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DER TRAUM

Der Traum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das schrille Klingeln des Weckers riss Noelia jäh aus dem Schlaf. Ehe sie der Versuchung erlag, sich nochmal

 

auf der Seite liegend in ihre Decke einzurollen und weiterzuschlafen, schlug sie die Decke nach unten und die Augen auf.

 

Sie sah, wie die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch ihr Fenster schienen, und bemerkte einen Vogel, eine kleine Blaumeise, die auf dem äußeren Fensterbrett saß. Die Meise musterte Noelia einige Sekunden, und obschon das ein

 

sehr rührender, schöner Anblick war, drückte er Noelias Stimmung schon so früh am Morgen tief in den Keller.

 

Nicht etwa, weil Noelia keine Meisen ausstehen konnte, nein. Aber der Vogel erinnerte sie an den Traum, den sie in der Nacht gehabt und der ihren Schlaf alles andere als angenehm und erholsam gestaltet hatte. Jenen Traum, der sie schon seit geraumer Zeit verfolgte und regelrecht quälte. In diesem Traum lag sie allein in ihrem Bett. Auf ihrem Schreibtisch lag jedes Mal wieder ein Paar wunderschöne Ohrringe, mit eingearbeiteten Kristallen, die in allen Regenbogenfarben funkelten. Sie war im Traum wie besessen von diesen Ohrringen, doch jedes Mal, wenn sie sich vom Bett erhob, zum Schreibtisch ging und die Hand nach den Ohrringen ausstreckte, flog eine große Elster zum Fenster herein und stahl den Schmuck, ehe Noelia ihn erreichen konnte.

 

Nachdem sie sich angezogen und ihre dunkle Haarmähne gebändigt hatte, stieg Noelia die Treppe herunter und betrat die Küche. Sie begrüßte ihre Mutter, die gerade zwei Teller auf den Tisch stellte, mit einer innigen Umarmung.

 

„Guten Morgen“, sagte ihre Mutter, die ob dieses warmen Empfangs lächelte. Ihr Blick ruhte auf Noelia, während diese sich an den Tisch setzte, sich eine äußerst großzügig geratene Tasse Kaffee einschenkte und ihren Teller mit Rührei belud. Und je länger der Blick ihrer Mutter auf Noelia ruhte, desto skeptischer wurde er.

 

„Okay“, sagte sie schließlich und setzte sich Noelia gegenüber an den Tisch. „Was ist los?“

 

„Ich, ähm … was soll sein?“, gab Noelia in einem sehr schlechten Versuch zurück, den sich

 

in ihr anstauenden Kummer zu überspielen. Aber wem wollte sie hier eigentlich etwas vormachen?

 

„Du warst noch nie eine gute Lügnerin“, entgegnete ihre Mutter mit einem zaghaften Lächeln. „Na, komm schon, erzähl es mir. Was bedrückt dich?“

 

„Ich …, ich …“, begann Noelia zögernd, unsicher, wie genau sie ihrer Mutter erklären sollte, was ihr grundlegendes Problem war.

 

Dieses zu begreifen, fiel ihr nämlich schon selbst alles andere als leicht.

 

Im Grunde war ihr Problem die Schule, oder besser gesagt, ein Mädchen in der Schule.

 

Ihr Name war Viola. Ein Mädchen aus der Parallelklasse, das Noelias Leben in der Schule zur Hölle machte. Viola nämlich war wie die Elster in ihren Träumen – ihr einziger Lebensinhalt schien darin zu bestehen, Noelia alles streitig zu machen, was ihr lieb und teuer war.

 

Bei rein irdischen Besitztümern hörte dies jedoch nicht auf. Da war noch Violas Clique, fünf weitere Mädchen, von denen drei einst mit Noelia befreundet gewesen waren, die jedoch lieber dem Geld der reichen Viola als den langen, gemeinsamen Jahren und Erinnerungen mit Noelia gefolgt waren. Jene Mädchen, die ihr so eiskalt in den Rücken gefallen waren, mit denen Noelia zahlreiche Geheimnisse geteilt hatte und die nicht gezögert hatten, diese ohne Scham an Viola weiterzugeben, damit sie diese gegen Noelia benutzen konnte.

 

Doch wie um Himmels Willen sollte sie das ihrer Mutter beibringen?

 

Gar nicht, am besten. Also beschloss Noelia, ihr nur einen Teil der Wahrheit zu erzählen.

 

„Heute ist der Orientierungswettbewerb in der Schule“, erklärte sie nach einer kurzen Weile. Und als ihre Mutter sie fragend ansah, ergänzte sie: „Davon hab’ ich dir doch garantiert erzählt, oder? Wir werden in Gruppen eingeteilt und müssen Hinweisen am Waldrand neben der Schule folgen. Und da … na ja, da hab’ ich einfach keine Lust drauf.“

 

Der Blick ihrer Mutter ruhte unbeirrt auf ihr, ohne dass die Sorgenfalten weniger geworden wären. „Und das ist wirklich alles?“

 

„Ja“, sagte Noelia, und das schlechte Gewissen stach ihr augenblicklich in die Eingeweide. „Das ist alles.“

 

Ohne den Blick ihrer Mutter zu erwidern, aß Noelia auf und ging wieder hoch in ihr Zimmer, wo sie ihren Rucksack packte. Drei Minuten später stand sie im Hausflur vor der Eingangstür und zog sich ihre Sneaker an. Als sie Schritte aus dem Wohnzimmer vernahm, sah sie auf. Ihre Mutter betrat soeben den Flur, und an ihren Fingern sah Noelia eine goldene Kette baumeln.

 

„Wenn dich dieser Orientierungswettbewerb wirklich so nervös macht“, sagte sie und reichte ihrer Tochter die Kette, „dann nimm das hier mit.“

 

Noelia betrachtete die Kette, die sich bei genauerem Hinsehen als ein Amulett entpuppte. Sie öffnete es. Darin befand sich, mit Kleber befestigt, ein platt gepresstes, vierblättriges Kleeblatt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

 

„Erinnerst du dich daran?“, fragte ihre Mutter. „Das hast du mit deinem Vater gesammelt, als ihr damals in den Sommerferien campen wart. Ich wollte dir das eigentlich zum Geburtstag schenken. Nimm dieses Amulett als Glücksbringer mit. Damit du dich nicht verläufst.“

 

Noelia starrte ihre Mutter mehrere Sekunden lang mit offenem Mund an, ehe sie auf sie zusprang und sich zum zweiten Mal an diesem Morgen um ihren Hals warf.

 

„Danke, Mama“, flüsterte sie.

 

„Dafür nicht“, entgegnete ihre Mutter. „Jetzt bist du praktisch offiziell meine Glücksprinzessin.“

 

 

AUF DEM SCHULHOF

Auf dem Schulhof

 

 

 

 

 

 

 

 

 

An diesem Tag fiel der reguläre Unterricht für alle Zehntklässler aus. Es war eine Art Brauch an Noelias Schule, dass am ersten Schultag nach kalendarischem Frühlingsbeginn die zehnten Klassen eine Art Orientierungslauf im angrenzenden Wald veranstalteten und anschließend ein kleines Grillfest feierten. So kam es, dass Noelia bei

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kristin Ostheer-Suslik
Bildmaterialien: Danileoart
Cover: Danileoart
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2555-7

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