitpunkt sein. Also war Weihnachten perfekt. Vater war streng gläubig und an diesem Tag immer sehr rührselig gestimmt während Mutter mit unglaublicher Hingabe ein festliches Mahl zauberte, das die Gemüter stets zur Ruhe kommen ließ. Von ihrem Patenonkel mit seinen Berichten angeregt hatte die Familie sogar ein paar kleinere fremdländische Bräuche übernommen. Vater ließ in der besinnlichen Zeit die Geschäfte ruhen und widmete sich ganz der Familie.

            Das war der perfekte Zeitpunkt und es waren nur noch 12 Tage!

Ein warmes Gefühl der Zufriedenheit durchfloss ihren Körper. Nun konnte sie beruhigt auf ihr Zimmer zurückkehren. Doch als sie sich umdrehte, ragte mit einem Mal eine dunkle Silhouette vor ihr auf. Sie stieß einen spitzen Schrei aus. Die dunkle Gestalt trat ruhig zur Seite und lehnte sich neben ihr an die Brüstung während Ivy wie erstarrt dastand. Dann erklang eine warme Stimme: „Ich hoffe, ich habe sie nicht verschreckt. Diese Nacht ist zu schön, um negative Gefühle zu empfinden, meinen sie nicht auch?“ Langsam wich Ivys Erstarrung. Es war Mr. Baeyer.

Wie konnte er es wagen, sie so zu erschrecken? Überhaupt, was hatte er hier zu suchen?

„Wie sind sie hierhergekommen?“, entfuhr es ihr.

Er seufzte leise: „Ich habe sie gesucht. Wissen Sie, ich bin wirklich aus friedlicher Absicht hier. Ich habe nicht vor, Ihnen oder ihrer Familie Geld zu stehlen. Ich möchte die Menschheit voranbringen und dafür brauche ich sie.“ Er drehte sein Gesicht zu Ivy und sie konnte den Blick plötzlich nicht mehr abwenden. Es lag eine tiefe Traurigkeit in seinem Blick.

„Ich wurde als Offizierssohn geboren. Er war auch Fachmann der Vermessung. Dafür hat er mich oft mit auf Reisen genommen. Ich sah ferne Länder mit teuren Stoffen, Gewürzen und Techniken. Die Wissenschaft der unterschiedlichen Stoffe und Gemische hat mich von Anfang an fasziniert. Leuchtende Farben, die sich in Sekundenschnelle verändern können. Und ich bin meinem Vater wirklich dankbar, dass er mir ein Studium ermöglichte.“, er schnaubte durch die Nase. „Ich sollte Ihnen das Verfahren erklären. Ihr kennt doch bestimmt Zimt? Ein teures Gewürz aus dem Osten. Sein Gebrauch ist soweit ich weiß auch hier üblich. Und aus diesem wohlriechenden Stoff, stelle ich die schönste Farbe her, die die Welt je gesehen hat. Sie kennen es bestimmt: Himmelblaue Kleider, die intensiver als die Karibik sind. Das schönste Blau, das es gibt. Und ich kann es herstellen. Ich, als Einziger. Verstehen sie jetzt warum ich des Geldes ihres Vaters würdig bin? Ja es ist schwierig, das gebe ich zu. Aber ich bin sicher, es wird funktionieren. Sehen sie aus Zimtöl lässt sich sogenannter Zimtaldehyd destillieren. Und aus diesem lässt sich Zimtsäure oxidieren. Das sind schwierige chemische Fachbegriffe, die sie kaum verstehen. Doch seien sie versichert, dass es funktioniert. Und ich habe es als erster Forscher geschafft aus Zimtsäure Isatin herzustellen. Diesen Wunderstoff, aus dem sich mit solcher Raffinesse, wie nur ich sie besitze Indigo herstellen lässt. Isatin würde Ihnen gefallen, bei Lösungen weist es wunderschöne Farbtöne von Sonnenuntergängen jeglicher Art auf. Aber ganz zu schweigen von dem Endstoff, den ich immer anstrebe. Indigo ist immer und überall gefragt. Dabei ist es wirklich ein eigenwilliger Stoff. Das Färben von Stoffen mit Indigo ist wirklich kompliziert. Glauben sie mir, er hat eben seinen eigenen Willen. Für das Einfärben wunderschöner Kleider wie das ihre hier, lässt er sich zuerst reduzieren, um erst nach Abschluss des Vorgangs wieder zu oxidieren. Aber dann ist es, als sei ein Wunder geschehen. Rauschende Kleider, lange Stoffbahnen auf den Märkten in diesem wunderschönen Blau.  Und alles nur, weil mein Genie diese Möglichkeiten entwickelt hat. Seht ihr es vor euch?“

Es war, als würde er aus einem Rausch erwachen, als er sich wieder Ivy zuwandte. Diese starrte ihn erwundert an.

Ein seltsamer Mann: Einerseits brennender Chemiker, wie es schien, andererseits war dieses Interesse für Stoffe und schöne Kleider sehr ungewöhnlich. Und an Selbstgefallen mangelte es ihm wohl auch nicht!

Ivy starrte in seine weit aufgerissenen Augen, die die Begeisterung geradezu versprühten. Sie hatte den unglaublichen Drang zurückweichen, blieb jedoch wie erstarrt stehen. Als sich seine Anspannung wieder zu lösen begann, musterte er sie scharf. Als sie weiter stumm blieb, fuhr plötzlich seine Zunge blitzschnell zwischen den Lippen hervor und er leckte er sich hastig über die Mundwinkel. Die Bewegung war so plötzlich, dass Ivy erschreckt zurückzuckte. In seinen Blick trat Verachtung, als er weitersprach: „Ah, ein störrisches Mädchen“, seine Stimme hatte von ihrer Kraft verloren und hatte jetzt etwas Lauerndes. „Du teilst meine Begeisterung also nicht wie ich sehe. Doch stell es dir vor. Du an meiner Seite in einem blauen Kleid, das deine Augen wunderschön zur Geltung bringt. Wir beide zusammen.“ Er trat so nah an sie heran, dass sein Atem über ihr Ohr strich und wickelte sich direkt vor ihrem Gesicht eine Harrsträhne, die sich gelöst hatte, um den Finger. Damit drehte er ihren Kopf, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen musste. Sie waren braun, enthielten aber schienen weiße Sprenkel zu enthalten. Das musste sie von weiter weg so hell  wirken lassen, denn das Braun war eigentlich recht dunkel.

Aber was dachte dieser Schnösel sich eigentlich! Kam hier als Gast und bedrängte sie dann so!

Das Bild von Ian tauchte vor ihr auf und Wut durchströmte sie.

Wie konnte dieser Mr. Baeyer es wagen, ihr so nahe zu treten. Ihr, die sie doch im Gegenzug nie die Unverschämtheit besitzen würde einem fremden Menschen so nahe zu treten. Zumal sie ein anständiges Mädchen war, dass sich nicht zu irgendwelchen Abenteuern hinreißen ließ. Jedenfalls nicht mit einem Fremden. Das mit Ian war eine völlig andere Sache…

Ruckartig zog sie sich zurück und befreite sich aus Mr. Baeyers Griff. „Was erlauben sie sich eigentlich?“, fauchte sie ihn an. Er wirkte darüber fast ein bisschen amüsiert. „Ich hatte wirklich gehofft, es würde einfacher werden sie zu überzeugen. Ich muss zugeben das enttäuscht mich etwas. Ihren Vater allein zu überzeugen wird ein recht großes Hindernis werden. Hoffen wir, dass ihr Bruder einsichtiger ist.“, mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Dach.

Ivy stand da und starrte in die Dunkelheit. Der kalte Wind ließ sie erschauern. Sie konnte es förmlich vor sich sehen, wie Mr. Baeyer zu ihrem lief und ihn von seinen Plänen überzeugte. Tilor würde ohne Bedenken zustimmen, da war sie sich sicher. Er würde alles tun, um seinen Vater zu piesacken. Wieder musste sie daran denken, wie sie bedrängt worden war. Die Sehnsucht nach Ian schnürte ihr die Kehle zu.

Dabei durchfuhr sie ein erschreckender Gedanke. Wenn Mr. Baeyer ihren Bruder für sich gewinnen konnte, dann würde das mehr als nur Ärger mit dem Vater geben. Und das konnte sie mit ihrer Bitte an Vater nun wirklich nicht gebrauchen.

Wie sollte sie ihren Vater von ihrem Vorhaben zu heiraten und die Familie zu verlassen überzeugen, wenn gleichzeitig ihr Bruder mit diesem Forscher nichts als Ärger in der Familie stiftete?

Ärgerlich biss sie sich auf die Lippen.

Sie musste etwas unternehmen! Vielleicht sollte sie versuchen ihren Bruder zu stoppen. Allein würde Mr. Baeyer, wie er es selbst erkannt hatte, kaum etwas ausrichten können. Aber Tilor war schon vor der Ankunft des Mannes von dem Vorhaben mehr als überzeugt gewesen. Jetzt schien es unmöglich ihn davon abzuhalten.

Außerdem quälte sie eine weitere Überlegung, die sie verzweifelt versucht hatte zu verdrängen.

            Was war mit ihrer Mutter?

Auch sie schien den Mr. Baeyer zu unterstützen. Und dann war da noch die Sache mit dem Brief und den Karten für die Überseereise.

Nein, es war ganz klar! Ursache allen Übels war nur dieser Mr. Baeyer. Er kam hier an, überzeugte blitzschnell sowohl ihre Mutter als auch ihren Bruder von einem Vorhaben, das mehr als fragwürdig klang. Einen Farbstoff wollte er vermarkten!

Ivy schnaubte verächtlich durch die Nase.

Die Forschung hatte doch wirklich wichtigere Dinge zu tun, als Farbstoffe für schöne Kleider herzustellen! Dieser Mann brachte nichts als Ärger. Und dass er damit ihren Lebensplan in Gefahr brachte, konnte sie nicht akzeptieren. Mr. Baeyer musste von hier verschwinden! Jetzt sofort würde sie etwas unternehmen! Je schneller er weg war, desto besser.

Entschlossen drehte Ivy sich um ging festen Schrittes wieder ins Haus.

Wo war der junge Forscher wohl jetzt? Sie würde in seinen Gemächern nachsehen. Wahrscheinlich war er gleich zu Tilor gegangen und seine Zimmer waren leer. Sie würde sofort nachsehen. Und wenn niemand da war, musste sie sich nur noch einen Plan überlegen, aber das würde sich schon finden!

 

*

Kapitel 4

Tilor ÒCeallaigh

(13./14.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

Tilor saß in dem Sessel an seinem Fenster und starrte in die Dunkelheit.

            Was war nur los mit ihm?

Er hatte das Gefühl, dass alles, woran er geglaubt hatte, zu verschwimmen schien. Die Grenzen verschoben sich und er hatte fast so etwas wie Angst davor, zu sehen, wohin sie wanderten.

Noch vor ein paar Tagen war er sich sicher gewesen, was er wollte. Endlich sein Erbe antreten können, um etwas zu verändern, um endlich auch einmal Entscheidungen treffen zu können.

Aber jetzt fragte er sich, was genau er denn bitte hatte verändern wollen.

Machte es wirklich so einen großen Unterschied, ob er die Familie führte oder nicht? Selbst, wenn Vater ihm jetzt den gesamten Besitz überlassen würde, was sollte er denn noch damit?

Die Sehnsucht nach etwas Größerem bohrte sich in sein Herz. Und immer wieder schob sich das Bild des jungen Forschers in seine Gedanken. Er versuchte es zu vertreiben, doch es hielt sich hartnäckig.

Dieser Mann hatte es zu etwas gebracht. Er war frei zu reisen, Dinge zu entdecken, die ihm wirklich wichtig waren. Und die Welt hörte auf ihn.

Fast empfand Tilor so etwas wie Neid. Plötzlich klopfte es an die Tür und ohne auf eine Aufforderung zu warten, trat jemand ein. Tilor schreckte aus seinem Sessel hoch und drehte sich um. In der Tür stand Mr. Baeyer. Seine Wangen waren leicht gerötet, als käme er aus der Kälte draußen. Aber ein strahlendes Lächeln kleidete sein Gesicht. Als er Tilor ansah, schien es jedoch leicht zu verblassen. Der Junge begriff plötzlich, dass seine Miene pures Entsetzen ausdrücken musste. Hastig straffte er sich. Mr. Baeyers Mundwinkel hoben sich wieder. Zwischen seinen vollen Lippen blitzten perfekte, weiße Zähne hervor. „Ich hoffe doch, ich störe nicht allzu sehr.“, meinte er nur sanft, während er fast vorsichtig die Tür leise schloss.

„Ich darf mich doch setzen?“, ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sich in dem Sessel nieder, in dem eben noch Tilor gesessen hatte. Dieser musste mit der kalten in die Wand gemauerten Nische vorlieb nehmen. Endlich fand er seine Fassung halbwegs wieder und fragte höflich: „Was führt sie zu dieser späten Stunde her?“ Mr. Baeyer hob den Kopf und sah ihn direkt an. Langsam, als ob er nachdachte, legte er einen Finger an sein Kinn und strich bedächtig darüber. Mit zögerlicher Stimme begann er zu sprechen: „Nun, ich weiß nicht so recht. Ich hätte da ein persönliches Anliegen… Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich sie wirklich damit belasten soll. Andererseits erscheinen sie mir klug und vor allem vertrauenswürdig. Und ich benötige nur etwas Unterstützung…“, fast etwas unsicher ließ der junge Mann seine Worte ausklingen und sah Tilor fragend an.

Hastig beugte der sich vor, als der Forscher die Stimme senkte. „Egal, was es ist, ich stehe Ihnen natürlich unter allen Umständen zur Verfügung. Ich, ich, ich… Ich möchte Ihnen sehr gerne behilflich sein.“, vor lauter Aufregung begann Tilor zu stottern, die Worte, die er suchte, fand er plötzlich nicht mehr. Aber Mr. Baeyer schien es nicht zu bemerken und nickte dankend mit dem Kopf. „Ihr Vertrauen ehrt mich sehr. Ich möchte auch gleich zur Sache kommen. Im Gegensatz zu Ihnen ist ihr Vater, wie sie vielleicht bemerkt haben, von meinem Anliegen nicht sehr überzeugt. Und ich bin bescheiden genug, um einzusehen, dass meine Wenigkeit dabei wohl kaum etwas ausrichten kann. So sehr ich bedauere, das sagen zu müssen, aber Mr. ÒCeallaigh ist ein schwer zugänglicher Mann. Natürlich kann ich mein Vorhaben nicht einfach so aufgeben, denn ich bin fest davon überzeugt, dass es richtig ist, was ich tue. Ich versuche der Welt mehr Schönheit zu geben.“, er seufzte und blickte betrübt zu Boden. „Sie müssen wissen, Menschen, wie sie, Tilor, geben mir die Hoffnung zurück und dafür bin ich Ihnen unendlich dankbar.“

Bei diesen Worten durchflossen Tilor ein warmes Gefühl des Stolzes auf sich selbst und zugleich Bewunderung für diesen einzigartigen Mann, der doch tief im Innern auch ein bisschen unsicher zu sein schien und trotzdem seine Ziele so vehement verfolgte.

„Kurz gesagt, ich benötige ihre Hilfe. Nur leider muss ich gestehen, dass sehr zu meinem Bedauern dafür wohl einiges nötig sein wird. Womöglich muss ich mehr von Ihnen verlangen, als mir lieb ist. Manchmal ist es leider notwendig, große Probleme über das wohl der eigenen Familie zu stellen. Ich bin überzeugt, dass sie, wie ich, tief in ihrem Innern dazu bereit sind, weil sie erkennen, dass es richtig ist. Sollte ich mich jedoch in Ihnen täuschen, so bitte ich sie unser kleines Gespräch einfach zu vergessen. Dann werde ich unverzüglich abreisen. Ich flehe sie an, denken sie aber genau darüber nach, denn das würde die Zerstörung all meiner Pläne und Träume bedeuten!“, war die Stimme des Forscher kurzzeitig sogar leicht drohend gewesen, so nahm sie jetzt einen beinahe flehenden Unterton an. Tilor atmete tief durch.

            Das war seine Chance!

Dann sagte er mit fester Stimme: „Ich bin bereit Ihnen in jedweder Weise zu helfen.“ Mr. Baeyer lächelte strahlend und lehnte sich plötzlich vollkommen entspannt in seinem Sessel zurück.

„Nun heißt es zu überlegen, was wir tun können. Wie ich schon sagte ist ihr Vater wohl nur schwer zu überzeugen. Demzufolge müssen wohl andere Wege gefunden werden. So wie ich es sehe, ist die Machtverteilung innerhalb dieser Familie sehr ungewöhnlich. Obwohl sie schon lange ein ausreichendes Alter erreicht haben, verwaltet ihr Vater immer noch das gesamte Vermögen allein. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Er hält sie für sprunghaft, unreif und im Großen und Ganzen einfach für nicht fähig. Natürlich sind dies allein seine Eindrücke, die ganz und gar nicht der Wahrheit entsprechen, wie ich feststellen durfte. Unser Plan muss aber heißen, dass sie einen gewissen Anteil des Familienvermögens überschrieben bekommen. Dazu muss ihr Vater jedoch davon überzeugt sein, dass sie dazu fähig sind, es zu verwalten. Und sie haben die Aufgabe, ihn zu überzeugen. Sie werden sein Gespräch suchen und dabei werden sie sich nicht wie sonst bockig und halsstarrig erweisen, sondern werden ihm höflich und besonnen einige Vorschläge machen, die ihm zeigen, dass sie nicht nur Unsinn im Kopf haben. Haben sie das soweit verstanden?“

Tilor fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Eben noch ein geheimer Verbündeter, entwarf der Forscher nun ausgeklügelte Pläne, deren Inhalt er war und die eine eiskalte Berechnung erkennen ließen.

Aber schließlich ging es um das Lebenswerk des Mannes! Er hätte wahrscheinlich genauso berechnend gehandelt, wenn etwas so Wichtiges auf dem Spiel stand. Und schließlich hatten sie ein Ziel. Da musste er jetzt eben seine Gekränktheit über die rauen Worte wegstecken und sich konzentrieren. Schließlich war er kein kleiner Junge mehr!

„Ich verstehe voll und ganz. Bloß was genau schweben Ihnen für Vorschläge vor, die ich meinem Vater machen soll? Wenn ich ihn um Geld bitte, wird er wohl kaum darauf eingehen und seine Meinung über mich wird das gewiss auch nicht ändern.“, erwiderte Tilor also so ungerührt, wie er konnte. „Nein, da haben sie vollkommen recht. Es darf nichts sein, was unser Vorhaben direkt betrifft. Nein, eigentlich reicht etwas völlig Banales. Wichtig dabei ist schließlich nicht, dass er den Vorschlag ausführt, sondern, dass er seinen Sohn anerkennt. Schwierig…“, Mr. Baeyer runzelte die Stirn und schien angestrengt nachzudenken. Mit einem Mal hellte sich seine Miene auf. „Ja, das ist es!“, murmelte er. Dann wandte er sich Tilor zu: „ Mein Vorschlag wird sie eventuell etwas erschrecken, aber ich bitte sie, ihn genau zu überdenken bevor sie urteilen. Was mir vorschwebt, betrifft ihre Familie ganz persönlich, aber es ist nichts Unrechtes…“, er beugte sie nahe zu Tilor und erläuterte mit leiser Stimme seinen Vorschlag. Den Jungen durchfuhr das Entsetzen, als er hörte, was der Forscher vorhatte.

Das konnte er ihr nicht antun! Andererseits… Vielleicht war es doch gar nicht so schlimm.

Mr. Baeyer betrachtete ihn prüfend: „Denken sie darüber nach! Und führen sie das Gespräch so bald wie nur möglich. Ich verlasse mich auf sie.“ Dann stand er auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Tilor blieb in der Nische sitzen und starrte in die Dunkelheit vor dem Fenster. Die Gedanken schwirrten unaufhaltsam durch seinen Kopf. Die Worte des Forschers hallten immer und immer wieder in ihm nach.

„Ich verlasse mich auf sie!“, hatte er gesagt.

Der Ärger über seinen Mr. ÒCeallaigh kochte wieder in ihm hoch.

Er hatte es verdient, an der Verwaltung des Familienvermögens teilzuhaben und der Einzige, der zu starrköpfig, das zu erkennen, war sein Vater! Das hier war seine Möglichkeit, sich zu beweisen! Und plötzlich war er sich sicher, dass dieser Plan sein Weg in die Freiheit war. Mit diesem Vermögen, könnte er sein wie Mr. Baeyer! Das hier war seine Chance etwas Richtiges zu tun! Er würde diesen Mann unterstützen.

Entschlossen erhob er sich, strich seine Kleider glatt und betrachtet sich kurz prüfend im Silberspiegel an der Wand.

Zum Glück trug er noch die guten  Sachen vom Essen, sodass er sich nicht umzuziehen brauchte.

Sein Vater legte immer großen Wert auf gepflegtes Aussehen. Außerdem blieb er immer lange auf und verbrachte die Nächte oft bis zum Morgen in der großen Bibliothek des Hauses. Schnellen Schrittes machte sich Tilor auf den Weg dorthin. Als er die schwere Holztür öffnete, schlug ihm der unverwechselbare Geruch der vielen Bücher und angenehme Wärme entgegen. Mr. ÒCeallaigh saß an einem großen Eichenholztisch über einige lose Papiere gebeugt. Als Tilor eintrat blickte er auf und erhob sich. „Nun, mein Sohn, was führt dich zu dieser späten Stunde her?“, in seinem Ton lag nur leichte Missbilligung. Er schien recht gute Laune zu haben. „Ich wollte nach euch sehen, Vater. Wie geht es euch? Was hält euch so Wichtiges wach? Außerdem möchte ich euch einen Vorschlag unterbreiten.“, er sprach mit höflicher und interessierter Stimme und sein Vater schien angenehm überrascht. „Setz dich doch, mein Junge. Was mich wach hält, sind größtenteils nur unwichtige Bestandslisten. Aber was möchtest du mit mir besprechen?“ Die beiden saßen sich nun an dem großen Tisch gegenüber. Tilor schlug einen ernsteren Ton an: „Vater, ich habe viel nachgedacht in letzter Zeit. Und nach reiflichen Überlegungen habe ich euch einen Vorschlag zu unterbreiten. Und zwar geht es um meine Schwester. Sie ist ein außergewöhnlich schönes Mädchen und ihr Name ist weit bekannt. Also dürfte es nicht schwierig werden. Und gleichzeitig können auch wir sehr große Vorteile daraus ziehen. Es muss natürlich jemand mit einem ebenso guten Namen sein. Aber das eigentlich Wichtige ist, dass wir die Möglichkeit haben unsere Auswahl auch nach anderen Kriterien zu treffen. Es gibt einige junge Männer, die durch wohldosierte Investitionen einiges an Vermögen zusammen haben. Und ich bin sicher, Ivy ist durch ihre Schönheit sehr begehrt. Ich sehe, ihr beginnt zu begreifen, was ich meine, Vater. Natürlich wird es nicht sehr angenehm für meine Schwester, aber schließlich geht es hier um das Wohl der Familie! Ivy muss heiraten!“

 

*

Kapitel 5

Ivy ÒCeallaigh

(14.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

Ivys Herz klopfte schnell. Leise schlich sie durch die kalten Gänge- die Gänge ihres eigenen Hauses! Sie hätte nie gedacht, dass sie zu so etwas fähig war. Es war unfassbar, was nötig war, um das Zerbrechen ihrer Familie zu verhindern. Und das alles wegen einem einzigen Mann!

Sie war sich sicher gewesen, dass man Mr. Baeyer in den normalen Gästezimmern des Hauses untergebracht hatte. Schließlich besaß er weder das Wohlwollen ihres Vaters, noch bezahlte er diese Unterkunft. Aber der gesamte Flügel in der zweiten Etage war wie ausgestorben gewesen. Die Zimmer leer und alle Möbel verhängt, wie es üblich war, wenn sie nicht benutzt wurden.

Also schlich sie nun leise in die dritte Etage, wo sich die schon fast luxuriös ausgestatteten Quartiere befanden. Als sie den Flur betrat, wusste sie sofort, dass sie hier richtig war. Es herrschte eine Wärme, die im restlichen Haus sogar in den Zimmern nicht erreicht wurde. Eigentlich wurde das Heizen generell auf Aufenthaltsräume begrenzt und im restlichen Haus, wie z.B. den Fluren, hatte jeder wärmere Kleidung zu tragen. Das sparte Unmengen an Holz. Es war schon beinahe ein Frevel, als Gast ein solch verschwenderisches Verhalten an den Tag zu legen. Aber sie hatte ja bereits gelernt, dass Mr. Baeyer sich nahm, was er wollte.

Hinter der ersten Tür, an der sie vorbeikam, hörte sie zwei männliche Stimmen in einer fremden Sprache sprechen. Ivy wusste, dass dahinter nur eine kleine Tür lag und vermutete, dass das die Bediensteten des Forschers waren. Unter ihrem langen Mantel liefen ihr kleine Schweißtropfen über den Rücken. Sie widerstand der Versuchung, ihn auszuziehen und schlich leise weiter.

Als sie die nächste Tür öffnete, schlug ihr fast schon eine Hitzewelle entgegen. In Raum dahinter brannte ein übermäßig riesiges Kaminfeuer, doch es war niemand zu sehen. In der Mitte stand ein langer Tisch, auf dem seltsam geformte Gefäße standen. Die meisten waren leer, aber in einigen befand sich eine bräunliche Flüssigkeit, die mit abnehmender Größe der Behälter einen Stich ins Orange hatte. Auf einem zweiten kleineren Tisch lagen riesige Papierstapel. Das waren wohl die Aufzeichnungen zu den Experimenten auf dem großen Tisch.

Am anderen Ende des Raumes ging eine weitere Tür ab. Sie durchquerte schnell das Zimmer und öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt breit. Als sie hindurchspähte, sah sie im Dämmerlicht eine kleine Kammer mit einem Bett. Auf dem Boden stand ein riesiger Koffer und überall auf dem Boden waren Dinge verstreut. Als sie die Tür weiter öffnete, um den Schein des Kaminfeuers hineinzulassen, entdeckte Ivy Fräcke und Anzüge in allen Farben, sowie Bücher über wissenschaftliche, aber auch gesellschaftliche Themen. Vor Staunen über die reich bestückte Garderobe blieb ihr der Mund offen stehen. Sie hatte kaum Hoffnung, in dem Chaos herumliegender Dinge irgendetwas zu finden, was ihr helfen könnte, ihm zu schaden oder etwas zu erfahren.

Seufzend kehrte sie in den ersten Raum zurück und widmete sich dem Tisch mit den Papierstapeln. Die meisten waren mit seltsamen Buchstabenreihen beschrieben und Ivy vermutete, dass das wohl die Aufzeichnungen zu den Forschungen waren. Auf anderen waren wohl Notizen in einer fremden Sprache notiert worden. Jedoch erkannte Ivy in den unverständlichen Wörtern sowohl ihren Namen, als auch den ihres Bruders und anderen Mitgliedern des Haushalts.

            Sollte sie vielleicht einfach seine Aufzeichnungen zerstören?

Doch da fiel ihr Blick auf einen Umschlag, der außerhalb der peniblen Ordnung der Papiere in einer Ecke des Tisches lag. Er war an ihre Mutter adressiert und schon recht zerfleddert. Als sie ihn näher in Augenschein nahm, war sie ganz sicher, dass es derselbe war, wie der, den sie vom Postboten bekommen und ihrer Mutter übergeben hatte. Derselbe, in dem sie die Überseekarten gefunden hatte.

            Wie kam er hierher?

Sie hatte ihn eindeutig ihrer Mutter in die Hände gegeben, schließlich war er an sie adressiert gewesen. Vorsichtig öffnete Ivy den Umschlag ein zweites Mal. Der Brief an ihre Mutter war verschwunden und nur eins der beiden Tickets steckte noch in der unteren Ecke.

            Aber wo war dann das Andere?

Es musste noch bei ihrer Mutter sein. Das Andere hatte sie Mr. Baeyer wohl freiwillig übergeben, denn hätte er den Umschlag gestohlen, dann doch wohl gleich mit dem gesamten Inhalt.

Plötzlich keimte ein schrecklicher Verdacht in ihr auf. Vor ihrem inneren Auge zogen die gesamten Ereignisse vorbei. Ihre Mutter, die den Forscher anlächelte. Ihre Mutter, die dafür gesorgt haben musste, dass die Gäste im luxuriösen Teil des Hauses untergebracht wurde. Ihre Mutter, die sie bat, das Thema Geld beim Abendessen nicht anzuschneiden, da sie Mr. Baeyer zu einem günstigeren Zeitpunkt unterstützen wolle.

Wie der junge Mann selbst festgestellt hatte, wäre es für ihn ohne Unterstützung nie möglich, in diesem Haus irgendetwas zu erreichen. Nur dass er anscheinend eindeutig Unterstützung von ihrer Mutter erhielt.

Aber warum wollte diese erreichen, dass der Forscher gefördert wurde? Sonst stand sie doch bei allem an Vaters Seite.

Ivy hatte nie sehr viel mit ihrer Mutter zu tun gehabt. Doch plötzlich wurde ihr klar, dass die Frau, die sie erzogen hatte, die immer perfektes Verhalten verlangte und auch selbst an den Tag legte, mehr als nur die gehorsame Ehefrau war.

Ihre Mutter war wie sie ein Mensch mit Wünschen und Ängsten!

Seltsamerweise verstörte Ivy diese banale Erkenntnis. Es war, als hätte sie plötzlich eine völlig neue Welt entdeckt. Ihre klare Schwarz-Weiß-Ansicht wurde mit einem Schlag grau. Ihre Mutter war ein Idol der Perfektion gewesen und die Vorstellung, dass sie diesen widerlichen Forscher unterstützte, war verstörend.

Und das Schlimmste war, dass das anscheinend mehr als nur Unterstützung war. Die beiden hatten gemeinsam eine Überseereise geplant, das bewiesen die Überseekarten. Und deshalb brauchte Mr. Baeyer wohl umso dringender das Geld ihres Vaters.

Es war schon seltsam, in gewisser Weise ähnelte die Situation ihrer Mutter doch sehr ihrer Eigenen. Sie beide hatten gewissermaßen einen ungebilligten Geliebten.

Mit dem Unterschied, dass sie im Gegensatz zu ihrer Mutter keinen Ehemann hatte, den sie damit betrog. Sie stand zu ihrer Familie und würde ihren Vater ganz förmlich um Erlaubnis bitten und nicht wie ihre betrügerische Mutter einfach abhauen!

Heiße Wut durchfuhr sie. Einfach alles schien sich in letzter Zeit gegen sie zu wenden. Mit einem Schaudern dachte sie darüber nach, wie ihr Vater reagieren würde, wenn er erfuhr, dass seine Frau ihn betrog und vorhatte ihn zu verlassen.

Mit Schrecken wurde ihr klar, dass auch sie dann ein Problem haben würde. Denn dann wäre ihre Bitte eindeutig sinnlos. Nie im Leben würde ihr Vater ihre Vermählung mit einem Tourmakeady billigen, wenn ihn seine Frau betrog. Seine Wut würde sich auf alle Frauen übertragen und Ivy würde er den Rest ihres Lebens keinerlei Vertrauen mehr entgegenbringen.

Ivy fluchte.

An allem war nur dieser verdammte Forscher schuld. Er kam hierher, verführte ihre Mutter, stellte unverschämte Geldforderungen und brachte einfach alles durcheinander!

Sie konnte die Wut in sich pulsieren spüren. Noch immer stand sie vor dem Tisch mit den Papieren. Wütend nahm sie den ersten Stapel und warf ihn mit voller Wucht in die Kaminflammen. Es sprühte Funken und die Blätter glühten hell auf, als sie Feuer fingen. Doch als sie beim dritten Stapel angekommen war, hörte sie plötzlich Stimmen auf dem Flur. Auf einen Schlag verrauchte ihre Wut und es durchfuhr sie eiskalt.

Wenn man sie hier entdeckte, wäre alles umsonst gewesen Man würde es ihrem Vater berichten und er würde ihr nie wieder etwas erlauben, geschweige denn ihrer Verlobung zustimmen.

Stocksteif und wie erstarrt stand sie da, während die Stimmen immer näher kamen. Erst kurz bevor sich die Tür öffnete, schaffte sie es ganz schnell dahinter zu huschen. Mr. Baeyer und ein Diener traten ein. Als sie die Tür hinter sich schlossen, stand Ivy ohne Sichtschutz direkt hinter ihnen, doch zum Glück drehten sie sich nicht um. Der Forscher gab dem Diener in barschem Ton ein paar Anweisungen und eilte dann raschen Schrittes in sein Schlafzimmer. Der Bedienstete ging zum Feuer und versorgte es mit geübten Bewegungen. Dann nahm er den großen Holzkorb, wandte sich wieder zur Tür um und ging hinaus, wohl um neues Holz zu holen. Wie durch ein Wunder entdeckte er Ivy auch hierbei nicht, obwohl sie immer noch an der Tür stand und sich zitternd an die Wand presste.

Doch sobald er den Raum verlassen hatte, nahm sie ihre letzten Kräfte zusammen und schlüpfte leise hinaus. Als sie sich im Flur umsah, verschwand der Diener gerade um die Ecke am einen Ende des Ganges. Leise huschte Ivy in die andere Richtung. Schnell verschluckte die Dunkelheit der unbeleuchteten Gänge ihre Gestalt, als sie durch unbewohnte Teile des Hauses in ihre eigenen Gemächer zurückkehrte.

 

*

Kapitel 6

Tilor ÒCeallaigh

(19.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

Tilor saß in der Bibliothek. Seit er mit seinem Vater gesprochen hatte, verbrachten sie dort viel Zeit gemeinsam und Tilor bemühte sich redlich der Aufmerksamkeit gerecht zu werden. Im Moment war er jedoch allein und konnte sich entspannen.

Seit Mr. ÒCeallaigh ihn näher beobachtete, hatte er sogar begonnen zu lesen. Meist waren es, nach den Empfehlungen seines Vaters, wirtschaftliche Abhandlungen. Besonders faszinierten ihn die verschiedensten Zukunftsvorstellungen und Utopien, in denen unglaubliche Dinge, wie einheitliche Maße und ein freier Welthandel vorkamen.

Aber beim Stöbern hatte er für sich selbst noch eine weitere Leidenschaft entdeckt. Seit er Pouquevilles Reiseberichte gelesen hatte, verschlang er Bücher über lange Reisen an ferne Orte. Oft las er von Dingen, die er sich kaum vorstellen konnte und bei denen er sich teilweise nicht sicher war, ob sie nicht vielleicht der Fantasie des Schriftstellers entsprangen. Doch diese Art der Lektüre hielt er vor dem Vater sorgfältig verborgen, der diese Tagträumerei sicher nicht gutheißen würde.

Da das Wetter es weiterhin beinahe unmöglich machte, das Haus zu verlassen, konnte er seiner neuen Leidenschaft des Lesens ungehindert frönen. In der Bibliothek war es im Gegensatz zu seinen eigenen Räumen viel wärmer, da hier stets mehrere Bedienstete damit beauftragt waren, eine gleichmäßige Raumtemperatur zu halten, um die kostbaren Bücher der Familie zu schützen. Außerdem waren die Wände hier, wenn sie nicht mit Regalen bedeckt waren, mit Holz verkleidet, was eine ganz andere Atmosphäre als im Rest des Hauses schuf. Auf den nackten Mauern des Gebäudes bildete sich durch das feuchte Klima schnell Schimmel, was sich auf die Bücher schädigend auswirken könnte. Deswegen war diese außerordentliche Maßnahme getroffen worden.

Die großen Lesesessel waren noch alte Erbstücke und dementsprechend sehr gemütlich. So hatte Tilor festgestellt, dass er sich plötzlich sehr gerne in der Bibliothek aufhielt, obwohl er sich das noch vor einem Monat nie hätte vorstellen können und ihm damals kaum etwas wichtiger gewesen war, als möglichst wenig Zeit auf dem Anwesen zu verbringen. Er seufzte zufrieden.

Als die Tür sich öffnete, setzte er sich schell auf, in der Erwartung seinen Vater eintreten zu sehen. Doch es war nur ein einfacher Bediensteter. Dieser begab sich allerdings nicht zum Feuer, um es zu versorgen, sondern trat vor den Jungen. Er grüßte und verneigte sich kurz.

„Ich soll euch bitten, Mr. Baeyer unverzüglich in seinen Gemächern aufzusuchen und euch mitteilen, dass er in den Gästezimmern der dritten Etage untergebracht ist.“, verkündete er förmlich und entfernte sich auf Tilors Wink sogleich wieder.

Es war wirklich sehr weise von seinem Vater, den Forscher in den luxuriöseren Gemächern unterzubringen. Schließlich war er ein wichtiger Gast. Vielleicht war sein Vater dem Vorhaben ja doch nicht so abgeneigt, wie es schien.

Schnell stand er auf, strich seine Kleider glatt und zog sich einen wollenen Hausmantel über. Auf dem Weg grübelte er über den plötzlichen Ruf des Forschers nach.

Was war nur geschehen, dass es plötzlich so dringend war, schnell zu kommen?

Auf den Fluren im dritten Stock wuselten eifrige Bedienstete umher. Die meisten von ihnen  waren damit beschäftigt große Mengen an Feuerholz in die Gemächer zu transportieren. Selbst in den Fluren war es erstaunlich warm. Bei seinem Erscheinen wurde Tilor sofort auf die große Tür zum Salon dieses Hausteils verwiesen. Als er eintrat, schlug ihm eine Hitzewelle entgegen. Mr. Baeyer stand am Ende eines großen Tisches und diskutierte in einer fremden Sprache mit einem älteren Bediensteten. Er winkte Tilor nur abwesend zu und bedeutet ihm zu warten. Dann sprach er weiter auf den Älteren ein, ohne Tilor in irgendeiner Weise zu beachten. Dieser stand noch immer in der Tür, bis er unsanft beiseite geschoben wurde. Er starrte die charismatische Gestalt des Forschers an, die in ihrer Wut und Sorge plötzlich nicht mehr so kühl und beherrscht wirkte. Warme Zuneigung und der Wunsch dem anderen jungen Mann zur Seite zu stehen durchflossen Tilor, während er gleichzeitig einen scharfen Stich der Enttäuschung spürte, dass er so rüde ignoriert wurde und einfach warten sollte.

Endlich schloss Mr. Baeyer sein Gespräch mit ein paar letzten scharfen Worten, bevor er alle Bediensteten mit ungeduldigen Gesten aus dem Raum scheuchte. Dann endlich wandte er sich Tilor zu. Seine Gesichtszüge entspannten sich etwas und er winkte ihn heran. Beide ließen sich in Sesseln nahe dem lodernden Feuer nieder und der Forscher schloss kurz die Augen und seufzte. Erneut fühlte Tilor Sorge in sich aufsteigen.

Was mochte einen so bewundernswerten, starken Mann nur so aus dem Konzept bringen?

Doch bevor er nachfragen konnte, begann der Erschöpfte selbst zu sprechen: „Wie sie vielleicht erraten haben werden, sind einige unerwartete Dinge geschehen. Rundheraus gesagt, ich wurde bestohlen! Das klingt unglaublich, ist aber an sich nicht ganz so dramatisch, wie man denken könnte. Selbstverständlich ist keinerlei Wissen verloren gegangen, schließlich könnte keine so ausführliche Aufzeichnung annähernd so perfekt sein, wie mein Gedächtnis. Der einzige Punkt, der mir Sorgen macht, ist der, dass nun auch Andere die Grundlagen zur Herstellung von Indigo besitzen. Das heißt, ab jetzt ist höchste Eile geboten. Sollten die Diebe vor uns genügend Geld für ein Patent und eine nachfolgende Produktion auftreiben, war meine Arbeit umsonst. Dann werden Andere sich an ihr gütlich tun und mein Verdienst wird niemals anerkannt werden! Ich hoffe, sie verstehen meine Aufregung.“

Tilor war vor Entsetzen wie erstarrt. Natürlich verstand er.

            Aber wer würde so etwas wagen?

Als hätte Mr. Baeyer seine Gedanken gelesen fuhr er fort: „Ich weiß nicht, wer zu einer solchen Untat fähig wäre aber ich habe durchaus einige einflussreiche Neider in der Welt der Forschung. Ich werde mich unverzüglich in die Stadt begeben und einige Erkundigungen einziehen. Aber es war mir wichtig, Ihnen zu zeigen, dass ich mich nun noch mehr auf sie verlassen muss und das höchste Eile geboten ist.“ Bei den letzten Worten erhob er sich schon wieder, die Unruhe schien ich erneut befallen zu haben. Hastig suchte er einige Unterlagen und warme Sachen zusammen. Erst nach einiger Zeit fand Tilor seine Stimme wieder: „Der Weg in die Stadt ist nur schwer befahrbar, seid vorsichtig. Ich werde mich unverzüglich zu meinem Vater begeben und mit ihm reden.“ Erstaunt über das plötzliche Selbstbewusstsein des jungen Mannes sah der Forscher auf: „Natürlich passe ich auf mich auf. Seid unbesorgt!“ Dann verließ er mit schnellen Schritten das Zimmer, wo vor der Tür schon drei Bedienstete warteten, von denen zwei ihn begleiteten. Der Dritte trat zu Tilor in das Zimmer und begann erneut das Feuer zu schüren.

Noch immer erschüttert saß der Junge in dem Sessel und dachte nach.

Was sollte er seinem Vater sagen? Er sollte ihn von dem Einbruch berichten. Dann würde Mr. ÒCeallaigh vielleicht verstehen, wie wertvoll diese Entdeckung war, wenn sie sogar gestohlen wurde.

Andererseits existierte ganz unten in seinem Kopf ein Gedanke, der ihn zögern ließ.

War das Haus nicht sehr unerreichbar gelegen und wären Fremde hier nicht viel zu sehr aufgefallen? Die Dienstboten kannten einander doch untereinander. Also musste es jemand aus dem Haus gewesen sein.

Dieser Verdacht ließ ihn frösteln.

Wozu sollte ein einfacher Dienstbote solche für ihn unverständlichen Aufzeichnungen stehlen? Außerdem waren alle Bediensteten entweder seinem Vater und der Familie ÒCeallaigh oder dem Forscher treu ergeben. Und Mr. Baeyer würde sich ja wohl kaum selbst bestehlen lassen.

Obwohl das natürlich ein kluger Schachzug wäre, war Tilor sich sicher, dass die Sorge des Forschers echt gewesen war.

Also musste es einer der Dienstboten der Familie sein und die würden wohl kaum auf eigene Faust handeln. Aber wie sollte er das Mr. Baeyer sagen? Nein, ganz klar, er durfte es ihm nicht verraten.

Sollte er erfahren, dass es seine Gastgeber waren, die ihn bestohlen, würde er sicher nicht bleiben. Und dieser Gedanke schmerzte Tilor auf eine Weise, die er selbst kaum für möglich gehalten hätte.

Also musste er selbst handeln! Aber warum sollte sein Vater hingegen so etwas veranlassen? War der Gast ihm so lästig, dass er sogar zu solchen Mitteln griff, um ihn zu vertreiben?

Der Bedienstete, der das Feuer versorgt hatte, war schon längst wieder verschwunden und Tilor saß immer noch in dem Sessel. Auf dem Flur war es nach der Abfahrt des Forschers ruhig geworden. Plötzlich packte Tilor die Neugier. Er sah sich in dem Zimmer um. Auf dem großen Tisch standen seltsame Gerätschaften herum. Er stand aus dem Sessel auf und betrachtete die Gefäße mit den verschiedenfarbigen Flüssigkeiten näher. Doch er konnte nichts damit anfangen und so wandte er sich ab. Die Tür an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers schien ihn wie magisch anzuziehen. Er wusste, dass sich dahinter eine Schlafkammer befand. Vorsichtig zog er die Tür einen Spalt auf. Dahinter war, wie erwartet, ein Bett sichtbar, doch so zerwühlt, wie es war, wurde es anscheinend nicht von den Bediensteten geordnet. Langsam trat er ein und ließ sich neben der Schlafstätte auf die Knie sinken. Ohne darüber nachzudenken, hob er langsam die Decke an und schlüpfte darunter. Er vergrub sein Gesicht in den Kissen und sog den einzigartigen Geruch auf.

Plötzlich hörte er, wie sich im Nebenzimmer die Tür öffnete. Blitzschnell schlüpfte er aus dem fremden Bett und zog sich in eine Ecke des Zimmers zurück.

Man durfte ihn hier auf keinen Fall in dem persönlichen Schlafzimmer des Forschers entdecken! Bestimmt war es nur ein Bediensteter, der das Feuer schürte oder ähnliches. Und wie es aussah, betraten die Untergebenen des Forschers sein Gemach nicht. Also hatte er nichts zu befürchten! Er musste nur leise warten.

Tilor versuchte verzweifelt sich selbst zu beruhigen. Ganz starr stand er in der Ecke und lauschte auf die Geräusche aus dem Hauptzimmer. Ab und zu raschelte es und dann war wieder eine gefühlte Ewigkeit nichts zu hören. Irgendwann hielt der Junge es nicht mehr aus und schlich zur Tür, die noch immer einen Spalt breit geöffnet war. Er spähte hindurch und erkannte eine Gestalt, die mit dem Rücken zu ihm stand. Sie war über den Tisch mit den Gefäßen gebeugt.

            Konnte es sein, dass der Dieb zurückgekehrt war?

Als Tilor ein Stück näher an die Tür trat, stieß er aus Versehen daran und, wie zum Protest, gab sie ein leises Knarren von sich. Der Mann am Tisch zuckte zusammen und sah sich aufmerksam um. Langsam richtete er sic auf und drehte sich langsam um. Bevor er seinen Blick auf die Tür richten konnte, trat der dahinter versteckte Tilor hastig zurück und zog sich wieder in die dunkle Ecke zurück. Kurz danach öffnete sich langsam die Tür und der Junge erkannte im Türrahmen die Umrisse einer männlichen Person, die von hinten aus dem ersten Raum beleuchtet wurde. Der Fremde trat  ein und sah sich aufmerksam um. Er begutachtete die Unordnung der Kleidung auf dem Boden und das zerwühlte Bett.

Hoffte der Dieb in dem Schlafgemach noch mehr Aufzeichnungen zu finden, die er sich unerlaubt aneignen konnte?

Tilor stand vor Angst wie erstarrt in der Ecke, aber bei dem Anblick, wie ein völlig fremder Mann die persönlichen Sachen des Forschers durchwühlte durchfuhr ihn auch ein Gefühl, das sich er nicht genau einordnen konnte. Es schien eine Mischung aus Eifersucht und Wut zu sein. Die dunkle Gestalt drang langsam in den hinteren Teil des Zimmers vor und kam ihm immer näher. Plötzlich erstarrte der Fremde und in der folgenden Stille schien Tilor sein eigener Atem lauter, als je zuvor. Auch der andere Mann musste etwas wahrnehmen, denn er drehte sich zur hinteren Ecke um. So starrten sich die beiden Silhouetten ein paar Sekunden an, bevor der Fremde einen erstickten Schrei ausstieß und sich umdrehte, um zur Tür zu fliehen. Tilor hechtete hinterher.

Er durfte nicht entkommen!

Bevor der Junge wusste, wie ihm geschah, hielt er den schweren Koffer des Forschers in der Hand und zog ihn mit voller Wucht über den Kopf des Fliehenden. Mit einem kurzen Stöhnen kippte dieser um und blieb in der halb geöffneten Tür liegen. Tilor ließ den Koffer fallen.

            Was hatte er getan? War der Mann tot?

Er beugte sich zu ihm hinunter und drehte ihn um. Er konnte noch Atem und Puls wahrnehmen, also lebte der Mann noch.

Und er hatte den Dieb gefasst! Er ganz allein hatte ihn überwältigt und konnte ihn nun sowohl seiner Familie, wie auch dem Forscher  präsentieren.

Ein warmes Gefühl der Zufriedenheit durchfloss ihn. Doch es stoppte jäh, als er erneut einen Blick auf das Gesicht des Ohnmächtigen warf.

Es war der persönliche Kammerdiener seines Vaters!

Also steckte doch sein Vater dahinter! Nun konnte er Mr. ÒCeallaigh unmöglich berichten, dass er den Dieb gefunden hatte. Und auch dem Forscher durfte er es nicht erzählen, denn dieser würde das Haus wohl sofort verlassen und nie mehr zurückkehren, wenn er erfuhr, dass sein eigener Gastgeber ihn verriet. Was also konnte er tun? Er musste Mr. Baeyer beschützen, das war sicher. Aber das Sicherste wäre, ihn fortgehen zu lassen und das konnte er nicht zulassen!

Verzweiflung drohte Tilor zu überrollen!

Er hatte jemanden niedergeschlagen! Was sollte er nun mit dem leblosen Körper tun? Er konnte ihn unmöglich unbemerkt beseitigen!

Ohne weiter nachzudenken stand er auf und verließ beinahe fluchtartig das Zimmer. Die Ereignisse überforderten ihn und er ließ sie einfach zurück, indem er mit langen Schritten aus dem Haus stürmte und durch die beißende Kälte und den tiefen Schnee rannte, bis seine Lunge brannte.

 

*

Kapitel 7

 

Ivy ÒCeallaigh

(20.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

Ivy erwachte mit einem Lächeln auf den Lippen und dem Gesicht ihres Geliebten im Kopf. Als sie spürte, wie sie langsam in die Wirklichkeit zurückglitt, sträubte sie sich kurz, doch es hatte keinen Zweck, das Aufwachen war unvermeidlich. Sie gähnte herzhaft und genoss die Trägheit und Schwere ihrer Glieder, die der Schlaf ihr noch für kurze Zeit gelassen hatte. Dann öffnete sie langsam die Augen und stellte sich dem Ansturm ihrer Gedanken.

Am gestrigen Abend war sie, wie gelähmt vor Schreck, zu kaum einer Handlung fähig gewesen und so hatte sie es nur geschafft, sich rasch und eilig zu Bett zu begeben, nachdem sie fluchtartig die Zimmer des Forschers verlassen hatte.

            Es war fast schon ein Wunder, dass sie nicht entdeckt worden war!

Als sie daran zurückdachte, lief ihr auch jetzt noch ein Schauder über den Rücken. Doch mit Genugtuung dachte sie daran zurück, dass sie es geschafft hatte, die Aufzeichnungen zu verbrennen. Auch wenn Ivy sie nicht hatte entziffern können, waren sie wichtig gewesen, davon war sie überzeugt.

Ja, es war richtig gewesen! Vielleicht verstand der Mann jetzt, dass er hier nicht erwünscht war.

Doch sie musste sich hüten. Man durfte sie nicht entlarven. Wenn ihr Vater herausfand, dass sie einen Gast vorsätzlich schädigte, war das das Ende ihrer Heiratspläne, egal wie wenig er den Gast mochte.

Bei dem Gedanken an eine mögliche Heirat mit Ian – musste sie wieder lächeln.

            Er war es, für den sie das alles hier tat! Und er war es mehr als wert!

Andererseits war es natürlich nicht nur für sie vorteilhaft, wenn Mr. Baeyer verschwand. Auch ihre Familie würde einfach wieder mehr zusammenwachsen, ihr Vater hätte ihre Mutter wieder ganz für sich allein und der Reichtum der Familie würde nicht bei irgendwelchen Spekulationen auf’s Spiel gesetzt.

            Es war also eindeutig das Richtige, was sie tat!

Nachdem sie sich selbst so beruhigt hatte, schlug sie ihr dickes Schaffell und die dünne Stoffdecke, in die ihr Körper gewickelt war, zurück.

Auf ihrer Frisierkommode stand noch ein halb voller Krug mit Wasser neben einer Waschschüssel. Aufgrund der Kälte war das Wasser von einer dünnen Eisschicht überzogen, aber Ivy goss es trotzdem ohne Zögern in die Schüssel. Sie tauchte ihre Hände ein und benetzte sowohl ihr Gesicht, als auch ihr Dekolleté mit der eiskalten Flüssigkeit. Sofort spürte sie, wie ihre Lebensgeister zurückkehrten. Sie betrachtete ihr Gesicht in der trüben Oberfläche des Silberspiegels und beobachtete, wie die Trägheit des Schlafes aus ihren Augen wich, nachdem sie sich den Schlafsand herausgerieben hatte. Ihre Füße wurden auf dem eiskalten Steinboden langsam taub. Schnell trat sie von der Frisierkommode zurück auf das weiche Fell vor ihrem Bett und von dort hinter den kostbaren Ankleideschirm, der mit orientalischen Mustern bestickt war. Auch dahinter lagen weiche Felle und Ivy begann sich fröstelnd umzukleiden, was sich ohne die Hilfe einer Dienerin zwar schwieriger gestaltete, aber ihr ein Gefühl von Eigenständigkeit gab.

Sie hatte sich ein himmelblaues Kleid ausgesucht, dass zwar im Oberkörper sehr fein und eng geschnitten war, aber sowohl lange Ärmel, wie auch einen hohen Kragen hatte, sodass sie vor der Kälte geschützt war, ohne an ihrem Aussehen etwas einbüßen zu müssen. Noch während sie mit dem Schnüren des Kleides beschäftigt war, ging die  Tür auf und jemand trat mit leichtem Schritt ein.

„Guten Morgen, Miss. Ich habe Ihnen frisches Wasser erwärmt.“, erklang die ruhige Stimme Liwyns: „Wie ich sehe, seid ihr schon auf, Miss.“ Ivy hörte wie der Krug leise abgestellt bevor die Dienerin vorsichtig hinter sie trat, ihr bestimmt die Schnüre aus der Hand nahm und begann, das Kleid fertig zu verschließen. „Ihr hättet mich gleich rufen sollen, Miss. Ich stehe euch jederzeit zur Verfügung, um euch behilflich zu sein.“, mit diesen Worten verknotete sie die Enden der Schnüre und bugsierte Ivy sanft hinter dem Wandschirm hervor und in einen Stuhl. Dann holte sie aus einer der vielen Türen der Kommode einen groben Kamm und begann das Haar des Mädchens zu entwirren.

„Ihr werdet es kaum glauben, Miss. Aber nicht mal so kurz vor dem heiligen Fest kehrt in diesem Haus Ruhe ein“, Liwyn hatte es sich angewöhnt Ivy jeden Morgen den neuesten Tratsch zu berichten. Meist hörte das Mädchen ihr nur mit halbem Ohr zu, aber manchmal erfuhr sie auch interessante Dinge. Die Dienerschaft war einfach überall im Hintergrund vertreten und bekam so einiges mit. Natürlich wurde auch viel dazugedichtet und man durfte nicht alles glauben, was an Gerüchten kursierte. Gestern etwa hatte Liwyn behauptet, Mr. Baeyer würde Männer dem anderen Geschlecht vorziehen, was natürlich nur daran liegen konnte, dass er Europäer war, so was würde hierzulande niemals vorkommen. Ivy hingegen hatte das sofort als Märchen abgestempelt.

Schließlich hatte sie die widerwärtigen Annäherungsversuche des Forschers selbst erlebt und sie war ja schließlich kein Junge!

Doch, was die Dienerin heute berichtete, ließ Ivy erschreckt zusammenzucken.

„Stellt euch vor: Letzte Nacht wurde ein Verbrechen in diesem Haus verübt. Schrecklich, so was, wie soll man da noch ruhig schlafen? Roberto wurde niedergeschlagen und das auch noch in den Gemächern unseres Gastes! Mr. Baeyer selbst verbrachte den Abend in der Stadt und als er wiederkam, musste er einen bewusstlosen Mann in seinem Zimmer vorfinden, was für eine grausige Vorstellung. Außerdem sollen sämtliche Dokumente des Forschers verschwunden sein. Es ist wirklich eine Schande, dass es sogar hier bei uns, solche Verbrechen gibt. Wer tut denn so etwas? Diebstahl von wertvollen Forschungsdokumenten und gleichzeitig noch versuchter Mord. Wenn man diesen Bösewicht schnappen wird, das sage ich Ihnen…“, Liwyns Stimme überschlug sich fast: „Eine solche Aufregung hatten wir in diesem Haus schon lange nicht mehr. Und ich soll Ihnen von Mrs. ÒCeallaigh ausrichten, dass sie sie zu sprechen wünscht. Aber geben sie acht, was sie heute sagen. Das ganze Haus ist ja voller fremder Menschen, man hat schon das Gefühl überall belauscht zu werden…“

Das Entsetzen hatte Ivy so sehr gepackt, dass sie schon nicht mehr zuhörte. Sie wusste ja nur zu gut, was mit den Dokumenten geschehen war. Aber dass ein Mann niedergeschlagen worden war, erschien ihr unbegreiflich.

„Sagt mir Liwyn wisst ihr mehr über Robertos Gesundheitszustand?“, unterbrach sie den Redeschwall. Die Dienerin senkte ihre Stimme bis zum Flüstern: „Ich habe gehört, dass der Detective es für ein Wunder hält, dass er überhaupt noch lebt. Und auch jetzt ist es wohl nicht sicher, ob und wann er wieder erwachen wird. Wirklich ein schrecklicher Verlust für diesen Haushalt, ihr wisst ja Roberto war mit für die Reinigung und Dekoration der Zimmer zuständig und er hatte wirklich ein Händchen dafür. Es wird schwer für eure Mutter sein, einen geeigneten Ersatz zu finden. Aber nicht nur der Haushalt leidet darunter, auch Mr. ÒCeallaigh soll außer sich sein. Schließlich schadet diese Verletzung des Gastrechts dem Ruf der Familie.“

Das leuchtete Ivy ein. Das Gastrecht war schon fast heiliges Gesetz und die Sicherheit eines Gastes stand an höchster Stelle. Es war pures Glück gewesen, dass Mr. Baeyer sich zur Zeit der Tat nicht im Haus befunden hatte. Auch ihm hätte eindeutig Leid geschehen können und die Schuld dafür trug nach dem Gesetz ihr Vater, der Hausherr.

Aber ihr war immer noch nicht klar, wer so etwas tun sollte. Da die Dokumente ja gar nicht geraubt worden waren, wie sie wusste, konnte man damit also keinen Profit machen. Und wenn jemand dem Hause ÒCeallaigh schaden wollte, konnte er das auf weit einfacheren Wegen erreichen.

Plötzlich kam ihr eine Möglichkeit in den Sinn, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Für die Verletzung des Gastrechts konnte der Forscher Vergeltung verlangen und zwar von ihrem Vater direkt. Und was läge als Wiedergutmachung näher, als die finanzielle Unterstützung seiner Arbeit. Ihr Vater würde also genau das tun müssen, was Mr. Baeyer von Anfang an gewollt hatte. Der Forscher wäre somit der einzige, der etwas davon hatte. Aber sollte er, um seine Unterstützung zu erhalten, wirklich den Mord eines Dieners in seinen Gemächern in Auftrag gegeben haben? Sie musste dringend mehr erfahren, am besten sie begab sich gleich zu ihrer Mutter.

Ivy bat Liwyn ihr nur schnell eine einfache Steckfrisur zu machen und machte sich dann ohne Weiteres auf den Weg.

Sie fand ihre Mutter, wie erwartet, im großen Empfangsraum, in dem sie mit mehreren Männern, die anscheinend zur Untersuchung des Falls zu Rate gezogen worden waren, um die Tische saß. Höflich und leise setzte sich Ivy dazu, in der Hoffnung etwas über die näheren Umstände zu erfahren. Aber ihre Mutter dankte den Herren nur und beendete damit das Gespräch. Dann forderte sie Ivy auf ihr zu folgen und begab sich mit ihr in den momentan leeren Speiseraum.

„Nun, Tochter wie du siehst herrscht in diesem Haus einiges an Aufregung. Aber ich denke, du wirst bereits informiert sein.“, mit diesen Worten bedeutete sie Ivy sich an die leere Tafel zu setzen, während sie ihr gegenüber Platz nahm. Bevor sie weitersprechen konnte riss das Mädchen das Wort an sich: „Mutter, sagt mir, hat die Polizei bereits eine Vermutung wer diese schreckliche Tat begangen hat? Und wie hat Mr. Baeyer auf diese Verletzung seines Gastrechts reagiert?“ Ihr Mutter lächelte wohlwollend: „Ich sehe, du bist wahrlich meine Tochter und hast gelernt die Konsequenzen einzuschätzen. Du hast recht, die Verletzung des Gastrechts hat deinen Vater lange beschäftigt. Ich habe schon mit ihm besprochen, dass er die Förderung für die Arbeit unseres ehrenwerten Mr. Baeyers bewilligen wird und damit sollte dem Gastrecht Genüge getan sein.“ Ivy wollte zur Widerrede ansetzen, aber ihre Mutter gebot ihr zu schweigen: „Beruhige dich, Tochter. Egal unter welchen Umständen es kann nicht schaden, die Arbeit dieses Mannes zu fördern. Ich bin froh, dass dein Vater sich dazu durchgerungen hat, auch wenn erst solche Vorfälle dazu nötig waren. Und ich rate dir eins, Tochter. Mach dir um Mr. Baeyer keine Gedanken. Nun, da er seine Förderung bekommt, muss er dich nicht mehr beschäftigen. Zumal er ohnehin bald wieder abreisen wird.“ Ivy sank resigniert in sich zusammen: „Also wird er nach Europa zurückkehren?“ Ihr Mutter lächelte geheimnisvoll und in sich gekehrt: „Oh ja, das wird er. Er wird mit der passenden Begleitung nach Europa zurückkehren.“ Das Mädchen starrte ihre Mutter entgeistert an.

Also hatte sie recht gehabt, die Fahrkarte war für den Forscher bestimmt. Und es war also auch wirklich wahr, ihre Mutter würde ihren Vater verlassen und mit Mr. Baeyer fortgehen. Aber wie konnte ihre Mutter das nur so klar andeuten? Sie hielt Ivy wohl für komplett ahnungslos.

Nur am Rande nahm das Mädchen wahr, dass ihre Mutter bereits weitersprach: „Nun, das war aber nicht der Grund weswegen ich dich sprechen wollte. Es geht um etwas Größeres… viel Bedeutenderes. Ich habe mit deinem Vater gesprochen und wir haben festgestellt, dass du ja nun schon sehr reif bist. Ich erkenne es daran, wie du die Dinge einzuschätzen weißt. Du kümmerst dich sehr gewissenhaft um die Dinge, die man dir zuweist und bist immer gut informiert, wie es sich für eine Frau gehört, die einen Haushalt führt. Das ist natürlich alles sehr lobenswert. Daher haben wir beschlossen, dass du einen eigenen Haushalt bekommen sollst. Ivy, es ist Zeit, dass du heiratest. Noch ist es natürlich nicht so eilig. Aber dein Vater wird beginnen, nach einem geeigneten Mann Ausschau zu halten. Ich fand es passend, dich bereits jetzt darauf vorzubereiten.“ Das alles kam unsicher über  Mrs. ÒCeallaighs Lippen. Sie sah sehr froh aus, es über sich gebracht zu haben und sah fast ein bisschen ängstlich aus in Erwartung der Reaktion ihrer Tochter.

Aber die lächelte immer mehr und erwiderte: „Das ist genau der richtige Zeitpunkt, ich muss euch etwas sagen. Es gibt da schon jemanden…“

Doch in dem Moment öffnete sich die Tür und ein Detective stürmte ohne eine Entschuldigung herein. „Wir haben etwas gefunden. Ihr müsst es euch unbedingt jetzt ansehen, Mrs. ÒCeallaigh, ich fürchte es ist sehr wichtig.“, keuchte er. Ihre Mutter bedachte Ivy mit einem intensiven Blick, sagte aber nichts bevor sie mit dem Detective den Raum verließ. Ivy blieb allein zurück und fragte sich beklommen, ob jetzt vielleicht endlich alles gut werden würde.

*

Kapitel 8

Tilor ÒCeallaigh

(22.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

Tilor hatte zwei Tage in ängstlicher Erwartung verbracht. Ständig glaubte er Schritte vor seiner Tür zu hören. An jedem Moment des Tages erwartete er das Klopfen. Letzte Nacht war er zitternd erwacht, mit der Stimme seines Vaters im Ohr. „Ich bin sehr enttäuscht von dir, meine Junge. Wie konntest du nur einen Bediensteten deines eigenen Hauses niederschlagen?“, hatte der gesagt. Tilor wusste, dass er sich unauffällig verhalten musste, aber er war sich so sicher, dass sie Beweise für seine Tat finden würden, dass es ihm unglaublich schwer fiel auch nur einen Schritt vor die Tür seiner Gemächer zu setzen. Bei jedem Essen spürte er die Blicke der Bediensteten und ihm war, als würden sie heiße Löcher in seinen Rücken brennen. Doch als er an diesem Morgen erwachte, zwang er sich tief durchzuatmen.

Hatte ihm jemand etwas getan? Hatte irgendjemand auch nur einen Hinweis darauf gegeben, dass es überhaupt verwertbare Spuren gab? Was sollte er auch hinterlassen haben? Schließlich gehörte der Koffer dem Forscher und auch sonst hatte er nichts von sich zurückgelassen.

Als er sich, wie jeden Morgen mit der Hilfe eines neuen Bediensteten, den er nicht mochte, der ihm aber leider schon seit zwei Wochen zugeteilt war, ankleidete, beruhigte er sich so langsam.

Das Einzige, was ihn jetzt noch überführen konnte, war seine eigene Dummheit!

Da er das Frühstück meist vernachlässigte und heute Morgen im Bett schon einen Tee genossen hatte, nahm er sich vor, sogleich in die Bibliothek zu gehen. Voller Tatendrang machte er sich auf.

Doch als er das Treppenhaus durchquerte, kam ihm plötzlich einer der Polizisten entgegen. Er musterte ihn von Kopf bis Fuß und Tilor bemerkte erschrocken, dass er zu zittern begann. Der fremde Polizist blieb genau vor ihm stehen. „Wer sind Sie und was suchen Sie in diesem Haus?“, die dröhnende Stimme des Mannes ließ Tilor zurückzucken, doch er wurde am Mantel gepackt und eisern festgehalten. „Ich frage Sie nur noch einmal, wer sind Sie?“

Bei diesen Worten begriff Tilor erst, dass der Mann es war, der hier den Fehler beging und es nur noch nicht wusste und zum ersten Mal seit der seltsamen Begegnung fasste der Junge wieder Mut. Mit möglichst fester Stimme erwiderte er dem Polizisten: „Detective, was fällt Ihnen ein, mir eine solche Frage zu stellen?“ Der Fremde begriff nach wie vor nicht, doch wurde er durch den Tonfall mit dem sein Gegenüber ihm antwortete vorsichtiger. „Ihr seid kein Bediensteter dieses Hauses, dann würdet ihr nicht einen solchen Hausmantel tragen und auch sonst habe ich euch noch nie hier gesehen, also ist es ja wohl mein gutes Recht, nach eurer Identität zu fragen.“, knurrte er.

Tilor gab sich herablassend und sagte langsam: „Ich, Herr Detective, bin der Sohn des Hausherrn. Eben jenes Hausherrn, der euch für eure Arbeit bezahlt. Ich bin Tilor ÒCeallaigh.“ Diese Worte durchschnitten die Luft wie ein Rasiermesser und aus dem Mund des Polizisten entwich ein kurzer Laut des Erschreckens, als er begriff, dass er den Sohn seines Auftraggebers am Mantel festhielt und bedrängte. „Verzeiht mir, oh Herr. Ich wusste nicht, wer ihr wart. Ich hatte vorher noch nicht die Ehre euch zu sehen.“

Tilor beachtete den Mann nicht weiter, sondern setzte seinen Weg zur Bibliothek mit einem Lächeln fort.

            Niemand würde ihm etwas anhaben können!

Als er eintrat, kam ihm sein Vater entgegen und schloss ihn kurz in die Arme. „Ach, Junge ich bin so glücklich dich zu diesem guten Anlass zu sehen.“, flötete der sonst so ernste Mann. „Was ist denn geschehen, Vater?“, Tilor war über die ausgesprochen gute Laune seines Vaters sehr erstaunt. Mr. ÒCeallaigh senkte die Stimme: „Diese ganzen Schnüffler verlassen endlich das Haus und wir haben wieder unsere Ruhe. Ach, ich hasse es, andauernd so viele fremde Leute um mich zu haben. Aber jetzt sind diese unseligen Ermittlungen endlich abgeschlossen und diese ganzen Polizisten verziehen sich wieder. Auch wenn ich es natürlich sehr bedauere, dass wir keinen Täter fassen konnte, bin ich dennoch sehr froh.“ Mit einem breiten Grinsen macht er eine abfällige Scheuchbewegung. Der Junge sah seinen Vater verwundert an. Ein solches Verhalten kannte er von ihm noch gar nicht.

Erst da dämmerte ihm, was sein Vater gerade gesagt hatte. Die Ermittlungen waren abgeschlossen und niemand hatte ihn verdächtigt. Sie hatten keine Spuren gefunden und er würde unentdeckt bleiben. Erleichterung durchströmte ihn. Er hatte noch sein ganzes Leben vor sich und konnte wieder gut machen, was er getan hatte. Sein Vater war guter Laune und würde ihm bestimmt bald geben, was er verdiente und was ihm zustand.

            Ja, alles würde gut werden, dessen war er sich sicher!

In diesem Moment ging die Tür auf und seine Mutter trat ein. Auch sie sah sehr gut gelaunt aus. „Die Abreise der werten Herren von der Polizei ist organisiert und in zwanzig Minuten findet eine angemessene Verabschiedung unten in der Eingangshalle statt. Ich hoffe, das ist dir recht.“, verkündete sie und sah Mr. ÒCeallaigh an. „Ja, Schatz, natürlich, das ist mir sehr recht.“, entgegnete dieser und schloss sie in die Arme.

            Was mochte nur diese gute Laune auslösen?

Nun wandte sich seine Mutter an ihn: „Ach, Tilor, ich bin so froh, dass wir nun wieder Ruhe im Haus haben. In dieser besinnlichen Zeit muss die Familie wieder enger zusammenrücken. Ich glaube, du hast es noch nicht gehört. Dein Vater hat fast ein Wunder vollbracht und wir werden das heilige Fest ganz nach den modernen Sitten feiern können. Wir haben sogar etwas besorgt, das sich Weihnachtsbaum nennt. Es ist ganz groß in der Mode und du wirst es lieben. Auch das Essen wird dieses Jahr ganz außergewöhnlich. Ich bin mir sicher, ihr Kinder werdet dieses einmalige Fest genießen, dass dein Vater für uns auf die Beine gestellt hat.“

Voller Erstaunen sah Tilor, wie sein Vater bei diesen Komplimenten leicht errötete, doch dann löste er sich von seiner Frau. „Wir sollten unten schon mal nach dem rechten sehen. Begleitest du mich?“, fragte er und bot seiner Frau den Arm. Doch diese lehnte dankend ab: „Ich komme gleich nach. Geh du nur schon vor.“ Als sein Vater den Raum verließ, spürte Tilor den wachen Blick seiner Mutter auf sich.

„Ich bin so froh, dass du hier bist und wir gemeinsam als Familie feiern können und hoffe sehr, dass es dir gefallen wird. Mr. Baeyer wird als unser Gast natürlich auch zugegen sein und ich hoffe, dieses Fest wird seinen modernen Ansprüchen gerecht.“, sie drückte den Jungen kurz an sich, bevor sie ein paar Schritte in die Bibliothek ging und unruhig an einem Regal entlang strich. Ganz beiläufig redete sie weiter: „Wie ich höre, verstehst du dich mit Mr. Baeyer sehr gut. Ich muss sagen, das freut mich außerordentlich, denn da der Herr ja nun seine Förderung von uns erhält, ist es wichtig, dass er gute Kontakte zu diesem Haus hat. Ich bitte dich darum, diese Beziehung zu pflegen. Aber wie ich höre, versteht ihr euch so gut, dass diese Bitte wohl überflüssig ist. Schließlich hast du ihn ja auch schon in seinen eigenen Gemächern besucht und einige Zeit darin verbracht.“, mit einem bedeutsamen Lächeln drehte sie sich um und verließ ebenso die Bibliothek.

Tilor blieb wie betäubt zurück.

Sie wusste, dass er in den Gemächern gewesen war! Ein Bediensteter musste es ihr berichtet haben und sie würde bestimmt die entsprechenden Schlüsse gezogen haben. Das hieß, seine Mutter wusste über seine Tat Bescheid. Nur warum hatte sie ihn nicht verraten und ihm dann doch so unterschwellig mitgeteilt, dass sie Bescheid wusste?

*

Kapitel 9

Ivy ÒCeallaigh

(23.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

Ivys Atem bildete weiße Wolken, die sich in der klaren Luft nur langsam verflüchtigten. Ihr Vormittag war der schönste seit Wochen gewesen, doch trotzdem war ihr Blick düster verhangen und nachdenklich. Schon heute Morgen in aller Frühe war ein Bote erschienen und hatte ihr eine Nachricht überbracht.

            Und sie hatte sich doch wirklich zu einem spontanen Treffen hinreißen lassen.

Lächelnd dachte sie an die vielen Momente zurück, in denen Ian sie mit wunderbaren Ideen spontan überrascht hatte. Er riss sie öfters ganz plötzlich aus ihrem Tagesablauf und es fiel ihr meist ziemlich schwer, sich eine unauffällige Ausrede für ihr Verschwinden einfallen zu lassen. Aber dennoch hatte sie es nie bereut.

Trotz der extremen Kälte hatte er sich etwas Außergewöhnliches im Freien einfallen lassen. An einer einsamen Bucht, wo sie im Sommer immer baden gewesen war, hatte er ihr eine faszinierende Tätigkeit gezeigt. Unter ihre Schuhe hatte er mit Lederriemen metallene Kufen geschnallt. Mit diesen war es ihr möglich gewesen, auf dem glatten Eis des zugefrorenen Sees zu stehen, ohne sofort wegzurutschen. Vor allem aber konnte man damit beinahe leichtfüßig über die Oberfläche gleiten. Erst zögerlich und später immer sicherer hatte sie sich abgestoßen und war an Ians Seite sicher dahingerauscht. Der kalte Wind hatte ihnen recht schnell zuschaffen gemacht, sodass sie hatten zurückkehren müssen, aber es war wunderschön gewesen.

Nun ging sie schnellen Schrittes auf die Hintertür des Hauses zu, vor der Ians Diener sie abgesetzt hatte. Sie hoffte, dass ihre Abwesenheit noch nicht groß aufgefallen war, da die Sonne ihren Zenit noch nicht überschritten hatte.

Während es im hinteren Teil des Hauses auch beruhigend still war, konnte sie auf dem Weg zu ihren Gemächern immer mehr Bedienstete beobachten, die in großer Eile durch die Gänge und in Richtung der Eingangshalle strömten.

            Gut, dass sie nicht vorne hereingekommen war!

Schnell schlüpfte sie in ihre Gemächer und legte den nassen Mantel ab. Während sie ihre eingefrorenen Hände vor das prasselnde Feuer hielt, spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen, als diese wieder warm wurden.

Plötzlich klopfte es an der Tür und Ivy seufzte ungeduldig. Doch als sich die Tür öffnete, ohne dass sie etwas gesagt hätte, erschrak sie noch mehr. Es war nicht ihre Zofe, die in der Tür stand, sondern der wohlbeleibte Koch.

Instinktiv trat sie einige Schritte zurück, als er schwungvoll die Tür hinter sich schloss. Sein Gesicht war leicht rot gefärbt und er keuchte leicht.

Langsam gewann Ivy ihre Fassung zurück. „Was wollt ihr hier?“, fuhr sie ihn an. Prompt schrak er zusammen. „Entschuldigt, ich soll euch eine Nachricht überbringen, von eurer Mutter“, brachte er stotternd hervor. Sie sah ihn scharf an: „Warum sollte meine Mutter gerade den Koch zu mir schicken, um mir etwas mitzuteilen? Und warum sollte dieser Koch außerdem, wenn er in offizieller Sache unterwegs ist, sämtliche Regeln der Höflichkeit gegenüber einer Dame missachten. Erklärt euch schnell, sonst muss ich euch gewaltsam aus meinen Gemächern entfernen lassen!“, Ivy legte so viel Autorität wie möglich in ihre Stimme.

Der wohlbeleibte Mann bemühte sich sofort Haltung anzunehmen und begann hastig, sich zu rechtfertigen: „Die Sache eilt sehr und eure Mutter konnte auf die Schnelle keinen Boten in Reichweite finden. Deshalb hat sie mich, obwohl ich eigentlich völlig ungeeignet bin, wie ihr so schön feststelltet, für diesen Dienst ausgewählt. Ihr müsst wissen, es herrscht großer Aufruhr im Haus und ihr sollt euch schnellstmöglich in den Krankenflügel begeben.“

Ivy stockte der Atem: „Der Krankenflügel?!“, fragte sie zögernd.

            Was, wenn nun ihrem Bruder oder ihrem Vater etwas zugestoßen war?

„Was ist passiert? So sagt doch, sind alle wohlauf?“, herrschte sie den Koch an. Dieser schaute kurz verdutzt drein: „Ja, Miss, soweit ich weiß, geht es allen gut. Aber ihr müsst wissen, der verletzte Dienstbote ist aus dem Hospital in der Stadt zurückgekehrt. Ihm geht es verständlicherweise nicht so gut, denn er ist noch ohne Bewusstsein, doch er kann jeden Moment erwachen und wird dann das große Rätsel um den Eindringling lösen, dessen ist man sich sicher.“

Langsam verstand Ivy.

Dass Roberto noch lebte, konnte von dem Dieb wohl kaum beabsichtigt sein. Dass es dennoch so war, bot die Chance, dass er Licht ins Dunkel der Ermittlungen bringen konnte.

Als sie zur Tür trat, besann sich der Koch auf sein letztes bisschen Höflichkeit und hielt sie ihr auf. Auf dem Weg zu den Krankensälen, die in einer der seitlichen hinteren Ecken des Hauses untergebracht und die meiste Zeit ungenutzt waren, strömten ihr immer mehr Bedienstete und auch vereinzelt Detectives entgegen.

Die Ankunft des Verletzten sorgte für einigen Trubel, den er selbst wohl noch nicht einmal mitbekam!

Die Menge sammelte sich vor einer Tür, die rasch freigegeben wurde, als man Ivy erblickte. Drinnen herrschte im Gegensatz zum Flur eine ruhige Stimmung. Um ein Bett standen ihre Mutter, ihr Vater, sowie zwei Detectives. Darin lag der verletzte Dienstbote mit einem weißen Verband, der seinen halben Kopf bedeckte. Die nur vage zu erahnenden Augen waren geschlossen und auch sonst war kein Lebenszeichen erkennbar. Um das Bett herum wuselte eine junge Krankenschwester in der Tracht des Städtischen Krankenhauses. Sie schob mit heißen Kohlen gefüllte Pfannen unter die Felle des Kranken, der von der Fahrt sehr ausgekühlt sein musste. Die anderen Personen standen schweigend da und sahen ihr zu. Als Ivy sich dazugesellte nickte nur ihre Mutter ihr kurz zu.

Als die Schwester sich endlich anschickte fertig zu werden, ergriff Mr. ÒCeallaigh das Wort: „Ihr sagt Mr. Roberto sei bereits bei Bewusstsein gewesen, doch ich kann nicht davon bemerken. Wann können wir mit seiner Aussage rechnen?“

„Ich versichere euch, er war bereits kurzzeitig in der Lage zu sprechen, doch diese Wachphasen werden nur langsam länger werden. Ihr müsst Geduld haben. Er hat, wie ihr wisst, einen schweren Schlag auf den Kopf erhalten und möglicherweise ist auch sein Gedächtnis getrübt. Die Ärzte haben für ihn getan, was sie konnten, jetzt bleibt nur noch abzuwarten und ihm Ruhe zu lassen. Ich empfehle deshalb im Interesse des Patienten, Besuche in dieser Anzahl zu unterlassen. Eine einzelne Person, um seinen Zustand zu überwachen ist völlig ausreichend.“, die Schwester sprach sehr sachlich und schien kompetent.

Einer der Detectives schaltete sich ein: „Falls der Zeuge erwacht und eine Aussage macht, so muss diese möglichst schnell ordnungsgemäß erfasst und an uns weitergegeben werden.“

Ivys Mutter ließ den Blick von Einem zum Anderen wandern, bevor sie zu sprechen begann: „Also können wir keinen Bediensteten mit der Überwachung von Roberto betrauen. Vergesst nicht, bisher wissen wir nicht, wer dieses Verbrechen begangen hat und die Möglichkeit, dass derjenige hier unter diesem Dach ist, ist sehr realistisch. Wir brauchen jemand Vertrauenswürdigen.“

„Ich könnte das machen.“, hörte sich Ivy zu ihrer eigenen Überraschung sagen: „Ich bin medizinisch recht kompetent und habe momentan keine allzu wichtigen Pflichten.“

            Das stimmte sogar alles. Und es waren überzeugende Argumente.

Nach einer kurzen Pause, in der alle Ivy musterten, ergriff Mrs. ÒCeallaigh wieder das Wort: „Na gut, dann übernimm du das, Ivy. Ich lasse einen Boten vor der Tür stehen, falls du etwas brauchst, schicke ihn.“ Damit drehte sie sich um und verließ mit gerafften Röcken das Zimmer. Die Detectives und Mr. ÒCeallaigh folgten ihr. Nur die Krankenschwester drehte sich noch einmal kurz um: „Ihr müsst ihn stets warm halten und achtet darauf, dass sein Kopf gerade liegt.“

Dann war Ivy allein mit dem Kranken. Nach und nach verschwand auch das Stimmengewirr auf dem Gang draußen und es wurde immer ruhiger. Nur das Prasseln des Feuers und das Knarzen des Hauses, störte die Stille. Regelmäßig kontrollierte Ivy die Wärmepfannen und füllte gegebenenfalls Kohlen nach. Einmal versorgte sie auch das Feuer neu, aber ansonsten schlichen die Minuten dahin.

Sie saß auf einem einfachen Stuhl neben dem Bett und beobachtete den Kranken. Wenn sie lange genug hinsah, meinte sie zu erkennen wie sich seine Brust hob und senkte, aber das war mehr Einbildung als Wirklichkeit. So versank Ivy in ihrer Lethargie bis es schließlich nach unbestimmter Zeit, die ihr wie Stunden vorkam, klopfte.

„Herein“, rief sie froh über die Unterbrechung. Die Tür öffnete sich und ihr Bruder lugte verstohlen durch den Spalt. „So komm doch herein, es zieht nur, wenn du in der Tür stehen bleibst.“ Langsam trat Tilor ein und kam zögerlich zum Bett. Mit unergründlicher Miene betrachtete er den Kranken. Als Ivy ihn fragend ansah, meinte er nur: „Ich wollte nur kurz sehen, wie es Roberto geht. Hast du eine Ahnung, ob er bald aufwachen wird?“

„Die Krankenschwester meinte, er war bereits einmal kurz wach und konnte etwas sagen, aber es wird ziemlich lange dauern bis diese Wachphasen lang genug werden. Und selbst wenn, es ist ja noch nicht einmal sicher, ob er den Eindringling wirklich erkennen konnte. Außerdem kann so ein Schlag auf den Kopf wohl auch die Erinnerung trüben.“

„Die Erinnerung trüben…“, Tilor klang nachdenklich. Ivy erklärte es ihm: „Ja, das kommt bisweilen vor, aber wir hoffen schließlich alle sehr, dass er uns endlich sagen kann, wer der Eindringling war, der uns so in Verruf gebracht hat… Tilor, sieh nur, hat er sich gerade bewegt?“, Ivy betrachtete Roberto vorsichtig. Es schien ihr, als würde er anders liegen. Als sie wieder zu Tilor blickte, starrte der das Bett mit schreckgeweiteten Augen an. „Ich gehe dann mal wieder“, presste er hastig hervor, bevor er fluchtartig aus dem Raum stürmte. Ivy schüttelte den Kopf.

Wie viele Menschen doch immer wieder aus Angst vor bedeutenden Augenblicken flohen, als wäre hier der leibhaftige Teufel am Werk.

Doch dann regte sich unter der Decke wieder etwas und ein Stöhnen drang hervor. Beruhigend ergriff Ivy die Hand des Kranken. „Ich bin Ivy ÒCeallaigh“, sprach sie klar und ruhig: „Ihr habt einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen und befindet euch im Krankenflügel des Hauses ÒCeallaigh. Bleibt ruhig liegen!“

Der weiße Verband drehte sich zu ihr herum und die nur halb geöffneten Augen suchten sie. „ÒCeallaigh…Tilor…“, krächzte der Mann. Ivy lächelte: „Da habt ihr ganz recht, Mr. Roberto. Mein Bruder Tilor war ebenfalls hier und hat sich nach euch erkundigt. Aber schlaft nun weiter.“ Der Kopf des Kranken drehte sich langsam wieder zurück: „Tilor…“, murmelte er noch einmal bevor er wieder in die Bewusstlosigkeit sank.

Ivy deckt ihn wieder ordentlich zu und machte es sich auf dem Stuhl bequem. Nun, da Roberto einmal erwacht war, fasste sie neue Hoffnung. Aber diese Nacht würde lang und ereignislos werden.

 

*

Kapitel 10

Tilor ÒCeallaigh

(24.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

Tilor saß mit einer Tasse heißem Earl Grey vor dem großen Kamin im familieninternen Salon des Hauses. Schon bevor die Tür aufging, konnte er die herrische Stimme seiner Mutter im Flur vernehmen. Doch es war seine Schwester, die zuerst hindurch trat. Sie sah ungewöhnlich verschlafen aus, was ihn an längst vergangene Jahre denken ließ, als sie sich nachts oft zu ihm herübergeschlichen hatte und bei ihm übernachtet hatte.

Hinter ihr wurde von zwei ächzenden Dienern ein komplettes Bett hineingetragen, bei dessen Anblick Tilor eiskalt wurde. Darin lag der verletzte Diener.

Bestimmt würden sie ihn jetzt zur Rede stellen! Bestimmt hatte der Mann geredet und nun wussten sie alles!

Instinktiv stand Tilor auf und hob beschwichtigend die Hände. Doch da stürmte schon seine Mutter hinter dem Bett ins Zimmer und dirigierte die Diener, damit sie es an der hinteren Wand abstellten. Ungeduldig scheuchte sie die beiden gleich wieder aus dem Zimmer. „So, gleich sollte euer Vater auch noch kommen und dann sind wir so ziemlich unter uns. Schließlich ist heute Weihnachten.“, bedauernd sah sie zu dem Bett hinüber: „Der eine Gast ist jedoch leider nötig. Wir können niemandem in diesem Haus mehr trauen, wie es scheint. Da bleibt wohl nur noch die Familie, das muss ich immer wieder betonen. An einem Feiertag wie diesem ist das auch sehr passend. Seht, da kommt schon euer Vater.“  Ivy und Tilor sahen sich an und verdrehten fast gleichzeitig die Augen, was sie wiederum zum Lachen brachte.

Ihre Mutter war, wie erwartet, in Hochstimmung und hatte alles Mögliche für diesen Abend vorbereitet.

Das schlechte Gewissen durchfuhr ihn.

            Was würde sie nur tun, wenn sie erfuhr, was er getan hatte?

Unglaublicherweise trat auch sein Vater mit einem breiten Lächeln ein: „Bin ich etwa der Letzte? Nun ja, dann können wir wenigstens gleich beginnen. Ich habe wirklich genug gearbeitet in letzter Zeit und bin so froh euch alle mal wieder in Ruhe an einem Tisch zu haben. Vor allem habe ich Hunger, also lasst uns den Abend in aller Ruhe mit einem köstlichen Essen beginnen.“

Als Ivy ihn von der Seite vorsichtig anstupste, schrak er kurz zusammen: „Also wirklich Bruderherz, sei doch nicht so schreckhaft. Schließlich sind wir hier unter uns und so gute Laune hatten sie wohl schon seit Jahren nicht mehr. Jedenfalls kommt es mir so vor. Aber heute Abend zählt das alles nicht, heute Abend können wir ehrlich sein und uns einfach freuen, Bruderherz.“, dabei seufzte sie leise und strahlte ihn so glücklich an, dass er unwillkürlich ihre Hand drücken und ihr zulächeln musste.

Als sich alle feierlich gesetzt hatten, erklärte ihre Mutter: „Wir werden heute mal ein Gebet sprechen. Nicht unbedingt, um uns an Gott zu besinnen, sondern vor allem, um uns auf uns selbst zu besinnen.“

Der Vorschlag ein Gebet zu sprechen war durchaus riskant, so wenig wie ihr Vater      von der Kirche hielt, aber heute war wohl wirklich ein besonderer Tag, denn er widersprach nicht.

„Oh Gott, der du uns in der heiligen Familie

ein vollkommenes Vorbild geschenkt hast,

hilf uns,

unsere Einigkeit zu wahren,

schenke uns,

das Vertrauen zueinander,

ermögliche uns,

ein friedvolles Zusammenleben,

wecke in uns,

Ehrlichkeit und ewige Liebe.

Auf dass wir die Familie Gottes auf Erden ehren.

Amen.“

Jedes Wort fuhr auf Tilor herab wie ein Hammerschlag. Aus dem Augenwinkel sah er den noch immer ohnmächtigen verletzten Mann und er fühlte sich, als würde Gott persönlich auf ihn und seine Sünden herabsehen. Er atmete tief durch und öffnete den Mund, um alles zu beichten.

Schließlich war das hier seine Familie, sie mochten ihn verurteilen, aber er würde sich ihnen allein anvertrauen.

„Ich…“, begann er, doch genau in diesem Moment fing Ivy neben ihm an zu reden. Beide unterbrachen sie sich und starrten sich verärgert an.

„Kinder, jetzt lasst uns erst einmal etwas essen. Wenn ihr so viel zu sagen habt, lasst uns das alles nachher in Ruhe vor dem Kamin besprechen. Nun habe ich eine Überraschung für euch alle.“, damit läutete sie die große Glocke und die Diener mit dem ersten Gang traten ein und begannen aufzutragen. Dann wurde ein Kasten hereingerollt und einer der Diener, den Tilor, wie er bemerkte, noch nie gesehen hatte, setzte sich dahinter. Er klappte etwas auf und es erschienen Tasten. „Darf ich euch meine neueste Errungenschaft vorführen. Dieses Instrument nennt sich Cembalo. Es ist wohl von einigen der größten Komponisten auf dem Festland verwendet worden und es war wirklich einigermaßen schwierig jemanden zu finden, der es spielen kann. Genießt es!“

Die folgende Musik, die den Raum erfüllte, bestand aus seltsam durchdringenden Tönen. Während des Essens herrschte also andächtiges Schweigen, währenddessen sich Ivy und Tilor immer wieder kurz musterten. Gang für Gang wurde aufgetragen und Tilor musste anerkennen, dass seine Mutter sich wieder einmal selbst übertroffen hatte bei der Kreation dieses Mahls. Doch trotz allem brachte er das Fleisch kaum herunter und das Brot wurde trotz des süffigen Weins immer trockener in seinem Mund. Auch seine Schwester wirkte leicht nervös und beendete das Essen früh. Bis zum Dessert sprach niemand, erst als ein riesiger Kuchen aufgetragen wurde, ergriff seine Mrs. ÒCeallaigh erneut das Wort: „ Das, meine Lieben, ist ein Plum Pudding. Euer geliebter Patenonkel hat mir versichert, er sei köstlich. Bitte greift alle zu!“ Dem konnten sich natürlich weder Tilor, noch Ivy entziehen. Der Teig war weich und seine Zähne glitten sanft hindurch. Er konnte zahlreiche Rosinen und vor allem einen Schluck guten alten schottischen Whiskeys schmecken. Noch ganz betäubt von dieser Köstlichkeit ließen sie sich alle gehorsam ins Nebenzimmer führen, wo große Sessel standen. Mitten im Raum stand eine Tanne. Sie war mit Kerzen bestückt. Zwar kannte Tilor den Brauch des Weihnachtsbaumes schon vom letzten Jahr, doch trotzdem war er wieder aufs Neue beeindruckt. Das frische Grün und das sanfte Kerzenlicht erzeugten eine wunderbare Stimmung. Sein Vater ließ sich seufzend in einen der Sessel sinken. „Nun, geliebte Ehefrau, was hast du nun geplant?“ Sie sah ihn schelmisch an und verkündete mit lachenden Augen: „Es ist natürlich Zeit für die Geschenke.“

            Er konnte einfach nicht noch länger warten!

Es brach ihm das Herz zu sehen wie seine Mutter ihrem braven Sohn Geschenke überreichen wollte, ohne dass sie wusste, was er getan hatte.

„Mutter…“, begann er. Aber auch sie hatte schon zu reden angesetzt: „Wisst ihr, wir hatten dieses Jahr eine kritische Zeit und ich weiß, es werden uns viele Veränderungen bevorstehen, aber ich weiß auch, dass wir immer zusammenhalten werden. Ihr seid beide älter geworden, Kinder und die Welt hat noch einiges mit euch vor. Wir wissen das und wir werden euch unterstützen. Das müsst ihr wissen.“

„Hör mir zu, Mutter. Ich muss euch etwas sagen.“ Seine Mutter redete einfach weiter: „Gleich, mein Schatz. Ich habe mir nämlich etwas Wunderbares überlegt. Wisst ihr, unser Gast Mr. Baeyer wird bald nach Europa zurückkehren. Und Tilor wird ihn begleiten. Ich habe Überseekarten für beide besorgt. Stell dir nur vor, mein Sohn, du wirst die Welt kennenlernen!“

„Mutter, ich habe den Diener niedergeschlagen!“ Ganz langsam, wie in Zeitlupe, drehte sie den Kopf zu ihm herum. Dann seufzte sie leise. Auch Ivy sah eher nachdenklich aus. Doch Mr. ÒCeallaigh holte bereits tief Luft und um ihn herum war die Fassungslosigkeit und Wut förmlich spürbar. Tilor sackte in sich zusammen.

            Nun war es getan und er konnte nur noch hoffen und beten!

 

*

Kapitel 11

Ivy ÒCeallaigh

(24.12.1877, Gemeinde von Tourmakeady, Anwesen der ÒCeallaighs am Lough Mask, Irland)

 

„Mutter, ich habe den Diener niedergeschlagen!“, rief ihr Bruder plötzlich. Dann sackte er in sich zusammen, als habe nur das Bedürfnis seiner Familie das mitzuteilen ihn aufrecht gehalten. Flehentlich blickte er von Einem zum Anderen. Obwohl sie sich dafür schämte, war Ivy bei diesen Worten beinahe ein wenig erleichtert.

Selbst, wenn sie nun erzählte, dass sie die Papiere verbrannt hatte, konnte niemand mehr vermuten, sie habe deshalb auch den Diener niedergeschlagen!

Nur warum hatte Tilor das getan?

Ihm gleich Moment, in dem sie das dachte, sprach ihr Vater es aus: „Warum?“, doch anders als Ivy schnaubte er dabei vor Wut.

„Ich, ich…“, stotterte Tilor. „Ich war eben in seinen Gemächern und dann kam dieser Mann und ich, ich… na ja ich hab eben den Koffer genommen. Bitte Vater ich wusste doch nicht, wer das war und ich wollte vor allem nicht, dass ihm etwas geschieht! Das schwöre ich!“

Ivy seufzte.

Jetzt würde ihr Vater vollends ausrasten.

Sie konnte es an seinem Gesicht sehen. Er war rot angelaufen, jeden Moment würde er seiner Wut Luft machen und der Rest des Abends wäre gelaufen.

Damit war ihr Plan gescheitert! Sie durfte bloß nicht auch noch in die Schusslinie geraten. So sehr ihr Tilor leid tat, sie konnte ihm jetzt nicht helfen. Sie musste ihre Beteiligung an der Verbrennung der Papiere verschweigen, sonst würde sie nie die Erlaubnis für die Heirat bekommen.

Obwohl ihr schlechtes Gewissen sie plagte, verschränkte Ivy die Arme und lehnte sich zurück. Doch dann geschah etwas Unerwartetes.

Im gleichen Moment wie Mr. ÒCeallaigh sprang Mrs. ÒCeallaigh auf.

In Ivy breitete sich blankes Entsetzen aus.

Was tat ihre Mutter da? In dieser Stimmung war mit Vater nicht zu spaßen! Und als Ehefrau hatte sie nicht das Recht, sich ihm entgegenzustellen.

Und als ob es nicht schon genug war, dass sie es wagte, durch ihr Aufstehen eine andere Meinung zu demonstrieren, rief sie auch noch laut: „Genug, Ruhe jetzt!“

Mr. ÒCeallaighs Kopf fuhr ruckartig herum und er starrte sie verblüfft an. Auch Ivy blickte ihre Mutter an. Entgegen aller Erwartungen sah diese keinesfalls ängstlich aus, sondern sie strahlte eine Ruhe aus, als könnte sie nichts überraschen. Fast schien es, als lächelte sie leicht.

            Aber da täuschte sich Ivy bestimmt!

Mit bedächtiger Stimme begann sie zu sprechen: „Ich bitte euch, beruhigt euch alle. Ich weiß sowieso, was ihr sagen wollt.“, nun war ihr fast schon schelmisches Lächeln eindeutig nicht mehr zu übersehen. „Ja, Tilor, du hast den Diener niedergeschlagen. Aber da du ihn sehr magst, wirst du nichts getan haben, was ihm schadet. Du hast den armen Mann zwar niedergeschlagen, aber du hast eindeutig keine Papiere gestohlen. Nun aber, dass Roberto es nicht war, dessen bin ich mir ebenso sicher. Und ebenso sehr, wie du, Tilor, daran interessiert bist, mit Mr. Baeyer zu kooperieren, gibt es hier jemanden, der ihn loswerden will. Dementsprechend hat Ivy die Papiere verschwinden lassen, aber sie wird sie wohl kaum gestohlen haben, sie kann eh nichts mit diesem wissenschaftlichen Zeug anfangen, nicht wahr, Ivy?“

Das Mädchen senkte nur den Kopf, ihrer Mutter genügte das eindeutig als Antwort.

„Aber beruhigt euch doch beide, Kinder. Wisst ihr, ich habe lange überlegt, was ich tun soll. Das Logische wäre natürlich gewesen, euren Vater zu unterrichten und ihm die Sache zu überlassen, aber ich habe mir etwas viel Besseres überlegt. Euer Vater hat doch immer so schrecklich viel zu tun.“, dabei blickte sie den, wie erschlagen dasitzenden, Mr. ÒCeallaigh entschuldigend an. „Außerdem wäre es schrecklich kompliziert gewesen, ihm eure Beweggründe zu erklären. Bitte verzeih mir, Brian, aber selbst ich habe recht lange gebraucht, um dahinter zu kommen. Und ich habe schließlich den ganzen Tag Zeit und sehr viele Leute, die mir alles berichten, was in diesem Haus vorgeht. Und wenn du erlaubst, habe ich auch einen Vorschlag, der allen hier gefallen dürfte.“

In diesem Moment erkannte Ivy, dass ihre Mutter das alles hier schon vorher geplant hatte.

Sie wusste schon die ganze Zeit, was vor sich ging, aber sie hatte heile Welt gespielt, bis einer von ihnen von allein seine Taten gestand.

„Verzeiht, wenn ich für euren Vater noch einmal Einiges zusammenfasse, aber er weiß nun mal noch nicht so recht, was Sache ist. Zuerst zu Tilor: Nun, Tilors Ziele bestehen darin, endlich seine Erbe als Anführer dieses Hauses anzutreten. Dementsprechend wollte er dich von seiner Reife überzeugen. Gleichzeitig ist er ein starker Fürsprecher der Unterstützung von Mr. Baeyer, dem er recht nahe steht. Die Szene mit dem Koffer war wohl eher ein unglücklicher Zufall. Ganz anders bei Ivy. Sie kam eindeutig mit der Absicht Mr. Baeyer zu schaden in seine Gemächer. Doch wir wollen sie nicht mehr beschuldigen, als ihren Bruder. Sie versuchte nur, den Familienzusammenhalt zu schützen. Unser Mr. Baeyer ist an dem Ganzen natürlich auch nicht ganz unbeteiligt. Als unserem Gast will ich ihm natürlich nichts vorwerfen, aber er hat natürlich auf jede mögliche Art versucht, sich Unterstützung zu sichern und bei unserer Ivy ist das wohl sehr falsch angekommen. Sie hat ihn sofort durchschaut und war dementsprechend bemüht, seine weiteren Absichten zu vereiteln. Gleichzeitig wollte sie sich damit deine Unterstützung sichern, Brian, denn sie hat einen heiklen Plan. Sie möchte den ÒFlaherty-Jungen heiraten. Und ich fürchte, du wirst ernsthaft darüber nachdenken müssen, so sehr dir der Gedanke auch missfallen mag, denn sie liebt ihn wirklich, denke ich. Nun insgesamt kann man also sagen, dass unsere Kinder beide begonnen haben, ihre eigenen Wege zu gehen. Und das wäre dann auch schon die Erklärung für sämtliche Ereignisse der letzten Zeit.“ Zufrieden blickte sich Mrs. ÒCeallaigh um. Ihr Mann war in düsterem Schweigen versunken.

„Nun, wenn niemand etwas zu sagen hat, mache ich gerne noch weiter. Wie ich bereits sagte, habe ich einen Vorschlag. Wie ich bereits sagte, bevor ich so rüde unterbrochen wurde, habe ich Überseekarten für Tilor und Mr. Baeyer besorgt. Das schafft mir einerseits diese Nervensäge von Forscher vom Hals und sichert dir, Brian, andererseits noch eine Weile die Führung. Und dir, Tilor, denke ich, wird es auch nicht unrecht sein mit Mr. Baeyer die Welt kennenzulernen. Dieses Problem wäre damit hinreichend gelöst. Bei Ivy ist es natürlich ein bisschen schwieriger. Es steht außer Frage, dass wir keinesfalls zulassen können, dass sie einfach so einen ÒFlaherty heiratet. Aber ich schlage vor, wir sehen uns diesen Jungen einmal an und sehen dann weiter. So und bevor jetzt die große Diskussion ausbricht, seid einfach still und denkt eine Nacht über die Vorschläge nach. Und jetzt lasst uns endlich ordentlich Weihnachten feiern!“

Alle saßen da und starrten Mrs. ÒCeallaigh an, doch diese ließ sich nicht beeindrucken und begann kleine Päckchen unter dem Baum hervorzuziehen und sie zu verteilen.

Alles, was Ivy dachte, war nur, dass ihre Mutter viel, viel schlauer war, als sie es jemals erwartet hätte.

Sie hatte nicht nur alles durchschaut, sondern auch eine Lösung gefunden. Sogar in der Heiratssache hatte sie schlauer gehandelt, als sie selbst es jemals zustande gebracht hätte. Jetzt im Nachhinein bewunderte sie den Scharfsinn des Vorschlags. Die Heirat an sich hätte ihr Vater kategorisch abgelehnt, aber dem einfachen Vorschlag sich „den Jungen“ einmal anzusehen, konnte er sich kaum entziehen.

Doch plötzlich fiel Ivy ein Stein vom Herzen.

Eins hatte ihre Mutter nicht erkannt! Sie wusste nicht, was Ivy eigentlich hinter den Überseekarten vermutet hatte. Nun, das war vermutlich auch gut so, denn sonst wäre sie wohl kaum so gut auf ihre Tochter zu sprechen gewesen.

Zweifach erleichtert, einerseits, weil ihre Mutter eindeutig nicht vor hatte, ihren Vater zu verlassen, andererseits, weil sie zum Glück auch nicht alles wusste, nahm Ivy dankend ihr Päckchen entgegen.

 

*

 

Epilog

Mr. Baeyer

(07.01.1878, Hafen von Louisburgh)

 

Der Wind pfiff ihm um die Ohren, die Luft schmeckte nach Salz und Fisch. Auf seinem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, er konnte fühlen, wie seine Mundwinkel emporwanderten.

         Ohne seine Begleiter zu beachten, stürmte er in Richtung der Uferkante. Als er nahe genug war, trieb der Wind ihm die Gischt von den Kronen der Wellen, die mit Getöse gegen den Stein schlugen, in Sprühwolken ins Gesicht. Das kühle Nass bedeckte sein Gesicht wie eine zweite Haut und nun schmeckte er auch das Salz auf den Lippen. Lachend drehte er sich im Kreis.

         Dann riss er sich wieder zusammen. Wie es schien, hatten sie seinen Freudenausbruch zwar nicht mitbekommen, so beschäftigt waren sie, aber er musste es ja nicht darauf anlegen, sich vor seinen Förderern bloßzustellen.

         Na ja, wenigstens waren sie jetzt seine Förderer.

Nach dem Schock über den Diebstahl und die Gewalttat war er fast euphorisch gewesen, konnte er doch sicher sein, nun gefördert zu werden, da nach den strengen Sitten dieses Landes jeder Gastgeber geschehenes Unrecht wiedergutmachen musste. Aber das Verhalten der Familie, besonders in den letzten Tagen, hatte ihn zutiefst verwirrt. Niemand, nicht einmal die Dienerschaft, hatte mehr ein Wort über die Geschehnisse verloren und selbst der Verletzte hatte, sobald er wieder zu Bewusstsein gekommen war, Stein und Bein geschworen, der Koffer wäre einfach von einem Schrank auf seinen Kopf gefallen. Diese Geschichte hatte er ihm zwar nicht abgenommen und er vermutete, dass da irgendjemand mit viel Geld seine Finger im Spiel hatte, aber er konnte der Familie nichts nachweisen und so hatte er seine Förderung schon davonschwimmen sehen.

         Bis eines Tages Mrs. ÒCeallaigh an ihn herangetreten war.

Diese unnahbare Frau hatte er zwar immer höflich behandelt, aber sie war ihm nie aufgefallen. Seiner Meinung nach war sie nur eine treue Ehefrau ohne eigene Ambitionen, wie es sie in diesem konservativen Land überall gab und so hatte er sich nie näher mit ihr befasst. In dem folgenden Gespräch hatte er jedoch schmerzlich einsehen müssen, dass er sich bei ihrer Einschätzung gründlich geirrt hatte.

         Er knirschte noch jetzt vor Wut mit den Zähnen bei dem Gedanken daran, wie sie ihm ein Zugeständnis nach dem Anderen abgerungen hatte. Nun erhielt er zwar die Förderung, aber er musste auch diesen Tilor mit nach Europa nehmen und für seine Ausbildung sorgen.

         Missmutig schaute er zu der Familie hinüber, die noch an der Kutsche zusammenstand und sich tränenreich verabschiedete. Beim Anblick von Ivy durchfuhr ihn fast so etwas Bedauern. Als er gehört hatte, was sie alles angestellt hatte, hatte er fast so etwas wie Bewunderung für sie empfunden.

Eine Schande, solch ein Talent an Verhandlungsgeschick an eine einfache Heirat        zu verschwenden, aber leider war sie eine Frau, sonst hätte er sich liebend gern ihrer Ausbildung angenommen. Nun ja, nun musste er mit dem Bruder vorlieb nehmen.

Das Mädchen war jetzt mit irgendeinem reichen Schnösel verlobt. Sie musste viel Durchhaltevermögen besitzen, wenn sie es geschafft hatte, ihren Vater davon zu überzeugen. Denn soweit er wusste war dieser ÒFlaherty sozusagen der Erzfeind der ÒCeallaighs.

         Hätte er früher von dieser herzzerreißenden, jungen Liebe gehört, hätte er das natürlich nutzen können und das Ganze wäre vielleicht anders gelaufen, aber es war nun einmal, wie es war. Schließlich hatte es ihn nicht allzu schlecht getroffen. Wichtig war nur, dass er endlich nach Europa zurückkam, das Wetter hier war grausig kalt und trüb. Noch war der Kai fast menschenleer, das Schiff sollte ein Handelsschiff sein, also waren auch kaum noch andere Passagiere zu erwarten.

         Da endlich ertönte ein Nebelhorn und aus dem trüben Nieselregen begann sich der Umriss eines Schiffes zu schälen. Neugierig betrachtete er es. Es schien recht klobig, manövrierte jedoch geschickt am Kai entlang. Es besaß drei Masten, von denen der Mittlere sich bis wie in den Himmel zu erstrecken schien. Die Reling lag ein paar Meter über dem Wasser, vermutlich befanden sich im gesamten Inneren Ladungsräume, in denen tonnenweise Fracht verstaut werden konnte.

         Einige hundert Meter weiter war das Schiff so weit an den Kai gelangt, dass einige Matrosen behände an Land sprangen und dicke Taue um die Poller schlangen. Sobald das Schiff sicher vertäut war, wurden mehrere Brücken aus Planken errichtet und ohne Verzögerung begann das Abladen. War das Deck bei der Einfahrt noch beinahe leer erschienen, so wuselten die Matrosen nun scheinbar scharenweise darüber.

         Eilig ging der Forscher zurück zur Kutsche.

Sie durften nun keine Zeit mehr verlieren! Das Umladen würde nicht lange dauern. Händler verloren mit jeder Minute, die ihr Schiff länger anlegte, Geld.

Er bedeutete den Trägern ihr Gepäck zu nehmen und winkte der Familie, ihm zu folgen, als er eiligen Schrittes den Kai entlangging.

         Bald hörte er hinter sich eilige Schritte. Es war das Mädchen, das versuchte, sich neben ihn zu setzen. Er beschleunigte seinen Schritt, aber sie ließ nicht locker. Seufzend ließ er sie neben sich: „Ihr wollt mir wohl kaum Glück wünschen, also was begehrt ihr?“

         Sie hob ihr Kinn an und blickte ihn fest an: „Ich möchte, dass ihr auf Tilor aufpasst. Er ist sehr wankelmütig, er braucht eine stabile Umgebung. Und ich rate auch: Zieht ihn bloß nicht in irgendwelche eurer schmutzigen Geschäfte!“

         Er lachte spöttisch auf: „Ich habe die Aufgabe Tilor die Welt zu zeigen und seid unbesorgt, ich werde eurem Bruder alle Seiten dieses Lebens näherbringen und ihn dir Regeln dieser Welt in aller Gründlichkeit lehren!“

         Er wusste, dass es keinerlei Sinn mehr hatte, dass Mädchen gegen sich aufzubringen, aber er genoss die hilflose Wut auf ihrem Gesicht viel zu sehr.

Sie wusste genau, dass sie keinerlei Macht über ihn oder die Behandlung ihres Bruders hatte.

Als sie eben anhob, um etwas zu erwidern, unterbrach er sie rüde. Sie waren an der ersten der provisorischen Brücken aus Planken angekommen und ungeduldig rief er einen der Matrosen an: „Wir haben mit eurem Kaptain zu sprechen, Matrose!“ Dieser brummte nur zustimmend und verschwand im Inneren des Schiffsbauchs. Als die Träger endlich schnaufend mit dem Gepäck ankamen, gönnte er ihnen keine Pause, sondern schickte sie sogleich weiter an Deck. Einer von ihnen blickte ängstlich auf die wackelige Konstruktion der Planken. „Nun mach schon und dass ihr mir ja vorsichtig mit meinen Sachen seid!“

         Zufrieden drehte er sich zu der Familie um: „Nun, ich denke nun ist der endgültige Moment des Abschieds gekommen. Ich danke euch für eure hervorragende Gastfreundschaft. Mr. ÒCeallaigh, ihr seid mir ein guter Geschäftspartner geworden, ich verspreche euch, diese Förderung meiner Wenigkeit wird euch zu einem berühmten Mann machen. Ivy, ich bedaure sämtliche Reibereien, die es in letzter Zeit zwischen uns gab. Mr. ÒFlaherty, ich wünsche euch ein wunderbares Leben mit diesem widerspenstigen Weib. Tilor, du gehst am besten schon mal an Bord. Gib Acht, dass sie unser Gepäck ordentlich verstauen und fall mir nicht ins Wasser.“, ohne seiner weinenden Mutter Zeit zu lassen den Jungen noch ein hundertstes Mal zu umarmen, schob er ihn auf die Planke. Dann drehte er sich ein letztes Mal um und machte einen spöttischen Knicks bevor er diesem trostlosen Land endgültig den Rücken zuwandte. Ohne einen weiteren Blick an die Zurückgebliebenen zu verschwenden, begab er sich unter Deck, wo die Matrosen, wie erwartet, unfähig gewesen waren, ordentlich mit seinem Gepäck umzugehen. Auch die Kabine war klein und eng, aber was erwartete er? Er beschlagnahmte ohne weiteres den gesamten Schrank und das obere Bett.

         Der Junge musste sich seinen Platz schon verdienen!

Als der junge Tilor es auch bis in die Kabine geschafft hatte, wahrscheinlich hatte sich einer der Matrosen erbarmt und ihm den Weg gezeigt, war der Forscher bereits mit dem Auspacken fertig. Der Junge betrat schwankend die enge Kajüte und musste sich an der Wand festhalten, um nicht umzufallen, denn sie legten bereits wieder ab.

         Der Forscher kniff die Augen zusammen und betrachtete die magere Gestalt. „Mr. Baeyer, wo soll ich mein Gepäck verstauen?“, fragte er mit fester Stimme, ein leichtes Zittern konnte er jedoch nicht unterdrücken. „Wo noch Platz ist…“, grummelte der Forscher. Er zog eine Zigarre aus der Hemdtasche, zündete sie an und lehnte sich zurück. „Setz dich! Wir haben einiges zu besprechen. Als Erstes: Hör auf, mich Mr. Baeyer zu nennen! Zweitens: Was du haben willst, musst du dir verdienen!“ Gerade kam er so schön in Fahrt, da wurde er schon unterbrochen: „Aber wie soll ich euch denn dann nennen?“ Er seufzte: „Ich bin Johann.“

Impressum

Bildmaterialien: Das Coverbild ist vonhttp://www.zoomyboy.com/wp-content/uploads/2009/01/schnee_im_wald.jpg.
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte über eine Familie entstand im Rahmen eines Weihnachtsgeschenkes für meine eigene Familie. Ich habe über das gesamte Jahr 2013 daran geschrieben, jeden Monat ein Kapitel. Beim Schreiben hat mich sozusagen der Geist meiner Großeltern, Tante und Onkel stetig begleitet und ihnen sei diese Geschichte gewidmet.

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