Umfangreiche Forschungen im Bereich der Sozial- und Wirtschafts- wie auch der Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, und zwar weit über Deutschland hinaus, brachten mich zunehmend auf den Gedanken, dass bestimmte Sachverhalte nicht zusammenpassen. Vor allem die wegweisenden Arbeiten von Davidson verstärkten meine ein Leben lang in mir ruhenden Zweifel, ob nicht die bisherige Sicht der Geschichte gelinde ausgedrückt korrekturbedürftig sei. Ralph Davidson hat es gewagt, als einer der ersten Tabus der europäischen Kulturgeschichte zu berühren und fundamentale Lehrmeinungen in Frage zu stellen. Es ist zu hoffen, (aber nicht wirklich zu erwarten), dass die konventionellen Geschichtsforscher angeregt werden, sich sachlich mit seinen Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen. Sehr verdienstvoll ist es jedenfalls, dass Davidson die von den Historikern so sträflich vernachlässigte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Kombination mit den historischen Hilfswissenschaften wesentlich mehr als üblich für sein Werk heranzieht und damit zu Fragestellungen kommt, die beachtenswert neue Ansätze dafür liefern, wie Feudalismus, Kapitalismus und überhaupt die europäische Zivilisation entstanden sind. Allzu viele Historiker sind m. E. nicht in der Lage, in größeren Zusammenhängen zu denken. Sie sind zu sehr auf ein enges Fachgebiet begrenzt und nehmen vor allem allzu leichtgläubig und völlig unkritisch tradierte Lehrmeinungen zur Kenntnis. Hinzu kommt noch, dass es den meisten Historikern an umfassenden und fundierten Sprachkenntnissen fehlt. Es gibt kaum einen deutschen Historiker, der z. B. mit der für die Antike so wichtigen hebräischen Sprache vertraut ist. Viele Historiker verfügen auch nicht über solide Kenntnisse des Griechischen und Lateinischen, von slawischen Sprachen ganz zu schweigen.
Wirklich neue Erkenntnisse zu den Fundamenten der europäischen Kultur sind langfristig nur zu erwarten, wenn Historiker verschiedener Epochen und Fachgebiete bereit sind, mit Wissenschaftlern anderer Fachgebiete zusammenzuarbeiten. Es wäre fürs Erste aber schon ein großer Fortschritt, wenn die zweifelhaften, unsicheren und vielfach gefälschten Quellen der Antike und des Mittelalters mit den Methoden, Kenntnissen und Erkenntnissen des 21. Jahrhunderts völlig neu analysiert würden. Es ist Ralph Davidson zu danken, solch einen neuen Anfang gewagt zu haben. Sein zentrales Anliegen ist es, die wesentlichen Faktoren des europäischen Zivilisationsprozesses zu finden. Dazu sammelt er zunächst einmal die harten Fakten. Das zentrale Ergebnis seiner umfassenden und eindrucksvollen Faktensammlung: Der zivilisatorische Faktor Europas scheint weder die griechisch–römische Antike noch das legendäre „aufsteigende Bürgertum„ zu sein, sondern das Juden-Christentum. Dieses hat nicht als Religion, sondern als kulturelle Institution den Aufstieg und die Entwicklung der Zivilisation ermöglicht. Diese Erkenntnis ist ein völlig neuer Denk- und Forschungsansatz in der europäischen Geschichtsforschung.
Prof. Dr. Wilhelm Kaltenstadler
„Die Modernität der jüd.-christl. Idee“
Dr. Roman Landau (Hrsg.)
Wie das Abendland seine Geschichte erfand
Umfangreiche Auszüge aus Davidsons ‚Zivilisationsprozeß‘
und Landaus ‚Anmerkungen zum Zvilisationsprozeß‘
mit einem Vorwort von Prof. Kaltenstadler
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„Wer ist reich? Der mit seinem Teil zufrieden ist. .. Wer ist geehrt? Der die Menschen ehrt. Verachte keinen Menschen und halte kein Ding für immer gleich; denn es gibt keinen Menschen, der nicht seine Stunde hätte, und es gibt kein Ding, das nicht hätte seinen Platz.“
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Es ist doch sehr verwunderlich, daß genau die Gesellschaft, die angeblich spätestens seit dem 9. Jahrhundert (Karl der Große) als statische und feudalistische Klassengesellschaft organisiert gewesen sein soll, trotzdem in der Lage gewesen sein kann, sich plötzlich (!) im18. und 19. Jahrhundert von selbst in eine rationale, egalitäre, dynamische, marktorientierte und freie kapitalistische Gesellschaft zu entwickeln. Warum hätte der Adel aber auf seine Privilegien, auf die Fronarbeit seiner Bauern und auf die Herrschaft über seine Leibeigenen verzichten sollen? Warum hätten aber auch die in Gilden organisierten Kaufleute auf ihre Monopole und Privilegien verzichten sollen? Die leider immer noch herrschende Geschichtstheorie postuliert, daß das sog. „aufsteigende Bürgertum“ für diesen Prozeß verantwortlich gewesen sein soll, ohne sich allerdings die Mühe zu machen das ganz konkret nachzuweisen. So steht meines Erachtens das Postulat des alles bewirkenden sog. „aufsteigenden Bürgertums“ als das zentrale Grunddogma der neueren Geschichtswissenschaft unmittelbar vor seiner Ablösung.
Es ist in der Forschung unstrittig, daß die ökonomische Basis von zentraler Bedeutung für jede Zivilisation ist. Die neusten amerikanischen Studien gehen davon aus, daß es für die Entwicklung der modernen Ökonomie vor allem auf die gesellschaftlichen Institutionen ankam. Daß diese Institutionen aber erst entwickelt werden konnten, als dies lohnenswert erschien: Als also durch das Bevölkerungswachstum der potentielle Markt endlich groß genug geworden war. Dieses zur Zeit in den USA sehr beliebte wirtschaftshistorische Modell geht vor allem auf Douglass North zurück, der 1993 mit dem Nobelpreis bedacht worden ist.
Überprüft man jedoch seine Argumentation und vor allem seine Quellenbasis, dann stellt man fest, daß seine Quellenbasis sehr dünn und seine Argumentation nicht widerspruchsfrei ist. Es gelingt ihm nicht wirklich nachzuweisen, warum sich das wirtschaftliche Wachstum im 16. Jahrhundert langsam vom Mittelmeer nach Holland verlagert. Und warum ein so kleines Land wie die Niederlande, ohne Bodenschätze, im 17. Jahrhundert zur führenden Wirtschaftsmacht der Welt werden konnte. Ebensowenig wird wirklich klar, weshalb dann ein Jahrhundert später wiederum England Holland überflügeln konnte. Tatsächlich also gibt es noch keine richtige Erklärung, wie denn nun der sog. Westen zu dem wurde was er ist und was genau der entscheidende Faktor des Zivilisationsprozeßes gewesen sein könnte. Insbesondere die Historiker bevorzugen deshalb die rein deskriptive Forschung und vermeiden es am liebsten ganz, über ihren Tellerrand zu gucken und größere Zusammenhänge herzustellen. (Sie geben damit den Esoterikern einen große Chance, genau diese Lücke zu füllen.) Jeder der mal Geschichte an einer Universität studiert hat, weiß wie wichtig die Quellentexte für die Arbeit des Historikers sind. Aber für vieles gibt es überhaupt keine Quellen. Die germanische Völkerwanderung etwa oder die arabische Eroberung der Welt, können mit zeitgenössischen Dokumenten nur schlecht, bzw. gar nicht belegt werden.
Und besonders die verblüffend exakten Jahreszahlen der offiziösen Historiographie sind dubios. Wieso wissen wir so genau, daß Alexander genau im Jahre 333 bei Issos gekämpft hat, oder daß Christus im Jahre 0 geboren worden ist? Die antiken und biblischen Quellen liefern keinerlei Jahreszahlen, die eine chronologische Fixierung der Ereignisse erlauben. Die antiken und biblischen Quellen lassen sich nicht aus sich selbst heraus in Beziehung setzen. Wer hat dann diese Meisterleistung der Synchronisierung aller Daten vollbracht, so daß wir heute zu jedem (!) antiken und biblischen Ereignis auch eine, und zwar ganz exakte (!) Jahreszahl haben?!!
1987 erschien das Buch: ‚Bernard Lewis, Die Welt der Ungläubigen‘. Es beschäftigt sich mit den Kulturkontakten zwischen dem Islam und Europa. Sofort wurde uns klar, daß irgend etwas überhaupt nicht stimmen konnte mit der Erklärung, die uns die Historiker über das Mittelalter geben. Wenn wir angeblich dem Islam im Mittelalter soviel verdanken, wenn er dem Abendland (netterweise) sogar Aristoteles zurückgegeben hat, warum steht dann der ‚Jihad‘, der Heilige Krieg so sehr im Mittelpunkt islamischer Außenpolitik. Außerdem: Das erste lateinisch-arabische Wörterbuch wurde nach Lewis im 12. Jahrhundert hergestellt. Warum hat das so schrecklich lange gedauert? Hätten die Araber nicht schon im 8. Jahrhundert als sie Spanien eroberten ein lateinisches Wörterbuch gut brauchen können? Und als führende Hochkultur ihrer Zeit hätten sie sich eigentlich auch schon früher für die lateinische Sprache und Kultur interessieren können. Warum haben sie die gr.-römische Antike überhaupt nicht wahrgenommen, sondern völlig ignoriert? Selbst die Fischer Weltgeschichte muß diese arabische Ahnungslosigkeit zugeben: In der arabischen „Geschichtsschreibung .. wird .. von den Griechen nichts gesagt. Ebenso ist es natürlich mit den Römern, die selbst bei westlichen Autoren kaum Erwähnung finden.“ (Cahen 127)
Einerseits wurde dann schnell deutlich, daß der Zivilisationstransfer vom Orient zum Abendland nur auf der Basis des jüdisch-christlichen Pazifismus stattgefunden haben kann, und daß andererseits die meisten Texte der griechisch-römischen Antike eine dubiose Überlieferungsgeschichte haben, so daß ernste Zweifel an der Authentizität der Texte erlaubt sein müssen. Wenn z. B. der Tacitus-Text, dem wir fast unser gesamtes Wissen über die Germanen verdanken, von niemandem (!) gelesen und erwähnt wird, bevor er im 15. Jahrhundert publiziert wird, dann spricht das gegen seine Echtheit.
Wenn die biblischen Texte aber von vielen Völkern übersetzt und gelesen werden, – und zu einem Bestandteil ihrer Kulturen geworden sind – dann müssen sie (zumindest für die ersten Juden und Christen) einen realen Kern enthalten haben und können nur bis zu einem gewissen Grade fiktionalisiert worden sein. Durch das Lesen entsteht dann eine tradierende Kontinuität, die eine Realität konstituiert, selbst wenn die geschilderten Ereignisse vermutlich fiktiv sind.
Die Christus-Geschichten des Neuen Testaments wurden von Millionen als identitätsstiftende und sinngebende Geschichte akzeptiert. Und diese Tatsache ist viel interessanter, als die Frage, ob Christus wirklich gelebt hat. Es muß einen rationalen Grund gegeben haben, warum die Botschaft des Christentums so begeistert aufgenommen worden ist.
Warum also waren die Menschen im Mittelalter so sehr vom Christentum angetan? Warum wurde der germanische Gott ‚Wotan‘ durch den jüdischen Christus ersetzt und erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt? Warum schrieben die Europäer auch das Alte Testament wortwörtlich bei den Juden ab? Warum nur interessierten sie sich so sehr für die dort beschriebene Geschichte der Israeliten?
Aus einigen, in der theologischen Forschung bislang kaum gewürdigten Abschnitten der Propheten wird deutlich, daß die jüdische Idee gerade keine ethnische Superiorität behauptet, sondern im Gegenteil, einem Kosmopolitismus das Wort redet. (Z. B. Amos 9,7: „Seid ihr für mich mehr als die Kuschiter, ihr Israeliten? Spruch des Herrn. Wohl habe ich Israel aus Ägypten heraufgeführt, aber ebenso die Philister aus Kaftor und die Armäer aus Kir.“)
Es scheint sich tatsächlich um den Versuch der Legitimierung einer kosmopolitischen und pazifistischen Rechtsordnung zu handeln; von der nicht nur der Handel profitiert. Eine neue vorurteilsfreiere Generation von Historikern ist in der Lage, diesen Einfluß der Kulturrevolution des Judentums im Mittelalter auch quellenkritisch nachzuweisen. Friedrich Lotter etwa hat kürzlich festgestellt, daß ein zentraler Rechtssatz, der im Mittelalter oft zitiert wurde, und der bislang immer auf die Privilegien Heinrich IV. (1090) zurückgeführt wurde, tatsächlich auf den Talmud zurückgeht. (Friedrich Lotter, Talmudisches Recht in den Judenprivilegien Heinrichs IV.?, Archiv für Kulturgeschichte 72, 1990, S. 23 - 61)
Die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der sog. „Religion“ ist bislang wenig wirksam geworden, weil sich Christentum und Judentum (in der Definition und Legitimität der heutigen Interpreten) über den Glauben definieren, und damit der Esoterik näher zu sein scheinen als der Wissenschaft und Philosophie.
Markus, der nach allgemeiner Ansicht älteste der Evangelisten, scheint der radikalste Sozialrevolutionär gewesen zu sein: „Verkaufe, was du hast. Gib das Geld den Armen.“ (Markus 10,21)
Oder:
„Ihr wißt, daß die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen mißbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.“ (Markus 10,42 - 10,43)
Es ist nun tatsächlich mehr als plausibel, daß die Ideenwelt der Massenbewegung Christentum eine Wandlung erfahren hat: vom sozialreformerischen Urchristentum zum konservativen Spätchristentum, wie man es zum Beispiel im 19. Jahrhundert überall in Europa beobachten kann. Im 19. Jahrhundert wird das Christentum politisch benutzt, um die Klassengesellschaft, die ständische, „göttliche“ Weltordnung zu rechtfertigen. (Während man seinen spirituell-esoterischen Gehalt dem Volk zur geistigen Erbauung überläßt.)
Von besonderem Interesse für eine kritische Gesellschaftswissenschaft dürfte nun die Frage sein, wann dieser Wandel stattgefunden hat. Erstaunlicherweise hat diese Frage bisher noch niemanden interessiert.
Aus den althochdeutschen Quellentexten wird aber deutlich, daß das Christentum noch im Europa des Mittelalters eine egalitäre und kommunitaristische Bewegung war. Als
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8347-5
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