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Der Brief

I.
Samstagmorgen. Nachdem ich um 12 Uhr aufgestanden bin, ziehe ich mich an. Ich gehe in die Küche, meine Eltern sind nicht da. Hastig mache ich mir ein Frühstück und erledige ein paar Sachen. Füttere die Katze, öffne ein paar Fenster und leere den Briefkasten. Nur ein dicker Brief steckt in dem weißen Kasten. Mit meiner schmalen Hand hole ich ihn heraus, aber durch die Größe dauert es etwas länger als sonst. Verwundert drehe ich ihn um. Er ist an mich adressiert. Ich schließe die Tür hinter mir mit dem Fuß, während ich versuche den Brief aufzubekommen. Wirklich guter Verschluss, da hat jemand sauber gearbeitet. Aus dem Arbeitszimmer meines Vaters hole ich einen Brieföffner. Endlich. Ein paar Blätter Papier fallen heraus, und eine kleine Dose. Ich muss leise lachen, als ich mich dabei erwische, anzunehmen das es ein Brief aus Hogwarts seien könnte. Schnell packe ich den Müll weg und verschwinde in mein Zimmer. Die schnörkelige Schrift erinnert mich an jemanden. Egal. Ich fange an zu lesen Noch hätte ich ihn zerknüllen und wegwerfen können. Aber es gab keinen Grund dazu. Dummes, dummes ich.


2.
Weißt du noch, als wir uns das erste Mal getroffen haben? Eine Freundin von uns beiden hat Geburtstag gefeiert. Die Jungs haben dich angegafft, sogar mein Freund hat mich links liegen lassen. Doch du hast dich nie darum gekümmert. Für dich gab es nur diesen einen. Aber hast du es ihnen je gesagt? Dass du nie etwas mit ihnen haben würdest? Dir hat es gefallen, wie sie dich alle begehrt haben. Und ich dachte du wärst anders. Da hat alles begonnen. Ich bereue es. Ich will es dir noch mal erzählen. Langsam. So langsam dass du es bereuen wirst.
Erinnerst du dich eigentlich noch an mich? Sicher nicht. Egal. Lies weiter, du wirst es früh genug erfahren.



3.
Irgendein kranker Scherz, sicherlich. Will ich ihnen den Spaß nicht verderben. Ich lese weiter. Woher wissen sie das? Das ich nur mit den Jungs spiele? Mit solchen Informationen gehe ich sachte um. Also lese ich weiter. Unahnend, was auf mich zukommt. Verdammt, hätte ich es bloß gelassen!


4.
7. Juli, wir hatten Ferien. Wir haben uns verabredet, weil wir dieselbe Musik hörten. Ich war so blöd.
Wie immer bist du zu spät gekommen. War auch schon an dem Geburtstag so gewesen. Wir gingen ein Eis essen und erzählten uns von einander. Wir fanden uns einander nett sodass wir uns noch oft getroffen haben. Auch in der Schule gingst du mir nicht länger aus dem Weg. Nein, ich dachte echt ich hätte in dir eine gute Freundin gefunden. Wie man sich täuschen kann, nicht wahr? Auf jeden fall hielten uns viele schon für beste Freunde. ’Und wie man das halt so macht’ so sagtest du es, erzählest du mir von all deinen Problemen. Überlegen wir mal hast du mir je zugehört, oder etwa geholfen? Nope. Was für eine Freundschaft! Aber es kommt noch besser. Du hast dich doch tatsächlich an meinen Freund rangemacht! Früher habe ich mir natürlich nichts dabei gedacht. Wie naiv von mir… Dämmert es dir schon langsam? Weißt du inzwischen wer ich bin? Ich gebe dir einen Tipp. Du hast mich immer ‚Schatzi’ genannt. Ach warte, so hast du auch alle vor und nach mir genannt. Entschuldige bitte. Aber ich schweife ab, wo waren wir? Ach ja genau, du hast wirklich geglaubt du könntest mir meinen Freund ausspannen!
Wie so oft gehen wir vier, du, dein Freund, mein Freund und ich, in die Stadt. Und wo wolltest du hin? In die Wäscheabteilung von Karstadt. Ich wollte nicht, genauso wie dein Freund. Du solltest das alleine machen, hat er gesagt. Aber du hast uns da reingeschleift. An den Rest kannst du dich noch erinnern, oder? Wie mein Freund dir einen schönen BH raussuchen sollte. Dann hast du ihn nicht zugekriegt. Natürlich erledigt das mein Freund doch gerne. Alex, so heißt er. Dein Typ, Mike, sitzt neben mir, er schüttelt nur den Kopf. Wir warten bis du fertig wirst, doch du kommst nicht. Alex zeigt keinerlei Schuldgefühle, der Grund warum ich am nächsten Tag Schluss gemacht habe. Du tröstest mich noch nicht mal. Für dich habe ich sie alle hingeschmissen. Du sagtest mir das ich deine Beste sei, ich habe dir geglaubt. Du musst dich einfach erinnern. Du bist es mir schuldig.




5.
Natürlich weiß ich das, Charlie. Aber ich bin ihr nichts schuldig. Ich kann es doch gar nicht sein. Sie war schon immer dumm. Was hatten sie bloß mit ihr gemacht. Ich will den Brief wegwerfen, doch irgendwas sagt mir das ich ihn lesen soll. Also, warum nicht? Sie kann mir eh nichts an. Am Montag wird sie was erleben. Will sie mir Angst einjagen? Mich kriegt sie nicht runter. Sie nicht, nicht diese verdammte Missgeburt.


6.
Mike wusste davon, dass du dich neben ihm noch mit Alex und anderen Jungs getroffen hast. Ich habe dir die ganze Zeit davon abgeraten. Irgendwann wirst du es noch bereuen, habe ich dir gesagt. Aber nein. Immer weiter. Du hast es nur gemacht um diesen Einen eifersüchtig zu machen, den du sowieso nie haben könntest. Er steht nicht auf Schlampen wie dich.
Eines Tages kam Mike zu mir. Wir haben uns lange über dich unterhalten. Er hat mir gesagt, was du über mich erzählst. Er sagte mir, wie gern er es wieder gut machen würde. Aber er konnte es nicht. Nur du.
Du hast den anderen die schlimmsten Dinge über mich erzählt. Dinge die ich dir im Geheimen anvertraut habe, die noch nicht mal wahr sind. Und die ganze Zeit über hast du mich trotzdem an deiner Seite gehabt. Warum war ich so naiv? Wie du Schritt für Schritt mein Leben zerstört hast. Mies. Dreist. Arschig. Wie du es bezeichnen würdest, frage ich mich. Warum hast du das getan? Manchmal gab es solche Momente, da dachte ich wirklich, dass uns nie irgendetwas oder irgendjemand auseinanderreißen könnte. Wie man sich irren kann.
Langsam aber sicher hast du mir alles genommen. Meine Freunde, meine erste Liebe, mein Leben.



7.
Langsam frag ich mich echt was das soll. Sie hat mich schon oft angeschrien. Außerdem hat sie die doch alle gar nicht verdient. Sie ist so uncool. Ich bin doch sowieso eine viel bessere Freundin für sie alle. Alex war sowieso viel zu heiß für sie. Mike auch. Und dann sich einfach noch dazu erdreisten mich eine Schlampe zu nennen. Miststück.
Aber egal. Noch eine halbe Seite.


8.
Mandy. Kommen wir endlich zur Sache.
Du hast mein Leben zerstört. Mir alles genommen, habe ich ja schon erwähnt. Mir jedes bisschen Glück zunichte gemacht.
Ich stelle fest: Es kann kein Happy- End mehr geben. Nicht für mich. Also warum soll ich weitere quälende Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre hier verbringen? In einer Welt, in der ich eine Ausgestoßene bin? Nichts ergibt mehr einen Sinn. Und du bist der Grund für das Chaos in meinem Leben.
Mandy. Es ist mein Abschiedsbrief. Ich habe kein Anreiz mehr zu leben. Wenn du das liest, werde ich wohl schon tot sein. Lass dich überraschen wie. Es wird dir gefallen.
Charlie.

P.S.: Vergiss nicht, ein Blick in die Schatulle zu werfen.



9.
So ein Opfer. Sie würde das nicht durchziehen. Ich fange an zu Lachen. Ziemlich laut und schallend. Meine Füße führen mich die Treppe herunter, in mein Zimmer, an den Computer. Dann logge ich mich auf Facebook ein.
„Haha, so dumm: Diese Missgeburt Charlie schreibt so ne Art Abschiedsbrief-.- Was soll dass denn jetzt? Haha“

, poste ich gleich. Leg dich nicht mit mir an Charlie, denke ich mir, während ich zähle wie viele Leute den Status liken.
Plötzlich fällt mir wieder die kleine Schatulle ein, und ich greife nach ihr. Ihre Kette. Ein Foto von uns. Ich nehme die Sachen heraus und schmeiße sie in den Müll.
Mein Handy klingelt und Anastasia meldet sich
„Lust auf Stadt?“, fragt sie, etwas abgelenkt.
„Ja, in Ordnung. Kann ich bei dir Übernachten?“, entgegne ich ihr.
„Klar. Also in 40 Minuten vor New Yorker?“, fragt sie noch einmal.
„Jep. Bis dann, Schatzi.“, verabschiede ich mich und lege sofort auf.
Schnell packe ich ein paar Sachen zusammen und schreibe meinen Eltern einen kleinen Zettel, dass ich bei Anastasia übernachte. Dann gehe ich zum Bus, der ausnahmsweise mal pünktlich kommt und fahre in die Stadt.


10.
12 Tage später
Sie gucken mich komisch an. Leute aus der 12., manche auch aus der 6. In ihren Blicken liegt etwasundefinierbares, doch ist es bei allen gleich. Ich beeile mich in die Klasse zu kommen, da ich schon fünf Minuten zu spät da bin. Schnell klopfe ich an die Tür, aber ich muss ein wenig warten bis sie geöffnet wird.
Alle Blicke richten sich auf mich, während ich so leise wie möglich durch die Tür schlüpfe.
„Was ist denn los?“, frage ich verdutzt, während ich merke, dass einige sogar geweint haben.
Ein leises Geflüster entfacht. Ich entnehme ein „Muss Die doch grad wissen!“ oder zum Beispiel auch ein verheultes „ Sie ist doch erst der Grund dafür!“
Sofort fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
„Nein. NEIN!!! Bitte sagen Sie nicht…“, schluchze ich und lasse mich fallen. Der Lehrer eilt mir zur Hilfe.
„Mandy. Würdest du bitte mitkommen? Die Direktorin wollte dass ich dich sofort zu ihr schicke, wenn du da bist. Sie wird mit dir reden müssen.“, spricht er mir sanft zu, doch ich merke dass auch er sauer auf mich ist. Er stützt mich bis zum Büro unserer Direktorin. Ich wische mir die Tränen vom Gesicht, und frage bei der Sekretärin nach einem Taschentuch.


Epilog
Es geht mir besser. Einige haben mir Fotos gezeigt, wie sie tot auf ihrem Bett liegt. Ihr Arm ist aufgeschnitten, sie wirkt so blass. Sie wollten sie mit den Fotos einzig und allein rächen. Ich will gar nicht wissen wie sie an die Bilder gekommen sind. Meine Psychologin ist gut. Ohne sie wär ich immer noch in tiefster Depression.
An dem Morgen an dem ich vom Tod erfahren habe, hat Charlie sich umgebracht. Kurz bevor sie zur Schule gehen sollte. Ihre Mutter wollte sie wie jeden Morgen mit dem Auto zur Schule fahren, also ging sie rauf in Charlies Zimmer… und fand sie verblutet auf ihrem Bett. Ihre Kleidung mit Blut vollgesogen. Wir haben die Klamotten zusammen gekauft, ich erkenne sie von den Bildern. Eine Woche später wurde sie beerdigt. Ihre Eltern wirkten so unendlich traurig. Sie haben ihre einzige Tochter verloren. Alex und Mike waren auch da. Beide schenkten mir keinen einzigen Blick. Und beide hatten rote, angeschwollene Augen.
Lange danach hatte ich noch Alpträume. Und ich bereue es. Ich bereue einfach alles. Was ich ihr angetan habe, war schrecklich. Ich bin der Grund für ihren Tod.
Meine Eltern haben mich auf eine andere Schule geschickt. Nur schwer finde ich hier Freunde. Kann ich aber auch verstehen. Mein Leben ist langsamer geworden. Ich wirke älter, durch die vielen Zusammenbrüche in den letzten vier Monaten.
Ich gehe jede Woche zu ihrem Grab. Erzähle ihr von meinen Erlebnissen. Entschuldige mich, so oft es geht. Aber ich kann es nicht rückgängig machen.
Und ich merke, dass man die wichtigsten Dinge erst dann anfängt zu schätzen, wenn es zu spät ist.

Impressum

Texte: Meins (:
Bildmaterialien: Tumblr
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2012

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