Einer der hervorragendsten deutschen Physiker ist Prof. Dr. Hendrik Schön (gewesen). Ihm ist es gelungen, alle drei Wochen bahnbrechende neue Entdeckungen zu machen (und diese in den besten internationalen Zeitschriften zu veröffentlichen). So kam er innerhalb von sechs Jahren auf 100 wissenschaftliche Artikel. Ein weniger begabter Physiker würde es in dieser Zeit vermutlich nicht einmal schaffen, diese Artikel alle (zu lesen und/oder) abzutippen. Dazu muß man wissen, daß Physiker nicht lesen. Sie (blättern höchstens und) gucken sich die Bilder an. Das behauptet zumindest David Mermin, der von Collins/Pinch zitiert wird (190). Und tatsächlich: Beim Blättern in einem Artikel von Prof. Dr. Schön fällt einem Physiker auf, daß in drei Artikeln hintereinander fast dieselben Bilder verwendet werden. Schön erklärt, daß versehentlich falsche Abbildungen verschickt wurden. Kurz darauf tauchen in zwei weiteren Artikeln die gleichen Kurven auf. Woraufhin eine Untersuchungskommission die Rohdaten seiner Experimente anfordert. Die habe er leider alle gelöscht und ein Labortagebuch gibt es ebenso wenig wie genaue Versuchsbeschreibungen.
Die Kommission fand heraus, daß mindestens 16 Veröffentlichungen völlig gefälscht waren, was aber nicht einmal seinem Koautor Prof. Batlogg aufgefallen war. (Woraus Böswillige schließen könnten, daß Physiker nicht nur nicht lesen, sie schreiben auch nicht.) Prof. Batlogg ist übrigens (deshalb?) einer der besten (!) Festkörperphysiker der Welt (Zankl, 46 - 50).
Einer der herausragendsten Krebsforscher Deutschlands, wenn nicht der Welt, ist Prof. Dr. Friedhelm Herrmann. Seine Genialität färbt offensichtlich ab, und seine Lebensgefährtin Frau Brach wurde deshalb mit 36 Jahren die erste Professorin für Molekulare Medizin in Deutschland. Erfolg macht überheblich und Liebe und Haß blind, und deshalb war Prof. Hermann dumm genug, einem dritten gegenüber auf sog. Unregelmäßigkeiten in den Arbeiten von Frau Prof. Brach (von der er sich inzwischen getrennt hatte) hinzuweisen. Dieser Dritte schaute sich eine der letzten Arbeiten von Prof. Brach im ‚Journal of Experimental Medicine‘ an und entdeckte „eine nichtstimmige Abbildung.“ Frau Brach versprach diesem Dritten zuerst eine Korrektur des Fehlers, um ihm dann aber lieber zusammen mit Prof. Hermann eine Anzeige wegen übler Nachrede anzudrohen. Dieser Dritte stellte daraufhin fest, daß nicht nur eine, sondern alle Abbildungen manipuliert waren. Als die Staatsanwaltschaft ermittelte, schlug das wie eine Bombe ein, denn schließlich waren die Beschuldigten „Topleute in der Krebsforschung, die Hunderte von Publikationen in den besten Zeitschriften vorweisen konnten. Herrmann … war Mitglied in vielen wichtigen Gremien.“ (155)
In dieser Funktion scheint er gerne von der Möglichkeit Gebrauch gemacht zu haben, vielversprechend Forschungsideen anderer abzulehnen, um sie dann selbst als seine eigenen vorzustellen und durchzuführen (156). Natürlich waren viele Koautoren an diesen zusammengelogenen wissenschaftlichen Artikeln beteiligt. So auch Prof. Roland Mertelsmann, der als Nestor der Gentheraphie in Deutschland gilt. Ihm wurde die „grob fahrlässige Verletzung von Regeln guter wissenschaftlicher Praxis“ bescheinigt. Komischerweise (!) durfte er trotzdem Leiter der Onkologie in Freiburg bleiben, während zwei weitere schwindelnde Ko-Autoren ihre Hochschullaufbahn beenden mußten (Zankl, 153-157).
Jetzt verstehen wir, warum man seit mindestens vierzig Jahren in allen Zeitungen regelmäßig davon lesen kann, daß die Erforschung des Krebsleidens und vieler anderer Krankheiten unmittelbar vor dem großen Durchbruch steht. Daß dieser Ankündigung aber nie der tatsächliche Durchbruch, sondern immer eine neue Ankündigung folgt. Irgendetwas scheint schief zu laufen im Wissenschaftsbetrieb der Naturwissenschaften, wo doch eigentlich alles so schön überprüfbar ist.
Norbert Wiener hat seine Kritik am Großforschungsbetrieb schon in den fünfziger Jahren formuliert. Er sei froh, vor dem ersten Weltkrieg aufgewachsen zu sein und nie ein Rädchen in einer wissenschaftlichen Fabrik geworden zu sein. Er bedauerte die heutigen Wissenschaftler, die im heutigen Feudalsystem ihren Verstand nur noch benützen dürfen, wie im Mittelalter der Bauern sein Lehen, und er bezeichnet die heutigen Wissenschaftler als intellektuelle Lakaien (293/294).
Er weist auch darauf hin, daß die wichtigen wissenschaftlichen Durchbrüche, die großen kopernikanischen Revolutionen nicht durch Quantitäten, sondern durch Qualitäten erzielt werden. Auch wenn man dreißigtausend Forscher auf ein Problem ansetzt, heißt das nicht, daß diese es auch lösen können. Vielmehr bedarf es des Genies. Es bedarf der 5 % genialen Forscher, die Wiener für 95 % aller originellen Arbeiten verantwortlich macht. Wiener bemängelt, daß diesen heute zuwenig Muße bleibt, um seine eigenen Ideen reifen zu lassen (295) und daß die Gefahr groß ist, daß heute durch den „unlesbaren Wust fünftklassiger Berichte“ die wirklich wichtigen Arbeiten untergehen. „Sollte eine neue Einstein-Theorie ... entstehen, so wäre es durchaus möglich, daß niemand die Geduld haben würde, den … Wust an Material durchzuschauen und sie zu entdecken.“ (298)
Ähnlich wird die Problematik von Trocchio beschrieben. Spätestens seit Mitte der siebziger Jahre sei es zu einer Diktatur der Mittelmäßigkeit gekommen. Wissenschaftler mit mäßigen Fähigkeiten besetzten jetzt die Gremien. Vorausgegangen war eine starke Erhöhung der Zahl der Wissenschaftler. Diese Mittelmäßigen herrschten jetzt durch ihre rein zahlenmäßige Überlegenheit über die wenigen Kreativen (94). Trocchio stützt sich dabei auf McCutchen, der in diesem Zusammenhang von einer „modernen Verschwörung“ spricht. Und weil die Mittelmäßigen das nicht leisten können, was man sich von ihnen verspricht, nämlich Genialität, müssen sie schummeln, lügen und betrügen. Was aber, selbst wenn es auffällt, von den Institutionen (aus Eigeninteresse) gedeckt wird (95/96).
(…) Die dunkle Seite des Wettbewerbs (Lüge und Betrug, aber auch Neid und Mißgunst der Kollegen) war und ist möglicherweise ein stärker wirksames Faktum der Wissenschaftsgeschichte als bislang vermutet worden ist. Im ‚Deutsches Ärzteblatt‘, 100/2003 findet man einen Artikel von Matthias Tschöp u. a. über die aktuelle Situation der medizinischen Forschung in Deutschland. Titel: „Eine Aufforderung auszuwandern“. Als zentrales Problem wird dort die Subjektivität der Gremien genannt. Die Autoren schreiben, daß man den Eindruck haben kann, daß es ausschlaggebend sei, wie viele persönliche Feinde beziehungsweise Freunde sich der vorgesetzte Klinikdirektor des Antragstellers gemacht hat. „Originalität und Qualität sind oft nur zweitrangig.“ (1591)
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2018
ISBN: 978-3-7438-6360-6
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