Die meisten Touristen, die die Stadt Autun besuchen, kommen dorthin wegen ihrer Vergangenheit oder aufgrund ihrer geografischen Lage. Und das ist ja auch nicht falsch. Die Burgunder Kleinstadt hat eine reiche Vergangenheit, dessen Zeugen noch heute ihr Stadtbild und ihre Umgebung prägen.
Ihre Geschichte beginnt mit den Kelten des ersten Jahrtausends vor Christus, über die man sich am nahen Mont Beuvray ausführlich informieren kann, indem man das weitläufige Ausgrabungsareal und das dazugehörige archäologische Museum besucht. Die nächste Epoche wird markiert durch die Römer, ansässig in Autun von der Zeit des Caesar Augustus bis ins frühe Mittelalter. Sie hinterließen ein gut erhaltenes Amphitheater, eine imposante Stadtmauer, einen Janustempel sowie historische Stadttore. Die Zeit des Mittelalters wird besonders sichtbar im Altstadtkern, auf der Anhöhe der Stadt angesiedelt: die Kathedrale Saint Lazare, verschiedene kirchliche Bauwerke und Klöster, Verteidigungstürme sowie die typischen engen Gassen, ursprünglich nur zu Fuß, zu Pferd oder mit Ochsenkarren benutzbar. Die Neuzeit zeigt sich vor allem in Bauten wie dem Bonapartemuseum, dem Militärgymnasium, dem Krankenhaus St. Gabriel, dem Stadttheater in italienischem Stil und dem Rathaus.
Geografisch am Südrand des Morvan gelegen und vom Gebirgsfluss Arroux durchquert, bietet die Stadt Autun jede Menge Freizeitmöglichkeiten: Wanderungen und Fahrradausflüge durch die Wälder und über die Hügel des Mittelgebirge Morvan, Kanu Fahrten und Sportfischen auf dem Arroux, Segeln, Surfen, Kajak fahren oder Schwimmen auf dem Plan d’eau des Parc de loisir du Vallon, bis hin zum 11-Loch-Golfplatz etwas oberhalb vom Plan d’eau gelegen. Von der Anhöhe der Altstadt aus ergibt sich ein atemberaubender Blick auf die bewaldeten Hügel des Morvan, die Autun von drei Seiten, wie einen Kessel umschließen. Nach Nordosten hin öffnet sich der Blick auf das Tal des Arroux und lässt die weitgehend unberührte Natur des Parc naturel régional du Morvan erahnen. Eine ruhige, etwas abgelegene Gegend, die zum Verweilen einlädt.
Abgesehen von Geschichte und Lage Autuns ist auch deren Gegenwart durchaus interessant. Als Regionalstadt verfügt sie über eine eigene Sous-Préfecture, die das öffentliche Leben der 25 000 Einwohner der Stadt und der zusätzlichen 20 000 Einwohner des Bezirks verwaltet. 39 staatliche und zwei private Schulen stellen die Aus- und Weiterbildung der Bevölkerung sicher, 2 Krankenhäuser und 6 Altenheime die Versorgung der Kranken und der Senioren. Ein Stadttheater und zwei Kultur- und Konferenzzentren bieten ein reichhaltiges, ganzjähriges kulturelles Angebot. Eine große Anzahl gastronomischer Betriebe lädt zu kulinarischen Genüssen ein, und zwei Einkaufs-Malls sowie zahlreiche Lebensmittelläden, Bäckereien und Metzgereien lassen für die Burgunder Esskultur keine Wünsche offen. Außerdem ist Autun seit jeher Bischofssitz; die Diözese umfasst das ganze Departement Saône-et-Loire. In Autun selbst ist die die katholische Kirche durch ihre imposanten altehrwürdigen Bauwerke sehr stark vertreten, jedoch schwindet ihr reeller Einfluss auf die örtliche Bevölkerung zunehmend.
Allerdings hat Autun nicht nur schöne Seiten. Zwei soziale Brennpunkte, ein Teil des Stadtteils St. Andoche sowie das Viertel La Croix Verte, beherbergen arme Menschen unterschiedlicher Lebenssituation: Arbeitslose, Rentner, Immigranten und Menschen in sozialen Nöten. Drogen- und Alkoholkonsum, Vandalismus und Kleinkriminalität machen sich dort bemerkbar, wenn auch nicht im Ausmaß einer Großstadt. Die Stadt investiert einiges an Finanzen, um zumindest die Bauwerke dieser Viertel zu sanieren, und Sozialarbeiter tun ihr Möglichstes, um ein menschenwürdiges Dasein zu fördern, Familien zu unterstützen und Jugendliche zu begleiten.
Seit vier Jahren in Burgund lebend, hatten auch mein Mann Günther und ich, Elisabeth Kugler, genannt Lis, einige Monate in einer Sozialwohnung im Stadtviertel La Croix Verte verbracht. Dies hatte nicht unserem Wunsch entsprochen, aber wir hatten uns wegen vorübergehender Arbeitslosigkeit nur eine Sozialwohnung leisten können. Einige Zeit später fand Günther wieder eine langfristige Anstellung als Rezeptionist in einem renommierten Vier-Sterne Hotel in Beaune und ich konnte einen Posten in einem hübschen Schlosshotel auf dem Land annehmen. Jedoch war uns keine Zeit geblieben, eine andere Wohnung zu finden, da ich entgegen aller Erwartung in einem Dorf, wo sonst nie was passiert, in eine Mordermittlung verwickelt wurde, die mir schließlich den Arbeitsplatz kosten sollte. Nach Abschluss des Falles ermutigte mich die zuständige Gendarmerie-Offizierin Véronique Fouquet, Privatdetektivin zu werden. Und weil ich den Winter über ohne Anstellung sein würde, besserte ich unser Einkommen durch die eine oder andere Recherche auf. Immerhin reichte das aus, unsere finanzielle Lage soweit zu verbessern, dass wir ein kleines Häuschen mit Garten in einem verträumten Dorf anmieten und dem schwierigen Lebensumfeld des sozialen Brennpunktes endlich wieder entkommen konnten.
Meine ersten Sporen als Privatdetektivin verdiente ich mir mit der Suche nach einem entlaufenen Hund, den ich wohlbehalten in einem Tierheim wiederfand und seinem hocherfreuten Herrchen zurückgeben konnte. Als Nächstes wollte ein Arbeitgeber einen seiner Angestellten überprüft haben, der sich ziemlich oft krankmeldete. Leider musste ich meinem Auftraggeber mitteilen, dass sein Mitarbeiter einer unzulässigen Nebentätigkeit nachging, anstatt krank im Bett zu liegen. Ein besorgter Vater wollte seinen zukünftigen Schwiegersohn unter die Lupe nehmen: Ich konnte ihm berichten, dass der junge Mann einen guten Ruf genoss und sich nichts zuschulden kommen lassen hatte. Alles in allem nicht gerade aufregende Ermittlungen, aber inzwischen machte es mir Freude, Recherchen aller Art vorzunehmen.
Mein nächster Auftrag sollte mich jedoch in Ermittlungen verwickeln, die sich als weit gefährlicher herausstellen würden.
Die Altstadt von Autun von Couhard aus gesehen
Der Arroux
Die Stadt Autun wurde unter der Herrschaft von Caesar Augustus gegründet, der Rom von 27 vor bis 14 n. Chr. regierte. Sie trug den Namen Augustodunum (Festung des Augustus), da sie zu dessen Ehren errichtet worden war. Rom wollte dadurch die alte Keltenhochburg am nahegelegen Mont Beuvray schwächen und eine Regierungsstadt mit der Bedeutung und den Ausmaßen Roms auf gallischem Boden errichten. Die Rechnung der Römer ging auf. Die keltische Oberschicht verbündete sich mit den römischen Patriziern von Autun und zog in die rasch erblühende Stadt, die sich bald zu einem militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum entwickelte. Wichtige Handelsstraßen führten von Autun nach Lutetia (heute Paris) im Norden und Lugdunum (Lyon) im Süden. Zwei noch erhaltene römische Stadttore, die Porte d’Arroux im Norden und die Porte Saint André im Osten, zeugen von der Bedeutung dieser alten Verkehrsachsen. Ein Teil der historischen Stadtmauer wurde restauriert und kann zu Fuß erkundet werden. Im Norden der Stadt, außerhalb der Stadtmauern gelegen, existierte ein Tempeldistrikt, der ausschließlich der Verehrung der römischen Götter gewidmet war. Heute kann nur noch ein Janustempel besichtigt werden, dessen Bedeutung nicht geklärt ist.
Die Stadt Autun ist stolz auf ihr römisches Erbe. Jährlich im römischen Amphitheater aufgeführte historische Inszenierungen zeugen davon. Darüber hinaus kann man im Musée Rolin und anderen Museen wertvolle Artefakte aus der Römerzeit begutachten.
An einem Wintermorgen kurz vor Weihnachten – Günther hatte Frühdienst und war schon zur Arbeit gefahren – öffnete ich wie so oft die hölzernen Läden der Schlafzimmerfenster und betrachtete fasziniert die schöne Aussicht auf Autun. Der Morgen war kühl und klar. Die fahle Wintersonne zeichnete ein Morgenrot in wunderschönen Pastellfarben in den Himmel und tauchte die Stadtsiluette der Altstadt in ein zartrosa Licht; schöner als jeder Maler es auf Leinwand hätte festhalten können. Die klare Morgenluft machte mir Lust, das Haus zu verlassen. So zog ich schnell meine Joggingschuhe an, um meine tägliche Laufstrecke hinter mich zu bringen. Nach jener Nacht, in der ich im Sprint einem Mörder nur mit Mühe entkommen war, hatte ich mir geschworen, meine Sprintkapazitäten zu verbessern. Dies lag zwar schon Monate zurück, und inzwischen hatte ich eine recht passable Kondition aufgebaut, aber man kann ja nie wissen … ein guter Sprint kann schließlich Leben retten. Ich joggte also fleißig meine Runde und genoss die Ruhe des frühen Morgens.
Zurück in unserem schmucken Heim, duschte ich erstmal ausgiebig und bereitete mir dann ein schönes Frühstück zu, als mein Handy, auf der Anrichte griffbereit liegend, zu vibrieren begann. Das Display zeigte „Véronique“ an, was mich erstaunte. Nicht, dass es ungewöhnlich war, dass mich die Gendarmerieoffizierin anrief, denn wir telefonierten regelmäßig miteinander. Seit dem letzten Fall trafen wir uns mindestens einmal in der Woche um zu klönen, uns über Ermittlungen auszutauschen und über interessante Kriminalfälle zu diskutieren. Jedoch fanden diese Treffen hauptsächlich bei mir zu Hause statt, denn Véroniques Dienstwohnung auf dem Gelände vom Gendarmerieposten war hierzu nicht geeignet. Nein, diesmal bat sie mich, sofort in ihr Büro zu kommen. Es konnte sich also nicht um ein privates Treffen handeln! Ich durchforstete mein Gedächtnis: Hatte ich etwas verbrochen? Oder wollte sie mich in offizieller Funktion sprechen? Und warum so dringend? Widerwillig zog ich mich um. Meinen Plan, an diesem sonnigen Wintervormittag meine Weihnachtsdeko in den Fenstern und Türen anzubringen, musste ich wohl auf später verschieben.
Innerlich angespannt brachte ich die 7 Kilometer, die mein Haus von dem neuen Gebäude der Gendarmerie Autun in St. Pantaléon trennten, hinter mich. Bei der Gendarmerie angekommen, parkte ich meinen alten Citroën AX außerhalb des grünen Metallzauns, meldete mich am videoüberwachten Eingang am Interfon, eilte, nachdem man mich eingelassen hatte, die wenigen Stufen zum Eingang des beige-braunen Neubaus hinauf, und wurde, kaum dass ich meinen Namen gesagt hatte, sofort zum Büro von Lieutenant-Colonel Véronique Fouquet geführt. Das Büro war groß und hell, aber nüchtern und zweckmäßig eingerichtet. Neben Véronique, die mir verstohlen zulächelte, war noch ein Mann im Raum, der auf einem der Besucherstühle vor dem großen Schreibtisch gesessen hatte und jetzt höflich aufstand. Der Herr, eher von kleiner Statur, aufgrund seines leicht ergrauten Haares wohl Ende fünfzig, Anfang sechzig, trug einen dunklen Maßanzug mit weißem Hemd und diskreter Krawatte, dazu glänzende schwarze Lederschuhe. Seine braunen Knopfaugen huschten unruhig umher und die kleinen, aber kräftigen Hände nestelten bald hier, bald da an seiner Kleidung herum.
Mit etwas Zurückhaltung begrüßte ich meine Freundin, die mir in so offizieller Umgebung fremd vorkam. Monsieur erwiderte meinen Gruß mit zuvorkommender Höflichkeit, konnte aber seine Nervosität nicht verbergen. Véronique stellte den Mann als Monsieur Philippe Monod vor, Direktor eines renommierten, traditionellen Drei-Sterne-Hotels in Autun. Wir setzten uns und die Offizierin begann zu erläutern:
„Vor einer Woche erhielt ich in meiner Funktion als Leiterin des Gendarmeriepostens Autun und hauptverantwortliche Offizierin der öffentlichen Sicherheit im Bezirk Autunois einen Anruf des Procureur Général (Oberstaatsanwalt) des Département Saône-et-Loire, Monsieur Pierre-Guy Fouquet. Monsieur le Procureur Général erteilte mir offiziell den Auftrag, im Fall eines Ende November im Grand Hôtel du Morvan den amerikanischen Staatsbürgern Mr. Peter and Mrs. Janet Cunningham abhandengekommenen Diamantrings im Wert von 12 500 US Dollar zu ermitteln. Mir wurde deutlich gemacht, dass es sich um eine hoch delikate Ermittlung handle, da die einflussreichen US-Bürger Mr. and Mrs. Cunningham sich direkt an die amerikanische Botschaft gewandt hatten, die dann wiederum den direkten Weg zur zuständigen Staatsanwaltschaft gewählt hatte.“
„Im Zuge der Ermittlungen fanden wir heraus, dass bereits in mehreren Fällen Hotelgäste signalisiert hatten, Gegenstände bei Abreise im Zimmer vergessen zu haben. In mehreren dieser Fälle konnten die Gegenstände nicht wiedergefunden werden. Da die zurückgelassenen Objekte in der Regel von geringem Wert waren, wurde die Angelegenheit von den Hotelgästen nicht weiter verfolgt. Im zur Anzeige gebrachten vorliegenden Fall wurden dann die Spinde des gesamten Personals gründlich durchsucht, sowie das betroffene Hotelzimmer und alle übrigen Wirtschaftsräume, jedoch ohne Ergebnis. Gleichzeitig wurde das gesamte Personal befragt, ohne dass sich Hinweise auf den Verbleib des Diamantrings ergeben hätten. Recherchen über die finanzielle Situation des Personals zeigten keine Auffälligkeiten, abgesehen von einem Rezeptionisten, dessen Vermögen laut Kontostand nicht durch sein Einkommen zu erklären war.“
„Als Ermittlungsergebnis muss ich leider feststellen, dass der Diamantring unauffindbar bleibt. Niemand hat ihn gesehen und kein Antiquitätenhändler oder Bijoutier (Juwelier) hat ihn zum Ankauf angeboten bekommen. Da nun leider der Gendarmerie Autun aktuell aufgrund aufwendiger Ermittlungen in anderen Fällen zeitlich und personell die Hände gebunden sind, habe ich dich, Lis, ins Gespräch gebracht. Du bist nicht nur Privatdetektivin, sondern auch erfahrene Hotelangestellte und solltest am ehesten herausfinden können, was mit dem Diamantring geschehen ist. Man könnte dich z. B. als neue Mitarbeiterin ins Hotel einschleusen. Herr Direktor Monod hält dies für einen brauchbaren Ansatz. Was sagst du dazu?“
Ich schluckte. Die Ermittlerin in mir wollte sofort zusagen, denn der Auftrag klang spannend. Die Geschäftsfrau in mir rechnete bereits aus, was damit zu verdienen wäre. Jedoch der ehrliche Franke in mir behielt die Oberhand und ohne groß nachzudenken, spuckte ich aus: „Ja wie soll ich denn jetzt noch etwas herausfinden? Der Ring ist sicher schon verkauft oder zumindest gut versteckt. Und das Hotelpersonal wird einer neuen Mitarbeiterin, noch dazu einer Ausländerin, bestimmt keine Beobachtungen mitteilen, die sie oder Kollegen in die Bredouille bringen können. Ganz offen gesagt, ich halte es für Geldverschwendung, denn der Einsatz kann sehr kostspielig werden und trotzdem ergebnislos bleiben!“
Der Direktor und Véronique sahen sich lächelnd an, als ob sie eine solche Reaktion erwartet hätten. Dann ergriff der Hotelleiter das Wort und in einem Tonfall, mit dem man begriffsstutzigen Kindern etwas klarzumachen versucht, meinte er:
„Meine liebe junge Dame, ich möchte Ihnen das gerne näher erklären. Sie müssen wissen, dass ich der Versicherung gegenüber verpflichtet bin, alles zu tun, was getan werden kann. Dass wiederum bei solchen verdeckten Ermittlungen unter Umständen nichts herauskommt, darüber bin ich mir durchaus im Klaren. Auch dass es eventuell ein teurer Einsatz ohne Ergebnis werden kann. Aber es geht hier nicht nur um den Ring: Der Ruf des Hotels steht auf dem Spiel. Und Madame Fouquet hat mir versichert, wenn irgendjemand es schafft, etwas herauszufinden, dann sind Sie das. Darf ich sie bitten, in meinem Auftrag zu ermitteln!“
Bei den letzten Worten sah er mich an, wie ein Hund, der um Futter bettelt, so richtig zum Steinerweichen. Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt. Aber war ich wirklich in der Lage, Informationen zu erhalten, die die Gendarmerie nicht hatte ermitteln können? Ich blickte Véronique fragend an, die mir beruhigend zunickte. Nach einigem Überlegen erklärte ich mich schließlich einverstanden, die Ermittlungen am nächsten Tag aufzunehmen, woraufhin Monsieur Monod erleichtert schien. Véronique händigte mir noch eine Liste des Personals mit bereits recherchierten Zusatzinformationen aus, wir klärten praktische Details über den Ablauf des Einsatzes, und Monsieur Monod und ich verließen den Gendarmerieposten. Vor mir lag ein Auftrag, dessen Ausmaß ich noch nicht abschätzen konnte.
Das römische Theater im Winter
Nachdem sich der Hoteldirektor und Lis verabschiedet hatten, dachte die Gendarmerie-Offizierin schmunzelnd über das Gespräch nach. Es war nicht die erste Begegnung mit dem Direktor und jedes Mal war er ähnlich nervös gewesen. Es gibt viele Menschen, die nicht gerne mit der Polizei in Berührung kommen, und der Mann fürchtete offensichtlich sehr um den guten Ruf seines Hotels. Lis dagegen hatte genauso reagiert, wie die Beamtin es erwartet hatte. Véronique schätzte die Geradlinigkeit und Ehrlichkeit der jungen Deutschen, auch wenn sie selbst sich nie so direkt äußern würde; etwas Diplomatie half in diesem Beruf meist weiter. Offensichtlich gibt es hier einige grundsätzliche Unterschiede zwischen manchen Deutschen und manchen Franzosen.
Véronique war sich sicher, dass Lis sehr effektiv ermitteln würde. Nicht nur hatte diese ein Talent Dinge herauszufinden. Sie verbiss sich in Ermittlungen wie eine Bulldogge in ein Stück Fleisch. Und nicht zuletzt hatte Véronique selbst sie wie eine Polizistin ausgebildet. Wenn es also eine Möglichkeit gab, etwas herauszufinden, würde Lis das auch tun, dessen war sich Véronique sicher. Natürlich würde sie selbst im Hintergrund bereitstehen, um Rat zu geben und schließlich einzugreifen, sobald Ergebnisse erzielt würden. An diesem Morgen war die Beamtin sehr optimistisch. Sie trank noch ihren Kaffee aus, und dann wandte sie sich wieder den Aktenstapeln auf ihrem Schreibtisch zu. Es gab jede Menge zu tun in der sonst so friedlichen Stadt.
Ein alter Herr, der mit seiner Rente nicht auskam, hatte in einem Kaufhaus Lebensmittel gestohlen. Véronique notierte, mit dem Kaufhausdirektor zu sprechen, dass er doch die Anzeige zurückziehen und es mit einem Hausverbot bewenden lassen solle. Dann würde es genügen, nach einer strengen Verwarnung, für den alten Herrn ein Gespräch mit einer Sozialarbeiterin zu arrangieren, damit Wege gefunden würden, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Véronique rief den Kaufhausdirektor an und vereinbarte einen Termin, dann telefonierte sie mit der Sozialarbeiterin und bat sie um einen Besuch bei dem Rentner. Sie machte eine kurze Notiz und legte die Akte zur Seite auf einen anderen Stapel für spätere Weiterbearbeitung.
Die nächste Akte war nicht so dünn und einfach zu bearbeiten, wie die Vorhergehende. Es handelte sich um Serieneinbrüche in Privathäuser, deren jeweilige Eigentümer für einige Tage weggefahren waren. Die Häuser lagen nicht in der gleichen Gegend, die jeweiligen Eigentümer hatten keine sichtbare Verbindung zueinander und doch, es musste einen gemeinsamen Nenner für die Einbrüche geben. Woher wussten die Verbrecher nur, dass die Hauseigentümer nicht anwesend waren? Gestohlen wurden jeweils Schmuck, Bargeld und wertvolle Kunstgegenstände, jedoch keine Computer, Fernseher oder sonstige Elektrogeräte. Bei den üblichen Hehlern der Gegend war nichts aufgetaucht. Wo nur sollte die Gendarmerie da ansetzen? Véronique überlegte. Was wohl Lis dazu sagen würde? Die junge Detektivin hatte zwar manchmal einen naiven, doch oft auch frischen und ungewöhnlichen Ermittlungsansatz. Vermutlich würde sie den Dieben eine Falle stellen wollen. Véronique dachte darüber nach. Warum eigentlich nicht? Sie hatte einen Cousin mit einem sehr hübschen und kostspielig eingerichteten Haus, vielleicht könnte Véronique ihn überreden, einige Tage in Urlaub zu fahren und das Haus der Gendarmerie zu überlassen. Man könnte Kunstschätze präparieren und aufstellen, und in der Folge den Absatz der Beute nachverfolgen. Allerdings barg dieser Ermittlungsansatz gewisse Risiken. Sollten der Gendarmerie von Autun aber keine neuen Hinweise geliefert werden, müssten sie über kurz oder lang zu solchen Mitteln greifen. Zunächst sollte jedoch festgestellt werden, welche Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern und den gestohlenen Gegenständen bestehen. Welcher Gendarm könnte diese Recherche am besten erledigen? Véronique holte den Dienstplan heraus und plante kurz durch. Sie schrieb eine Notiz und legte die Akte auf einen anderen Stapel.
Der nächste Fall bereitete der Gendarmerie-Offizierin noch mehr Kopfzerbrechen als die Einbrüche. Seit Kurzem tauchten an Schulen, Jugendzentren und Diskotheken regelmäßig Partydrogen auf: bunte Pillen, die harmlos aussehen, jedoch in Verbindung mit Alkohol durchaus gefährlich sein können, zu einer Abhängigkeit führen und langfristig Gehirnfunktionen wie das Gedächtnis zerstören. Die Droge, als Ecstasy bekannt, wirkt enthemmend, insbesondere in Verbindung mit Musik wie Techno. Im Gegensatz zu anderen Drogen ist Ecstasy nicht teuer, eine Pille kostet zwischen 5 und 10 Euro, jedoch war Autun bisher, abgesehen von Marihuana, von größeren Drogenproblemen verschont geblieben. Véronique war klar, dass sie vor schwierigen Ermittlungen stand. Zwar hatten sie den einen oder anderen Kleindealer erwischen können, aber an die eigentlichen Verteilzentren kam die Gendarmerie nicht heran. Sie hatten nicht genug Personal, um aufwendige Ermittlungen betreiben zu können oder auch jemanden verdeckt einzuschleusen. Das Problem war wie eine Hydra, ein vielköpfiges Ungeheuer, deren Köpfe, wenn einer abgeschlagen wurde, sofort wieder nachwuchsen. Man müsste an das Herz, also an das Zentrum dieses Ungeheuers kommen und es dort treffen, um es zu besiegen. Véronique würde ihren Vater um Rat fragen, ein sehr hochrangiger pensionierter Gendarmerie-Offizier. Ansonsten konnten sie nur stichprobenartig die Jugendzentren und Schulen überprüfen und hoffen, dass ihnen irgendwann ein Dealer ins Netz ging, der aussagte. Zudem sollte in der Öffentlichkeit und in den Schulen Aufklärungsarbeit über die Gefahren der Droge geleistet werden. Véronique seufzte, notierte einige Zeilen in der Akte und legte sie wieder auf ihren Schreibtisch zurück.
Jede Menge weiterer Akten warteten noch auf sie, wie Veranstaltungen, die Polizeischutz benötigten, Verkehrsprobleme, Radarkontrollen, etc. Mit etwas Neid dachte sie an Lis, die am nächsten Tag schon ihren Undercover-Einsatz antreten würde. Wie gerne hätte auch Véronique mal wieder solche Ermittlungen durchgeführt! Als sie sich entschieden hatte, der Gendarmerie beizutreten, waren es solche Einsätze gewesen, die sie im Auge hatte, nicht die Schreibtischarbeit, die jetzt über neunzig Prozent ihrer Zeit beanspruchte. Aber diese Arbeit musste sie als leitende Offizierin nun einmal erledigen.
Die Gendarmerie von Autun
Der Place du Champ de Mars in der Stadtmitte von Autun dient unter der Woche als Großparkplatz, mittwochs und freitags als Marktplatz und zweimal im Jahr als Festplatz der örtlichen Kermess. Er erstreckt sich von Südwesten nach Nordosten und wird von der Avenue Charles de Gaulle, einer breiten Straße, die vom Bahnhof schnurstracks zur Stadtmitte führt, in ein regelmäßiges Viereck auf der einen, und ein auf der Spitze stehendes Dreieck, auf der anderen Seite aufgeteilt. An der Spitze des Dreiecks, am oberen Ende der Avenue Charles de Gaulle gelegen, befindet sich die Hauptpost; auf der Ostseite des Dreiecks folgen dann verschiedene Geschäfte und Versicherungen, ein kleines Hotel, ein Immobilienbüro und ein Restaurant. Auf der Grundlinie des Dreiecks stehen zwei imposante Bauwerke italienischen Barocks: das Rathaus und das Stadttheater. Die Rue Général Demetz bildet die südliche Längsseite des Vierecks, flankiert von einer Promenade, die auf beiden Seiten von Platanen begrenzt wird. Hier befinden sich das Office de Tourisme (Fremdenverkehrsamt), ein Zugang zu einer bedeckten Passage, die zur Rue des Cordeliers in der Fußgängerzone führt, mehrere Restaurants, die im Sommer auch im Freien
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Lektorat: BERNHARD SCHÜLLER
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2015
ISBN: 978-3-7368-9271-2
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Bernhard, dessen Arbeit dieses Buch eine korrekte Grammatik und einen besserer Stil verdankt und der mich mit Geduld von einer Ecke Autuns zur nächsten kutschierte, damit ich Bilder machen konnte.