Wenn man sich selbst ansieht, sein eigenes Gesicht, seinen Körper erforscht, was passiert dann? Nimmt man sich so, wie man ist, mit einem Seufzer der Resignation, lächelt man sich an oder erstickt man bei dem Anblick der eigenen Person?
Jeder Mensch ist einzigartig, jeder Charakter, jedes Bein, jede Hand, keine gleicht der anderen. Sollte das nicht ausreichen, um jede einzelne in ihrer Eigenart wunderschön und besonders zu finden?
Für die Frau, die wie jeden Tag vor ihrem Spiegeltisch saß, reichte es nicht. Ihre Hand war klein und faltig, die Nägel gelblich verfärbt, die Haut schwielig. Andere hätten diese Schwielen vielleicht als kostbare Überbleibsel betrachtet, die aus Zeiten stammten, da sie hart arbeitete, um ihre Kinder ernähren zu können. Die Nägel waren Zeugnisse ihrer Nikotinsucht, jahrelang praktiziert, da eine Zigarette damals der einzige Moment war, den sie nicht mit ihrem unselbstständigen Mann teilen musste.
Ihr Blick löste sich von ihren Fingern und wanderte ihren Arm hinauf. Bis vor einiger Zeit war ihr prüfender Blick langsam gewesen, ängstlich, die Aussicht auf weitere schändliche Hässlichkeit hatte es ihr übel werden lassen und sie traute sich kaum, das Tuch vom Spiegel zu nehmen. Doch mittlerweile war es ihr Alltag, das ganze, brüchige Haus hatte sie verspiegelt, um sich bei jeder Bewegung betrachten und hassen zu können.
Ihr Arm, sonnengebräunt von der Schufterei im Garten mit blauen Äderchen übersät, die Haut hängend und weich, noch nie war sie richtig straff gewesen. Nicht so wie die der Frauen, der Göttinnen, in unzähligen Magazinen. Neben ihrem Spiegeltisch hingen die schönsten Exemplare festgetackert an der Wand. DIe Frau hasste und liebte sie zugleich. Sie wusste, die Bilder waren nicht authentisch, doch sie hatten ihre Fantasie berührt, ihr gezeigt, wie eine Frau aussehen kann, aussehen sollte.
Mit reglosem Gesicht kniff sie sich in die Haut, die von ihrem Oberarm hing, wenn sie den Arm anhob. Durch mehrere Geburten hatte sie sehr an Gewicht zugenommen, sie konnte es nicht ertragen, gekennzeichnet zu sein. Über Monate aß sie nicht - bis heute knabberte sie nur dann und wann trockenes Brot -, bis sie wieder spindeldürr war; Die Haut jedoch blieb. Sie zog sie zurück, hielt sie für ein paar Sekunden, seufzte und ließ sie zurückfallen. Dasgleiche tat sie mit ihrer Gesichtshaut. Immer wieder. Sie prägte sich den Anblick ein, bevor sie losließ und ihre eingefallenen Wangen wieder umrahmt von überflüssiger Haut waren. Der Kontrast schmerzte sie und sie genoß es. Sie fühlte sich häßlich und da sie sich schon vor langer Zeit in ihr Schneckenhaus zurückgezogen hatte, konnte ihr niemand mehr die Bestätigung für ihr Gefühl geben. Also verspiegelte sie ihr Haus und saß jeden Tag vor ihrem eigenen Bild, um verschämte Abscheu vor sich selbst zu empfinden. Danach saß sie vor dem Fernseher und bewunderte die Frauen, die es wert waren, die Bezeichnung zu erhalten. Die Frauen, die die Gesellschaft gern ansah und gern in ihrer Mitte hatte.
Sie sah an sich herab. Ihre nackten Füße auf dem gefliesten Boden waren mittlerweile eiskalt. Die Zehen waren bereits violett angelaufen. Ärgerlich biss sie sich auf die Lippen. Durch die Verfärbung konnte sie die häßlichen Härchen nicht erkennen und das war doch der nächste Schritt. Jeden Tag besah sie sich genau jetzt ihre widerwärtigen Füße! Dann die Beine, dann die Brüste, dann den Bauch. Das war ihr Ritual. Sie fühlte sich betrogen, bittere Galle stieg in ihr auf, schmeckte wie abgestandenes Salzwasser in ihrem Mund.
Du hast mir alles genommen, nie warst du so, wie ich wollte. Ich hasse dich, wieso darf ich dich nicht mal verachten, wie ich will?
Sie dachte fast, sie müsste weinen vor lauter Frust, doch es gab immer eine Möglichkeit. Es war ihr Körper und sie würde ihn dazu bringen. SIe würde diese Härchen zu sehen bekommen und dann das Ritual forsetzen. Es gab noch eine Methode. Und für diese Methode hatte sie alles parat, zurechtgelegt vor Jahren, für den heutigen Tag, den Tag, an dem es nichts anderes mehr gab. Voller Genugtuung zog sie eine Schublade des kleinen Tisches auf, holte das große Fleischermesser hervor und beugte sich hinunter. Sie erschrak, als sie ihren großen Zeh umfasste, er war eisig. Ruhig setzte sie das Messer an und begann zu sägen.
Es dauerte eine ganze Weile und mehrfach musste sie das Blut abwischen, um weiterarbeiten zu können, doch schließlich hielt sie ihn in der Hand und lächelte. Sie empfand ein Ziehen im Fuß, doch es war nicht unangenehm. Dort waren die Härchen und sie waren häßlicher denn je.
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Tag der Veröffentlichung: 06.02.2014
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